Die Insel der weißen Lilien - Jorid Mathiassen - E-Book + Hörbuch
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Die Insel der weißen Lilien Hörbuch

Jorid Mathiassen

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Beschreibung

Romance in Nordnorwegen, ein altes Haus auf einer stürmischen Insel und eine geheimnisvolle Bronzeglocke

Linnea hat gerade eine Trennung hinter sich. Sie braucht dringend einen Tapetenwechsel, will nur raus aus Oslo. Ihre beste Freundin bietet ihr an, erst mal ins Haus ihrer kürzlich verstorbenen Großtante Marie zu ziehen. Das alte Haus mit wunderschönem Garten steht auf der kleinen Insel Hjartøy in Nordnorwegen – weit genug weg also. Linnea lässt sich auf das Abenteuer ein und zieht an einem stürmischen Winterabend zusammen mit Kater Arthur auf die felsige Insel. Nach und nach lebt sie sich in ihrer neuen Umgebung ein, lernt die Nachbarn und den charmanten alleinerziehenden Vater Karsten kennen ... Und entdeckt auch das Haus für sich, und darin eine alte bronzene Glocke mit geheimnisvoller Inschrift, die einst Marie gehörte. Dieser Fund löst eine Suche aus, durch die Linnea mehr und mehr über Maries dramatische Vergangenheit erfährt, die auch ihr eigenes Leben für immer verändern wird.

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Zeit:9 Std. 49 min

Sprecher:Irina Salkow

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Titel

Jorid Mathiassen

Die Insel der weißen Lilien

Roman

Aus dem Norwegischen von Nina Hoyer und Nora Pröfrock

Insel Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 20222 unter dem Titel Der hvite liljer vokser bei Cappelen Damm, Oslo.Die Übersetzung wurde vom Deutschen Übersetzerfonds unterstützt.Wir bedanken uns für die Übersetzungsförderung bei NORLA – Norwegian Literature Abroad.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5006.

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023© CAPPELEN DAMM AS, Oslo, 2022

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Umschlaggestaltung: Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln unter Verwendung des Originalumschlags von Cappelen Damm, Abbildungen: Anne Gundersen; Adobe; iStock by Getty Images; Tetra Images, LLC/Alamy/mauritius images

eISBN 978-3-458-77813-4

www.suhrkamp.de

Widmung

Nimm das Unsichtbare wahr.

Christer Strömholm (1918-2002), schwedischer Fotograf

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Bekenntnisse der Autorin

Quellen

Informationen zum Buch

Die Insel der weißen Lilien

Prolog

Dort, weit weg, weit weg vom Meer.

Dort ist mein Dorf, dort ist Serbien.

Dort, weit weg, wo weiße Lilien blühen.

Jetzt bin ich bald wieder bei dir. Du hast auf mich gewartet, sagst du? Das freut mich zu hören, denn stell dir vor, du wärst mir dort oben inmitten aller Sterne verloren gegangen! Wie viele Abende habe ich zum Himmel hochgesehen und nach Zeichen von dir Ausschau gehalten, aber keine Antwort bekommen.

Weshalb es so lange gedauert hat? Nun, das lag nicht in meiner Hand. Unser Herrgott war anscheinend der Ansicht, ich hätte noch dies und jenes hier auf Erden zu verrichten, obwohl wir streng genommen nicht viel miteinander zu tun hatten, er und ich. Aber jetzt scheinen wir uns einig zu sein, dass ich genug hier unten herumgekreucht bin. Was hast du gesagt? Ich höre dich immer noch nicht so gut, aber deine Stimme kommt allmählich näher. Ob ich auch heute, nach all den Jahren, seit das Schreckliche geschah, noch deine Marie bin? Was für eine Frage! Das musst du doch wissen.

Ich habe jeden einzelnen Tag an dich gedacht und dich vermisst. Wie oft habe ich mich doch einsam und allein gefühlt, und wenn die Sehnsucht nach dir wie ein ausgehungerter Wolf an mir genagt hat, habe ich sie mit Träumen und Wünschen genährt. Bei vielen galt ich als Einzelgängerin, und so manchem habe ich wohl auch leidgetan. So mögen sie das gesehen haben, ich aber bin, wie ich finde, diese ganzen Jahre hindurch gut zurechtgekommen. Ich war ein eckiger Stein unter runden, doch ich habe einen Platz gefunden und ihn mir zu eigen gemacht.

Die Arbeit im Garten habe ich stets geliebt, obwohl er nun längst nicht mehr so schön aussieht wie einst. Ich bin in der letzten Zeit nicht in der besten Verfassung gewesen und habe dich nur noch schmerzlicher vermisst. Meine Beine versagen mir zunehmend den Dienst, weißt du, und der eine Arm taugt auch nicht mehr ganz. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie unser Leben wohl verlaufen wäre, hätten wir zusammenbleiben können. Dann würdest du nun bestimmt hier neben mir auf der Bank unter dem Goldregen sitzen, den Wanderstock ans Bein gelehnt, mit grauem Haar und diesem schelmischen Funkeln im Blick, und womöglich würde deine Hand leicht zittern, wenn sie nach meiner griffe. Mittlerweile ist meine Hand alt und runzelig. Glücklicherweise durfte ich meinen Verstand und Humor behalten und bin nicht wie meine Mutter allmählich weggedämmert. Kannst du sehen, wie schön ich mich heute für dich gemacht habe? Ich habe mein feinstes Sommerkleid angezogen, das mit dem Mohnblumenmuster, und sogar ein klein wenig Rot auf die Lippen gelegt.

Einst habe ich von einem Haus voller Leben geträumt, dessen Wände von Gesang und Kinderlachen widerhallten. Wir beide haben eng aneinandergeschmiegt getanzt, und die Welt um uns herum war voller Frieden. Nun ist es still im Haus, doch wer weiß, vielleicht wird sich seine Tür eines Tages wieder öffnen und hier andere Menschen willkommen heißen.

Wenn wir uns sehen, muss ich dir übrigens etwas erzählen. Etwas, das niemand mehr weiß außer mir. Ein Geheimnis, das ich mein Leben lang bewahrt habe, das mich zugleich beflügelt und bedrückt hat. Ja, ich wusste, dass du jetzt neugierig werden würdest. Ich bin gespannt, was du dazu sagen wirst. Lange brauchst du nicht mehr zu warten …

Wenn ich die Augen schließe, glaube ich Glockengeläut zu hören. Ihr schöner, klarer Klang wird immer deutlicher. Reich mir die Hand, dann komme ich.

Kapitel 1

Hjartøy, 2009

Linnea atmete ein paarmal tief ein und wieder aus, wie sie es aus dem Yogaunterricht kannte, aber es half nichts. Die Nervosität angesichts der Dinge, die nun vor ihr lagen, wurde nicht weniger.

Beim Blick durchs Autofenster auf die grauschwarze, neblige Landschaft um sie herum war es ihr ein Rätsel, wie sie es jemals für eine gute Idee hatte halten können, sich an diesen gottverlassenen Ort mehr als tausend Kilometer von ihrer sicheren Osloer Wohnung entfernt zu begeben.

Ihr kam das Wort »ungemütlich« in den Sinn, und nun lag es ihr auf der Zunge wie ein saurer Drops. Noch bevor ihr neues Leben überhaupt angefangen hatte, stieß sie bereits an die Grenzen des meteorologischen Spektrums. Mit einem Mal klatschte etwas gegen die Frontscheibe, und es dauerte einen Moment, bis Linnea es als eine Mischung aus Regen und Schnee identifiziert hatte, die aber trotzdem nicht dem entsprach, was sie üblicherweise als Schneeregen bezeichnen würde. Auch dafür gab es vermutlich irgendeinen Fachausdruck. Die Scheibenwischer jedenfalls hatten ihre liebe Mühe, die undefinierbare Masse beiseitezuschaffen.

