Die Insel - Max Dreyer - E-Book

Die Insel E-Book

Max Dreyer

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Beschreibung

Max Dreyer wird häufig als "Dichter der Ostsee" bezeichnet. Er gilt als Entdecker des Ostseeraums für die Verarbeitung in der Literatur.Von den kleinen, hügeligen Halbinseln, in die das Gestade wie aus Übermut sich zerklüftet, hat sich die kleinste und höchstragende am kecksten in die See hinausgewagt. Zum Lohn dafür heißt sie Die Insel, und der Besitzer des kleinen Bauernhofes, den sie trägt, seit grauesten Tagen der Inselbauer. [...]

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Seitenzahl: 174

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Geschichten

Titelblatt

Martin Overbeck und seine hundert Tage

Die Insel

Müte und sein Freund

Der Stammhalter

Der Dichter und die Revolution

Bob

Die Turmhochzeit

Eine Bitte der Verlegerin

Impressum

Max Dreyer

Die Insel

Geschichten aus dem Winkel

 

 

www.buch-klassiker.de

Martin Overbeck und seine hundert Tage

Wie sie den alten, vierundsiebzigjährigen Herrn Martin Overbeck aus dem Krankenhause als geheilt entließen und dem kleinen Altersheim von St. Marien überantworteten, das nur den auserkorenen Abkömmlingen der ehrwürdigen Senatorengeschlechter sich öffnete, da besann sich der Genesene allen Ernstes, ob es wirklich der Mühe wert sei, noch weiter mitzumachen, und in seine feinen und klugen, regsamen und allezeit schalkhaften Züge grub sich echt und bitterlich ein verdrossener, lebensmüder Strich.

Als ihn aber die Pforte des kleinen, einstöckigen Hauses unter stockendem, heiserem und unwirschem Gewimmer der bandeisenbeschwingten Glocke aufnahm, da ward ihm anders zumute. Dank der einzigen Insassin, der gleichfalls vierundsiebzigjährigen Jungfrau Agnete Susseroth, die ihn zum Willkomm mit ihren dunklen, weltfeindlichen Augen über die Brille anfunkelte, zornig, verächtlich und angstvoll zugleich, besann er sich wieder auf des Lebens Reiz, als welchen sein glückliches Fell von jeher alles Widerhaarige, alle Borsten und Dornen empfunden hatte, und sein Gegengruß war voll Fröhlichkeit.

Im übrigen trug die Einführung des neuen Bewohners durch den Hauptpastor der Mariengemeinde, dessen Fürsorge über dieses Heim waltete, Herrn Armin Karsten, Doktor der Theologie und Verfasser vieler Bücher, zur Versöhnung von Gegensätzen nicht das geringste bei. Wohl war Herr Pastor Karsten die Herzensgüte selbst; aber seine Gelehrsamkeit war viel zu groß und machte ihn viel zu zerstreut, als daß er auf die Schwingungen so kleiner Erdendinge hätte achten sollen. Außerdem hatte ihm gerade heute die Kirchenzeitung besonders wehe getan, in der seiner bahnbrechenden Geschichte des Petrinischen Lehrbegriffes ein Rezensent sehr böswillig auf die bahnbrechenden Zehen trat. So machte er hier seine Sache kurz und verbast, und sein Abgang war eine Flucht mit wehenden Rockschößen.

Dieser Weise ganz auf sich selbst gestellt, richtete sich Martin mit Hilfe der Aufwärterin in seiner Stube häuslich ein. Das ging schnell genug. denn was er zu dem stehenden Inventar an eigenen Habseligkeiten hinzufügte, war zum Lachen oder zum Weinen gering. Zum Lachen – denn mit Tränen hatte Martin Overbeck niemals recht Bescheid gewußt. Und schließlich, auf Besitzende war ja diese seine neue Klause auch nicht berechnet. Außer Kleidern und Wäsche brachte er nur ein paar Meerschaumpfeifen, ferner zwei japanische Kästen mit Briefen und Photographien, einige wahllose erotische Erinnerungen und vier Bücher ins Haus.

