Die Inklusionsfalle - Michael Felten - E-Book

Die Inklusionsfalle E-Book

Michael Felten

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Beschreibung

»Lasst uns offen reden über Inklusion. Was daran sinnvoll ist und was nicht.«
(Michael Felten)


So geht es nicht! Michael Felten bezieht eindeutig Position. Er ist kein Gegner schulischer Inklusion. Aber er wagt auszusprechen, was viele ahnen und nicht wenige bitter erleben: So, wie es läuft, läuft es falsch. Felten beschreibt die Wirklichkeit einer ebenso übereilten wie unterfinanzierten Inklusionseuphorie. Und er deckt Hintergründe auf: Missverständnisse, Fehldeutungen – vor allem aber eine Fülle kindeswohlferner Motive. Gleichzeitig macht er deutlich: Inklusion ist eine Chance, wenn man bereit ist, ehrlich zu sein.

  • Inklusion – das läuft falsch
  • Ein radikales Bildungsexperiment auf dem Prüfstand
  • Klare Worte in einer tabubehafteten Debatte
  • Warum eine gut gemeinte Idee zu scheitern droht

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Michael Felten

Die Inklusionsfalle

Wie eine gutgemeinte Idee

unser Bildungssystem ruiniert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

ISBN 978-3-641-20866-0V001

www.gtvh.de

»Aber er hat ja gar nichts an!«, sagte endlich ein kleines Kind.

HANS CHRISTIAN ANDERSEN (DES KAISERS NEUE KLEIDER)

Denn die Probe auf die Inklusionsforderung bleiben die Praktiken, und dann steht der Beweis noch aus, dass man kann, was man verspricht, und erreicht, was man erreichen soll – und zwar für alle Adressaten.

PROF. HEINZ-ELMAR TENORTH (2011)

Inhalt

Prolog

Schulische Inklusion – Traum oder Trauma?

I. Die Lage

Zwischen Mühsal und Monströsem

Das zunehmende Chaos an unseren Schulen

Praxissplitter, Langzeitbeobachtungen, Pressedebatte

II. Blick hinter die Kulissen

Von Manipulation bis Moralin

Über Hintergründe und Interessen in der Inklusionsdebatte

2.1 Normatives

Von einer pädagogischen Vision zu den hiesigen Schulgesetzen

2.2 Internationales

Andere Länder werfen auch nicht alles in einen Topf

2.3 Empirisches

Wissenschaftliche Befunde – kein Anlass zu Optimismus

2.4 Finanzielles

Inklusion als Bildungssparmodell – Neoliberalismus eben

2.5 Ideologisches

Von Einheitsschule bis Gleichheitsreligion

2.6 Individuelles

Über Schamgefühle und die Concorde-Falle

III. Perspektiven

Mit Maß und Mut

Nicht »Eine Schule für alle«, sondern »Für jedes Kind die beste«

3.1 Schulsystem: Nicht revolutionieren, sondern optimieren

3.2 Lehrer: Nicht ruinieren, sondern unterstützen!

3.3 Bürger: Nicht übergehen, sondern ehrlich beteiligen

Epilog

Dokumente statt Diffamierungen!

Wissenschaftliche Gutachten, juristische Texte, bildungspolitische Aktivitäten

Anhang

Übersicht

Literatur und Links

Anmerkungen

ÜBERBLICK

Prolog

Schulische Inklusion – Traum oder Trauma?

I. Die Lage

Zwischen Mühsal und Monströsem

Das zunehmende Chaos an unseren Schulen

Praxissplitter, Langzeitbeobachtungen, Pressedebatte

II. Blick hinter die Kulissen

Von Manipulation bis Moralin

Über Hintergründe und Interessen in der Inklusionsdebatte

Normatives, Internationales, Empirisches, Finanzielles, Ideologisches, Individuelles

III. Perspektiven

Mit Maß und Mut

Nicht »Eine Schule für alle«, sondern »Für jedes Kind die beste«

Integrationsqualität, Lehrerweiterbildung, Elterninitiative

Epilog

Dokumente statt Diffamierungen!