Iris, ihre ansonsten ganz vernünftige Freundin, musste sich vertan haben, als sie ihr Hjartøy als perfekten Ort für einen Neuanfang angepriesen hatte. Linnea fiel nun auch auf, dass die Bilder, die sie von diesem Ort gezeigt bekommen hatte, allesamt an strahlenden Sommertagen aufgenommen worden waren. Nun hingegen waren hier weit und breit weder sonnenüberflutete Felsstrände noch bezaubernde Bootshäuschen zu sehen, stattdessen glich die Umgebung einem deprimierenden Stück moderner Kunst, sodass sie Iris mit Fug und Recht irreführendes Marketing vorwerfen konnte.

Linnea und Iris hatten sich in der achten Klasse kennengelernt, als Iris plötzlich mitten im Schuljahr einfach aufgetaucht war. Anfangs sah es nicht so sehr danach aus, dass sie sich mal anfreunden würden. Doch dann kam der Tag, an dem Iris nach der letzten Stunde weinend auf dem Schulklo saß.

Linnea hatte die verzweifelten Schluchzer aus der kleinen Kabine nicht zuordnen können und war erst einmal ratlos vor der verschlossenen Tür stehen geblieben, bis sie sich ein Herz gefasst und angeklopft hatte. Schließlich wurde von innen am Schloss herumgefummelt, die Tür glitt auf, und aus verweinten Augen hatte Iris überrascht zu ihr aufgeblickt. Die sonst so weichen Locken des neuen Mädchens hatten ihre Form verloren und klebten an ihren feuchten Wangen. Als Linnea wissen wollte, was los sei, hatte Iris tief Luft geholt und gesagt, sie habe ihren Vater verloren. Wie sich herausstellte, war der aber keineswegs gestorben, sondern nur von der Mutter vor die Tür gesetzt worden, die nämlich der Meinung gewesen war, dass er weder als Ehemann noch als Vater etwas tauge. Später, als Linnea ihn persönlich kennenlernte, hatte sie gedacht: Das ist dann wohl so ein »Freigeist«. Seit der Trennung von Iris' Mutter lebte er in einem kanariengelben, ziemlich heruntergekommenen Haus inmitten der alten Holzhaussiedlung im Osloer Viertel Rodeløkka, wo Iris und ihre Freunde allzeit willkommen waren. Er war eher eine Art Kumpel als eine verlässliche Vaterfigur.

Von jenem Tag an hatte Iris Einzug in Linneas Leben gehalten, und bei den Lehrern waren die beiden nur noch unter dem Spitznamen »Blumenkinder« bekannt. Wenn Linnea es sich recht überlegte, war es am Anfang fast wie eine Verliebtheit gewesen. Iris war so anders als sie selbst, mit ihrem welligen, rotblonden Haar, das sich wie ein Fluss über Schultern und Rücken ergoss und bei Regen zu einem regelrechten Wasserfall aus Löckchen wurde. Linneas glatte schwarze Mähne war das genaue Gegenteil davon.

Nach einer turbulenten Kindheit, in der Iris viele Ortswechsel verkraften musste und sich oft selbst überlassen war, hatte die Kernfamilie schließlich den Stellenwert als einzig wahres Lebensmodell für sie bekommen. Voller Elan hatte sie sich dann auch an die Verwirklichung dieses Traums gemacht, war ein paarmal gestolpert und gefallen, aber immer wieder aufgestanden, bis sie mit einem gutaussehenden, aber etwas langweiligen Mann (Guttorm, Lehrer an einer weiterführenden Schule) und zwei relativ wohlerzogenen Kindern (Gerhard und Pernille, sechs und sieben Jahre alt) zu guter Letzt ans Ziel gelangt war. Nach dem Abitur hatte Iris Vorschulpädagogik studiert und war Leiterin eines privaten Kindergartens geworden.

Und dann, viele Jahre später, war sie an der Reihe damit, die Reste einer aufgelösten, völlig ratlosen Freundin aufzusammeln, der nicht nur ein, sondern nun schon zum zweiten Mal der Himmel auf den Kopf gefallen war. Der Klumpen in Linneas Bauch war sofort wieder da, und ihr schien, als wäre das Leben einfach irgendwann zu einer Suppe aus schmerzhaften Empfindungen verkommen, einem zusammengepantschten Gebräu, das mit der Zeit ziemlich bitter schmeckte. Noch immer fragte sie sich manchmal, wie richtig ihre Entscheidung von vor fast zwei Jahren eigentlich gewesen war. Iris war die Einzige, die davon wusste, und sie hatte ihr wieder und wieder beteuert, dass es die einzig vernünftige Lösung gewesen sei. Vernunft geht wohl einfach über Gefühl, dachte Linnea missmutig. Nach dem Drama der letzten Zeit, diesem neuen Drama, das ihr Leben auf den Kopf gestellt und sie letztlich sogar aus ihrer Heimatstadt vertrieben hatte, holten die negativen Gedanken der Vergangenheit sie nun mit voller Wucht wieder ein.

»Du könntest nach Hjartøy, da kannst du umsonst wohnen«, hatte Iris gesagt, als Linnea dummerweise laut ausgesprochen hatte, dass sie am liebsten auf eine einsame Insel ziehen würde. Sie hatte die Freundin nur verständnislos angeguckt, leicht beduselt von der Flasche Wein, die sie sich geteilt hatten, während die zweite bereits wartete. »Na, du weißt schon, die Insel, von der meine Oma kam. In Nordland«, hatte Iris präzisiert. Aber Linnea wusste nicht. Ihr war zwar bekannt, dass Iris' Großmutter aus dem Norden stammte, von wo genau hatte sie jedoch vergessen, und dass es sich um eine Insel handelte, erst recht. Für Linnea gehörte alles nördlich von Trondheim zu Nordland.

»Nach dem Tod von Großtante Marie hat Papa Omas Elternhaus geerbt«, hatte Iris erklärt.

Da war Linnea wieder eingefallen, dass Iris ein Jahr zuvor mit ihrem Vater die weite Strecke nach Norden gefahren war, um an der Beerdigung der Großtante teilzunehmen, oder war das schon zwei Jahre her? Die Zeit verging ja so schnell. Eigentlich hatte sie gedacht, das Haus sei längst verkauft.

»Du kennst doch meinen Vater«, hatte Iris mit einem resignierten Kopfschütteln gesagt, »er ist nicht gerade der Schnellste, wenn es um Entscheidungen geht. Außerdem hat es ihn wohl überrascht, wie wenig das Haus wert ist, obwohl es ja nicht klein ist und durchaus seinen Charme hat. Die alten Häuser da oben kriegst du echt hinterhergeworfen.«

Und hier saß Linnea nun, in ihrem neu angeschafften Gebrauchtwagen auf dem Weg zu besagtem Haus, einem Haus auf einer ihr völlig unbekannten Insel. In einem Augenblick des Übermuts – und der Weinseligkeit – hatte sie Iris beim Wort genommen. Danach war alles so schnell gegangen, dass sie nicht mehr viel über ihren neuen Wohnort herausfinden konnte. Oder vielleicht hatte sie es auch vermieden, aus Angst davor, kalte Füße zu bekommen. Iris war der Meinung gewesen, sie solle sich ein Jahr Zeit zum Einleben lassen, aber Linnea hatte sie auf ein halbes Jahr heruntergehandelt. Ein halbes Jahr ohne Männer immerhin. Sie schielte auf ihr Handy, das auf dem Beifahrersitz lag. Es war und blieb stumm. Glücklicherweise kannten nur wenige ihre neue Nummer, und die Kommunikation mit der Arbeit lief größtenteils per E-Mail.

Ja, sie brauchte definitiv eine Luftveränderung, doch im Moment hätte sie sich lieber an einem Strand in Thailand frische Luft um die Nase wehen lassen, im Schatten einer üppigen Palme und mit Wellengeplätscher im Hintergrund. Für Arthur wäre das allerdings nichts gewesen. Sie stieß einen schweren Seufzer aus, und aus dem Käfig auf dem Rücksitz drang ein vorwurfsvolles Miauen.