Seine Stube war seit zwei Jahren unbewohnt gewesen. Der Weltordnung im allgemeinen und dem Senatorenstande im besonderen zu Ehren muß denn doch gesagt werden, daß in dessen Sphäre der Altersversorgung nur recht wenige anheimfallen. Während dieser zwei Jahre war Fräulein Susseroth Alleinherrscherin in diesem Heime.

Es war ein winziges, einstöckiges Haus, das nicht mehr als fünf Stuben enthielt und nicht mehr als fünf Insassen hätte aufnehmen können. Als Predigerwitwenhaus gebaut, drückte es sich trauernd, scheu und bescheiden an die hohe Mauer, die den Vorgarten des stolzen Pastorenhauses umgab. Neben ihm, zweistöckig und wichtig, stand das Amtsgebäude der Küsterei, ihr schlossen sich eine Reihe stiller Wohnhäuser an. Wenig Leben war auf dieser Seite des Kirchplatzes, zwischen den Steinen wuchs Gras, der Verkehr flutete drüben, seinem Rauschen wehrte der gewaltige Bau der Marienkirche, kaum mehr als ein verlorenes, verträumtes Klingen ließ sie an sich vorbeihuschen, hinein in dieses ruhsame Reich.

»Da wären wir also,« sagte Martin Overbeck und atmete tief in seine geheilte Lunge die durchsonnte Septemberluft, die durch die offenen Fenster drängte. »Und da werden wir nun wohl bleiben. Bis der Schlußdeckel über einen kommt.«

Die Aufwartefrau, knochig und machtvoll, nickte freudig dazu, ohne Laut.

Martin sah sie sich an. Ihm war nach belebter Zwiesprache zumute, und er fragte sie zutunlich, ob sie schon lange hier ihres Amtes walte, worauf sie wieder nickte, freudig, doch lautlos. Und weiter, ob sie über den neuen, den männlichen Gast vor Grausen die Sprache verloren habe. Da schüttelte sie den Kopf, ebenso munter, aber ebenso stumm.

Nun aber wurde er bewegt, und er nahm sie sich vor: ob sie nicht sprechen wolle oder nicht sprechen könne oder was das mit ihr sei. Da trat sie dicht an ihn heran, geheimnisvoll, und hauchte ihm ins Ohr: »Freilein Susserothen kann mein Orkan nich vertragen.«

Mit lachendem Schreck fuhr der alte Herr zurück. Schon dies Flüstern tönte, wie wenn ein leeres Oxhoft über Rostocker Pflaster rollt. »Donnerwetter!« rief er mit zwinkernden Augen. »Sie möcht‘ ich mal um Hilfe schreien hören!«

Sie lachte mit ihm, das heißt sie verzog den Mund, der wieder zu strenger Lautlosigkeit verurteilt war.

Woraus Martin Overbeck erstlich mal entnahm, daß die Wünsche des Fräuleins Susseroth hier allen Respekt erheischten. Zweitens aber, daß dasselbe Fräulein Susseroth ihre Empfindlichkeiten hatte und für ungewöhnliche, exzentrische und groteske Spielarten des Lebens, denen er nun gerade eine dankbare Lustigkeit zuerteilte, nicht den nötigen Humor mitbrachte. Drittens endlich, daß es lohnen könne, mit dieser gestopften Drommete hier sich näher zu befassen, ihrem Wesen auf den Grundton zu kommen und gegebenenfalls gar ein fröhliches Komplott mit ihr gegen die lustlose jungferliche Herrscherin zu stiften.

Frau Knoll ihrerseits war einem Seelenbunde der Munterkeit durchaus nicht abgeneigt. Sie schloß sich an den neuen Geist des Hauses mit unverhohlen vergnügter Zutraulichkeit, und es gab ein Plauderstündchen in heimlichem, nein unheimlichem Geflüster. Frau Knoll mußte erzählen. Erst von der Hausordnung, und hier erfuhr er, daß Fräulein Susseroth sich ausdrücklich und nachdrücklich ausbedungen habe, die Mahlzeiten, welche die Pastorenküche lieferte, allein, gesondert für sich einzunehmen.