Wissenschaftliche Gutachten, juristische Texte, bildungspolitische Aktivitäten

Anhang

PROLOG

Schulische Inklusion – Traum oder Trauma?

Stell’ Dir vor, Du beteiligst Dich an einer großen Weltverbesserungsaktion – und am Ende sieht die Erde übler aus als zuvor. Entwicklungshelfer können ein Lied von diesem Problem singen. Sie wollten zum Beispiel dem Stamm der Moros – Halbnomaden der Sahelzone – mit einem gigantischen Bewässerungsprojekt Gutes tun. Zunächst gediehen Menschen und Kühe prächtig, dann aber brach die Population jäh ein – das Grundwasser war versiegt, die Vegetation vollkommen verdorrt.1 Was man zu wenig bedacht hatte: Die Wechselwirkungen in komplexen Systemen sind in der Regel äußerst vielfältig. »Logik des Misslingens« nennt Dietrich Dörner solche Verläufe gut gemeinten Scheiterns.

Derartige Risiken drohen nicht nur in der Entwicklungshilfe, auch das Bildungswesen kennt den Schiffbruch von Projekten, die unter der Flagge des Paradieses segeln. Gehen wir etwa nach Baden-Württemberg, an ein traditionsreiches Gymnasium. Dort hatte man sich drei Jahre lang bemüht, einen autistischen Jungen in den regulären Unterricht zu integrieren. Die Französischlehrerin berichtete stolz, in ihrem Unterricht habe er einmal etwas gesagt, in zwei Jahren, nach zehn Monaten. Täglich dagegen gab es Probleme, wöchentlich Team- und Elterngespräche, vierteljährlich Konferenzen mit Schulleitung und Jugendamt, stundenlang, mit bis zu zwölf Teilnehmern. War das immer noch zu wenig? Oder zu unprofessionell? Am Ende der siebten Klasse ging jedenfalls nichts mehr: Schweren Herzens entschloss man sich, für den Schüler ein Verfahren zur Aufnahme in eine Förderschule einzuleiten. Fast wie bei den Moros eben: Großer Aufwand, erste scheinbare Erfolge, dann eine große Resignation. Und alle waren zu kurz gekommen: der entwicklungsgestörte Junge, der nach langem Hickhack nun einen tatsächlichen Ausschluss verkraften musste; die schwächeren Gymnasiasten, für die es an Förderzeit und Lernruhe gefehlt hatte; die Lehrer, die jede Menge unbezahlte Mehrarbeit geleistet hatten – ohne greifbaren Erfolg.

Handelt es sich hier um einen singulären Rückschlag oder markiert die Geschichte generell den Eingang zu einer Sackgasse? Wer genauer hinsieht, wer sich nicht von Wohlfühlparolen auf Hochglanzpapier blenden lässt, muss feststellen, dass sich unter unser aller Augen eine brisante, weithin unterschätzte Entwicklung vollzieht. Denn unter dem hehren Banner der Inklusion werden viele unserer Schulen derzeit zunehmend umgekrempelt, droht das Bildungssystem langfristig in eine grandiose Schieflage zu geraten. Immer öfter werden nämlich normal oder hoch begabte Kinder zusammen mit leicht oder auch schwer behinderten2 in einer Klasse unterrichtet – ohne dass die dafür nötigen Ressourcen und Kompetenzen vorhanden wären und ohne dass der Sinn dieser Maßnahme grundsätzlich erwiesen wäre. Und in manchen Bundesländern sollen Schüler, die in körperlicher oder geistiger Hinsicht besonderer Unterstützung bedürfen, deren Entwicklung im Lernen oder im sozialen Verhalten untypisch oder erschwert oder eingeschränkt verläuft, möglichst nur noch reguläre Schulen besuchen – die Förderschulen, die diesen Schülern bisher eine besonders auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Bildungsmöglichkeit boten, hofft man schrittweise einsparen zu können.

»Aber ist doch toll – endlich mal eine menschliche Nachricht aus der Welt des Ellenbogen-Kapitalismus, aus den Mühlen der gefühlsarmen Bürokratie«, könnte man jetzt vielleicht denken. Als »behindert« ausgesondert zu werden, auf eine »Sonderschule« gehen zu müssen, das ist doch auch ein unangenehmes Stigma, das beschneidet doch Lebenschancen, das kann doch der Entwicklung junger Menschen nicht wirklich zuträglich sein. Sie dagegen möglichst viel mit allen anderen Kindern zusammenzubringen und individuell zu fördern, das hört sich doch wirklich gut an.

