Die Ingenieurin von Brooklyn - Tracey Enerson Wood - E-Book

Die Ingenieurin von Brooklyn E-Book

Tracey Enerson Wood

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Beschreibung

Die Geschichte der Frau, die die Brooklyn Bridge erbaut hat.

Der internationale Bestseller jetzt auf Deutsch.

Während Emilys Weggefährtinnen für das Frauenwahlrecht auf die Straßen gehen, muss sie einen guten Eindruck bei der gehobenen New Yorker Gesellschaft machen. Denn ihr Ehemann Wash verfolgt eine spektakuläre Vision: Er will die längste Hängebrücke der Welt über den East River bauen. Aber bereits im zweiten Jahr der Arbeiten an der Brücke erkrankt Wash schwer. Fast erblindet und auf einen Rollstuhl angewiesen, macht er Emily zu seinem Statthalter auf der Baustelle. Und was als kaum zu bewältigende Bürde begann, erfüllt die tatkräftige junge Frau schon bald ganz und gar. Doch die Widerstände gegen eine Frau an der Spitze des Großprojekts häufen sich, und Walsh zieht sich immer stärker zurück. Emily muss entscheiden, was sie will – und was sie bereit ist, dafür zu opfern …

»Ein herausragender historischer Roman.«
Stewart O'Nan

»Dieser wichtige historische Roman erweckt eine Frau zum Leben, die von Männern überschattet und von Geschichtsbüchern vergessen wurde.«
Booklist

»Woods fantastischer historischer Roman bleibt der Epoche treu und hat gleichzeitig einen starken Bezug zum heutigen Alltag von Frauen.«
Publishers Weekly

»Das ist toll beschrieben und macht Spaß zu lesen. Süffig, wie eine gute Flasche Wein!«WDR, 14.07.2021

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Seitenzahl: 581

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem TitelThe Engineer’s Wife bei Sourcebooks, Naperville.

© by Tracey Enerson Wood © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A

Covergestaltung von bürosüd, München Coverabbildung von Richard Jenkins Photography, Getty Images / George Marks, Alamy Stock Foto / Gado Images E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749950713

www.harpercollins.de

Widmung

Gewidmet allen Lesern und Schriftstellern, ohne die alles verloren wäre.

EINS

Washington, D.C.

Februar 1864

Der leichte, süße Honigduft der brennenden Kerzen konnte den Geruch nach Blut und Schweiß in dem improvisierten Ballsaal nicht übertünchen. Der Raum, unweit des Weißen Hauses gelegen, befand sich in einem Militärkrankenhaus, das selbst nur provisorisch in einer ehemaligen Kleiderfabrik untergebracht war. In dem riesigen Saal hörte man jedes Geräusch von den Wänden widerhallen, gegen die man fein säuberlich Pritschen, Geräte und große Rollbinden gestapelt hatte. Goldenes Nachmittagslicht fiel in schrägen Rechtecken durch die hohen Fenster auf Damen in dunklen Uniformen, die Blumengestecke anrichteten. Sie wirkten ebenso fehl am Platz wie ich. In meinem Ballkleid fühlte ich mich wie eine frische Blume in abgestandenem Wasser.

Durch Doppeltüren schwärmten aus einem Vorzimmer plaudernde Gäste herein. Leise Orchestermusik erscholl, die lauter wurde, als sich Männer in akkuraten Uniformen der Unionsarmee in kleinen Grüppchen mit aufgeputzten Damen einfanden. In meiner unmittelbaren Nähe hatten sich Männer auf Krücken und in Rollstühlen an der Wand aufgereiht; jeder von ihnen hatte ein oder zwei Gliedmaßen verloren oder war in irgendeiner anderen Weise zu versehrt, um sich zu den anderen Soldaten zu gesellen.

Zurückhaltend grüßte ich mit einem Nicken. Wie die meisten jungen Damen in meiner Kleinstadt Cold Spring hatte ich abgesehen von einigen hinkenden, heruntergekommenen Soldaten nichts von den Auswirkungen des Krieges bemerkt. Hier drängten sich die verwundeten Männer, einige in Krankenhausschlafanzügen, andere halb in Uniform, und streckten ihre Arme nach mir aus, um trotz ihrer Gebrechen an den Festlichkeiten teilzunehmen.

Ich ignorierte die blutigen Mullbinden um ihre Köpfe und den stechenden Geruch heilender Fleischwunden, als ich die Reihe abschritt und Hände schüttelte, manchen die linke, manchen die rechte, manche verbunden, manche mit fehlenden Fingern. Einer nach dem anderen bedankten sie sich bei mir für mein Kommen und verliehen ihrer inständigen Hoffnung Ausdruck, ich möge tanzen und mich amüsieren.

Im Begleitbrief zu meiner Einladung war mein Bruder unmissverständlich gewesen: Der Ball soll eine Hommage an das Leben sein, ein kurzes Intermezzo für Männer, die zu viel gesehen haben, und die letzten unbeschwerten Stunden für allzu viele. Es schmerzte mich, ihnen in die Augen zu blicken und mich zu fragen, für wen dies wohl der letzte vergnügliche Abend war.

»Überaus erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich heiße Emily.« Ich streckte einem Soldaten die Hand entgegen, dessen Gesicht von Verbrennungen übersät war und der ein Auge verloren hatte.

Er ergriff sie mit beiden Händen. »Miss Emily, Sie erinnern mich daran, dass es doch noch Freude auf dieser Welt gibt.«

Ich lächelte. »Ob Sie mir wohl später einen Tanz gewähren?«

Der Soldat lachte.

Ich errötete. Es schickte sich nicht für eine Lady, einen Gentleman um einen Tanz zu bitten. Und vermutlich war er auch nicht imstande dazu zu tanzen.

»Mein Schlafanzug lässt es nicht erahnen, aber ich habe mir meine Sergeant-Streifen verdient.« Er tippte sich an den Oberarm. »Ich mische mich nicht unter die Butterstreifen.«

Dieser Begriff bezeichnete eher abfällig den einzelnen gelben Streifen, den frischgebackene Lieutenants trugen. Etwas zu spät fiel mir ein, dass auf meiner Einladung etwas von Offiziersball gestanden hatte, offenbar war der Sergeant als Zaungast hier. Meine Wangen glühten. Ich hatte es geschafft, mit einem Satz in drei Fettnäpfchen zu treten. Kein sehr vielversprechender Auftakt in Anbetracht meiner Mission für diesen Abend.

Immer mehr Offiziere mit untergehakten Damen strömten herein. Im Gegensatz zu den der Wand entlang aufgereihten Männern strahlten sie eine Überschwänglichkeit und Frische aus, die nicht dafürsprach, dass sie je ein Schlachtfeld aus der Nähe gesehen hatten. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich hatte darauf bestanden, ohne Begleitung zu kommen, da ich auf meinen Bruder gesetzt hatte, doch von dem fehlte jede Spur.

In seinem letzten Brief hieß es, die Gefechte hätten im Winter nachgelassen, aber das konnte sich jederzeit ändern. Und selbst wenn nicht, war er eine Zielscheibe. Ich fegte das Bild eines Scharfschützen aus meinem Kopf. Wenn ihm etwas zugestoßen wäre, würden sie sicherlich nicht diesen Ball abhalten.

Der Soldat hielt noch immer meine Hand fest umklammert. Ich setzte ein Lächeln auf und sah mich im Raum um. War es befremdlicher, mich unter die anderen zu mischen, die alle in Zweierpaaren gekommen waren, oder war es unhöflich, es nicht zu tun?

Der Sergeant deutete mit dem Kinn in die Mitte des Saals. »Gehen Sie nur. Wir sehen zu.«

Ich nickte und entzog ihm meine Hand, verkniff es mir aber, nachzusehen, ob meine weißen Seidenhandschuhe beschmutzt waren. Mein Ballkleid entsprach der neuesten Mode: magentafarbene Seide, der Rock hinten ausgestellt, vorn eng anliegend. Meine Stiefeletten griffen diesen Stil auf; mit ihrer offenen Front und den hohen Absätzen erinnerten sie mich an den Schlitten des Heiligen Nikolaus. Ich strich die Falten von der Reise glatt und würdigte die Vorzüge des Kleids: Komfort: angemessen. Zweckmäßigkeit: sehr gut angesichts dessen, dass der Zweck war, den Augen der anwesenden jungen Männer zu schmeicheln. Mutter hatte den tiefen Halsausschnitt missbilligt, aber sie hatte mich lang genug behütet. Inzwischen war ich zwanzig Jahre alt und dürstete nach Vergnügungen.

Die stattlichen Ausgehuniformen und aufwendig gearbeiteten Kleider der Gäste strahlten eine förmliche Eleganz aus, doch schallendes Gelächter dröhnte über die zurückgenommene Klaviermusik hinweg. Scharen junger Männer forderten sich lautstark gegenseitig heraus, prosteten sich zu, stürzten Whiskeys und befeuerten ihre Lebensgeister.

Ich näherte mich einer besonders ausgelassenen Truppe, in der ein hochgewachsener, gut aussehender Captain inmitten eines Dutzends Lieutenants Hof hielt. Vielleicht konnte er mir sagen, wo ich meinen Bruder finden würde.

»Was gedenken Sie nach dem Krieg zu tun?«, erkundigte sich jemand.

»Dasselbe wie zuvor. Brücken bauen. Brücken sprengen.« Der Captain hob sein Glas, woraufhin es ihm die anderen, lachend und zuprostend, nachtaten.