»Ja, ich weiß, Arthur, das ist alles meine Schuld. Aber wir müssen jetzt einfach versuchen, uns an dieses neue Leben zu gewöhnen, wir beide. Und es ist auch nicht für immer, das verspreche ich dir.« Sie versuchte, möglichst optimistisch zu klingen, hörte aber selbst, dass ihre Stimme nicht mitmachte. Ihr Reisegefährte hatte ohnehin nichts als verdrießliches Schweigen für sie übrig. Kaum hatten sie das Osloer Stadtgebiet verlassen, war bei Arthur bereits die Reisekrankheit ausgebrochen und er hatte sich in seinem Katzenkäfig übergeben. Sie musste ihm eine der Beruhigungspillen verabreichen, die ihr die Tierärztin für ihn verschrieben hatte, und danach hatte er bis zu ihrer Ankunft in Trøndelag, wo sie die Nacht in einem Hotel verbrachten, geschlafen.

Dass ihnen die Fähre nach Hjartøy genau vor der Nase weggefahren war, hatte nicht unbedingt zur Verbesserung der Laune beigetragen. Gerade als sie in den kleinen Küstenort gefahren kamen, von wo aus es weiter zur Insel ging, hatte das Schiff vom Kai abgelegt und war langsam aufs Wasser hinausgeglitten. Linnea konnte nur dasitzen und zusehen, wie die Lichter der Fähre nach und nach auf dem Fjord verschwanden. Da die nächste erst zweieinhalb Stunden später ging, musste sie auch den Plan aufgeben, noch bei Tageslicht am Haus anzukommen. Es war gerade mal fünf Uhr nachmittags gewesen, doch die bescheidene Hauptstraße des Ortes war bereits wie leergefegt. Linnea waren ein Hotel, eine Bücherei und ein kleines Einkaufszentrum aufgefallen, aber außer einem Lebensmittelgeschäft unten am Kai und einer Pizzeria ein Stück die Straße hinauf hatte alles geschlossen. Zumindest hatte sie ihren Hunger stillen und für sich und Arthur ein paar Vorräte einkaufen können.

Die Überfahrt mit der »Ea«, wie die Fähre hieß, hatte zum Glück nur eine halbe Stunde gedauert, und sowohl das Borden als auch die Ankunft an Land war völlig unproblematisch verlaufen. Zu den Fahrgästen im Aufenthaltsraum zählten neben ihr selbst eine Gruppe Jugendlicher im Stimmbruch, vier strickende Frauen mit Thermoskannen und ein paar Männer mittleren Alters, die sich hinter ihren Zeitungen versteckten. Der schlaksige Fahrkartenverkäufer hatte einen ziemlich gepfefferten Preis für den Transport zur Insel verlangt und sie dabei neugierig gemustert. Vielleicht begegnete er nicht so oft neuen Reisenden. Dennoch hatte sie sicherheitshalber diskret ihren Handspiegel gezückt und nachgeschaut, ob sie eventuell noch Pizzareste im Gesicht hatte. Seit ihrem Aufbruch im Hotel an diesem Morgen hatte sie ihr Spiegelbild kaum mehr gesehen. Ein rascher Blick offenbarte ein blasses Gesicht mit angespannten Zügen und einem Anflug dunkler Augenringe, aber ohne Pizzaschnute.

Nun hoffte sie nur, dass sich im Haus auch ein funktionstüchtiger Kühlschrank befand. Glücklicherweise hatte Iris' Vater es bisher versäumt, den Stromvertrag zu kündigen. Vom Inneren des Hauses hatte Iris keine Fotos gehabt, deshalb wusste Linnea nicht, was sie dort erwartete. Die Freundin hatte nur gesagt, dass es groß und im Stil einer älteren Dame eingerichtet sei, was auch immer das bedeuten mochte. Linnea sah pastellfarbene Blümchentapeten, altmodische Spitzengardinen, jede Menge Nippes und feine, mit Rosen bemalte Porzellantassen vor sich.

Erneut atmete sie tief ein und wieder aus. Weit konnte es jetzt nicht mehr sein. Iris hatte ihr die Anfahrt genau beschrieben, und was die schmalen, kurvigen Sträßchen anging, hatte sie jedenfalls nicht übertrieben. Aus Angst, im Straßengraben zu landen, hatte Linnea den ganzen Weg vom Fähranleger im Schneckentempo zurückgelegt. Sie konnte die Umrisse einiger Berge erahnen, doch durch den Nebel und das Dämmerlicht sah alles so aus, als blickte sie durch eine viel zu starke Brille. Dass es hier draußen auf der Insel weder Straßennamen noch Hausnummern gab, machte die Sache nicht leichter.

Wenigstens hatte der undefinierbare Niederschlag inzwischen aufgehört, sodass sie den Scheibenwischer ausschalten konnte. Sie fuhr noch etwas langsamer und rief sich die Wegbeschreibung in Erinnerung. Wenn sie sich nicht irrte, musste sie nach der nächsten Kurve am Ziel sein. Zum Glück war hier gerade sonst niemand unterwegs. Mit suchendem Blick hielt sie auf der rechten Straßenseite nach dem richtigen Haus Ausschau.

Beim Umrunden der Kurve zuckte sie plötzlich zusammen und trat reflexartig mit solcher Kraft auf die Bremse, dass Arthur mitsamt seinem Käfig nach vorn geschleudert wurde. Unmittelbar vor dem Auto stand ein riesiges Ungetüm, das die ganze Straße versperrte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, als ihr ein leuchtendes Paar Augen entgegenstarrte. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach, und durch den hämmernden Puls in den Ohren nahm sie Arthurs klägliches Heulen wahr. Dann verschwand das Monstrum so schnell, wie es aufgetaucht war, während Linnea sich weiter krampfhaft am Lenkrad festhielt wie an einem Rettungsreifen. Verdammt noch mal, wieso hatte Iris kein Wort darüber verloren, dass es auf Hjartøy Elche gab? Dieses Riesenviech hätte sie und Arthur beinahe umgebracht! Schließlich gelang es ihr, die Hände vom Lenkrad zu lösen und aus dem Wagen zu wanken, um nach der Katze auf dem Rücksitz zu sehen. Der Käfig war in Schieflage geraten und Arthur krallte sich verängstigt an einer Seite fest.

»Tut mir leid, mein Kleiner«, sagte sie mit zittriger Stimme, während sie den Käfig wieder ordentlich auf den Rücksitz stellte. Sie wagte es nicht, ihn zu öffnen, aus Angst, dass Arthur vor lauter Panik Reißaus nehmen könnte, dann würde sie ihn nie wiederfinden. »Alles wird gut«, versuchte sie den Kater zu beruhigen, stellte aber fest, dass sie gleichermaßen zu sich selbst sprach. Ohne einen Mucks kehrte ihr das Tier den Rücken zu.

Nachdem sie den Schock halbwegs verdaut hatte, konnte die Fahrt weitergehen, und ganz richtig: Schon kurz darauf erblickte sie das Haus. Ohne den Blinker zu setzen, bog sie auf die Einfahrt und betrachtete das Gebäude im Licht der Scheinwerfer. Mit seinen dunklen Fenstern, die blind auf sie hinabsahen, glich es einem Geisterhaus, und es war nicht viel Fantasie nötig, um sich lautlos wehende Vorhänge und leichenblasse Gesichter mit leerem, starrem Blick dahinter vorzustellen. Das Haus war weiß, der letzte Anstrich musste jedoch schon eine Weile zurückliegen. Linnea fiel auf, dass ein paar Dachziegel fehlten, aber die beiden Schornsteine machten immerhin einen soliden Eindruck.

Und dann, mit einem Mal, überkam sie ein so überwältigendes Unbehagen, dass sie am liebsten augenblicklich kehrtgemacht und die tausend Kilometer zurück nach Oslo gefahren wäre. Iris hatte ihr versichert, dass es keinen Grund zur Sorge gebe, da die Inselbewohner allesamt friedliche, nette Leute seien. Aber was wusste die schon, schließlich war sie erst einmal hier gewesen – für ganze zwei Tage.