Aber ist, was gut klingt, auch tatsächlich hilfreich? Werfen wir einen Blick darauf, wie sich diese »schönste pädagogische Vision« (DOLLASE)3 in der Praxis anlässt – und was demnächst noch alles auf uns zukommt. In Nordrhein-Westfalen hat man schon einzelne Spezialschulen geschlossen, etwa solche für Schüler mit besonderem Förderbedarf im Lernen4. Das heißt: Die in dieser Hinsicht schwächsten oder labilsten Schüler können (besser: dürfen) dort zukünftig nicht mehr unter sich lernen, also im Schutz einer Gruppe von ähnlich belasteten Kindern, mit speziell für ihre Beeinträchtigungen ausgebildeten Fachleuten. Sie werden vielmehr vereinzelt und in Regelklassen geschickt, wo SonderpädagogenI sie ab und zu besuchen und unterstützen. In diesen großen Regelklassen sind die Förderkinder jetzt nicht nur viel einsamer als bisher, sie spüren ihre Schwächen auch ungleich stärker – tagtäglich haben sie ja nun nicht nur normal leistungsfähige Kinder vor Augen, sondern auch Spitzenschüler. Die mögen zwar tolerant und hilfsbereit sein und ihnen manchmal unter die Arme greifen – aber sie sind einfach um so vieles leistungsstärker als die früheren Kameraden in der Förderschule. Verteilte Schüler bedeutet aber auch springende Pädagogen: Die Förderlehrer haben jetzt keine feste Bezugsgruppe mehr, sie sind vielleicht für acht Klassen gleichzeitig zuständig, springen also von Raum zu Raum – und nicht selten auch von Schule zu Schule, quasi als Reisepädagogen.

»Aber was geht das mich an«, mag man denken, als Mutter oder Vater eines »normalen« Kindes, erst recht als Bürger ohne eigenen Nachwuchs? Inklusion bedeutet leider nicht nur ein Entwicklungsrisiko für Sorgenkinder sowie Überforderung und Geringschätzung ihrer Förderlehrer. Radikale oder unterfinanzierte Inklusion gefährdet auch die Entfaltung der anderen, der Regelkinder – und sie ruiniert letztlich das gesamte Bildungssystem. Da die Förderkinder nur in einzelnen Stunden angemessen betreut werden, bringen sie in der übrigen Zeit den Unterricht oft tüchtig durcheinander. Der billige Rat an die Regellehrer: In Stunden ohne Doppelbesetzung (und das ist in der Regel die Mehrzahl) sollten sie doch einfach auf unterschiedlichen Niveaus parallel unterrichten. Aber dieser Rat ist angesichts der Komplexität der Lage nicht nur zynisch, er führt auch praktisch in eine Sackgasse: Je älter die Schüler und je anspruchsvoller das Lernniveau, desto unrealisierbarer ist so eine »innere Differenzierung« (auch zieldifferenter Unterricht genannt) – eine Lehrperson kann sich nun mal nicht beliebig oft aufteilen, womöglich noch permanent. Nun könnte man diese so unterschiedlichen Kinder ja schulintern nach Leistungsniveaus gruppieren, in G- und E-Kurse, in A-B-C-Gruppen, zumindest in Mathe oder Englisch (»äußere Differenzierung«). Aber das wäre eben wieder die verteufelte Selektion, dann würden Hochbegabte und Lern- oder Sprachbehinderte ja doch nicht im gleichen Raum sitzen, und das hieße, die Maxime der Inklusion erneut zu verraten.