Ein ernst dreinschauender junger Mann mit Brille fragte nach: »Sir, wozu Brücken sprengen in Friedenszeiten?«

Das Lächeln des Captains schwand, und er beugte sich vertraulich der Gruppe zu, als wäre eine große Verschwörung im Gange. »Es gibt nur eine begrenzte Anzahl an Stellen, die sich für eine Brücke eignen, und manchmal müssen wir eine alte, klapprige Brücke sprengen, um Platz für eine neue zu machen.«

Beschämt, das Gespräch ungewollt belauscht zu haben, trat ich einen Schritt zurück.

Der Captain fuhr fort: »Ich werde dabei helfen, dieses vom Bürgerkrieg zerrissene Land zu vereinen, indem ich ein derzeit brachliegendes Projekt zur Verbindung zwischen Kentucky und Ohio wieder aufnehme. Und dann werden wir das Unmögliche wagen. Wir werden New York und Brooklyn mit einer noch größeren Brücke verbinden, damit beide zu einer einzigen, gigantischen Stadt verschmelzen. Falls ihr nach dem Krieg eine Anstellung sucht, Jungs, seid ihr bei mir genau richtig.«

Ich schüttelte den Kopf. Dieser Captain strotzte ja nur so vor Überheblichkeit. Doch gerade als ich mich nach meinem Bruder erkundigen wollte, entschuldigte er sich und eilte davon.

***

Die Dämmerung war der Dunkelheit gewichen, und die Kerzen und Gaslampen erstrahlten hell, als ob die Energie, die die Gäste ausströmten, den Saal erleuchtete. Sämtliche Damen schienen ins Gespräch vertieft, sodass ich umherlief, immer mehr in Sorge um meinen Bruder. Jemand drückte mir ein Gläschen einer goldenen Flüssigkeit in die Hand; als ich einen Schluck davon nahm, brannte es angenehm im Hals.

Das Orchester spielte eine Fanfare, und eine tiefe Stimme erklang: »Ladies and Gentlemen, der Kommandant des Zweiten Korps, Generalmajor Gouverneur Kemble Warren – der Held von Little Round Top.«

Erleichterung durchströmte mich wie eine kühle Brise an einem heißen Tag. Ich hätte wissen müssen, dass der Kommandant, dem Tausende in die Schlacht gefolgt waren, gebührend Einzug halten würde. Offiziere nahmen Haltung an und salutierten im Vorübergehen vor der Flagge, ehe sie für meinen Bruder strammstanden. Mein Herz schlug höher, als ich ihn sah, wie er bei seinem Gang durch die Menge Hände schüttelte und die meisten im Raum überragte. In unserer Familie nannten wir ihn G. K., da Gouverneur sich überaus befremdlich anhörte. Inzwischen war er, der dreizehn Jahre älter war als ich, über dreißig, hatte glattes schwarzes Haar und einen Schnurrbart, dessen Enden bis an die Seite seines Kinns reichten.

Nach monatelanger Sorge und kryptischen Briefen, denen ich nur entnehmen konnte, dass seine Truppen eine wichtige Schlacht im Norden Virginias gewonnen hatten, ließ mich der Anblick meines Bruders regelrecht schweben. Als er den Raum mit den Augen absuchte, winkte ich, woraufhin er mich entdeckte.

Nachdem unser Vater einige Jahre zuvor verstorben war, war G. K. für mich mehr wie ein Ziehvater denn ein großer Bruder gewesen. Von all meinen verbliebenen Geschwistern stand er mir am nächsten, ungeachtet des Altersunterschieds und der räumlichen Distanz, die uns trennten. Als er näher kam, schwand mein Lächeln beim Anblick seiner ausgemergelten, von den Kriegsstrapazen gezeichneten Gestalt, die sich in den grauen Strähnen und den hängenden Schultern widerspiegelte.

Der junge Offizier, der hinter meinem Bruder ging, blickte in meine Richtung. Ich sah hin und musste erneut hinsehen – G. K.s Adjutant war kein anderer als jener Captain, der sich zuvor gerühmt hatte, das Land mit Brücken flicken zu wollen. Sein Blick landete einen Sekundenbruchteil lang auf mir und suchte dann weiter den Raum ab, als ob der Feind jederzeit aus den Schatten hervorspringen könnte.

Ich hustete, um ein Lachen zu kaschieren. Obwohl er sich den Anschein gab, aufzupassen wie ein Schießhund, wanderte sein Blick immer wieder zu mir. Vielleicht hatte er mich zuvor beim Lauschen beobachtet.

Ich quetschte mich durch die Grüppchen hindurch, um zu G. K. zu gelangen, doch er war von Leuten umringt. Höflich begrüßte er die verwundeten Männer, wechselte ein paar Worte mit ihnen, schritt die Reihe ab und schüttelte Hände. Als Nächstes ging er in die Menschenansammlung hinein, und als die Offiziere nach vorne drängten und um seine Aufmerksamkeit buhlten, wurde ich zurückgedrängt.

»Männer des Zweiten Korps.« G. K.s dröhnende Stimme erfüllte den Saal, wie um zu beweisen, dass sie selbst über das Feuern der Kanonen hinwegtrug. »Lassen Sie uns gemeinsam diese edlen Damen begrüßen und ihnen für ihre Anwesenheit danken.«

Er gab dem Orchester ein Signal, woraufhin Hunderte junger Männer in dunkelblauen Uniformen zu tanzen begannen; ihre mit goldenen Fransen-Epauletten besetzten Schulterklappen schimmerten wie Lichter in großer Dunkelheit. Ich tanzte mit einem gut aussehenden Lieutenant nach dem anderen, von denen jeder mich mit einer Umdrehung nahtlos in die Arme des nächsten weiterreichte. Als ich zuletzt, nach Atem ringend, eine Pause einlegte, umringten mich die Offiziere und halfen mir, die Bänder wieder festzustecken, die den Kampf mit meinen Locken verloren hatten. Während die anderen Damen angesichts meiner Ausgelassenheit und meines häufigen Partnerwechsels verächtlich schnaubten, lachten die Männer und buhlten um mich. Auf die Damen achtete ich kaum. Ich würde das Versprechen halten, das ich meinem Bruder gegeben hatte, und diesen Männern Unterhaltung bieten.

Ein Lieutenant kam mit einem Tablett mit Drinks vorbei, Whiskey für die Herren, Tee für die Damen, erklärte er mir, wobei die Gläser kaum zu unterscheiden waren. Der Lieutenant reichte mir ein fast randvoll gefülltes Glas: »Für Sie, Miss …?«

»Einfach Emily.« Er brauchte nicht zu wissen, dass ich denselben Nachnamen trug wie der General.

»Für Sie, Miss Einfach Emily«, sagte er, laut genug, um ein Gekicher unter den Gästen hervorzurufen.

Ich nahm das Glas und nippte daran. Es war Whiskey.

»Sie machen das ganz falsch.« Er nahm das letzte Glas, schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit darin und atmete das Aroma tief ein. Dann leerte er ihn in mehreren Zügen.

Ich kippte den Whiskey hinunter und streckte ihm das leere Glas entgegen, wobei ich ein Husten unterdrückte. Die Menge johlte, und ich war beschwingt, wie von einem Strom aus Whiskey getragen. Ich war keine frische Blume in abgestandenem Wasser mehr. Ich war ihre Königin.

Die Menge wurde lauter, doch diesmal war nicht ich es, die angefeuert wurde. Ein kleiner, stämmiger Offizier sprang in die Luft und landete mit gegrätschten Beinen auf dem Boden. Die Menge pfiff anerkennend und forderte mich mit »Einfach Emily!« zu einer Reaktion auf.

Nun begannen sie, rhythmisch zu klatschen, um mich zu ermutigen. Mein Wettbewerbsgeist war geweckt und überwog meinen Sinn für Anstand, sodass ich mich im Takt des Klatschens immer schneller und schneller drehte, bis der Saum meines Kleides durch die Luft flog. Dann vollführte ich einen Spagat, wobei ich einen Arm dramatisch in die Luft riss und mein Ballkleid sich in einem magentafarbenen Kreis um mich herum ergoss.

Während einige Offiziere mir aufhalfen, teilte sich die Menge und gab den Blick G. K. und seinen Adjutanten frei, die herbeieilten. Mein Bruder zog warnend eine Augenbraue hoch, sein jüngerer Offizier starrte mich mit offenem Mund an. Hitze stieg mir ins Gesicht, aber diesmal war es nicht der Whiskey.

»Aufpassen, sonst verirren sich noch Fliegen hinein.« G. K. versetzte seinem Adjutanten einen Klaps gegen die Schulter.

Dieser klappte daraufhin den Mund zu; sein Adamsapfel hüpfte über dem blauen Uniformkragen. »Soll ich die junge Dame von der Tanzfläche eskortieren, Sir?«

Die buhende Menge hatte offenbar dieselbe Meinung von ihm wie ich.

G. K. rieb sich das Kinn. »Ein großzügiges Angebot.«

Der Adjutant grinste, doch sein Lächeln schwand, als G. K. hinzufügte: »Aber das wird nicht nötig sein.«

Obwohl der Captain einen selbstgefälligen Eindruck gemacht hatte, war es mir unangenehm, dass G. K. ihn aufzog. G. K. legte einen Arm um mich und führte mich davon.

»Wie ich sehe, amüsierst du dich, Emily?« In G. K.s Ausdruck lag sowohl Zärtlichkeit als auch Enttäuschung. Am liebsten hätte ich mich wie ein Igel zusammengerollt.

»Durchaus. Es freut mich, wenn ich ein wenig Unterhaltung bieten kann.« Ich verschränkte die Arme vor dem Bauch, um meine Unerschrockenheit zu demonstrieren. Es war ein Jahr her, seit ich meinen Bruder zuletzt gesehen hatte, und ich wollte ihm zeigen, wie erwachsen ich inzwischen geworden war und wie sehr mir unsere Soldaten am Herzen lagen. Doch bei allen guten Absichten bemerkte ich zu spät, dass mein Verhalten womöglich negativ auf ihn zurückfallen könnte.