Das Haus schien in den 1920er- oder 1930er-Jahren erbaut worden zu sein und bestand aus drei Etagen sowie einer Glasveranda mit kleinen Fensterscheiben. Es war von einem großen Garten mit vielen alten Bäumen umgeben, die ihre kahlen Äste weit von sich streckten, und über der Tür zur Glasveranda, die über eine steile Treppe zu erreichen war, brannte eine schwache Außenlampe. Der Haupteingang musste sich wohl auf der Rückseite befinden. Nachdem Linnea noch einmal nach dem Schlüssel in ihrer Jackentasche getastet hatte, machte sie sich bereit zum Aussteigen. Die Scheinwerfer ließ sie an, um leichter zur Haustür zu finden und sicheren Fußes die wichtigsten Gepäckstücke samt Einkäufen hineinzuschaffen.

Als sie aus dem Auto stieg, nahm sie ein gleichbleibendes lautes Rauschen wahr, und erst nach einer Weile begriff sie, dass es vom Meer kommen musste. Das Haus lag nicht weit vom Wasser entfernt. »Komm, Arthur, jetzt kannst du endlich raus in die Freiheit – und mal aufs Klo.« Vorsichtig hob sie den Käfig aus dem Wagen und öffnete ihn, damit der Kater hinauskonnte. Skeptisch hielt er die Nase in die Luft, gab ein langgezogenes Miauen von sich, beschloss dann aber, seine Gefängniszelle zu verlassen.

Der Wind fuhr in Linneas halblanges Haar und blies es ihr vor die Augen, sodass sie nichts mehr sah. Sofort bereute sie, dass sie beim Friseur gewesen war. Sie hätte entweder gar nicht hingehen und ihren praktischen Pferdeschwanz behalten oder gleich so viel abschneiden lassen sollen, dass der Wind keinen Unfug mit der Frisur anstellen konnte. Auch in der Kuppel über der Haustür brannte Licht. Iris und ihr Vater mussten vergessen haben, es nach ihrem Besuch auszuschalten.

Fröstelnd zog Linnea den Schlüssel aus der Tasche. Er war von der altmodischen Sorte, wie man sie sicher in einem gut sortierten Gebrauchtwarenladen nachkaufen konnte. Sie steckte ihn ins Schloss, drehte ihn herum und zog kräftig an der Türklinke. Immer noch abgeschlossen. Augenblicklich kehrte die Panik zurück und umschloss ihre Brust wie eine giftige Klaue. Ihre Finger begannen zu zittern. Hatte Iris ihr den falschen Schlüssel gegeben? Sie sah eine eiskalte Nacht auf dem Rücksitz des Wagens auf sich zukommen und setzte in Gedanken schon zu einer Schimpftirade an die Freundin an. Doch dann riss sie sich zusammen, zog den Schlüssel wieder heraus, konnte ihn nach einigem Herumprobieren schließlich passend ins Schloss schieben und unternahm, ein leises Stoßgebet gen Himmel schickend, einen neuen Versuch. Sie musste die Augen geschlossen haben, denn als sie wieder hinsah, glitt die Haustür mit einem langsamen Quietschen auf. Erleichterung durchrieselte ihren Körper. Sie trat ein und ließ die Tür hinter sich angelehnt, damit Arthur ihr folgen konnte, sobald er draußen fertig war.

Im Flur schlug ihr ein dumpfer, stickiger Geruch entgegen. Zögernd tastete sie an der Wand nach einem Lichtschalter, jedoch ohne Erfolg. Als sie noch einen weiteren Schritt ins Haus machte, stieß sie mit dem Fuß gegen irgendeinen losen Gegenstand, der sogleich quer über den Boden rutschte. Reflexartig führte sie die Hand zum Mund, um nicht laut aufzuschreien. Dann gewöhnten sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit, und in einiger Entfernung entdeckte sie endlich einen Lichtschalter. Im Schein der Deckenlampe sah sie nun auch, worüber sie soeben gestolpert war: einen Schuh. Es war ein praktisches Exemplar aus braunem Leder und mit Schnürriemen, etwa ein bis zwei Nummern größer als ihre eigenen. Er musste Marie gehört haben. Mit einer Mischung aus Unbehagen und Neugier stellte sie ihn zurück neben den anderen und sah sich um.

Sie stand in einem Raum mit mehreren altmodischen Spiegeltüren, die alle weiß gestrichen waren und genau gleich aussahen. Eine hellgraue Wendeltreppe führte hinauf in die zweite Etage, wo es stockfinster war. An der Wand unter dem Fenster hing ein elektrischer Heizkörper, und Linnea beugte sich hinunter, um den Stecker einzustöpseln und das Gerät voll aufzudrehen. Ein leises Knacken ertönte, und im selben Moment bemerkte sie eine ganze Heerschar toter Fliegen auf dem Fensterbrett. Der unappetitliche Anblick ließ sie schaudern. Trotzdem nahm sie all ihren Mut zusammen und ging weiter, nun durch eine Tür, die in die Küche führte. Hier folgte die gleiche Prozedur mit Deckenlampe und Elektroheizung. Im Auto hatte sie noch einen Heizlüfter, damit sollte sie fürs Erste zurechtkommen, bis sie Brennholz besorgt und in dem alten, schwarzen Holzofen an der Wand Feuer gemacht hatte.

Die Küche war groß und relativ hell und konnte im modernen Marketingsprech wohl als retro bezeichnet werden. Vor einem der Fenster hing ein Rollo, und direkt darunter stand ein Respatex-Küchentisch mit einer blaukarierten Tischdecke. Linnea zuckte zusammen, als sie ein Glas darauf entdeckte. Dann sah sie, dass einer der Stühle vom Tisch abgerückt war, und bekam das unheimliche Gefühl, dort könnte kürzlich noch jemand gesessen haben. Zögernd trat sie näher heran, aber das Glas war leer. Erleichtert atmete sie auf. Was hatte sie denn gedacht? Wenn sie weiter überall Gespenster sah, würde ihr Aufenthalt auf Hjartøy nicht besonders lang ausfallen.

Vor dem anderen Fenster stand ein Diwan und in der Mitte des Raumes ein Schaukelstuhl mit einer Häkeldecke. Die Kufen hatten sichtbare Spuren auf dem graugestrichenen Holzboden hinterlassen, der ansonsten mit bunten Läufern bedeckt war. Linneas ungezügelte Fantasie ließ ihr keine Ruhe, und vor dem inneren Auge sah sie nun Szenen aus einem Hitchcock-Film, in dem auf einem ganz ähnlichen Stuhl eine mumifizierte Leiche saß. Entschieden schaute sie in eine andere Richtung und fand zu ihrer Freude einen Kühlschrank, sogar mit Gefrierfächern. Glücklich beugte sie sich hinunter und steckte den Stecker in die Steckdose, und als sie einen prüfenden Blick ins Innere des Kühlschranks warf, leuchteten ihr dort die leeren Regale entgegen.

An der Decke befanden sich Balken, zwischen denen drei Leinen genau über dem Holzofen aufgespannt waren, ein praktischer Trockenplatz, wenn der Ofen erst einmal warm wäre. An einer der Leinen hing ein Handtuch.

So recht gelang es ihr immer noch nicht, das Unbehagen abzuschütteln, doch ihr blieb nichts anderes übrig, als noch einmal zum Auto zu gehen und das Notwendigste zu holen, einschließlich Katzenklo und Kaffeemaschine. Der Rest konnte warten, bis es wieder hell war.

Draußen rief Linnea nach Arthur, doch alles, was sie zur Antwort bekam, war das klagende Heulen des Windes. Jetzt fehlte nur noch, dass der Kater weg war. »Du hast fünf Minuten!«, rief sie aus voller Brust in die Dunkelheit.