»Soll sie in Gottes Namen,« meinte Martin Overbeck. »Obwohl es mir am besten schmeckt, wenn einer dabei sitzt, der sich bost.«

Des weiteren bekam er zu wissen, daß die jungfräuliche Königin nicht nur im allgemeinen auf das Mannsvolk zum Gotterbarmen schlecht zu sprechen sei, daß sie insonderheit das Tabakrauchen mit hassender Wut verabscheue. Und dabei musterte Frau Knoll listig die Meerschaumpfeifen.

»Da kann ich der Dame des Hauses nun nicht helfen,« erklärte Martin mit ritterlichem Bedauern, doch in lasterhafter Festigkeit. »Ich will ihr die größten Opfer bringen, ich bin sogar imstande auf Weib und Gesang zu verzichten, öwer rooken – rooken möt ick!«

Der Arzt hätte ihm für heute wieder die erste Pfeife erlaubt, und die käme nun unfehlbar dran. Wenn Mutter Knoll was von Tabak verstünde und ihre Nase nicht unter ihrem Orkan gelitten hätte, dann würde sie den Rauch seines Shag mit Andacht sich zu Gemüte führen. Lieber freilich – ach, wieviel lieber! Und er seufzte tief und schwer – würde er sich ja endlich, endlich mal wieder nach so langer, langer Zeit eine edle Importe einverleiben. Aber woher nehmen und nicht stehlen?

Er blickte noch immer schmachtend und wehmütig in die Weite, als er sich eine der kurzen Pfeifen stopfte. Mutter Knoll aber sah mit einem vergnügten Entsetzen zu, wie hier in den Mauern weiblicher Vergrämtheit männliche Weltlust ihr frevelhaftes Opfer entzündete.

Dann rückte sie dem alten Herrn den Lehnstuhl in den Sonnenstreifen, legte ihm fürsorglich die Schlummerrolle in den Nacken und hielt gerne still, als er schmauchend sie nach ihrem Leben ausfragte. Daß sie zu dem Ehrenposten hier im Hause gekommen sei als Frau eines der Glockenläuter von St. Marien. In seinen bürgerlichen Verhältnissen sei ihr Mann Kesselschmied, bringe also kirchlich sowohl wie bürgerlich das geeignete Trommelfell mit für ihre Unterhaltung, die daheim nicht wie hier auf Socken herumschliche. Ob sie Kinder habe? So was von Frage! Mehr als ein Dutzend habe sie gehabt, von denen neun am Leben seien.

»Doch nicht dreizehn!« sagte Martin und zog bedenklich die Brauen in die Höhe.

»Nee,« kicherte sie, und ihre Augen guckten wie zwei rechte Spitzbuben, »um das drütteinste haben wir uns glücklich weggeswindelt. Das sünd nämlich Zwillinge geworn.«

Er lachte mit ihr und schlug sich die trockenen Schenkel. Eine Freude war Mutter Knoll. Eine Kraft und eine Stütze des Staats mit ihrem glockenläutenden Kesselflicker. Das mußte wahr sein! Fast herzlich dachte er ihr nach, als sie von ihm gegangen war. Und dann kauerte er sich zurecht in dem strömenden Nachmittagsonnenschein und ließ seinen Rauch sich wirbeln in den tanzenden Staub des Lichtkegels.

So kauerte er und krümmte sich müde, matt von dem vielen Leben und noch matter von der eben überstandenen Krankheit. Und er nickte ein, doch nicht so, daß er die Pfeife hätte ausgehn lassen.

Dann rief ihn der unendlich junge Klang der uralten Turmuhr, der eine beinah kindlich laute Freude an sich selber hatte und gar nicht feierlich war, wieder zu seinen Gedanken.