Einer der Männer rief: »Ach, lassen Sie sie doch mit uns weitertanzen, Sir.«

»Nicht jetzt. Die Dame muss sich ausruhen.« G. K. hielt mich weiter am Arm fest, fest genug, um mir deutlich zu machen, dass ich aus der Reihe getanzt war.

Der Adjutant blickte mit großen Augen von G. K. zu mir. Sein dickes Haar und der säuberlich getrimmte Schnurrbart waren honigfarben, und seine ausdrucksvollen Augen erinnerten mich an das kristallklare Wasser, das bei uns zu Hause die Steingrube von Cold Spring füllte.

»Miss Emily Warren, darf ich dir Captain Washington Roebling vorstellen?« G. K. nahm meine rechte, behandschuhte Hand und reichte sie seinem Adjutanten. »Ich verdanke diesem Captain mein Leben, und dieser zauberhaften Elfe hier verdanke ich das Gefühl, einen Sinn im Leben zu haben. Insofern erscheint es mir nur folgerichtig, dass ihr euch kennenlernt.«

Der Captain räusperte sich. »Sie … Ihre Frau? Ich dachte, sie sei verhindert …«

»Grundgütiger, nein.« G. K. lachte. »Meine Schwester. Meine Frau und sie haben nur zufällig denselben Vornamen. Würden Sie nun also bitte so freundlich sein, die Ehre von Miss Emily Warren zu beschützen?«

Mir tat der arme Mann leid, der mich nun musterte, von den wild abstehenden Locken bis hin zum zerknitterten Saum, und mich gedanklich neu einsortierte. Vielleicht war es etwas weniger beschämend, dass er versucht hatte, die Schwester seines Kommandanten vom Ball zu entfernen als dessen Frau. Meine hingestreckte Hand hing unbeholfen in der Luft, bis der Captain seine Fassung wiederfand und sie entgegennahm.

»Es wird mir eine Ehre sein, Sir.« Dann richtete er sich erstmals an mich: »Miss Warren, Captain Roebling, zu Ihren Diensten.«

»Bestens.« G. K. warf mir einen letzten Blick zu und neigte leicht den Kopf, wie um mich daran zu erinnern, mich anständig zu benehmen. Dann kehrte er zu seinen Gastgeberpflichten zurück, signalisierte dem Orchester, wieder aufzuspielen, und bedeutete den Offizieren, auf die Tanzfläche zurückzukehren.

Mein neuer Beschützer nahm erneut meine Hand, deutete einen Handkuss an und betrachtete mich einige unangenehme Sekunden lang. Trotz meiner Seidenhandschuhe wurde meine Hand unter seiner Berührung warm. Mir seiner Blicke überaus bewusst, strich ich mein Haar glatt und richtete mein Kleid.

Ich war keine zierliche Schönheit. Da ich mein ganzes Leben lang geritten war und mit meinen Geschwistern Fangen gespielt hatte, war ich von robuster Gestalt, insofern waren mir stramme Männer lieb. Der Captain machte einen durchaus standhaften Eindruck; gewiss würde ich ihm beim Herumtollen nicht den Arm brechen, wie es einem meiner glücklosen Verehrer passiert war.

Anders als die meisten Männer überragte er mich um einige Zentimeter. Seine tadellose Uniform war reich ausgestattet mit einem in einer Schwertscheide steckenden Schwert, roter Schärpe, goldener Tresse und goldenen Epauletten. G. K. hatte mir beigebracht, wie man eine Uniform las: Truppengattung: Ingenieur. Rang: Captain. Position: Adjutant. Erscheinungsbild: Ausgezeichnet. Letztere Beobachtung würde indes als höchst inoffiziell eingestuft werden.

Dennoch, ich brauchte niemanden, der meine Ehre beschützte, und dieser Mann hatte sich unerträglich aufgeführt. »Sie müssen mich nicht den ganzen Abend begleiten«, sagte ich. »Mir scheint, mein Bruder hat Sie in eine eher undankbare Situation gebracht.«

»Es gibt schlimmere Aufgaben.«

Während ich mir ob seiner wenig eleganten Antwort auf die Zunge biss, erhaschte ich den Blick eines Offiziers hinter ihm. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Captain Roebling, aber ich gehe meiner eigenen Wege.«

Ihm fiel die Kinnlade herunter – ob aus Erstaunen, Erleichterung oder Panik ließ sich nicht sagen.

»Sorgen Sie sich nicht. Ich werde bei General Warren wohlwollend über Sie berichten.« Ich machte auf dem Absatz kehrt, um Reißaus zu nehmen, doch der Captain hielt mich sanft am Ellenbogen zurück.

»Warten Sie.«

»Ja?« Ich sah stirnrunzelnd auf seine übergriffige Hand, woraufhin er sie wegzog.

Das Orchester spielte einen langsamen Walzer.

»Ich denke, der General erwartet von uns, dass wir mit gutem Beispiel vorangehen. Darf ich Sie um einen Tanz bitten, Miss Warren?«

Ich nickte. Es wäre unhöflich gewesen, abzulehnen.

Der Captain führte mich zur Tanzfläche, wo er mich leichtfüßig, eine Hand sanft an meinem Rücken, in anmutigen Kreisen übers Parkett führte. »Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis.«

»So?«

Seine Augen hefteten sich auf meine; irgendetwas an ihm war enorm liebenswürdig.

»Der General hat mich dabei erwischt, wie ich Ihnen verstohlen Blicke zuwarf.«

Eine mitfühlende Seele, die zugab, mich beobachtet zu haben. Das Stück war zu Ende, und die anderen Paare verließen die Tanzfläche. Captain Roebling besaß eine Präsenz, ein Selbstbewusstsein, das ich zunächst für Überheblichkeit gehalten hatte. Andere Offiziere riefen nach ihm, doch er ließ meinen Blick keine Sekunde lang los. Diese eisblauen Augen schienen alles zu sehen, doch selbst nichts preiszugeben.

Meine Nackenmuskeln entspannten sich, als die Scham, die ich vor meinem Bruder empfunden hatte, abebbte. Mein Fluchtreflex war ebenfalls verschwunden, und an seine Stelle war der Wunsch getreten, mehr über diesen interessanten Mann zu erfahren. »Wieso sagte der General, er verdanke Ihnen sein Leben?«

»Diese Geschichte erzähle ich Ihnen besser ein anderes Mal. Oder nie.« Er fasste sich an den Hals und nestelte gedankenverloren am Kragen herum.

Es wurde still im Saal, als die Paare sich für Erfrischungen zurückzogen, und ich befürchtete, dem Captain die Stimmung verdorben zu haben, indem ich auf ebenjenen Krieg zu sprechen kam, den G. K. an diesem einen Abend ausgeblendet wissen wollte.

Der Pianist spielte die ersten Takte von Liszts Liebestraum Nr. 3. Flackernde Kerzen warfen sanfte Schatten im goldenen Lichtschein.

»Würden Sie mir erneut die Ehre eines Tanzes erweisen, Miss Warren?« Seine Hand ergriff warm und fest die meine.

»Einfach Emily, bitte.«

Er zog mich heran und flüsterte mir ins Ohr. »So hörte ich bereits. Ich bin Washington. Beziehungsweise nur für Sie: einfach Wash.«

Wir tanzten erneut, ohne auf den gebührlichen Abstand zwischen uns zu achten. Die Wolle seiner Uniformjacke roch erdig und rieb angenehm an meiner Wange. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, als die anderen Offiziere uns zupfiffen und zuriefen. Allerdings nur, bis Wash mir sanft einen Finger unters Kinn legte und mein Gesicht zu sich drehte, während er mich durch den Saal wirbelte. Bei jedem anderen Mann hätte ich dies als respektlos erachtet. Doch die Art, wie er mich hielt – wie ein kostbares Geschenk –, bezauberte mich.

All die anderen Anwesenden verblassten an diesem Abend, während wir redeten und tanzten und uns über unsere großen Familien und unsere noch größeren Träume austauschten. Während ich hoffte, mich an der Kampagne zur Erlangung des Frauenwahlrechts beteiligen zu können, beabsichtigte er, das Antlitz der Großstädte unseres Landes nachhaltig zu verändern, indem er Brücken baute. Sein Atem roch wie eine exotische Mischung aus Anis und Zimt, und selbst als das Schwindelgefühl vom Whiskey nachließ, schwebte ich beim Zuhören auf einer duftenden Wolke dahin. Als es Zeit wurde zu gehen, verlangte es mich danach, ihn und diesen Abend festzuhalten.

Ihm schien es ebenso zu gehen. »Es war mir eine große Freude, Sie kennenzulernen, Emily. Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Captain Roebling. Ich meine, Einfach Wash.«

ZWEI

Ich übernachtete im Historic District, nahe der National Mall, bei G. K. und seiner Frau. Ihr kleines, heruntergekommenes Reihenhaus aus Backstein schien eines Generals unwürdig, aber natürlich war er nur selten hier. Nun aber hatte er eine ganze Woche Urlaub, und ich war voller Vorfreude, diesen mit ihm verbringen zu dürfen.

Als wir uns am nächsten Morgen gerade zum Frühstück gesetzt hatten, klopfte es an der Tür, und G. K. öffnete. Ich spähte um die Ecke. Captain Roebling, in schwarzem Wollmantel und Rollmütze, überreichte ihm eine Mitteilung. An den Fingern zählte ich ab, dass es keine sieben Stunden her war, seit wir uns verabschiedet hatten. Offenbar verstand er unter bald etwas anderes als ich. Dann schalt ich mich für diesen Gedanken. Wash war G. K.s Adjutant, wahrscheinlich war er nur gekommen, um meinen Bruder zu sprechen.