Beim Einräumen der Lebensmittel in den Kühl- und Gefrierschrank behielt sie die Daunenjacke und ihre Lederhandschuhe an. Das Essen würde zwei Wochen lang für eine ganze Familie reichen, aber sie hatte das Lebensmotto ihres Vaters übernommen: Better safe than sorry. Woher sollte sie wissen, ob es hier überhaupt einen Laden in der Nähe gab?

Eigentlich hatte sie ihren Eltern versprochen, sich zu melden, sobald sie angekommen war, doch das musste nun bis morgen warten. Ihre Mutter würde ihr garantiert anhören, wie verängstigt sie war, und den Triumph gönnte sie ihr nicht. Der Botanikerin im Vorruhestand hatten die Worte »eigenartiger Einfall« bereits auf der äußersten Zungenspitze gelegen, das hatte Linnea ihr förmlich angesehen, als sie von ihrem Vorhaben erzählt hatte, für eine Weile nach Nordnorwegen zu gehen. Doch die Mutter hatte sich den Kommentar verkniffen und stattdessen nur ihre Sorge darüber geäußert, dass Linnea den ganzen weiten Weg allein im Auto zurücklegen wollte.

Arthur war noch immer nicht aufgetaucht, obwohl Haus- und Küchentür angelehnt waren. Verärgert ging Linnea auf die Treppe vor dem Haus und rief so laut sie konnte seinen Namen. Nichts. Mittlerweile war ihr vor lauter Angst und Erschöpfung zum Heulen, trotzdem zwang sie sich ein weiteres Mal hinaus in die Dunkelheit. Das Licht ihrer Handy-Taschenlampe reichte nur ein paar Meter, und zu allem Überfluss hatte es inzwischen angefangen, heftig zu regnen. Plötzlich rutschte sie mit einem Fuß in irgendetwas aus und musste wild mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Auf dem matschigen Boden waren deutliche Spuren zu sehen. Stiefel? Nein, jetzt spielte ihr die Fantasie wieder einen Streich. Wahrscheinlich waren das nur Abdrücke von nassem Laub, das der Wind aufgewirbelt hatte, versuchte sie sich zu beruhigen.

Als sie schon heiser vom vielen Rufen war und beinahe aufgegeben hätte, leuchteten ihr zwei Punkte wie Laternen auf einem schwarzen Meer entgegen. Langsam kam das bepelzte Schiff näher, erreichte schließlich den sicheren Hafen und versah die türkise Daunenjacke mit feuchtbraunen Flecken, während Linnea schwarze Streifen aus Mascara und Tränen über die Wangen liefen.

Nun hatte sie nur noch die Kraft, ihre mitgebrachte Bettwäsche auszupacken und in dem eiskalten Haus, das ab jetzt ihr Zuhause sein sollte, einen Schlafplatz zu finden.

Kapitel 2

»Karl, komm schnell her!« Edith rief aus der Küche nach ihm, aber da er gerade in den neusten Zeitungsbeitrag zur Krankenhausdebatte vertieft war, beschloss er, die Ohren auf Durchzug zu stellen. Bald kam die Stimme jedoch näher, und die Lautstärke stieg. »Karl! Jetzt leg doch mal die dumme Zeitung weg und komm in die Küche. Drüben bei Marie brennt Licht!« Nun stand Edith in der Tür zum Wohnzimmer. Sie war sichtlich aufgewühlt. Die Brille saß ihr schief auf der Nase, und sie hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest.

Karl schielte über den Zeitungsrand. »Hast du etwa wieder Die Geisterakte geguckt? Ich hab dir doch gesagt, die Sendung ist die reinste Zeitverschwendung. Es gibt keine Gespenster, das ist nichts als Einbildung, aber die machen da ein Unterhaltungsprogramm draus und wollen die Leute für dumm verkaufen.« Mit einem resignierten Seufzen erhob er sich widerwillig aus dem Lesesessel. Wenn seine Frau so drauf war, hatte er zu gehorchen. Gemeinsam gingen sie zum Küchenfenster, und mit einer entschlossenen Geste schob Edith den Vorhang zur Seite.

»So, jetzt sieh selbst.« Einen Moment starrten sie zu zweit in die Finsternis. Bei Marie war kein Licht zu sehen, nur die Außenlampe, deren Glühbirne Karl selbst ausgetauscht hatte, als die alte im Frühjahr durchgebrannt war.

»Also … jetzt versteh ich gar nichts mehr. Da hat eben noch Licht gebrannt! Und zwar in mehreren Fenstern. Ich hab es mit eigenen Augen gesehen«, behauptete Edith, nahm die Brille ab, putzte sie mit einem Zipfel ihrer Bluse und setzte sie wieder auf. Das Nachbarhaus war und blieb dunkel.

»Ja, ja, Edith, ich glaub, wir zwei Alten lassen jetzt mal gut sein für heute und gehen ins Bett.« Karl wandte sich ab, um das Licht im Wohnzimmer auszuschalten. Den Artikel musste er wohl ein anderes Mal zu Ende lesen.

Edith wollte etwas erwidern, doch ihre Worte schienen sich gerade im Generalstreik zu befinden, und so blieb sie ausnahmsweise mal stumm.

Nachdem beide im Bad fertig waren und sich umgezogen hatten, überprüfte Edith sicherheitshalber, ob die Haustür auch ordentlich verriegelt war. Karl belächelte diese neumodische Angewohnheit, wie er es nannte. Hier in der Gegend schloss niemand zu Hause die Tür ab.

Im Bett trank Karl noch einen Schluck Wasser aus dem Glas auf seinem Nachttisch, knipste dann auf seiner Seite das Licht aus und machte sich bereit zum Schlafen. Edith hingegen war jetzt hellwach, und allmählich fand sie auch ihre Sprache wieder.

»Ich versteh das einfach nicht, sowohl in der Küche als auch im Flur war Licht an. Das müssen irgendwelche Einbrecher sein. Was, wenn die da Feuer legen? Um keine Spuren zu hinterlassen, meine ich. Oje, ich will gar nicht darüber nachdenken, da tu ich ja kein Auge mehr zu. Wir hätten unten Licht anlassen sollen, damit die Verbrecher gleich sehen, dass hier jemand zu Hause ist. Kannst du nicht noch mal runtergehen und es einschalten? Du bist doch viel besser zu Fuß als ich.«

Karl atmete schwer. »Unsinn, Edith. Wenn bei uns spätabends noch Licht brennt, sieht das doch viel verdächtiger aus. Dann denken die Diebe, wir wären verreist und wollten es so aussehen lassen, als wären wir zu Hause.« Er hoffte, dass sich seine Frau damit zufriedengeben würde.

»Hm, ja, jetzt, wo du es sagst … Das hab ich wohl auch schon mal gehört.«

Eine Weile blieb es still. Edith lag da und grübelte. Zuletzt hatte sie vor über einem Jahr Licht bei Marie gesehen, aber das vorhin konnte doch keine Einbildung gewesen sein. Ob Maries Seele in dem alten Haus umging? War sie gekommen, um sich zu rächen? Karl konnte sagen, was er wollte, aber Edith glaubte fest an solche Dinge, wie unheimlich sie auch waren. Sie erinnerte sich noch lebhaft an die Geschichten ihrer Großmutter über Gespenster und Waldgeister. Die Alte war so abergläubisch gewesen, dass sie immer erst die Unterirdischen bat, sich in Acht zu nehmen, bevor sie ihren Putzeimer leerte.

Hatte Karl nicht irgendwie seltsam ausgesehen, als sie ihm von dem Licht in Maries Haus erzählt hatte? Ja, ihr war, als hätte er einen Moment selbst an Gespenster geglaubt. Edith wälzte sich im Bett. Das Flanellnachthemd fühlte sich warm und klamm auf ihrer Haut an.

