Die intersektionale Wirkung von Geschlecht und Gender bei Französisch- und Spanischlernenden in Jahrgangsstufe 9 - Patricia Uhl - E-Book

Die intersektionale Wirkung von Geschlecht und Gender bei Französisch- und Spanischlernenden in Jahrgangsstufe 9 E-Book

Patricia Uhl

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Beschreibung

In der quantitativen Studie werden 92 Französisch- und 94 Spanischlernende der 9. Jahrgangsstufe des Gymnasiums hinsichtlich der multiplen Einflussfaktoren auf deren fremdsprachliche Leistung im Hören, Lesen und Schreiben unter besonderer Berücksichtigung der Variablen Geschlecht und Gender miteinander verglichen. Dabei wird ersichtlich, dass die fremdsprachlichen Leistungen der Jungen und Mädchen je nach Zielsprache und Teilkompetenz teilweise stark variieren. Während in Französisch signifikante Geschlechterunterschiede zugunsten der Mädchen gefunden werden, sind in Spanisch schwache, nicht signifikante Effekte zugunsten der Jungen messbar. Einen erhöhten Erkenntnisgewinn erbringt jedoch die Erforschung der Erklärungsansätze für diese Ergebnisse, wobei die Rolle der kognitiven, affektiven und sozialen Leistungsprädiktoren berücksichtigt wird.

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Patricia Uhl

Die intersektionale Wirkung von Geschlecht und Gender bei Französisch- und Spanischlernenden in Jahrgangsstufe 9

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2199-1340

ISBN 978-3-8233-8622-3 (Print)

ISBN 978-3-8233-0493-7 (ePub)