G. K. las den Zettel und reichte ihn zurück. »Captain, ist das ein Trick?«

»Ja, Sir.« Wash stieß den Picknickkorb, der neben ihm auf der Treppe stand, mit dem Fuß an.

»Verstehe.« G. K. drehte sich um und erwischte mich, wie ich lauschte. »Emily, würdest du Captain Roebling bitte zeigen, wie man seinen ersten Urlaubstag anständig verbringt?«

Nachdem er sich G. K.s Segen für den Ausflug gesichert hatte, half mir Wash in meinen Mantel. Als er die Tür öffnete, strömte bitterkalte Luft herein.

»Ein Picknick? Im Februar?«, fragte ich.

»Es ist immer ein guter Tag für ein Picknick, solange man die richtige Begleitung wählt«, bemerkte G. K.

»Ich glaube, das habe ich«, entgegnete Wash.

G. K. sah nach draußen, wo der Kutscher wartete, der mit den Füßen aufstampfte und dampfende Atemwolken ausstieß. »Sucht euch einen Unterschlupf, damit ihr drei nicht erfriert.«

Wash und ich lächelten einander zu. G. K.s Sorge galt dem Umstand, dass wir einen Aufpasser hatten, wenigstens dem Anschein nach, sowie dem Wetter. Wash hielt mich am Arm, als wir die Stufen zu seiner Kutsche hinunterstiegen. Der Schnee hatte die rußigen Straßen weiß gepudert, sodass die Nachbarschaft erstrahlte.

Schneeflocken tanzten umher, als wir in die Kutsche stiegen, wo Wash eine rote Karodecke über unseren Schoß ausbreitete. Er zog an der Glockenkette, um dem Kutscher das Signal zur Weiterfahrt zu geben, woraufhin die Pferde die überdachte, aber ansonsten offene Kutsche über die Straße zogen. Der Schnee dämpfte das Klipp-Klapp der Hufe und erzeugte eine völlige Stille unter der schwachen Sonne. Ab und zu blitzten durch das Schneegestöber graublaue Flecken Himmel hindurch.

»Es tut mir leid, ich weiß, es ist relativ eng.« Wash winkelte seine Beine seitlich an, um auf dem schmalen Ledersitz mehr Platz zu machen. »Normalerweise sitzt nur der General hier.«

»Und wo sitzen Sie?«

»Ich bin der Kutscher.« Er grinste. »Und manchmal Koch.« Er tippte auf den abgedeckten Korb in seinem Schoß.

»Ich hoffe, ein guter. Wohin fahren wir?« Ich rubbelte an meinen Ohren, da meine Haube wenig Schutz gegen die Kälte bot.

»Ist Ihnen warm genug?« Er zog eine braune Felldecke aus einer Kiste hervor.

Die schwere, aber überraschend weiche Decke vertrieb die Kälte aus meinen Knochen. »Bärenfell?«

»Büffelfell. Die Armee ist in der Hinsicht eine echte Fundgrube.« Er reckte den Hals, um einen Blick auf die Straße vor uns zu werfen. »Es gibt da ein hübsches Plätzchen am Flussufer, das vom Wind abgeschirmt ist. Von dort kann man bis hinüber nach Virginia sehen.«

»Virginia?« Die Vorstellung von wild durch die Luft sausenden Minié-Geschossen ließ mich erschaudern.

G. K. hatte mir inzwischen erzählt, wie Wash sein Leben gerettet hatte. Dieser hatte den sich nähernden Beschuss gehört und G. K. aus dem Weg gestoßen, sodass die Patrone nur knapp seinen Hals streifte.

»Wie nah sind die Gefechte?«

»Ziemlich weit weg, zum Glück. Zwei Tagesritte mindestens.«

Für meinen Geschmack nicht weit genug.

Unter der Felldecke ergriff seine behandschuhte Hand meine und drückte sie. Für ihn war es eine gewagte Situation, immerhin machte er der Schwester seines Vorgesetzten den Hof, doch er schien unbekümmert und plauderte fröhlich vor sich hin. Er hatte mich noch nicht geküsst, und ich stellte mir vor, wie sich seine Lippen auf meinen anfühlen würden. Seine Körperwärme unmittelbar neben mir vermittelte mir abwechselnd ein Gefühl von Ruhe und Aufregung, als würde man ein Pferd erst im vollen Galopp reiten und dann gemächlich über eine sonnige Wiese traben.

Die Stadt hatte sich verändert, seit ich hier zur Schule gegangen war, und hatte sich von einem Ort zum Zuhausefühlen zu einem Ort zum Geschäftemachen gewandelt. Dunkle Baracken kauerten neben den Marmorgebäuden mit korinthischen Säulen. Breite Boulevards verliefen sich in dreckigen Straßen mit tiefen Wagenrinnen und Pfützen, die berüchtigt waren, weil man mit der Kutsche stecken blieb. In der Ferne ragte der Obelisk des Washington Monument mit seinen feinen geometrischen Linien in den blauen Himmel, nur um auf halbem Wege zum anvisierten Punkt unvermittelt abzubrechen.

Wie von Wash angekündet, stiegen wir in einem kleinen Park am Ufer des Potomac aus, ungefähr zwei Meilen vom Haus meines Bruders entfernt. Nachdem die Uhrzeit für die Rückfahrt vereinbart war, schickte er den Kutscher fort. Meine Haut begann, vor lauter Unwohlsein zu kribbeln, sowohl angesichts des gefährlich breiten Flusses als auch des Verschwindens unseres Aufpassers. Andererseits, wenn ich mich nicht bei jemandem sicher wähnen konnte, der meinem Bruder das Leben gerettet hatte, bei wem dann?

Wir breiteten die Karodecke aus und begannen uns, zusammengekauert unter der Felldecke, an dem Festmahl aus dem Picknickkorb zu laben: schottische Eier, Buttermilchplätzchen und eingelegte Pfirsiche – ein Luxus, den ich in Kriegszeiten bitterlich vermisst hatte.

Ich griff nach dem Wasserkrug, den wir uns teilten. »Wo haben Sie all das herbekommen?«

»Ich bin gut im Schnorren.« Er zog eine Feldflasche aus der Manteltasche und wackelte damit vor meinem Gesicht herum. »Wie wär’s mit einem winzigen Schlückchen?«

Es war noch nicht einmal neun Uhr morgens. »Eine etwas unziemliche Uhrzeit für ein Schlückchen.« Ich nahm die Flasche entgegen und trank einen kräftigen Schluck. Heiß, heiß, heiß. Es war Kaffee. Ich spie eine Wolke der heißen Flüssigkeit aus. »Aua, meine Zunge.«

»Das tut mir furchtbar leid. Ich konnte ja nicht ahnen …« Er nahm die Flasche wieder an sich und tupfte mir mit einer Stoffserviette die Tropfen im Gesicht weg.

Ich trank etwas Wasser und lachte. »Mir geht’s gut, keine Sorge. Und bitte duzen Sie mich doch.«

»Sind Sie, ich meine, bist du sicher?«

Ich nickte. Die Sorge in seinen Augen weckte in mir das Bedürfnis, diesem starken, schönen Gesicht nahe zu sein, die Arme um ihn zu schlingen. Ein Teil von mir hingegen warnte mich, um mir künftigen Kummer zu ersparen. Natürlich würde er schon bald in den Krieg zurückkehren, und am liebsten hätte ich einen dicken Panzer um mein Herz gelegt. Doch Gefühle, die zu mächtig waren, als dass ich sie hätte zurückdrängen können, bahnten sich einen Weg.

Er zog seinen Handschuh aus und fuhr mir mit dem Finger über die Lippen, dass es kitzelte. Ich ergriff seine Hand und drückte sie.

Wash beugte sich näher. »Emily …«

Eine Hälfte von mir wollte ihn wegschubsen, wegrennen und mich vor Liebeskummer bewahren. Die andere Hälfte hingegen wollte keinen Zentimeter von dieser Decke weichen. Eine gefühlte Ewigkeit verstrich, ehe sein Mund meine Wangen berührte und dann meine geöffneten Lippen fand, die begierig warteten, verlangten. Die Kombination aus süßen Pfirsichen, dem bitteren Kaffee, seiner sanften Zungenspitze und seinem kitzelnden Bart war überwältigend und blendete die Welt und jeden Verstand völlig aus. Die Felldecke rutschte vom Schoß herunter, und ich schloss die Augen und ließ mich von seinem Mund, seiner Seele, mit einer Wärme füllen, die einen Kontrast zur klirrenden Kälte ringsum bildete. Die Hand an meinen Hinterkopf gelegt, bettete er uns beide auf den Boden, ohne auch nur meine Lippen loszulassen, und schirmte mich mit den Armen vor der Kälte ab. Schließlich rollte er sich zur Seite und ließ mich atemlos und nach mehr verlangend zurück.

Ächzend setzte er sich auf, nahm ein paar Schlucke vom Kaffee und klopfte mit den Knöcheln gegen mein Bein. »Da scheint ja alles bestens zu funktionieren.«

Ich warf ihm einen sinnlichen Blick zu. »Redest du von dir oder von mir?«

Er begann zu husten. »Sie benehmen sich überaus unsittlich, Miss Warren. Ich fürchte, ich muss Sie dem General melden.«

»Soll ich dann melden, dass du unseren Aufpasser fortgeschickt hast?« Ich setzte mich neben ihm auf.