Ja, Martin, da sitzt du nun im Alterstübchen. Und bist allein, was du nie in deinem Leben warst. Fühlst es aber gar nicht einmal als etwas Schlimmes. Ja, ja, das Alter. Doch gut, daß es mit stumpfen Zähnen beißt. Wenn dir das einer vor zwei Jahren gesagt hätte! Wo du noch mit dem Rest des Familienbesitzes die unglaublich freche Spekulation machtest, vor der die Leute baff auf den Rücken fielen, die Beine in die Höh!

Freilich, er selbst war danach gründlich kopfüber gegangen. Schade, es war prachtvoll unverschämt, nie hatten diese Breiten seinesgleichen gesehn, es hätte ein besseres Los verdient. Aber ein guter Abschluß war es gewesen, dieser Husarenstreich, unbekümmert, alles oder nichts! Im andern Fall hätten die Schulden ja doch das Letzte aufgefressen.

Er strich sich mit der Hand über das weiße, kurzgehaltene Haar, das noch immer seine Fülle hatte und seine straffe, sture Haltung. Seinen klaren Augen aber gab die Erinnerung an die vielen dummen Gesichter, den Chor zu seinem geschäftlichen Finale, einen lächelnden Glanz.

An verblüfften Gesichtern hatte sein Lebenspanorama überhaupt etwas aufzuweisen. Von denen nun das letzte das seiner Hausgenossin war.

Fräulein Susseroth. Hm. Die Susseroths waren ein Geschlecht, älter noch als das seine. Und es lebten auch noch Stammesgenossen von ihr in der Stadt, angesehene Leute, während er hier am Orte seinen Namen zu Grabe trug.

Agnete Susseroth. Wußte er etwas von ihr? Nein. Er war ja allerdings erst vor drei Jahren wieder in die Vaterstadt zurückgekehrt, die er als junger Kerl verlassen hatte. Aber damals kannte er doch jedes Mädchen im Städtchen, und in seiner Erinnerung war die Abteilung für Weiblichkeit die am besten verwaltete.

Vielleicht daß sie, als er sich damals hier die Sporen verdiente, außerhalb in einer Pension veredelt wurde. Wie aber war sie hierhergekommen? In dieses Asyl. Eine Susseroth. Daß ihre stolzen und reichen Verwandten das zuließen!

Oder hatte sie auch etwas ausgefressen, sie auch? Dabei wetterte ein Schmunzeln um seinen schmalen Mund. War sie auch vom Leben zerzaust und in Unordnung gebracht? War sie auch eine Gescheiterte? War ihr auch ihr Fahrzeug versunken? Hatte sie sich auch durch Schwimmen retten müssen? Sie sah nicht danach aus. Ihr fehlte das Zeichen vom Orden der Überwinder. Sie hatte nichts von dem Schwebenden, nichts von dem wehen Lächeln, das sich freier und froher machen kann als alle Lustbarkeit, das in die Höhe trägt, weil es aus der Tiefe kommt.

Verbittert sah sie aus, so wie Unglück verbittert. Nichts von eigenen Irrfahrten, aus denen jeder auf seine Art eine gewisse Schelmerei des Ungebundenen heimträgt, stand in ihrem Gesicht. Hätte es sonst nicht auch einen Klang geben müssen zwischen ihr und ihm?

Einen erklecklichen Mißklang hatte es gegeben. Wie hatte ihn die Alte über die Brille angesehn! ›Die Alte‹, dachte er; denn da er lachte, war er jung. War nicht in ihren Blicken sogar etwas von der Mißachtung gewesen, die der Wohlgesittete dem Mißratenen entgegenbringt?

Aber das half nun alles nichts. Das Schicksal hatte sie nun mal beide in denselben Topf geworfen. Da mußte sie schon mit ihm vorlieb nehmen – oder er mit ihr.