Inhalt

Verzeichnis über die verwendeten Abkürzungen und statistischen Einheiten1 Einleitung2 Die Kategorien Geschlecht und Gender aus interdisziplinärer Sicht3 Intersektionale Geschlechterforschung im Kontext des Fremdsprachenunterrichts4 Stand der Forschung: Geschlecht und fremdsprachliche Leistungen4.1 Fremdsprachliche Leistung als komplexer Forschungsgegenstand4.2 Geschlecht und fremdsprachliche Leistung4.3 Zwischenfazit zum Stand der Forschung bezüglich fremdsprachlicher Leistung und Geschlecht5 Erklärungsansätze für Geschlechterunterschiede in der fremdsprachlichen Leistung5.1 Endogene Faktoren5.1.1 Alter und Geschlecht5.1.2 Kognitive, neurologische Faktoren, Geschlecht und sprachliche Leistung5.1.3 Affektive Faktoren und Geschlecht5.2 Exogene Faktoren5.2.1 Eltern als geschlechtsspezifische Sozialisationsinstanzen5.2.2 Peers als geschlechtsspezifische Sozialisationsinstanzen5.2.3 Fremdsprachenlehrkräfte als geschlechtsspezifische Sozialisationsinstanzen5.2.4 Sozioökonomischer Status, Lernumgebung und Geschlecht5.2.5 Interaktionswirkungen von Migrationshintergrund, Mehrsprachigkeit, sozialem Umfeld und Geschlecht5.2.6 Gesamtgesellschaftliche und interkulturelle Einflussfaktoren auf die fremdsprachliche Leistung von Jungen und Mädchen5.2.7 Zwischenfazit: Exogene Faktoren und Geschlecht6 Netzwerkmodell der interaktiven Faktoren des genderbezogenen Fremdsprachenlernerfolgs7 Das Forschungsdesign: Vorhaben und Erhebungsinstrumente8 Grundgesamtheit und Sampling-Strategien der quantitativen Untersuchung8.1 Bestimmung der beiden angestrebten Grundgesamtheiten8.2 Sampling-Strategien der quantitativen Untersuchung9 Untersuchungsinstrumente9.1 Kognitive Tests9.1.1 D2-R9.1.2 SPM9.2 Sprachtests9.2.1 Der Hörverstehenstest9.2.2 Der Leseverstehenstest9.2.3 Der Schreibtest9.3 Der Schülerfragebogen9.3.1 Pilotierung des Schülerfragebogens9.3.2 Erfassung der Hintergrundvariablen9.3.3 Erfassung der affektiv-motivationalen Variablen9.3.4 Die Skalen der affektiv-motivationalen Konstrukte9.3.5 Skalen zum Ought-to-L3/L4 Self9.3.6 Limitationen des Schülerfragebogens10 Durchführung der Studie11 Auswertung der Ergebnisse11.1 Umgang mit fehlenden Werten11.2 Statistische Merkmale der Stichproben11.2.1 Spezifische Merkmale der Französischstichprobe11.2.2 Spezifische Merkmale der Spanischstichprobe11.2.3 Zwischenfazit: Merkmale der Französisch- und Spanischstichprobe im Vergleich11.3 Ergebnisse der kognitiven Tests11.3.1 Ergebnisse des d2-R-Tests11.3.2 Ergebnisse des SPM-Tests11.3.3 Zwischenfazit: Ergebnissen der kognitiven Tests11.4 Ergebnisse der Sprachtests11.4.1 Auswertung und Ergebnisse der HörverstehenstestsDie Ergebnisse des Hörverstehenstests ...11.4.2 Auswertung und Ergebnisse der Leseverstehenstests11.4.3 Auswertung und Ergebnisse des Schreibtests11.5 Gesamtleistungen in den Sprachtests in Französisch und Spanisch11.5.1 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 1 für Französisch11.5.2 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 1 für Spanisch11.6 Analyse möglicher Interaktionseffekte des Geschlechts mit den Intersektionalitätsaxiomen sozioökonomischer Status und sprachlicher Hintergrund11.6.1 Analyse möglicher Interaktionen zwischen Geschlecht, sprachlichem Hintergrund und sozioökonomischem Status bezüglich der Französischleistungen11.6.2 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 2 für Französisch11.6.3 Analyse einer möglichen Interaktion zwischen Geschlecht, sprachlichem Hintergrund und sozioökonomischem Status bezüglich der Spanischleistungen11.6.4 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 2 für Spanisch11.7 Ergebnisse bezüglich der endogenen und wahrgenommenen exogenen Faktoren11.7.1 Ergebnisse bezüglich der endogenen affektiven Faktoren in Französisch11.7.2 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 3 für Französisch11.7.3 Ergebnisse bezüglich der wahrgenommenen exogenen Faktoren in Französisch11.7.4 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 4 für Französisch11.7.5 Ergebnisse bezüglich der endogenen affektiven Faktoren in Spanisch11.7.6 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 3 für Spanisch11.7.7 Ergebnisse bezüglich der wahrgenommenen exogenen Faktoren in Spanisch11.7.8 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 4 für Spanisch11.8 Korrelationsanalysen11.8.1 Korrelationsanalysen innerhalb der Französischstichprobe11.8.2 Korrelationsanalysen innerhalb der Spanischstichprobe11.9 Regressionsanalysen11.9.1 Regressionsanalysen zu den Leistungen in Französisch11.9.2 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 5 für Französisch11.9.3 Regressionsanalysen zu den Leistungen in Spanisch11.9.4 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 5 für Spanisch11.10 Analysen von Leistungsprädiktoren innerhalb der Geschlechtergruppen11.10.1 Analysen geschlechtsspezifischer Prädiktoren der Leistungen in Französisch11.10.2 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 6 für Französisch11.10.3 Analyse geschlechtsspezifischer Prädiktoren der Leistungen in Spanisch11.10.4 Zwischenfazit: Antwort auf Forschungsfrage 6 für Spanisch11.11 Diskriminanzanalysen11.11.1 Diskriminanzanalyse und Antwort auf Forschungsfrage 7 für Französisch11.11.2 Diskriminanzanalyse und Antwort auf Forschungsfrage 7 für Spanisch12 Interpretation der Ergebnisse12.1 Interpretation der zentralen Ergebnisse in Französisch12.1.1 Interpretation der zentralen Ergebnisse bezüglich des Hörverstehenstests in Französisch12.1.2 Interpretation der zentralen Ergebnisse bezüglich des Leseverstehenstests in Französisch12.1.3 Interpretation der zentralen Ergebnisse bezüglich des Schreibtests in Französisch12.1.4 Interpretation der zentralen Ergebnisse bezüglich der Gesamtleistungen in den Französischtests12.1.5 Interpretation der Ergebnisse der Diskriminanzanalyse in Französisch12.2 Interpretation der zentralen Ergebnisse in Spanisch12.2.1 Interpretation der zentralen Ergebnisse bezüglich des Hörverstehenstests in Spanisch12.2.2 Interpretation der zentralen Ergebnisse bezüglich des Leseverstehenstests in Spanisch12.2.3 Interpretation der zentralen Ergebnisse bezüglich des Schreibtests in Spanisch12.2.4 Interpretation der zentralen Ergebnisse bezüglich der Gesamtleistungen in den Spanischtests12.2.5 Interpretation der Ergebnisse der Diskriminanzanalyse in Spanisch12.3 Vergleich der Ergebnisse aus den Fächern Französisch und Spanisch13 Einschränkungen und Grenzen14 Didaktische Implikationen15 FazitBibliographieInhaltsverzeichnis Anhang