Fehlentwicklungen und Widersprüche jedenfalls, wohin man schaut. So dürfen die Grundschulen in Nordrhein-Westfalen bei Erst- und Zweitklässlern, die einen besonderen Förderbedarf beim Lernen zeigen, diesen nicht mehr amtlich feststellen lassen. Wo kein Förderbedarf festgestellt wird, kann auch kein Bedarf nach einer politisch nicht gewollten Förderschule entstehen. In der dritten und vierten Klasse aber wird diese formale Maßnahme dann oft gar nicht mehr ergriffen – sie ist aufwändig, und es würden ohnehin keine zusätzlichen sonderpädagogischen Ressourcen bewilligt. Raffinierterweise werden nämlich Förderlehrer neuerdings nicht mehr nach Anzahl der Förderschüler, sondern nach der Schulgröße, genauer: nach der Anzahl der in einer Jahrgangsstufe vorhandenen Klassen (Zügigkeit) zugeteilt. Damit bleiben die behinderten Kinder aber nicht nur lange Zeit ohne Förderung, sie kommen auch unerkannt in den weiterführenden Schulen an. Im Lehrerjargon werden sie »U-Boote« genannt: Kinder, die in den ersten vier Jahren ihrer schulischen Laufbahn besondere Unterstützung gebraucht hätten und die jetzt hochgradig entmutigt und dadurch häufig auch stark verhaltensauffällig an den weiterführenden Schulen ihr persönliches Drama erleben.

Auch bundesweit kommt es zu einem eigentümlichen Phänomen. So steigt die veröffentlichte Inklusionsrate beständig, die Schülerzahlen an Förderschulen bleiben aber stabil – also wird bei immer mehr Kindern »Förderbedarf« festgestellt. Heutige Förderschüler an Regelschulen sind dann vielfach wohl die schwächeren Regelschüler von gestern, nur jetzt mit einem Etikett – auch das eine »Logik des Misslingens«: Man wollte diskriminierende Unterschiede abschaffen – steigerte sie aber letztlich.

Denkt man die Ideen vehementer Inklusionsbefürworter zu Ende – und verliert zudem die real existierenden Ressourcen nicht aus dem Auge –, so droht der ohnehin porösen Bildungsqualität hierzulande jedenfalls erneut ernsthafter Schaden. Indes wird in vielen öffentlichen Statements das TINA-Prinzip beschworen – »There is no alternative«, alltagssprachlich: Da kommen wir nicht drumrum. Als schlagendes Argument für diese Behauptung muss dabei immer die Behindertenrechtskonvention der UN (BRK) herhalten. Diese will in der Tat dafür sorgen, dass auch Kinder mit Handicaps freien Zugang zum Bildungswesen haben – zu Recht, denn in vielen Ländern sind Behinderte bislang völlig vom Schulbesuch ausgeschlossen. Erstaunlicherweise verlangt die BRK aber nicht, dass wir unsere Förderschulen abschaffen. Diese sind ja der Teil des allgemeinen Schulsystems, der spezifische Unterstützung bietet für die Schülerinnen und Schüler, die diese Unterstützung brauchen. Und solche besonderen Maßnahmen gelten dem Text der Konvention nach gerade nicht als Diskriminierung.

Hierzulande haben indes einige Bildungsideologen die BRK zum Anlass genommen, einen rigorosen Schluss zu ziehen: Deutschland müsse den größten Teil seiner Förderschulen abschaffen und fastalle Kinder mit besonderem Förderbedarf in den normalen Unterricht integrieren. Nun ist es in der Vergangenheit vereinzelt durchaus gelungen, bestimmte Schüler mit speziellen Beeinträchtigungen integrativ zu unterrichten – aber das kostet viel Geld, denn es funktioniert eben nur mit pädagogischer Doppelbesetzung. Auch sind etwa körperbehinderte Kinder und manche mit Sinnesschäden gut im Regelunterricht aufgehoben – sofern die Ausstattung der Schule stimmt. Und Migrantenkinder ohne anfängliche Deutschkenntnisse könnten nach einem Sprachcrashkurs durchaus ein Gymnasium besuchen – sofern ihr kognitives Potential den Anforderungen dieser Schulform entspricht. Aber es gibt Grenzen des Gemeinsamen. Schnelle Lerner haben auch ein Recht auf besondere Herausforderungen – und Schwächere brauchen Schutz vor dem ständigen Vergleich mit den Besten. Heterogenität im Schulischen bedeutet eben nicht nur Bereicherung, sondern stellt auch eine Schwierigkeit dar – und mit platter Simultaneität ist es dabei nicht getan.