»Wir hatten doch nicht noch irgendwas zu klären mit Marie? Nicht, dass sie …«

Noch bevor Edith den Satz vollenden konnte, hörte sie das wohlbekannte Schnarchen ihres Mannes. Karl hatte schon immer einen gesegneten Schlaf gehabt. Sie drehte sich auf die Seite und versuchte, ebenfalls zur Ruhe zu kommen, doch das Gedankenkarussell in ihrem Kopf drehte sich unerbittlich weiter, während der Wind draußen immer heftiger wurde und der Regen gegen die Fensterscheibe prasselte. Petrus hatte sie diesen Herbst nicht gerade mit Sonnentagen überschüttet, so viel stand fest. Das war wohl die Abrechnung für den schönen Sommer, den sie gehabt hatten.

Vielleicht war sie Marie gegenüber nicht immer fair gewesen. Besonders eine Gelegenheit war ihr in Erinnerung geblieben, da hatte sie ihre Zunge nicht zügeln können und zu Marie gesagt, sie sei … Nein, sie mochte jetzt nicht daran denken. Aber Marie war immer so stark gewesen, ganz anders als sie selbst. Edith konnte immer noch zusammenzucken, sobald jemand nur etwas zu laut ins Zimmer platzte, und mehr als ein paar Tage am Stück war sie ihr Leben lang nicht allein gewesen. Sie hatte auch nie richtige Männerarbeit verrichten müssen, sondern für alles ihren Karl gehabt.

Edith erinnerte sich noch daran, wie klein und unscheinbar sie sich vorgekommen war, als Karl und sie in den 1960er-Jahren hierhergezogen waren. Sie kamen beide nicht aus besonders wohlhabenden Verhältnissen und hatten schnell gemerkt, dass ihre unmittelbaren Nachbarn von der feineren Sorte waren. Das war ihnen auch anzuhören. Ihre Worte schienen immer erst kräftig durch die Mangel gedreht worden zu sein, bevor sie ihren Mund verließen. Vermutlich hatte es diesen Leuten nie an etwas gefehlt. Das Haus war groß und herrschaftlich, kaum zu glauben, dass dort nur drei Personen lebten – Marie und ihre Eltern. Und dann der prächtige Garten. Ihr eigenes Haus, das sie sich nur mit Ach und Krach hatten leisten können, wirkte dagegen fast wie Unkraut in einem Schlosspark.

Edith war auf der anderen Seite der Insel aufgewachsen, wo alles ein bisschen karger zuging. Ihre Eltern hatten einen kleinen Bauernhof gehabt, mit dem sie die Familie kaum durchfüttern konnten. Damals gehörte es zur größten Schande, wenn eins der Kinder ins Heim abgegeben werden musste, und das hatten die Mutter und der Vater immerhin zu vermeiden gewusst. Karl kam aus etwas besseren Verhältnissen, aber auch in seinem Elternhaus auf einer der inzwischen entvölkerten Inseln in der Nähe von Hjartøy hatte es insgesamt sechs Geschwister gegeben. Der Vater hatte die Familie durch seine Arbeit an der Lotsenstation versorgt. Und eins musste sie Karl lassen, er war fleißig und konnte anpacken und kümmerte sich um das Haus, das er immer weiter ausgebaut hatte, je größer die Kinder geworden waren. Wir finden schon eine Lösung, so lautete stets sein Lebensmotto. Und aus Helge und Inger war zum Glück ja auch etwas Ordentliches geworden.

Ediths Gedanken machten einen Sprung, und sie sah noch einmal Maries Beerdigung vor sich. Viele waren an dem Tag nicht gekommen. Die Familie war nicht so groß, und aus den Reihen der Dorfgemeinschaft hatten bereits einige das Zeitliche gesegnet. Aber dass Inger, ihre eigene Tochter, extra zu diesem Anlass den weiten Weg aus Bergen zurückgelegt hatte, das war schon eine Überraschung gewesen. Edith spürte einen Stich, als ihr die Worte in den Sinn kamen, die Inger ihr irgendwann als Jugendliche mal an den Kopf geworfen hatte – dass sie sich wünsche, Marie wäre ihre Mutter. Diese Inger, sie war schon ein gedankenloses Kind gewesen. Edith kniff die Augen fest zusammen, doch die Bilder von der Beerdigung ließen ihr keine Ruhe.

Von Maries Verwandten aus dem Süden des Landes hatten sich nur zwei die Ehre gegeben, ein Mann und eine junge Frau. Das mussten ein Sohn von Borghild, dieser ständig abwesenden Schwester, und eins ihrer Enkelkinder gewesen sein. Zwei Tage später waren sie auch schon wieder verschwunden, Edith hatte sie nicht einmal auf einen Kaffee einladen können. Nach der Beerdigung hatte sie die beiden nur ein einziges Mal gesehen, da hatten sie schwarze Müllsäcke ins Auto getragen und waren damit fortgefahren. Edith ging davon aus, dass sie sich einfach die Wertsachen aus dem Haus unter den Nagel gerissen hatten.

Wenn sie es richtig verstanden hatte, waren die Lieder für den Gottesdienst von Marie selbst ausgewählt worden. Der Pastor hatte sogar ein langes schwedisches Gedicht vorgetragen, von dem Edith nicht besonders viel verstanden hatte, außer dass es von Goldregen handelte. Dass aber auch alles so vornehm zugehen musste. Solche Dinge konnte sie getrost Karl überlassen, wenn der Tag mal kam, da war sie wirklich froh.

Ein paar Wochen nach der Beerdigung war ein hübscher Grabstein aufgestellt worden, doch es gab niemanden, der sich um das Grab kümmerte. Edith fand das so traurig mitanzusehen, dass sie selbst eine Pflanze vorbeigebracht hatte und immer wieder mal nach dem Grab sah, wenn sie auf dem Friedhof war. Das zumindest konnte Marie ihr nicht vorwerfen. Edith hoffte nur, dass sie es von da oben auch sah, wo sie wohl unter den Heerscharen des Himmels thronte, obwohl sie zu Lebzeiten ja kein allzu oft gesehener Gast im Hause Gottes war.

Edith drehte sich um und zog sich die Decke über den Kopf. Sie konzentrierte sich auf Karls vertraute, gleichmäßige Atemzüge, bis sie irgendwann in denselben Rhythmus verfiel und einschlief.

Kapitel 3

Am nächsten Tag wurde Linnea von einer rauen Katzenzunge geweckt, die ihr über die Wange schleckte. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie gar nicht in ihrem eigenen Bett lag. Das einzig Bekannte um sie herum waren der Bettbezug und der Eulenschlafanzug, den sie im vergangenen Jahr von Iris zu Weihnachten bekommen hatte. Gestern Abend war sie so müde und erschöpft gewesen, dass sie kaum noch klar denken konnte, als sie sich eins der Schlafzimmer im zweiten Stock zurechtgemacht hatte, und zum Glück war sie dann auch augenblicklich eingeschlafen.

Sie rieb sich die Augen und blinzelte in das trübe Tageslicht, das durch die Vorhänge rieselte. »Na, was meinst du, Arthur, ob wir uns hier wohlfühlen werden?« Der Vierbeiner antwortete mit einem Schnurren, und sie strich ihm über das weiche rote Fell, in das man so schön die Nasenspitze vergraben konnte. Wie es schien, hatte er die dramatischen Ereignisse des gestrigen Tages unbeschadet überstanden. Die vielen vertraulichen Gespräche mit Arthur hatten Linnea eine kostspielige Psychotherapie erspart, da war sie sich sicher. Mit der Einhaltung der Schweigepflicht gab es bei ihm auch keine Probleme. Außerdem waren sie dadurch gewissermaßen quitt, denn sie hatte Arthur seinerzeit vor einem Rudel hyperaktiver Kinder gerettet, die keinen Unterschied zwischen ihm und seinen batteriebetriebenen Artgenossen machten.