Verzeichnis über die verwendeten Abkürzungen und statistischen Einheiten

α

Cronbachs α (Reliabilitätskoeffizient)

ADHS

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

AEM5-7

Attribuierungsfragebogen für Erfolg und Misserfolg in der Schule für 5.-7. Klassen

AF

Auslassungsfehler (d2-R)

aj*

Standardisierter kanonischer Diskriminanzfunktionskoeffizient

AMTB

Attitude Motivation Test Battery

ANCOVA

Analysis of Covariance; dt. Kovarianzanalyse

ANOVA

Analysis of Variance; dt. Varianzanalyse

Ang

L3-/L4 Angst

Auf.

Aufmerksamkeitsverteilung

AufLk

Wahrgenommene Aufmerksamkeitsverteilung der Lehrkraft zugunsten der Mädchen

Aufmerk.

Aufmerksamkeitsverteilung

Auslandsauf.

Auslandsaufenthalt

B

Geschätzte Regressionsparameter

β

Standardisierte geschätzte Regressionsparameter

BRD

Bundesrepublik Deutschland

BZO

Zahl der bearbeiteten Zielobjekte (d2-R)

CEFR

Common European Framework of Reference for Languages

CHF

Schweizer Franken

CIEP

Centre International d’études pédagogiques

CLIL

Content and Language Integrated Learning

CPM

Coloured Progressive Matrices

d

Cohens d (Maß der Effektstärke)

DELE

Diploma de Español como Lengua Extranjera

DALF

Diplôme approfondi de langue française

DELF

Diplôme d’études de langue française

DESI

Deutsch-Englisch Studie International

DFI

Deutsch-Französisches Institut

d.h.

das heißt

DGPs

Deutsche Gesellschaft für Psychologie

d2-R

Test d2-Revision

Euro

ηp2

Partielles Eta-Quadrat (Effektstärkenmaß auf Stichprobenebene)

E.

Erwartungen

EAL

Exploratorische Faktorenanalyse

EALTA

European Association of Language Testing and Assessment

EDK

Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektion

EFL SC

English as a foreign language self-concept

EFS

Englisch als Fremdsprache

Einst.

Einstellungen

ELaK

Einstellungen zum Zielland und zur Zielkultur

ELk

Wahrgenommene Erwartungen der Lehrkraft

Elt.

Eltern

Erw.

Erwartungen

ErwE

Wahrgenommene Erwartungen der Eltern

ErwP

Wahrgenommene Erwartungen der Peers

ESpra

Einstellungen zur Fremdsprache

ESpre

Einstellungen zu den Sprecherinnen und Sprechern der Zielsprache

EU

Europäische Union

F

F-Wert (Kennwert der Varianzanalyse)

FFS

Französisch als Fremdsprache

FL

Faktorladung

FLK

Französischlehrkraft

Fran.

Französisch

Freiz.

Freizeitaktivitäten

Freizeitaktivit.

Freizeitaktivitäten

frz.

französisch

f2

Cohens f2 (Maß der Effektstärke)

F%

Sorgfalt der Arbeitsweise (d2-R)

γ

Schiefe

GCSE

General Certificate of Secondary Education

ges

Gesamtstichprobe

Genderst.

Genderstereotyp

GeR

Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen

Ges.leist.

Gesamtleistung

Gr.f.

Grundfertigkeiten

Häufig.

Häufigkeit

HarmoS

Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule

HISEI

Highest International Socio-Economic Index of Occupational Status

Hören

hoh.

hoher

HV

Hörverstehen

ICC

Intraclass Correlation Coefficient

IdSel

Ideal L3/L4 Self

IEF

Instrumente für die Evaluation von Fremdsprachenkompetenzen

IGLU

Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung

IGS

Integrierte Gesamtschule

IHR

Integrierte Haupt- und Realschule

Ind.