Die radikale Inklusionsschule ist aber nicht nur eine Illusion – unter der Hand gilt sie auch als Sparmodell. Regellehrer, deren Schülerschaft bislang schon heterogen genug war, haben nun auch lernbehinderte, verhaltensauffällige oder geistig behinderte Kinder vor sich, auf deren Begleitung sie in Wochenendseminaren flüchtig vorbereitet werden. Die hoch qualifizierten Förderlehrer dagegen, deren Schützlinge bislang von deren kontinuierlicher Präsenz profitieren konnten, tauchen jetzt nur noch zu sporadischer Intervention auf – und gegenüber den integrativen Vorläuferschulen sind ihre Stellen erheblich geringer dosiert. In manchen Bundesländern wird zudem mit dem Gedanken gespielt bzw. kräftig daran gearbeitet, die vormaligen Förderschulen weitgehend zu schließen und das zugehörige Spezialstudium der Sonderpädagogik drastisch zurückzufahren. Bildungsqualität und Entwicklungswohl vieler Kinder sind bedroht, Lehrkräfte geraten an den Rand der Verzweiflung, sonderpädagogische Expertise geht verloren – doch darüber gibt es keine offene Debatte in der Gesellschaft.

Nicht wenige sehen deshalb auch den gebetsmühlenartigen Verweis auf besagte UN-Konvention als bildungspolitischen Trojaner. Denn gemeinsames Lernen verpflichtend für alle, so paradiesisch dies zunächst klingt, würde das gegliederte Schulsystem letztlich ad absurdum führen. Für jedes Kind könnte dann nämlich nur noch sein höchstindividueller Maßstab gelten, die Unterschiede der Schulniveaus würden verschwimmen – de facto liefe das auf eine landesweite Einheitsschule hinaus. Ob wir aber wirklich wollen, dass unsere differenzierte Bildungslandschaft durch radikale Inklusion derart eingeebnet wird, darüber muss diskutiert werden – nicht nur im Parlament, und ohne Blockade durch Maulkörbe oder Denktabus. Kinder mit und ohne Behinderung dürfen kein Spielball sein – weder für Sparfüchse noch für Schulideologen.

Der Geist der BRK ist schließlich ein ganz anderer: Jedes Kind soll an dem für es sinnvollsten Ort lernen können – und dies kann durchaus, wie weltweit üblich, auch eine Spezialschule oder Separatklasse sein. So sieht es ja auch die Forschung: Entscheidend für das Entwicklungswohl von Kindern sind Unterrichtsqualität und Förderressourcen, nicht aber die Schulstruktur. Der Durchsetzung einer Sparinklusionsschule ist deshalb eine deutliche Absage zu erteilen, es muss vielmehr gerungen werden, nämlich um die ausgewogene Kooperation von integrationsoffenen Regelschulen und ergänzenden Förderschulen – um das also, was der renommierte Heil- und Sonderpädagoge OTTO SPECK als »dual-inklusives Schulsystem« bezeichnet hat.

Nun, erster Widerstand gegen das Unheil radikaler Inklusion regt sich bereits: Schon haben sich zahlreiche Elterninitiativen formiert, die für den Erhalt wohnortnaher Förderschulen kämpfen – und damit für den Erhalt ihrer Wahlfreiheit. Schon beschreiben Lehrer – teilweise anonym – in Leserbriefen schonungslos den Kontrast zwischen inklusiven Klassen und ministeriellen Hochglanzbroschüren. Und es mehren sich die Fälle, in denen beamtete Lehrer gegen die Inklusionspraxis remonstriert, also bei ihrem Dienst-herrn gegen untragbare Zustände Einspruch erhoben haben, was nicht nur ihr Recht, sondern sogar ihre Pflicht ist. Also nicht TINA, sondern TATA: There Are Thousands of Alternatives!