Er schlang mir einen Arm um die Schulter. »Man würde uns bestimmt beide in den Kerker werfen.«

Wellen schwappten ans Flussufer, um sich Schnee einzuverleiben. Ich fühlte mich, als würde das Wasser mich hineinziehen, doch es war nur die Feuchtigkeit vom Boden, die durch die Decke hochzog und meinen Hintern verkühlte.

Wash gab mir noch einmal die Chance, mir meine Zunge zu verbrennen, schraubte den Kaffee dann zu und steckte die Flasche ein. »Wir sollten lieber gehen, ehe wir selbst zu einem Monument gefrieren.« Schwerfällig kam Wash auf die Füße und zog mich hoch, gerade noch rechtzeitig, bevor mein Körper taub wurde.

Ich packte den Korb ein, während er die Decke zusammenfaltete. »Hast du schon darüber nachgedacht, was du nach dem Krieg machen willst? Bleibst du bei der Armee?«

»Bitte sag jetzt nicht, dass meine feierliche Rede über die ›Vereinigung des Landes‹ völlig umsonst war und mir lediglich ein paar Butterstreifen zugehört haben.«

»Du hast gesehen, wie ich gelauscht habe?« Ich warf eine Stoffserviette nach ihm.

»Ich bekenne mich schuldig. Normalerweise bin ich kein solcher Angeber. Aber als ich dich gesehen habe …«

»Na schön, also ich habe gelauscht, und du hast angegeben und Geschichten erfunden.« Ich nahm seine Hand, während wir am Fluss entlang zum vereinbarten Treffpunkt liefen. »Wie wäre es, wenn du mir mehr über deine Pläne erzählst, sofern sie real sind, damit wir bestimmen können, wer von uns beiden der Schuldigere ist?«

»Oh, sie sind durchaus real.« Er blinzelte zum Fluss hinüber, in dem sich die Sonne nun spiegelte, und kramte dann in seinen Taschen nach seinem Zeitmesser. »Er sollte jeden Moment hier sein.« Er legte die Decke auf einem Felsbrocken ab. »Ein Platz zum Sitzen für meine Liebe und eine Geschichte, um ihr die Zeit zu vertreiben, während wir warten.«

»Meine Liebe … Sie spricht. Jedoch sagt sie nichts. Gut, was tut’s?«

»Hamlet?«

»Romeo.« Oje. Hatte ich uns soeben mit Romeo und Julia verglichen? »Nicht, dass du …«

»Mich mit Shakespeare messen zu wollen ist zwar etwas verwegen, aber ich werde mein Bestes tun.« Wash breitete die Arme aus und verbeugte sich wie vor großem Publikum. »Ich war ein junger Bursche von gerade einmal zehn Jahren, als ich mit meinem Vater auf einer Fähre unterwegs war.« Er nahm einen flachen Kieselstein hoch und ließ ihn über das von Eisschollen überzogene Wasser springen. »Wir fuhren von New York nach Brooklyn an jenem Januartag, der so bitterkalt war, dass es heute regelrecht mild dagegen ist. Passagiere kauerten sich neben die Pferde, um sich auf dem Boot zu wärmen, das kein Dach hatte und somit keinerlei Schutz bot. Vater hingegen lief auf und ab, als ob ihm die Kälte nichts ausmachte. Ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten, und schlitterte über das vereiste Deck. Schneeregen brannte in meinen Augen, und ein scharfer Wind pfiff durch meinen Mantel und fuhr mir in den Rücken.«

Er stellte seinen Kragen auf, wie um die Kälte von damals abzuwehren. »Der Fluss war von Eisbrocken blockiert. Wir hatten die Hälfte der Strecke geschafft, als das Boot langsamer wurde. Der Schneeregen fiel immer heftiger und überzog alles mit einer Eiskruste, auch das Schaufelrad. Der Bug stieß gegen eine massive Eisscholle, worauf die Fähre mit einem Ruck zum Halten kam.«

Die Arme ausgestreckt, blickte Wash über den Fluss, wie um die Erinnerung an dieses einschneidende Erlebnis herbeizurufen. Fast schon unheimlich, wie er damit auch bei mir Erinnerungen weckte. Doch hier ging es um seine Geschichte, und es war ihm sichtlich ein Bedürfnis, sie zu erzählen, und so konzentrierte ich mich wieder auf ihn.

Wash hielt sich die Ohren mit den Händen zu und zuckte zusammen. »Das Eis kreischte am Bug. Rings um uns herum standen seekranke Passagiere an der Reling und stöhnten mit jeder Neigung des Bootes. Da sagte mein Vater zu mir: ›Wir müssen helfen.‹

Das Boot geriet durch eine Welle in Schieflage, sodass ein Mann übers Deck rutschte und gegen die seitliche Reling knallte. Aus Angst, selbst den Halt zu verlieren, packte ich den Arm meines Vaters. Ich war so klein, dass ich unter der Reling hindurch ins Wasser gerutscht wäre.«

Als ich mir vorstellte, wie er in die eisigen Fluten stürzte, zuckte ich zusammen und krallte mich in die Decke.

»Am Bug zitterte die Mannschaft, starrte aufs Eis und begann, mit einer Stake darin herumzustochern. Mein Vater schnappte sich die Stake, beugte sich über die Reling und stieß mit seinem ganzen Gewicht gegen das Eis, direkt vor der Bugspitze. Die Eisscholle löste sich, und er dirigierte sie mit der Stake nach Steuerbord.

Die Sonne ging derweil unter. Es blieb uns nur noch wenig Tageslicht. Die Männer stellten sich am Bug des Bootes mit allerlei Werkzeug auf. ›Eins, zwei, drei‹, zählten sie und stießen zu. Nach ein paar Stößen gab ein großer Eisklumpen nach, und das Boot schlingerte vorwärts.

Da begann auch das Schaufelrad sich quietschend vorwärtszubewegen, die Eiskruste zersprang wie Glas, und alle jubelten. Dann legten wir Decken auf die armen, verängstigten Pferde.« Er ging neben mir in die Hocke und legte mir eine Hand aufs Knie. »Ich hätte mich auch gerne unter einer der Decken verkrochen.«

Mein Anstand und mein Herz rangen miteinander, da ich einerseits seine Berührung und den glücklichen Ausgang der Geschichte begrüßte und andererseits das tadelnde Ts, ts, ts meiner Mutter in den Ohren hatte. Aus Angst, der Kutscher oder jemand anderes könnte auftauchen, entzog ich mich seiner Hand.

Meine Hände und mein Gesicht waren so eisig, als wäre ich selbst auf jener Fähre gewesen, und ich war enorm erleichtert, als der Kutscher kam. Wir stiegen ein und schlüpften unter die Felldecke. Als die Kutsche anfuhr, lehnte ich meinen Kopf gegen seine warme, stabile Schulter. »Erzähl mir, was als Nächstes geschah.«

»Jetzt kommt der beste Teil.«

»Oh, los, erzähl schon.«

»Papa sagte: ›Niemand sollte so etwas erdulden müssen. Eines Tages sind Fähren wie diese Geschichte, Junge. Komm, ich will dir etwas zeigen.‹ Aber meine Zähne klapperten, und ich konnte mich nicht bewegen, sodass er mir seinen Mantel gab. Ich schlüpfte also in die viel zu großen, vorgewärmten Ärmel, und er führte mich zur Reling. ›Wie lange wird es noch dauern?‹, fragte ich.

›Zehn Jahre vielleicht.‹ Letzteres sagte er auf Deutsch, er kommt nämlich aus Deutschland. Dann deutete Papa hinüber zur Küste von Brooklyn. ›Siehst du die Landzunge dahinten? Da könnte ich eine Brücke bauen. Dann könnten Züge, Kutschen und Mütter mit ihren Kinderwagen das ganze Jahr über schnell und sicher den Fluss überqueren.‹«

Wash blickte aus dem Fenster der Kutsche, wo der Potomac in der Ferne verschwand. »Dann zog Papa sein Tagebuch und einen Bleistift aus der Manteltasche und zeichnete Wellen und darüber eine zwischen zwei Türmen gelegene Fahrbahn. ›Wenn du einmal ein erwachsener Mann bist‹, sagte er mir, ›werden alte Klapperkisten wie diese Fähre auf dem Trockendock vor sich hin rosten.‹

Dann gab er mir das Tagebuch, und ich zeichnete ein kaputtes Boot. Ich sagte, ich würde ihm helfen, und wenn die Brücke fertig war, würden wir oben auf dem Turm stehen und den Klapperkisten beim Rosten zusehen. Daraufhin sagte Papa: ›Sehr gut, mein Sohn. Das ist die richtige Einstellung. Wir kämpfen nicht gegen den Fluss an, wir überwinden ihn.‹ Das ist der Grund für meinen Traum. Der Grund, weshalb ich Ingenieur geworden bin und Brücken baue.«

»Wirst du sie bauen, wenn der Krieg vorbei ist?«

»Mein Vater wird sie bauen, mit meiner Hilfe. Aber es ist eine ziemliche Herausforderung, und zuerst müssen wir die Brücke in Cincinnati fertigstellen.« Er starrte auf seine Finger, während ich mich fragte, ob ich ihn bitten sollte, das näher zu erklären. Dann wandte er sich mit besorgtem Blick nach mir um. »Habe ich dich gelangweilt mit meinen Geschichten?«

»Ganz und gar nicht.« Ich rutschte näher und beantwortete die Frage, die eigentlich dahinterstand, mit einer Gegenfrage: »Erzählst du mir morgen mehr davon?«

Wie um mir darauf sein Versprechen zu geben, drückte er meine Hand.

***

Wash und ich verbrachten während seiner Urlaubswoche so viel Zeit wie möglich miteinander. Wir spielten Schach und puzzelten jeden Abend zusammen, um uns von unseren langen Spaziergängen und Picknicks tagsüber auszuruhen, bei denen wir stets entweder in Begleitung des Kutschers, von G. K. oder seiner Frau waren, die wir Millie nannten. Millie war optisch das genaue Gegenteil von mir und zierlich, ja zart.