Index

In

Interesse am Fach

InstOr

Instrumentelle Orientierung

IntOr

Integrative Orientierung

IPM

Informatik – Physik – Mathematik

IQB

Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

ISCO

International Standard Classification of Occupations

ISEI

International Socio-Economic Index of Occupational Status

I-S-T 2000 R

Intelligenz-Struktur-Test 2000 R

KESS

Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern

KFT

Kognitiver Fähigkeitstest

KI

Konfidenzintervall

KL

Konzentrationsleistung (d2-R)

KMK

Kultusministerkonferenz der Länder

KMO

Kaiser-Mayer-Olkin-Koeffizient

kog.

kognitive

Λ

Wilks Lambda

LAU

Hamburger Lern-Ausgangs-Untersuchung

Le

Lesen

LV

Leseverstehen

L1

Erstsprache

L2

Zweitsprache

L2 WTC

Willingness to Communicate in a Second Language

L3

Tertiärsprache

L4

Viertsprache

m

männlich

M

Mittelwert (mean value)

M.

Mädchen

Mäd.

Mädchen

Mdn

Median

MES

Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule nutzen

min

Minuten

mittl.

mittlerer

ml

monolingual/einsprachig

MRang

Mittlerer Rang

MSA

Measure of Sample Adequacy

MV

Fehlender Wert (missing value)

N

Größe der Grundgesamtheit

n

Größe der Stichprobe

NFER

National Foundation of Educational Research

niedr.

niedrig

NW

Normwert

NWT

Naturwissenschaft und Technik

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development

Orient.

Orientierung

σ2B

Level-2-Varianz zwischen den Clustern

σ2W

Level-2-Varianz innerhalb der Cluster

p

Signifikanzwert

PCIC

Plan Curricular del Instituto Cervantes

PISA

Programme for International Student Assessment

ρIC

Statistischer Kennwert der Interklassenkorrelation

pl

plurilingual/mehrsprachig

P7

Letztes Jahr der Primary School in Schottland

r

Korrelationskoeffizient nach Pearson

RAE

Real Academia Española

rc

Kanonischer Korrelationskoeffizient

rs

Korrelationskoeffizient Spearmans Rho

RW

Rohwert (d2-R)

R2

Geschätztes Inkrement

SAT

Scholastic Aptitude Test

Sc

Schreiben

SD

Standardabweichung (standard deviation)

SDR

Studentisierte ausgeschlossene Residuen

SE (B)

Standardfehler des geschätzten Regressionsparameters

sec

Sekunden

Selbstk.

Selbstkonzept

SEM

Standardfehler des Mittelwerts (standard error of mean)

SFB

Schülerfragebogen

SFS

Spanisch als Fremdsprache

Sk

Selbstkonzept in der Fremdsprache

SLA

Second Language Acquisition

SLK

Spanischlehrkraft

SöS

Sozioökonomischer Status

Span.

Spanisch

SPM

Standard Progressive Matrices

Sprachhandlungsk.

Sprachhandlungskompetenz

SSCS

Interdependent Self-Construal Scale

StWe

Genderstereotyp weibliche Wahrnehmung der Zielsprache

SW

Standardwert (d2-R)

S1

Erstes Jahr der Sekundarstufe in Schottland

t

t-Wert (Größe der Differenz relativ zur Streuung)

TAL

Test of Academic Lexicon

TIMSS

Trends in International Mathematics and Science Study

U

U-Wert als Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests

U.

Unterstützung

u. a.

unter anderem

ULk

Wahrgenommene Unterstützung durch die Lehrkraft

UN HDI

United Nations Human Development Programme

v

Variable

VF

Verwechslungsfehler (d2-R)

w

weiblich

Kurtosis

Wahrg.

Wahrnehmung bzw. Wahrgenommene

weibl.

weiblich

Z

Z-Wert als Ergebnis des Mann-Whitney-U-Tests

z.B.

zum Beispiel

Zielk.

Zielkultur

zug.