Ich hege durchaus große Sympathie für eine sinnvolleIntegration von Kindern, die besonderer Unterstützung bedürfen. Gleichwohl spreche ich im Folgenden die Probleme der derzeitigen Inklusionsentwicklung offen an – nicht nur Unterfinanzierung und Minderqualifizierung, sondern auch Irrtümer und Grenzen des Konzepts Gemeinsames Lernen.II Dieses Buch gibt einen Überblick über Praxiserfahrungen und Forschungsbefunde, die in der Inklusionsdebatte bisher in nicht genügender Weise wahrgenommen wurden. Und es skizziert die Maxime, nach der wir den schulischen Umgang mit Behinderung für alle Beteiligten sinnvoll gestalten sollten: »So viel hochqualitative Integration wie möglich, sinnvoll unterstützende Separation überall da wo nötig!«.

Dass viele Beispiele in diesem Buch aus Nordrhein-Westfalen stammen, ist weder Zufall noch Manko. In diesem bevölkerungsreichsten Bundesland geht ein Viertel aller deutschen Kinder zur Schule, seine derzeitige Bildungspolitik ist in Sachen Inklusion besonders forsch – und diese Entwicklung könnte anderen Regionen als Warnung dienen. »Nichts ist unmöglich«, so wird man bei der Schilderung mancher Szene aus den Niederungen der Inklusion zwischen Rhein und Weser sarkastisch denken.

Aber Gleiches gilt auch für mögliche Auswege aus dieser Misere. »Das lässt sich ändern« titelte ein belletristischer Erfolgsroman – warum sollte diese Parole nicht auch für die Bildungspolitik gelten? In den kommenden drei Jahren wird in zehn Bundesländern ein neuer Landtag gewählt, also auch über Schulfragen entschieden – 2017 etwa in Düsseldorf, in Kiel, in Saarbrücken. Insbesondere in Vorwahlzeiten aber können Bürger Einfluss nehmen – denn Politiker wissen, dass sie gerade über Schulthemen Wahlen gewinnen oder verlieren können.

Wir sind keineswegs gefangen in der Inklusionsfalle, es gibt ein Entrinnen, eine pädagogische Mitte zwischen totaler Inklusion und starrer Separation. Jeder von uns kann sich, alleine oder gemeinsam mit anderen, in die Debatte einmischen, von den Politikern Klärung fordern, sie zur Kurskorrektur zwingen – also mehr tun, als nur alle fünf Jahre irgendeine Partei anzukreuzen, nur seine Stimme abzugeben. Stell’ Dir vor, die Wahllokale öffnen – und Du hast bereits etwas getan ...

I Nicht nur der besseren Lesbarkeit wegen beteilige ich mich nicht an scheinemanzipatorischen Textaufblähungen wie »Kolleginnen und Kollegen«. Unaufgeregten Zeitgenossen ist klar, dass die traditionell verwandte maskuline Form »Lehrer« oder »Schüler« die Funktion meint, nicht konkrete Personen. Entscheidend bleibt, ob man wirklich von der Gleichwertigkeit weiblicher wie männlicher Lehrender und Lernender überzeugt ist.

II Dieses Buch hätte ich nicht schreiben können ohne den engen Austausch mit meiner Frau, die über Jahrzehnte an Pilotschulen der Integration behinderter Kinder (Gemeinsamer Unterricht) tätig war – und dort viele Möglichkeiten des Gelingens, aber auch alle Formen des Scheiterns kennenlernen konnte.

I. DIE LAGE Zwischen Mühsal und Monströsem

Das zunehmende Chaos an unseren Schulen

Wer träumt nicht von einer besseren Welt, einer gerechteren Gesellschaft? Von einer Welt ohne Mängel und Konflikte, ohne Ungleichheiten und Hierarchien? Diese hoffnungsvolle Vision hat neuerdings auch eine pädagogische Variante. Ihre Grundidee: Kinder können sich dann am günstigsten entwickeln, wenn sie die Schule möglichst lange gemeinsam, ohne Trennung besuchen. Langsamer lernende Kinder werden zusammen mit Hochbegabten unterrichtet, dazu kommen im selben Klassenverband körperlich Behinderte und geistig Beeinträchtigte – alle einander bereichernd, alle einander unterstützend.