Die Sonne ließ nicht mehr die Stäubchen mit dem Rauch den Ringelreihen tanzen, es fror ihn, er stand auf und schloß die Fenster. Gerade zur rechten Zeit kam aus dem Pastorenhause der Nachmittagskaffee. Das war die erste Mahlzeit, die Martin Overbeck hier einnahm. Gemäß der Verfügung seiner Hausgenossin mußte er sie allein genießen.

Dies stimmte ihn nicht gerade wehmütig, viel eher das Getränk selbst. Und er meinte, wenn man aus dem Kaffee des Herrn Pastor auf seine Gesinnung schließen dürfe, habe man kein Recht, ihn zu den Schwarzen zu zählen.

›Jetzt eine gute Zigarre‹, dachte er. Aber auch diese unerfüllte Sehnsucht tat nicht weiter weh. Er war so bescheiden geworden.

Dann zog er sich an, um auszugehen und die Sonne aufzusuchen. Nach dem Hafen lenkte er die Schritte. Dort setzte er sich am Kopfe einer der großen Landungsbrücken auf eine leere Bank, ließ seinen lieben Sonnenschein von oben und dessen glitzernden Abglanz von unten aus dem Wasser über sich streichen, träumte dem Laufe des Stromes nach, ins Meer, in die Weiten seines bewegten Lebens, das nun hier an dem Orte seines Ursprungs in aller Einsamkeit zur Neige gehen sollte.

»Von meinen Freunden bin ich der letzte,« pflegte er zu sagen. Die Bekannten aber wollten nichts von ihm wissen. Sein letztes Wagnis hatte ihn vollends gerichtet, da es unglücklich verlaufen war. Doch machten sie ihm das Herz nicht eben schwer, er konnte sie gut entbehren.

Seltsam – er hatte früher nie so recht allein sein können, und das Wort Einsamkeit war ihm immer als das traurigste von der Welt erschienen, wie aus lauter kristallisierten Tränen gebaut. Jetzt nahm er die Verlassenheit hin ganz ohne Schmerz, fast mit einer schmunzelnden, wohligen Neugier.

Sattsam getröstet von der Sonne machte er sich durch den Spätnachmittag langsam auf den Heimweg. Wie er an sein Haus kam, sah er Fräulein Susseroth am Fenster sitzen, in eine Häkelarbeit oder so etwas vertieft. Ihm war es, als schielte sie einmal über die Brille nach ihm hin. Da er aber den Hut ziehen wollte, war sie es nicht gewesen.

Martin Overbeck lächelte sein stilles, ein wenig verschmitztes Lächeln – Marke Weiblichkeit – und trat summend in sein Stübchen. Hier brannte er sich eine neue Pfeife an, die ihm besonders gut schmeckte.

Es kam der Abend, und mit ihm stellte sich Frau Knoll, die ganz nahe in einer Nebengasse wohnte, wieder auf eine Weile ein, sorgte für das Nachtessen und bereitete dem alten Herrn das Bett.

Und dann kam die Nacht. Martin Overbeck war immer ein guter Schläfer gewesen, das hatte ihn stark gemacht für die viele Mühsal seines Lebens. Er liebte die Nacht, Fräulein Susseroth aber haßte sie. Denn in der schwarzen Stille schlich immer der alte Gram zu ihr her, er lauerte schon, wenn die Dämmerung zog. Bei ihr brannte Licht die ganze Schlafenszeit, Martin aber wühlte sich mit Behagen in das tiefste Dunkel, weich und warm und geborgen.

In der Frühe des andern Tages überraschte Martin Overbeck Mutter Knoll mit einem Auftrag, zu dem sie sich hinter den Ohren kratzte. Sie solle bei Fräulein Susseroth anfragen, ob es der Dame genehm sei, wenn er ihr heute mittag seine Aufwartung mache.