Jeden Morgen traf Wash ein wenig früher ein und blieb jeden Abend ein wenig länger. Der Gedanke daran, dass er in den Krieg zurückkehren würde, lag mir, je mehr Zeit verflog, immer schwerer im Magen. In meinen Träumen verfolgten mich Bilder davon, wie er auf einer explodierenden Brücke um sein Leben rannte. Bei Tagesanbruch an seinem letzten Morgen, ich saß gerade noch zusammengesunken über meiner Tasse Tee, hörte ich, wie es an der Tür klopfte und Millie öffnete. Washs tiefe Stimme lockte mich in meinem Morgenmantel zur Tür.

»Captain Roebling«, tadelte ihn Millie. »Sie versuchen, so viel wie möglich aus einem Tag herauszupressen, wie?«

»Ganz meine Philosophie«, strahlte ich ihn an.

Rosa Streifen am Himmel verliehen Wash mit dem Picknickkorb in der Hand rosig leuchtende Konturen. »Sonnenaufgänge sind ohnehin viel schöner als Sonnenuntergänge, findest du nicht?«

DREI

Cold Spring, New York

So plötzlich wie Wash in mein Leben getreten war, forderte der Krieg ihn wieder zurück. Einige Tage, nachdem er abgereist war, traf ein Brief ein, der meine Sehnsucht nach ihm nur noch verstärkte.

Mein Liebling Em,

G. K. und ich sind sicher angekommen, mit nur einem kleineren Vorfall. Mein dämlicher Gaul fiel heute hin, sodass ich einen Purzelbaum über seinen Kopf schlug. Doch ich war eher wieder auf den Beinen als er und musste ihm einen Tritt versetzen, damit er wieder hochkam.

Der nächste Brief traf eine Woche später ein, als ich gerade erwog, mir Wash aus dem Kopf zu schlagen und stattdessen für das Frauenwahlrecht zu kämpfen. Doch ich war hin- und hergerissen und fragte mich, ob meine Chancen, ihm zu begegnen, besser standen, wenn ich im District übernachtete oder in Cold Spring blieb, wo G. K. am anderen Flussufer in West Point an Lagebesprechungen teilnahm.

Wash schrieb weiter:

Nachts kann ich mich nur wenige Stunden ausruhen, ausgestreckt auf zwei Stühlen oder zusammengekauert auf dem Boden. Wenn ich von diesem furchtbaren Ort zurückkehre, werde ich zwei Jahre lang durchschlafen, unterbrochen nur von meinen Besuchen bei dir.

Aber Uncle Robert Lee ist noch lange nicht am Ende, und wenn wir nicht mächtig aufpassen, könnte er uns immer noch schlagen … Kürzlich bin ich mit einem Heißluftballon aufgestiegen. Von dort oben hatte ich einen guten Blick über das Schlachtfeld, allerdings hatte der Feind auch einen guten Blick auf mich.

Ich las seine Briefe jeden Abend vor dem Schlafengehen und legte sie dann unter mein Kissen, in dem Aberglauben, dass er dann einen ruhigeren Schlaf finden würde.

Manchmal ließ er mehr als nur die Belastung und Frustration durchblicken: Die Truppen unter Leitung von diesem Nichtsnutz Grant sind müde und erschöpft. Mir ist glücklicherweise nichts geschehen; eine Kugel, die für mich bestimmt war, traf meinen Ordonnanzoffizier und tötete ihn augenblicklich.

Was soll man auf so etwas erwidern?

Ich zerknüllte Dutzende angefangene Antwortschreiben, in denen ich ihn meiner Unterstützung und Anteilnahme versicherte, ehe ich befand, dass das, was er wirklich von mir bräuchte, zuversichtliche, hoffnungsvolle Worte waren. Ich kann nur deine Worte wiederholen:Meine Liebe zu dir ist mächtiger als jedes andere Gefühl, und die zeitliche und räumliche Entfernung vertiefen dieses Gefühl nur noch.

Gelegentlich konnte er mich kurz besuchen, doch in den langen Zeiträumen dazwischen kehrte ich zu meinen üblichen Beschäftigungen zurück und besuchte Freunde, unternahm Ausritte, lebte bei meiner Mutter und wartete darauf, dass mein eigenes Leben endlich begann.

Gleichzeitig wehte ein Wind, dem ich mich nicht widersetzen konnte und der mich unweigerlich in eine Richtung trug, die mehr Schicksal denn freie Wahl zu sein schien. Ich war rastlos und gereizt, sodass meine Freunde immer öfter Ausreden fanden, mich nicht zu besuchen. Ja, ich ertrug mich selbst nicht einmal mehr.

***

Mutters Nachbarin und Freundin Eleanor White hatte mich zum Tee zu sich eingeladen, vorgeblich um sie aufzuheitern, nachdem ihre Tochter das Nest verlassen hatte. Doch insgeheim hegte ich den Verdacht, dass es in Wirklichkeit darum ging, mein Interesse an einem gewissen Captain zu ergründen.

Eleanor war eine rundliche, liebenswürdige Dame, die ich bereits mein ganzes Leben kannte. Ihr Salon war ähnlich dem von Mutter, nur etwas kleiner. Ein großer grüner Diwan mit einem geschwungenen Rahmen aus Eiche, flankiert von zwei passenden Polsterbänken, bildete eine gemütliche Konversationsecke. Der mit Ornamenten verzierte Marmorkamin wurde von Bücherregalen aus Walnussholz umrahmt.

Wir saßen auf dem samtenen Diwan und tranken Tee. Zwischen uns fragte die Tageszeitung in großen Lettern: »Frauenwahlrecht – ein hoffnungsloser Fall?« Ich kniff die Augen zusammen, um den kleingedruckten Text darunter lesen zu können: »Frauen widmen ihre Energie kriegswichtigen Diensten.« Meine kurze Betätigung beim Rollen von Binden und Packen von Paketen hatte einen deutlichen Mangel an Energie für Aufgaben dieser Art erkennen lassen.

Eleanor folgte meinem Blick zur Zeitung. »Der Krieg wird nicht ewig dauern. Und was dann?«

Bilder davon, wie ich die Proteste der Frauenbewegung anführte, zogen vor meinem inneren Auge vorbei und ließen mein Herz höherschlagen. Eine geeignetere Rolle konnte ich mir für mich selbst gar nicht vorstellen.

»Wenn der Krieg vorbei ist, werden die Suffragetten wieder aktiv werden, und diesmal werde ich mit der Schule fertig sein und mich ihnen anschließen«, sagte ich.

Eleanor zog ihre Stola enger. Das Kaminfeuer war heruntergebrannt, sodass ich aufstand und ein Holzscheit nachlegte. Mit den Fingern fuhr ich über die gusseisernen Statuen auf dem Kaminsims und den Bücherregalen.

Ihre Familie lieferte der Gießerei Eisen, und sie machte aus den Bruchresten Kunst. Gelegentlich bekam ich von ihr ungewöhnliche Geschenke, wie den Buchstaben N, der an meiner Wand hing. Unterstützt von einem Arbeiter hatte sie den backsteingroßen Eisenklotz erhitzt, dann mit einem Hammer in Form gebracht und ihn mir anlässlich meiner Frauwerdung geschenkt. Irritiert hatte ich sie daran erinnert, dass mein Name gar keine solche Initiale enthält.

Eleanor hatte daraufhin gelacht. »Nein, Liebes. Dieses N sollst du dir an die Wand hängen, damit du immer weißt, wo rechtweisend Nord liegt.« Als Kind hatte sie mir bei vielen ihrer Besuche ihre Kunstwerke gezeigt, mir erklärt, wie sie zusammenpassten und sich veränderten, wenn man sie aus einer anderen Perspektive betrachtete. Es war ein ganz und gar ungewöhnlicher Anblick in einem Salon und gefiel mir dadurch umso mehr.

»Was ist los, Schätzchen? Du schleichst umher wie eine Katzenmama, die ihre Jungen verloren hat.« Eleanor spähte über ihre Schildpattbrille, die Teetasse an den Lippen.

»Ich schleiche nicht. Ich studiere.« Vorsichtig berührte ich das Perpetuum mobile – eine Art gusseisernes Zahnrad mit Speichen, die, sobald sie die Spitze erreichten, umklappten und dadurch eine ewige Vorwärtsbewegung auslösten.