zugunsten

1Einleitung

Seit mehreren Jahrzehnten stellt sich innerhalb verschiedener Forschungsdisziplinen immer wieder die Frage, inwieweit Bildungsungleichheiten und -chancen an Schulen in Deutschland auch mit dem Geschlecht der Lernenden zusammenhängen (vgl. Faulstich-Wieland/Horstkemper 2012: 25). Während in der BRD in den 1960/70er Jahren bezüglich der Qualität der Bildungsabschlüsse die „katholische Arbeitertochter vom Lande“ (Dahrendorf 1965) als Prototypin für eine potenzielle Bildungsverliererin galt, stellen Mädchen innerhalb des Schulsystems aktuell keine benachteiligte Gruppe mehr dar (vgl. Wieland/Horstkemper 2012: 27). Seit den 1990er Jahren wird in der Forschung sogar immer wieder die Tendenz aufgezeigt, dass die Mädchen die Jungen zunehmend überholen (vgl. Horstkemper 1995: 189; Aktionsrat Bildung 2009: 95). Insbesondere seit den 2000er Jahren wird zunehmend vom „Migrantensohn bildungsarmer Eltern aus der Großstadt“ (Geißler 2013: 95) als prototypischem Bildungsverlierer gesprochen. Man findet sogar seit den 2000er Jahren bezüglich der Merkmalsgruppe der Jungen den Begriff „Risikogruppe“ (vgl. Buchmann et al. 2008; Aktionsrat Bildung 2009; Martino et al. 2009; OECD 2009; Diefenbach 2010; Quenzel/Hurrelmann 2010; Hannover/Kessels 2011): Mädchen werden häufiger als Jungen vorzeitig eingeschult und Jungen werden häufiger von der Einschulung zurückgestellt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018: 7); bei den Übergangsempfehlungen treten Unterschiede zugunsten der Mädchen auf, die sich später auch an den Besuchsquoten der verschiedenen Schularten und dem Geschlechteranteil der Bildungsabschlüsse festmachen lassen: Im Jahr 2016 lag beispielsweise der Anteil der Frauen mit Hochschulreife unter den 20- bis 25- Jährigen mit 55.6% deutlich über demjenigen der Männer (47.6%) (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018: 55, 276).

Diese sehr allgemeinen Tendenzen sind jedoch wenig aussagekräftig, da sie nicht pauschal auf alle Kontexte zutreffen und differenziert nach Alter der Lernenden, Ausprägung verschiedener kognitiver und affektiver Faktoren, Lernbiographie, Schulart, Schulfach und soziokulturellem Kontext infrage gestellt werden müssen. In der vorliegenden Studie stehen die Schulfächer Französisch als zweite Fremdsprache und Spanisch als dritte Fremdsprache im Vordergrund und der Fokus liegt auf der Erforschung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Jungen und Mädchen in der 9. Jahrgangsstufe bezüglich der Leistung in den beiden Fächern sowie der Erforschung möglicher Erklärungsansätze und Wechselwirkungen.

In internationalen Leistungsstudien wie TIMSS und PISA wird oftmals in sprachlichen Fächern tendenziell ein Leistungsvorteil der Mädchen und in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern hingegen tendenziell eine Überlegenheit der Jungen nachgewiesen (vgl. Faulstich-Wieland/Horstkemper 2012: 27; Stürzer 2003), was teilweise in der Öffentlichkeit zu stereotypen Vorstellungen von dichotom zuzuweisenden Begabungsbereichen führt.

Vielmehr weisen jedoch die uneinheitlichen Ergebnisse der Spracherwerbs- und Fremdsprachenlernforschung bezüglich der Variable Geschlecht darauf hin, dass pauschale Aussagen wie etwa, dass Mädchen und Frauen beim Erlernen von Fremdsprachen stets und in allen Teilkompetenzen Vorteile haben würden, nicht haltbar sind (vgl. Piske 2017: 45): Es gibt Studien, bei denen Mädchen besser abschnitten als Jungen, aber auch liegen Studien vor, bei denen Jungen besser abschnitten als Mädchen oder bei denen keinerlei Geschlechterunterschiede zu beobachten waren. Oft kommt es zudem vor, dass die Unterschiede innerhalb der Gruppe der Mädchen und innerhalb der Gruppe der Jungen deutlich größer ausfallen als dies zwischen den beiden Gruppen der Fall ist. Diese uneinheitlichen Ergebnisse variieren nach bestimmten Einflussfaktoren, wie zum Beispiel das Alter der Lernenden, die zu erlernende Zielsprache, die untersuchten fremdsprachlichen Teilkompetenzen, die Sprachlernbibliographie, der Lehr-Lern-Kontext, das soziokulturellen Umfeld und nicht zuletzt bezüglich der in verschiedenen Studien eingesetzten Testformate. Einige der Studien, die bisher durchgeführt wurden, nehmen allerdings lediglich ein bis zwei Faktoren in den Blick, beispielsweise Geschlecht und fremdsprachliche Leistung (vgl. Winkelmann/Groeneveld 2010), Geschlecht und affektive Faktoren (vgl. Fuchs 2013, 2014), Geschlecht und Einstellungen (vgl. Venus 2017a, 2017b), Geschlecht, kognitive und neuronale Faktoren (vgl. z. B. Wallentin 2008), Geschlecht, Identitätsbildungsprozesse und Sprachenlernen (vgl. Norten 2001) oder Geschlecht und Fächerwahl (vgl. Grein 2015). Um einen umfassenderen Blick auf diesen komplexen Themenbereich zu erlangen wird daher in der vorliegenden Studie im Sinne der Berücksichtigung der Faktorenkomplexion (vgl. López Rúa 2006) ein intersektionaler Ansatz verfolgt.