Als Linnea sich aufsetzte, spürte sie einen leichten Druck im Hinterkopf, der sich im weiteren Verlauf zu hämmernden Kopfschmerzen weiterentwickeln konnte, wie sie befürchtete. Schleichend kehrte die Angst vom Vortag zurück, doch sie lenkte sich davon ab, indem sie ihre Aufmerksamkeit erst einmal auf das Zimmer um sich herum richtete. An den Wänden hing eine verblichene Blümchentapete, die sich an den Nähten bereits hier und da löste. Bis auf zwei Landschaftsgemälde, wie man sie oft auf Flohmärkten fand, waren die Wände kahl. Eins zeigte ein Waldmotiv mit loderndem Lagerfeuer und das andere Berge, Meer und darauf ein Boot mit vollen Segeln. Das Bett war weißgestrichen, daneben stand ein Nachttisch im selben Stil, und auf dem hellgrauen Holzfußboden lag ein Flickenteppich in Blautönen. Ein Zeitbild der 1950er-Jahre, fand Linnea, so in etwa zumindest.

Im Zimmer war es eiskalt, und Linnea war versucht, einfach noch ein bisschen weiterzuschlafen, doch das Licht lockte sie zum Fenster. Sie zog die hauchdünnen Vorhänge auf und schaute hinaus. Im ersten Moment fragte sie sich, ob sie über Nacht an einen völlig anderen Ort versetzt worden war. Vor dem Fenster offenbarte sich eine in klares Herbstlicht getauchte Landschaft. Eine postkartentaugliche Bergkette auf dem Festland dominierte die Aussicht, und das Meer vor dem Haus lag spiegelglatt da. Ein Fischkutter mit einem kleinen, preiselbeerfarbenen Segel und einer Wolke von Möwen im Schlepptau tuckerte langsam vorüber. Die Bäume im Garten, die am Abend zuvor mit ihren schwankenden Ästen gedroht hatten, standen nun in Reih und Glied und rührten sich nicht. Nur ein paar Blätter in unterschiedlichen Grün-, Gelb- und Rottönen winkten vorsichtig und versuchten zugleich, nicht den Halt zu verlieren. Die letzten Büschel leuchtend orangeroter Vogelbeeren klammerten sich an die Zweige, als fürchteten sie, ins Verderben zu stürzen, sobald sie losließen. Bis auf das Krächzen zweier Elstern im nächsten Baum war es vollkommen still. Vielleicht fragten sie sich, wer da in ihr Revier eingedrungen war. Mit einem Mal war Linnea fast feierlich zumute, und sie musste darüber schmunzeln, wie panisch sie vor ein paar Stunden noch gewesen war.

Erst jetzt spürte sie, dass ihre Füße fast taub vor Kälte waren, und sie kroch noch einmal unter die Bettdecke, um sich aufzuwärmen, bevor sie endgültig aufstehen wollte. Fast wäre sie wieder eingeschlummert, als sie in der unteren Etage plötzlich ein Geräusch hörte. Auch der Kater hatte etwas gemerkt; er spitzte die Ohren und saß regungslos da, die Zunge halb aus der Schnauze geschoben. Sofort war die albtraumhafte Stimmung zurück und schnürte Linnea die Brust zusammen. Dann war es wieder still. Vielleicht war es doch nichts. Sie lauschte. Doch, jetzt war ein deutliches Klopfen zu hören – an einer der Innentüren. Um Himmels willen, sie musste so durch den Wind gewesen sein, dass sie vergessen hatte, die Haustür abzuschließen, bevor sie gestern Abend ins Bett gegangen war. Ihr Herz schlug schneller. Hier war sie nun, mutterseelenallein irgendwo draußen auf dem Land. Für Einbrecher, Vergewaltiger und Mörder war das geradezu eine Einladung, es war ja allgemein bekannt, dass in den ländlichen Regionen lauter Verrückte lebten. Die Zeitungen waren voll von solchen Geschichten, und die Leute liebten es, sich darin zu suhlen, schreckliche Dinge, die immer nur anderen zustießen, aber nie einem selbst. Bis jetzt. »Lieber Gott«, murmelte sie …

»Hallo, ist hier jemand?«

Eine Männerstimme in singendem Nordnorwegisch tönte zu ihr herauf, und sie klang eigentlich zu freundlich, als dass Linnea ernsthaft einen Mörder dahinter vermuten konnte. Sie erhob sich aus dem knarrenden Bett, und als ihre Füße erneut den kalten Fußboden berührten, hatte sie eine klare Vorstellung davon, wie es sein musste, barfuß über einen Gletscher zu laufen. An der Treppe nach unten erblickte sie einen Kopf mit einer altmodischen Baskenmütze, der über die Stufen zu ihr hinaufschaute.

»Entschuldigen Sie, ich wollte hier nicht einfach so reinschneien, aber wir hatten Sorge, dass sich irgendwelche Fremden Zugang zum Haus verschafft haben. Edith, mein Al…, ich meinte meine Frau, war schon immer etwas ängstlich, deshalb hab ich ihr versprochen, mal nachsehen zu gehen. Ja, ich heiße übrigens Karl, Karl Sletten«, erklärte der Mann und fügte noch erläuternd hinzu: »Wir wohnen gleich nebenan.«

Linnea seufzte erleichtert auf. Die Gefahr war vorbei. Zumindest vorläufig.

»Danke. Ich habe nicht daran gedacht, dass ich Aufmerksamkeit erregen könnte. Mein Name ist Linnea Brose, ich darf vorübergehend hier wohnen, vielleicht für ein paar … ja, ich weiß eigentlich noch gar nicht, wie lange«, sagte sie mit einem erneuten Seufzer.

»Ah, da ist ja noch jemand, wie ich sehe.«

»Nein, ich bin allein.« Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, schlich Arthur an ihr vorbei und ließ sich bereitwillig von dem Nachbarn hinter den Ohren kraulen. »Stimmt, Sie haben recht«, sagte sie lachend. »Wir sind zu zweit. Und haben wohl etwas verschlafen. Aber kann ich Ihnen vielleicht eine Tasse Kaffee anbieten?«

Noch im selben Moment bereute sie ihre Worte. Warum musste sie nur immer so höflich sein? Einen fremden Mann zum Kaffee einladen, bevor sie überhaupt angezogen war – das sah ihr mal wieder ähnlich, dachte sie selbstironisch.

»Dazu sage ich nicht Nein, aber nur, wenn es keine Umstände macht«, antwortete der Nachbar.

»Nein, nein. Gehen Sie ruhig schon mal in die Küche, ich komme gleich.«

Linnea zog sich ins Bad zurück, wo sie nach einer schnellen Katzenwäsche in die Kleidung vom Vortag schlüpfte. Der kleine Heizstrahler, der über der Tür montiert war, gab keine nennenswerte Wärme von sich, aber immerhin hatte sie daran gedacht, vor dem Zubettgehen noch den Durchlauferhitzer einzuschalten.

Wenig später saß sie mit Karl bei einer Tasse Kaffee und einer Schale Schokoladenkekse am Küchentisch. Vor dem Fenster war es inzwischen noch etwas heller geworden, und die Sonne brachte das Meer zum Glitzern, sodass der Sund mit lauter silbernen Streifen überzogen war. Das sah aus wie eine riesige Makrele, dachte Linnea.

»Kannten Sie Marie, die frühere Hausbesitzerin, gut?«, fragte sie.

»Wie man's nimmt.« Karl zögerte mit der Antwort, trank einen Schluck Kaffee und schien einen Moment nachzudenken. Linnea schätzte ihn auf ungefähr achtzig. Er hatte ein wettergegerbtes Gesicht, und die Krähenfüße um seine grauen Augen hatten sich tief in die Haut eingegraben, wie winzige Bachläufe. Das Haar war schlohweiß, was ihn jedoch eigenartigerweise nicht besonders alt aussehen ließ. Er wirkte freundlich. Sein Arbeitsanzug trug deutliche Gebrauchsspuren und war hier und da mit Farbe besprenkelt. Die Hände, mit denen er die feine Porzellantasse umschlossen hielt, verrieten, dass dies kein Mann war, der im Büro gearbeitet hatte. Die Baskenmütze hatte er vom Kopf genommen und auf dem Knie abgelegt. In jüngeren Jahren hatte er sicher Eindruck auf die Damenwelt gemacht, das war ihm unschwer anzusehen.