Sie unterdrückte ein Lächeln. »Hast du plötzlich ein Interesse an Thermodynamik entwickelt?«

»Vielleicht. Wäre daran etwas Schlimmes, Mrs. White?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, das wäre ein gutes Zeichen, würde ich sagen.«

Ihr Grinsen irritierte mich ebenso sehr wie meine Korsettstäbe. »Wieso fragen Sie mich nicht frei heraus nach dem, was Sie zu wissen wünschen?«

»Weil es sich nicht gehört, meine Liebe. Du musst noch viel lernen, was die höfliche Konversation angeht, und das trotz des guten Vorbilds deiner Mutter.« Sie stellte die Teetasse ab und seufzte. »Aber mir ist bewusst, dass junge Damen heute manches anders sehen.«

»Es war nicht meine Absicht, unhöflich zu sein.«

»Die eigene Absicht und die Worte, die man wählt, sind zwei Paar Schuhe, meine Liebe.« Sie verschränkte ihre Finger ineinander. »Nun, wie soll ich es formulieren? Welche Absichten verfolgst du mit deinem jungen Gentleman?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Oder sollte ich deutlicher werden – nehmt ihr Handlungen vor, die man besser für die Ehe aufspart?«

Meine Wangen begannen zu glühen, und ich räusperte mich, gleichzeitig war ich bemüht, meine Fassung wiederzufinden. »Offenbar hat meine Frage diese Unterredung in unerwünschte Bahnen gelenkt. Aber ich will versuchen, dennoch darauf zu antworten.« Ich zupfte am Kragen meiner Bluse, der mir den Hals abschnürte. »Captain Roebling ist ein überaus einnehmender Gentleman, der mich mit Aufmerksamkeit und unverdienten Komplimenten bedacht hat.«

»Davon habe ich mich mit eigenen Augen überzeugen können.«

»Leider sind wir einander zu einem höchst ungelegenen Zeitpunkt begegnet, denn er befindet sich natürlich im Krieg, während ich gerade erst herausfinde, wer ich bin.«

»Meine Liebe, den Zeitpunkt kann man ebenso wenig beeinflussen wie die Liebe.«

»Das stimmt. Aber es gibt manches, was ich tun muss – oder zumindest versuchen muss –, bevor ich mich in die Welt eines anderen begeben kann. Eines habe ich über diesen Captain gelernt: Sein Leben ist in einem Maße strukturiert und zielgerichtet, wie es meines nicht ist, und wenn ich mich in seine Welt begebe, werde ich gewiss nicht mehr dieselbe sein wie zuvor. Deshalb muss ich so lange wie möglich widerstehen, wenn Sie verstehen, und mit offenen Augen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

Es versetzte mir einen Stich, wenn ich Wash mit einem sich ausbreitenden blutigen Fleck auf der Brust vor mir sah. »Auch die ziemlich reale Möglichkeit, dass …« Ein Schluchzen drohte meine Worte zu ersticken, sodass ich meine Hand auf ihre legte und fortfuhr. »Was Ihre zweite Frage anbelangt …«

»Lass nur.« Sie senkte den Blick. »Ich denke, die hast du hinreichend beantwortet.«

***

Doch sosehr ich auch versuchte, über diese Welt voller Möglichkeiten zu lesen oder daran teilzuhaben, so ertappte ich mich doch oft dabei, wie ich von einem gewissen Captain mit honigfarbenem Haar träumte, dessen tiefe Stimme alle anderen auslöschte. Eines Tages, im Spätsommer, öffnete ich die Tür in der Erwartung, die Freundinnen meiner Mutter wären zum Tee gekommen. Stattdessen stand Wash in seiner Ausgehuniform vor mir. Sofort flog ich in seine Arme, wie von einem Heißluftballon in die Lüfte enthoben.

»Komm herein.« Ich winkte ihm, nahm seine Hand und führte ihn an ein ungestörtes Fleckchen in unserem Garten. Unter einem Spalier nahmen wir auf zwei Schaukeln Platz. Ich wollte ihn ganz für mich haben, geschützt vor den neugierigen Blicken meiner Mutter und ihrer Gänseschar an Freundinnen.

Weinreben und Rosen umrankten uns und boten uns in diesem feinverflochtenen Nest Schutz vor der Spätnachmittagssonne. Er schloss mich in die Arme. »Du wirktest überrascht, mich zu sehen. Hast du denn meinen Brief gar nicht bekommen?«

»Nein, aber es ist eine freudige Überraschung.« Wir küssten uns, und seine Haut kitzelte meine Lippen. Viel zu bald schon löste er sich von mir, woraufhin ich protestierte und seine Uniform an der Schulter festhielt.

»Uns bleibt nicht viel Zeit«, sagte er.

»Wie lange habe ich dich für mich?«

»Es tut mir leid, das stand alles im Brief. Nur etwa eine Stunde, fürchte ich.« Er strich mir mit dem Handrücken über die Wange und verursachte mir Gänsehaut, als er mir eine Ringellocke hinters Ohr schob.

Am liebsten hätte ich lauthals geschrien über die Ungerechtigkeit der Welt und mich dann mit ihm auf eine einsame Insel geflüchtet, einsam – bis auf uns zwei. Doch ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Ich liebe dich, Em.« Wash nahm meine Hände in seine, rutschte von der Schaukel herunter und ging vor mir auf die Knie. Mit großen, tiefblauen Augen sah er mich an. »Womöglich wirkt das etwas überstürzt, aber ich weiß, was ich fühle.« Er hob eine meiner Hände an seine Bartstoppeln. »Ich möchte mit dir zusammen sein, nur mit dir, und die Zeit ist nicht auf unserer Seite.«

»Wash? Was …?«

»Ich versuche gerade, dir eine wichtige Frage zu stellen.«

Hitze stieg mir ins Gesicht. Meine unbändige Freude darüber, dass er da war, wurde von dem Schutzpanzer gedämpft, der mein Herz umgab. Ja, ich wollte ihn sehen, so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen. Doch vor dem nächsten Schritt galt es zunächst ein großes, finsteres Hindernis zu überwinden. Ich wollte sie hinauszögern, die Liebesbekenntnisse, die Gedanken an eine gemeinsame Zukunft, denn der Krieg würde mit aller Wahrscheinlichkeit dafür sorgen, dass mein Herz in Fetzen gerissen würde. Mutter hatte mich wenig taktvoll daran erinnert, dass G. K. als General im Visier des Feindes stand und seine Adjutanten ihr Leben geben würden, um ihn zu schützen. Die Schreckensvorstellung, meinen Bruder oder Wash zu verlieren, verfolgte mich bei Tag und brachte mich bei Nacht um den Schlaf.

»Wir haben alle Zeit der Welt, Wash. Ich werde mich in deiner Abwesenheit mit keinem anderen treffen. Das versichere ich dir.« Ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu kontrollieren, und klopfte auf den Platz neben mir. »Jetzt komm schon.«

Lachend schüttelte er den Kopf. »Emily, ich knie nicht vor dir, um dich zu fragen, ob du meine Angebetete sein willst. Ich frage dich, ob du meine Frau werden willst.«

»Oh!«, kreischte ich. »O Gott.« Im Eiltempo hatte er die Liebesbekenntnisse hinter sich gelassen, ohne meine Antwort abzuwarten, hatte die Ungewissheit des Krieges umschifft und war lächelnd und unwiderstehlich an dem Punkt angelangt, den ich herbeigesehnt und zugleich gefürchtet hatte. Ich brauchte ein wenig, um mich zu sammeln.

»Das ist nicht die Antwort, auf die ich gehofft hatte.« Er ließ meine Hand los und schloss die Augen.

»Gib mir eine Sekunde, Wash. Ganz offensichtlich hast du dir das gut überlegt, aber mich trifft es völlig unvorbereitet.«

»Verzeih mir meine Anmaßung«, sagte er steif. »Ich dachte, du empfindest dasselbe wie ich.«

Ich kannte diesen Mann gerade einmal sechs Monate. Wir hatten nur wenige Tage miteinander verbracht, und dennoch war ich hoffnungslos verliebt. Trotzdem hatte ich mir immer vorgestellt, er würde mir irgendwann an einem romantischen Abend in ferner Zukunft einen Antrag machen, nachdem er mir gebührend den Hof gemacht hatte. Alles ging so schnell.

Ich fegte ein einsames Rosenblatt aus meinen Kleiderfalten. Sag nein. Sag, wir sollten warten, zumindest bis der Krieg vorbei ist und wir mehr Zeit miteinander verbringen können. Sag ihm, wir sollten nichts überstürzen und darüber reden, wenn wir den Kopf frei haben und uns nicht der Krieg und das Getrenntsein die Sinne vernebeln. Ich dachte an die verwundeten Soldaten, an die sich ausdehnenden Friedhöfe allerorts. Ich wusste, der Schmerz wäre unerträglich, wenn ich Wash verlieren würde …

»Ja.« Ich ignorierte meine innere Stimme, aber ich konnte ihm einfach nicht in die Augen schauen und ihm einen Korb geben, um ihn dann zurück in den Krieg zu schicken. Insbesondere, da ich tief im Innersten wusste, dass er recht hatte – ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Wie auch immer meine Welt voller Möglichkeiten aussehen sollte, sie musste ihn beinhalten. »Ja, ich will.«

Er ergriff meine Hand, und als wir über das Gras und die Blumenbeete stolperten, verdrängte ich meine Sorgen.

***

Am nächsten Morgen streifte ich mir den Verlobungsring über, den Wash mir gegeben hatte: ein zarter goldener Ring mit blauen und kristallklaren Steinen, die in Form einer Blume angeordnet waren. Obwohl ich mich darüber freute, brachte er wieder ein tiefes Gefühl von Verlust zutage, den ich Jahre zuvor erlitten hatte.

Doch ich verdrängte den Gedanken daran und lief hüpfend und Liebestraum Nr. 3 summend die Treppe hinunter. Vielleicht verriet ich mich dadurch. Mutter brauchte ungefähr dreißig Sekunden, bis sie den Ring entdeckt hatte. Als ich gerade zum Frühstücksraum strebte, ergriff sie meine Hand, setzte die Brille auf, die sie an einer Kette um den Hals hängen hatte, und begutachtete den Ring. »Möchtest du mir etwas erzählen, Emily?«

»Er hat mir einen Antrag gemacht«, sagte ich freudestrahlend, woraufhin sie mich umarmte.