Frau Knoll sah ihn an mit großen Augen und gekniffenem Munde. Darauf flüsterte sie: »Ja. Aber auf nüchternen Magen verträgt sie so was nich. Nach ‚n Kaffee. Denn is sie gnädiger.«

›Nach dem Kaffee,‹ dachte Martin. ›Demgemäß ist sie also doch kein so ganz verstocktes Gemüt.‹

Und nach dem Frühstück kam dann die Antwort zurück, daß Fräulein Susseroth es sich zur Ehre schätze, Herrn Overbeck bei sich zu empfangen.

Unfroh war der Bescheid gegeben, das durfte Mutter Knoll nicht verhehlen. Offenbar war der Eindringling nur durch Überrumplung ans Ziel gelangt.

Aber seinen Willen hatte Martin Overbeck mal wieder, und nun machte er sich fein, wie sich‘s gehörte. Er hatte stets auf seine Kleidung gehalten, sogar einen Zylinder neuerer Observanz nannte er sein eigen. Wohlgerüstet begab er sich um die zwölfte Stunde auf den Kampfplatz.

Sie trat dem Besuch entgegen mit einem getragenen Schritt, von dem Martin boshaft meinte, daß er noch aus der Menuettzeit stamme, er führte ihre Hand zum Kusse an den Mund, dann winkte sie ihm, auf einem Stuhle Platz zu nehmen, während sie selbst auf dem Sofa sich niederließ.

Sie hatte ein Sofa, er nicht, er hatte dafür einen Lehnstuhl, und der dünkte ihm bequemer. Ihr Bett hatte weiße Vorhänge, auch damit konnte er nicht aufwarten, auch gab es bei ihm nicht die vielen Tüll- und Mull- und sonstigen Drapierungen und erst recht nicht den leisen Resedaduft, den diese Stoffe atmeten.

Die Herrin selbst in ihrer Staatsrobe, einem mattvioletten Seidenkleid, mit einer weißen Haube, die ebenso violette Bänder zierten, war ganz Würde. Sie thronte, sie blickte auf ihn herab. Die Geister ihrer Ahnen umgaben sie, die einem der ältesten Patriziergeschlechter der Stadt entsprossen war. Die Overbecks konnten den Susseroths nicht das Wasser reichen.

Und dieser Overbeck nun gar – ein ziemlich verwahrlostes Exemplar seiner Gattung. Sie hatte nichts Gutes von ihm gehört. Mindestens lag ein abenteuerliches exotisches Leben hinter ihm. Und geradezu abenteuerlich war dann ja auch der Geschäftsstreich gewesen, mit dem er zu guter Letzt seine Vaterstadt beglückt hatte.

Daß dieser Herr aber nun gerade ihr Hausgenosse werden mußte, das setzte allem die Krone auf. Jedenfalls würde sie den nötigen Abstand wahren. Dieser Besuch, der sich ja wohl nicht gut hatte vermeiden lassen, sollte nimmermehr zu irgendwelchem näheren Verkehr hinüberleiten. So war Fräulein Susseroth gesinnt.

Martin mit seiner feinen Spürnase merkte wohl ihre Temperatur, doch er war nun einmal widerstandsfähig und wetterfest. Aber in all seiner Unanfechtbarkeit kam ihm das eine Gefühl: sie selber friert ja, sie selber hat ja ihre Not. Zu seinen spaßhaften Anwandlungen trat ein echt mitleidige Regung, und in seine Unterhaltung kam ein guter Klang.

Er sprach mit ihr von der Kinderzeit. Hier hat auch der unglücklichste Mensch seine grünen Inseln, und hier fanden sie sich leidlich zusammen.

Bald merkte er, daß sie an eigenem Erzählen Gefallen hatte. Sie besaß eine sehr wohllautende Stimme – ihre Abneigung gegen die Donnerbüchse der Mutter Knoll war zu begreifen – und ihre Sätze gaben etwas auf Stil. Martin nickte verständnisvoll. Er kannte diese Art: am unschädlichsten, wenn sie redete.