»Aus Marie ist man nicht immer so leicht schlau geworden«, sagte er schließlich. »Manche fanden sie wohl hochnäsig, aber ich denke, sie war vielleicht einfach nur gern für sich, wenn sie nicht auf der Arbeit war. Marie hat das Postamt geleitet, bis zu dem Tag, als es geschlossen wurde, und ich glaube, sie hat nicht ein einziges Mal krankgefeiert. Ich habe ihr mit praktischen Dingen geholfen, die sie nicht allein hingekriegt hat, und an dem Tisch hier haben wir oft bei einer Tasse Kaffee zusammengesessen und uns unterhalten«, erzählte er und nahm sich einen Keks, den er in den Kaffee tunkte. »Inger, unsere Tochter, war hier regelmäßig zu Besuch, als sie klein war. Die beiden kamen gut miteinander aus. Marie hatte ja keine eigenen Kinder«, erklärte er. »Außerdem war sie ziemlich belesen«, fuhr er fort, wobei er das letzte Wort fast ehrfurchtsvoll betonte. »Sie hatte ganz schön was auf dem Kasten.« Er tippte sich an die Schläfe.

Linnea merkte, dass er bewegt war. In seinen Augen schimmerte es, und er zog ein großes, kariertes Stofftaschentuch aus der Anzugtasche.

»Es war das Herz«, sagte er leise nach einem Moment des Schweigens, und Linnea brauchte eine Weile, bis sie verstand, was er meinte. »Es war einfach zu schwach«, flüsterte er beinahe. Dann steckte er das Stofftuch unbenutzt zurück in die Tasche und verrückte das Glas, das bereits bei Linneas Ankunft auf dem Tisch gestanden hatte.

»Tja, zumindest ging es schnell, wo es schon so übel ausgehen musste«, sagte er und klang fast wieder wie vorher.

»Hat Marie die ganze Zeit allein in diesem großen Haus gewohnt?«

»Ja. Das heißt nein, als ihre Eltern noch lebten, haben die auch hier gewohnt. Dann wurden sie krank, und sie musste sich um sie kümmern. Ihre Schwester Borghild lebt ja weiter im Süden, wie Sie wissen. Und als die Eltern dann starben, war es wohl zu spät für Marie, eine eigene Familie zu gründen.«

Linnea hatte Karl bereits erklärt, wie sie mit dem Besitzer des Hauses in Verbindung stand, über den Grund für ihre Anwesenheit hatte sie jedoch geschwiegen. Er war neugierig, das merkte sie, aber trotzdem so taktvoll, nicht weiter danach zu fragen.

Mit einem Mal sprang Arthur auf Karls Schoß und machte es sich dort gemütlich.

»Sie scheinen ein Katzenmensch zu sein«, sagte Linnea lachend. Normalerweise war Arthur Fremden gegenüber eher skeptisch.

»Ich war schon immer ein Tierfreund, aber Edith wollte nie was von einem Haustier wissen, wegen der Haare«, sagte er und klang mit einem Mal betrübt. Linnea wusste nicht, was sie von dieser Edith halten sollte; sie schien auf jeden Fall ziemlich bestimmend zu sein.

Sie blieben noch eine Weile sitzen und unterhielten sich, während Karl dem Kater mit langsamen Bewegungen den Rücken streichelte. Dabei erzählte er ein bisschen mehr von der Gegend und den Bewohnern der umliegenden Häuser. Linnea war schnell klar, dass sie das Durchschnittsalter der Nachbarschaft deutlich herabsenken würde.

Im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte ein Rentnerehepaar, das es wie die Zugvögel hielt und sich in südlichere Gefilde begab, sobald der Herbst anbrach. Ein Stück die Straße hinunter lebte ein Schafsbauer um die vierzig, und dessen nächste Nachbarn wiederum waren eine Witwe und ein Witwer, die »sich zusammengetan« hatten, wie Karl es ausdrückte. Nicht allzu weit entfernt wohnte jedoch auch eine Frau in Linneas Alter, die im örtlichen Lebensmittelladen arbeitete. Vielleicht konnte das ja eine neue Freundin werden, das wäre nett. Eine, mit der sie bei einer gemütlichen Tasse Tee oder einem Gläschen Wein ein bisschen quatschen konnte. Allein der Gedanke daran stimmte Linnea gleich ein wenig zuversichtlicher.

Karl bot an, in den Schuppen zu gehen und Holz zu holen, damit sie Feuer im Ofen machen konnte. Ein Haus aufzuwärmen, das so lange leer gestanden hatte, würde eine Weile dauern, erklärte er vorsorglich.

Eine Viertelstunde später kam er mit einer Kiste voller Holzscheite zurück, die aussahen, als wären sie mit dem Maßband zurechtgehackt worden, und obendrauf lagen ein paar alte, vergilbte Zeitungen. Er kniete sich vor den Ofen und schichtete die Scheite so aufeinander, dass noch etwas zusammengeknülltes Zeitungspapier dazwischenpasste. Linnea sah die alten Nachrichten gerade noch in Flammen aufgehen, bevor er die Ofentür schloss und den Luftregler öffnete. Kurz darauf ertönte ein behagliches Knistern.

»Ich glaub, das tut's«, sagte er und stand auf, ohne sich irgendwo abzustützen. Für sein Alter schien er noch gut in Form zu sein.

»Hier vor dem Ofen hat Marie oft im Schaukelstuhl gesessen und Dämmerwache gehalten. Ja, das ist so ein alter Brauch, der inzwischen kaum noch in Mode ist. In alten Zeiten, bevor der Strom kam, saß man hier abends gern eine Weile im Flackerlicht vor der geöffneten Ofentür und genoss die Stille, bis es so dunkel war, dass man die Lampe anzünden musste«, erklärte er. »Aber jetzt muss ich zusehen, dass ich nach Hause komme, sonst schickt Edith noch einen Suchtrupp nach mir aus. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl hier, auch wenn Sie nicht gerade die schönste Jahreszeit erwischt haben. Gestern Abend, als Sie angekommen sind, war ja richtiges Mistwetter, mit Regen und Schneebatzen und allem. Und sagen Sie ruhig Bescheid, wenn Sie bei irgendwas Hilfe brauchen. Wir sind eigentlich immer zu Hause, mein Altchen und ich«, sagte er auf dem Weg zur Tür hinaus.

Als Karl gegangen war, machte Linnea sich ein schnelles Frühstück bestehend aus ein paar Scheiben Knäckebrot mit Braunkäse und einem Joghurt. Allmählich wurde es wärmer in der Küche, sodass die Fenster zu beschlagen begannen, und Linnea nahm das Handtuch, das über dem Ofen hing, um sie wieder freizuwischen. Anschließend zog sie sich die Daunenjacke über, auf der immer noch Arthurs Matschpfotenabdrücke zu sehen waren, und ging hinaus, um das restliche Gepäck aus dem Auto zu holen.

Die Herbstluft schlug ihr wie eine kühle Umarmung entgegen, als sie die Haustür öffnete. Der erste Frost war gekommen, und im Laufe der Nacht hatte sich eine dünne Schicht Raureif über die Wiese gelegt, die nun bei jedem ihrer Schritte leise knirschte. Das Laub unter den wohlgeformten Bäumen hatte sich überall verteilt und längliche Haufen gebildet, wie Wellen auf einem See. Hoch oben am Himmel sah Linnea ein Flugzeug auf dem Weg hinaus in die Welt, es war nur ein kleiner Punkt mit einem weißen Schweif, viel zu weit weg, als dass es zu hören war. Und wo bin ich gelandet? Hier, dachte sie missmutig. Eine Art Notlandung war das wohl am ehesten.