Dieser Traum eines Idealzustands scheint in den letzten zehn Jahren einer Realisierung näher gerückt zu sein. Denn 2008 hat ein Übereinkommen der Vereinten Nationen (UN-Behindertenrechtskonvention, kurz: BRK) [vgl. Anhang Dokument B] bekräftigt und erläutert, dass die allgemeinen Menschenrechte – darunter das Recht auf Bildung – auch für Menschen mit Behinderung uneingeschränkt gelten. Diese internationale Übereinkunft ist auch für Deutschland verbindlich geworden, in unseren Landesverfassungen und Schulgesetzen wurde das Recht behinderter Menschen auf gleichberechtigte Teilhabe an der Bildung in länderspezifischen Varianten festgeschrieben.

Rückblick

Schüler mit besonderen Entwicklungsproblemen besuchten in Deutschland spätestens seit 1960 in der Regel Sonderschulen (später: Förderschulen). Dort wurden sie in kleinen Gruppen von speziell geschulten Sonderpädagogen unterrichtet und gefördert. Lange Zeit handelte es sich dabei um etwa 4-5 % aller Kinder, grob also jedes zwanzigste Kind.5 Knapp die Hälfte davon hatte besondere Lernprobleme (LE), ein weiteres Viertel brauchte spezifische Förderung im Bereich »Sprache« (SQ) oder »Emotionale und soziale Entwicklung« (ES). Neuerdings steigen diese Förderquoten, die Zahl der Kinder mit besonderem Förderbedarf, allerdings teilweise stark an – was Fragen aufwirft: Lassen sich Entwicklungsprobleme heute besser oder früher erkennen? Oder werden Kinder in unseren Tagen schwieriger? Sind Lehrer Problemkindern heutzutage vielleicht weniger gewachsen – und greifen schneller zu vorpsychiatrischen Diagnosen? Oder werden einfach häufiger Förderbedarfe festgestellt, um zusätzliche schulische Ressourcen zu legitimieren?

Schon seit 1970 wurden parallel zum Unterricht in Sonder- bzw. Förderschulen verschiedene Versuche unternommen, Kinder mit Behinderungen in den Regelunterricht zu integrieren (»Gemeinsamer Unterricht«, GU). Das sah dann beispielsweise so aus, dass zur dritten Klasse einer Kölner Grundschule nicht nur die üblichen Kinder gehörten, die besonders schnell oder etwas langsamer lernten, sondern auch zwei Schüler mit besonderen Verhaltensauffälligkeiten (ES) sowie zwei weitere mit einer geistigen Entwicklungsstörung (GE).III Neben der regulären Lehrperson war ständig eine sonderpädagogisch geschulte Fachkraft anwesend – und zwar in jeder Stunde. Die ES-Schüler wurden »zielgleich« unterrichtet, an sie wurden also reguläre Anforderungen gestellt, aber der Sonderpädagoge kümmerte sich zusätzlich um sie. Er bildete für diese Schüler eine besonders enge Kontaktperson, beschaffte bei Bedarf besonders motivierende Materialien, konnte sich mit ihnen falls nötig in einen kleinen Nebenraum zum Arbeiten ohne Ablenkung zurückziehen. Die GE-Kinder lernten dagegen »zieldifferent«, für sie galten reduzierte Anforderungen, und natürlich begleitete der Sonderpädagoge auch sie besonders eng. Beide Fördergruppen gehörten indes fest zur Gesamtklasse, partizipierten zumindest teilweise an vielen Unterrichtsstunden, nahmen an fast allen gemeinsamen Aktivitäten teil, wurden aber innerhalb der Gesamtklasse besonders betreut. Eine Situation, die für alle Beteiligten mit vielen positiven Impulsen verbunden war: Die Regelkinder konnten Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Toleranz entwickeln und ausbauen, die Förderkinder waren nicht nur unter ihresgleichen und wurden zusätzlich herausgefordert. Solche Pilotprojekte gab es an Gesamtschulen vereinzelt auch im Sekundarbereich. Im Schuljahr 1999/2000 nahm bundesweit etwa jedes zehnte Förderkind, zehn Jahre später etwa jedes fünfte an solchen Versuchen teil, allerdings mit großen regionalen Unterschieden.