Mutter betrachtete erneut den Ring. Die Edelsteine warfen einen sternförmigen Lichtschein auf ihr Gesicht, als sie meine Hand in der Sonne drehte und wendete. »Grundgütiger, ich glaube, das sind Diamanten. Dein Verlobter scheut wirklich keine Kosten. Ganz Cold Spring wird aus dem Häuschen sein.« Sie nahm mich am Handgelenk. »Komm, lass uns reden.«

Beim Frühstück referierte ich alles, was ich über die Roeblings wusste. »Washingtons Vater heißt John Roebling und ist aus Deutschland hierher in die Vereinigten Staaten immigriert, nachdem er vom ›Land der unbegrenzten Möglichkeiten‹ gehört hatte.«

»Das hattest du mir bereits erzählt. Außerdem habe ich über ihn gelesen. Wahrscheinlich weiß ich mehr über ihn als du.«

Ich verengte meine Augen zu Schlitzen. Wenn es nach Mutter ging, hatte ich nie genug oder das Richtige gelesen. »Wash beabsichtigt, nach dem Krieg in den Familienbetrieb einzusteigen. Sein Vater baut Brücken für die Armee.« Er sprengte sie gelegentlich auch, doch ich ging davon aus, dass das wohl kaum für ihn sprach.

***

Einige Monate später hegte ich Zweifel daran, einen Mann zu heiraten, den ich erst seit Kurzem kannte. Als ich ihm meine Bedenken anvertraute, antwortete er:

Du befürchtest, unsere Zuneigung könnte nach der Hochzeit schnell erkalten; ein kurzzeitiges Getrenntsein von meinem Liebling wäre ein Mittel dagegen, doch leider ist dieses Heilmittel genauso schlimm wie die Krankheit selbst. In jedem Fall verleiht es den Dingen ein wenig Würze, wenn sie nicht so leicht zu kriegen sind.

Unser letztes Treffen vor unserer Hochzeit war ebenso herrlich wie herzzerreißend. Wir genossen es, zusammen zu sein, während die Uhr erbarmungslos tickte. Zwei Tage lang wichen wir einander kaum von der Seite, wie um zu verhindern, dass sich irgendetwas zwischen uns drängte.

Als der gefürchtete Tag seines Abschieds gekommen war, verharrten wir bis zur letzten Sekunde auf dem Bahnsteig, als der Schaffner warnend pfiff. Er umarmte mich fest, und ich schloss die Augen, um all das festzuhalten: das Gefühl, wie ich sicher in seinen Armen lag, das Kribbeln seines Barts, wenn wir uns küssten, den harzigen Duft seines Rasierschaums. Ich wollte diesen Moment konservieren wie Rosenblüten, die man in einem Buch presst.

Ein Soldat trat an seine Seite. »Sir, es wird Zeit.«

Wash flüsterte mir ins Ohr: »Diese Trennung ist nur ein Wimpernschlag im Laufe unseres gemeinsamen Lebens. Halte durch, Liebling.«

Ich starrte auf seine Stiefelspitzen, damit er die Tränen in meinen Augen nicht sah. Dann küsste er meine Stirn und ließ meine Hand los. Hochgewachsen und stattlich ging er schnurstracks zum Zug und plauderte mit Soldaten. Ihm schien es leichter zu fallen, die eine Tür im Kopf zuzumachen und eine andere zu öffnen, wie wenn man von einem Zugabteil ins nächste tritt. Vielleicht musste man das können, um die Grausamkeit des Krieges zu überleben. Ein letztes Mal drehte er sich um, um mir zu winken, dann stieg Wash in den Eisenbahnwagon. Ich warf ihm eine Kusshand zu, doch zu spät. Die schwarze Schlange hatte ihn mit Haut und Haar verschlungen.

***

Es wurde ein furchtbares Jahr für die Potomac-Armee, und ich betete dafür, dass der Krieg bald enden würde. Mein Bruder und Wash hatten in ihren Briefen erwähnt, in Petersburg und Spotsylvania gewesen zu sein, doch ihr aktueller Standort wurde für gewöhnlich als »irgendwo in Virginia« angegeben. Anfangs kamen Washs Briefe täglich, dann nur noch wöchentlich, und zuletzt erhielt ich im Herbst nur noch eine Handvoll Briefe. Darin versuchte er, mich mit unbekümmerten Geschichten zu beruhigen, doch die Zeitungen zeichneten ein anderes Bild, nämlich dass Virginia besonders schwer vom Krieg getroffen war.

Wash und ich erzählten einander in Briefen von unseren Familien, ehe wir den Mut fanden, sie einander vorzustellen. Mutter hat früh mehrere Kinder verloren und stellt sich deshalb schützend vor die verbliebenen sechs wie eine Bärenmama, die von einem Wolfsrudel bedroht wird, schrieb ich. Seine Briefe verrieten mir, dass seine Familie groß, laut und anstrengend war, nur gemildert durch den schelmischen Humor, den sie teilten. Ein wenig fürchtete ich mich davor, sie zu treffen. Er hingegen schien überhaupt nicht besorgt darüber, dass sein Vater meine Mutter erstmals treffen würde. Vielleicht war ich bei meinen Schilderungen nicht genug ins Detail gegangen.

In jenem Herbst beschlossen wir, es sei am besten, wenn sich zuerst unsere verbliebenen Elternteile treffen würden und unsere Geschwister bei der Hochzeit aufeinandertreffen würden. Für das Treffen wurde neutrales Terrain gewählt. Da Mutter und ich aus Cold Spring kommen würden, und Wash und sein Vater aus Trenton, entschieden wir uns für einen Ort ungefähr in der Mitte. Auf meinen Wunsch hin entsandte G. K. Wash deshalb zu einer Eisengießerei in Ringwood, New Jersey, um über Verträge zu Munitionslieferungen zu sprechen.

Abram Hewitt, ein Geschäftspartner von Mr. Roebling, bot an, das Treffen auf seinem Grundstück bei den Eisenminen stattfinden zu lassen. Die Hewitts und ihre Partner waren der größte Eisenlieferant der gesamten Ostküste, wenn nicht gar des gesamten Landes. Da John Roebling ein Erfinder und Hersteller von Drahtseil war, waren sie gut miteinander bekannt.

Die dreistöckige Villa der Hewitts war ein Mix verschiedener Baustile: die klaren, kastenförmigen Linien des Federal Style, in der Mitte des Dachs eine Kuppel im italienischen Stil sowie Erker mit vielen Fenstern. Das Mansardgiebeldach und die Dachgauben erinnerten mich an das Haus meiner Kindheit.

Mr. Hewitt, ein großer, hagerer Gentleman, führte uns über das Anwesen mit seinen weitläufigen französischen Gärten. Gepflegter Rasen und Teiche in allen Größen, in denen sich die ganze Pracht des Gartens spiegelte, umgaben die Villa, sowie allerlei kuriose Gebilde aus Eisen. Eine riesige Kette, deren Glieder je einen halben Meter lang waren, lag im Vorgarten ausgebreitet.

»Das Eisen stammt aus dieser Mine; die Kette wurde eingesetzt, um die britischen Schiffe davon abzuhalten, den Hudson River hinaufzusegeln«, erklärte Hewitt.

»Nein, soweit ich weiß, stammt das Eisen für die Kette von unserem Flussufer und wurde in Cold Spring gegossen«, sagte Mutter, die sichtlich in Diskutierlaune war.

Da sich die anderen beiden freudig auf die Diskussion einließen, streifte ich ein wenig im Garten umher und bewunderte die duftenden Blüten. Schon bald kündete der knirschende Kies an, dass sich eine Kutsche näherte.

Wash sprang als Erster heraus und hielt seinem Vater die Tür auf. Ich hatte zwar eine Fotografie gesehen, doch nichts hatte mich darauf vorbereitet, dem leibhaftigen Mann zu begegnen. John Roebling hatte leicht schütteres Haar und dieselben eisblauen Augen wie Wash, nur waren seine von einer Furcht einflößenden Intensität. Sein grau melierter Bart ragte bis zu seinem Hemdkragen hinunter.

»Vater, das ist meine geliebte Emily.«

Ich streckte die Hand aus, die Mr. Roebling so fest drückte, dass es beinahe schmerzte. »Willkommen in unserer Familie. Sie müssen die junge Dame sein, die einen solchen Eindruck auf meinen Sohn gemacht hat.« Abgesehen von seinem deutschen Akzent war sein Englisch flüssig und nahezu perfekt.

Wash streckte die Arme nach mir aus. Mich schockierte, wie seine sonst so gut sitzende Uniform an ihm hing und kleine Fältchen sich in sein Gesicht geschlichen hatten. Wir gaben uns ein kurzes Küsschen, ehe wir den anderen in die Sitzecke folgten. Wash stellte Mutter seinem Vater vor.

Mr. Roebling begrüßte sie mit ausgestreckter Hand: »Mrs. Warren, es ist mir eine Freude.«

Mir stockte der Atem. Er hatte nicht abgewartet, bis sie ihm zuerst die Hand anbot. Doch Mutter nahm Mr. Roeblings Hand entgegen und musterte ihn von oben bis unten. »Nennen Sie mich doch Phebe. Wir sind ja künftig eine Familie.«

Wir nahmen auf verschnörkelten, natürlich gusseisernen Gartenstühlen Platz. Mr. Hewitt öffnete eine Ledermappe, die am Boden stand, und zog ein Kassenbuch heraus. »Wenn die Damen die Geschäftsangelegenheiten entschuldigen. Hier sind die Preise, die ich für Sie aufgelistet habe, Captain.«

Mr. Roebling und Hewitt beugten sich über die Listen und fuhren mit den Fingern die Zahlenreihen entlang. Seltsamerweise gab Wash kaum acht, obwohl er auf Befehl der Armee hergeschickt worden war. Diese Zerstreutheit sah meinem zielorientierten Verlobten so gar nicht ähnlich.

Die Pferde, die von den Kutschen losgemacht worden waren und ein paar Meter weiter weg auf einer Koppel standen, bäumten sich plötzlich auf und begannen laut zu wiehern. Wash zuckte zusammen und verbarg das Gesicht hinter den Armen.