Er hielt sich ruhig, und so erfuhr er nach und nach, da seine guten Manieren sie friedsamer und herablassender stimmten, daß sie schon als Kind nach England gekommen sei, und daß sie dort ihre schönsten Tage verlebt habe. Sie sei dann auch später, mit dreißig Jahren, wieder dorthin zurückgegangen – aber seltsam, jetzt habe sie dort aufs neue keinen Boden fassen können, und ein ganz unverständlicher Zug – Heimweh könnte man nicht sagen, denn sie sei eigentlich nie in ihrer Geburtsstadt daheim gewesen – habe sie mit Gewalt hierher zurückgetrieben.

›So geht sie gut,‹ dachte Martin Overbeck, voll Genugtuung ob ihrer Mitteilsamkeit und gehoben durch das Bewußtsein seiner bewährten Kraft, mit Frauen sich zu vertragen. Als er aber jetzt zu dem »unverständlichen Zug« das Wort ergriff und mit einem unvorsichtigen Rationalismus betonte, er glaube nicht an so geheimnisvolle Kräfte, ganz gewiß sei hier ein sehr fühlbarer Zusammenhang im Spiel, da verdunkelten sich ganz plötzlich ihre Augen, und zornig ob ihrer Selbstvergessenheit zog sie sich wieder ganz in sich zurück. Sie kam auch nicht mehr aus sich heraus, und Martin ging nicht als Sieger von hinnen.

Immerhin, das Eis war gebrochen, eine Verkehrsmöglichkeit war erreicht. Sie hatte die offene Feindseligkeit abgetan. Er war bei Licht besehen nicht so ganz schlimm, und seine Lebensart gewährte eine Bürgschaft. So gab es einen latenten Frieden, der allerdings auf die Dauer schwerer zu ertragen ist als ein latenter Kriegszustand. Und hier griff nun die Frau Pastor Karsten wohltätig ein.

Sie war eine kleine, sehr runde und lebendige Frau, ein wenig asthmatisch, ein wenig cholerisch und übermenschlich beschäftigt, die Begründerin einer christlichen Frauenbewegung, die Leiterin unzähliger Versammlungen. Meist war sie so, als wenn sie mit der Präsidentinnenglocke herumliefe. Aber sie hatte doch auch Momente häuslicher Nützlichkeit.

Und in einem solchen Moment kam sie in das Altersheim hineingekugelt, sah einmal nach dem Rechten und stellte fest, daß es hier höchst ungemütlich zuginge, wo es doch so gemütlich sein könnte. Es sollte von jetzt an eine der unbenutzten Stuben als Eßzimmer behaglich hergerichtet werden. Hier sollten dann beide Insassen gemeinschaftlich die Mahlzeiten einnehmen, wodurch auch der Betrieb erheblich vereinfacht würde. So wäre es für alle am besten, und damit Punktum.

Wie es denn auch geschah. Sehr steif ließ sich Fräulein Susseroth das erstemal an der Mittagstafel nieder. Martin aber, hier auf dem neutralen Boden, ergab sich gut und gerne seiner Unbefangenheit.

Als sie aßen, trafen sich einmal ihrer beider beobachtende Blicke.

»Wissen Sie, gnädiges Fräulein,« sprach er freimütig, »daß wir jetzt genau aufeinander achtgeben?«

»Wofür?«

»Jeder will feststellen, wie es dem andern schmeckt.«

»Um gegenseitig die Anspruchslosigkeit zu messen?« sagte sie, ganz die vornehme Dame, die es besser gewohnt war.

»O nein. Wir mustern uns wie zwei Ringkämpfer. Jeder denkt an die Kraft, die der andere sich zuführt.«

Sie blickte ihn an, erstaunt und unwillig.

»Denn ein Wettkampf ist nun mal zwischen uns,« fuhr er unbekümmert fort. »Ein ganz natürlicher. Ein unwillkürlicher. Bei zwei so alten Menschen. Jeder hat den Ehrgeiz, den andern zu überleben.«

Fräulein Susseroth lehnte sich zurück. So etwas war ihr denn doch noch nicht vorgekommen. Sie blieb stumm und ihr Unwillen wuchs.