Außerdem ist zu beobachten, dass sich die Erforschung von schulischen sprachlichen Leistungen von Jungen und Mädchen in Deutschland oftmals auf die Fächer Deutsch und Englisch beschränkt (vgl. z. B. Bos/Gröhlich 2010; DESI-Konsortium 2006). Eher selten wird Französisch (vgl. Böhme et al. 2016a; Winkelmann/Groeneveld 2010) und noch seltener Spanisch als Forschungsgegenstand gewählt, wenn es darum geht, die Wirkung von Geschlecht und Gender bezüglich der fremdsprachlichen Leistung zu erforschen (vgl. Übersichtsdarstellungen in Grein 2012; Uhl 2019: 207).

Bei den Fächern Französisch als zweite Fremdsprache und Spanisch als dritte Fremdsprache handelt es sich um zwei ähnliche und doch teilweise stark unterschiedliche Forschungsgegenstände: Spezifisch bezüglich des Faches Französisch ist das Stereotyp, es handle sich um ein „Mädchenfach“ in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet (vgl. Budde 2011: 104). Die Begründungen für diese Bezeichnung reichen vom angeblich femininen Klang des Französischen (vgl. Leupold 2007: 15; Williams et al. 2002) über den Hinweis auf die Überzahl an weiblichen Schülerinnen und weiblichen Lehrkräften in den Französischklassen (vgl. Grein 2012: 173, 175), den Vorwurf des zu stark an Mädchen ausgerichteten Französischunterrichts (vgl. Grein 2012: 171) bis hin zum Verweis auf höhere Leistungen der weiblichen Schülerinnen in Schulleistungsstudien, wie beispielsweise in der IQB-Ländervergleichsstudie von 2009 (vgl. Winkelmann/Groeneveld 2010).1 Dementsprechend werden Postulate nach einer spezifischen „Jungenförderung“ bzw. einem Boy Turn innerhalb der Französischdidaktik immer lauter (vgl. Bonin 2009; Braun/Schwemer 2013; Nieweler 2017b: 16-17).

Für das Fach Spanisch wurden hingegen bisher kaum geschlechtsspezifische Stereotypen gefunden (vgl. Kissau et al. 2010: 714) und durch seine Stellung als oftmals dritte schulische und meist zweite romanische Fremdsprache eignet es sich gut um einen Vergleich zum Fach Französisch zu ziehen: Sowohl beim Französischen als auch beim Spanischen handelt es sich um romanische Sprachen, wodurch die Leistungen in den beiden Fächern sehr gut verglichen werden können. Außerdem scheint es einen Moment zu geben, bei dem, obwohl Französisch bereits früher einsetzt als Spanisch, sich die Leistungen in beiden Fächern stark annähern, da am Ende der mittleren Reife in jedem der beiden Fächer das Niveau B1 des GeR erreicht werden muss, was bedeutet, dass die Progression in der dritten Fremdsprache steiler verläuft als in der zweiten. Dennoch muss dieser Vergleich mit Vorsicht vollzogen werden, da beispielsweise das Fächerwahlverhalten für die zweite Fremdsprache Französisch und für die dritte Fremdsprache genuin unterschiedlich sind: In Baden-Württemberg kann beispielsweise als Alternative zur zweiten Fremdsprache Französisch lediglich Latein gewählt werden, während in der 8. Jahrgangsstufe entschieden werden kann, ob mit Spanisch eine dritte Fremdsprache gelernt, oder aber ein weiteres naturwissenschaftliches Fach belegt wird, was ein hohes Maß an Selektion bei der dritten Fremdsprache zur Folge hat.

Nach der Definition von Geschlecht und Gender (vgl. Kapitel 2) und einer Erläuterung des intersektionalen Forschungsansatzes dieser Arbeit (vgl. Kapitel 3) wird zunächst ein Überblick über den Stand der Forschung bezüglich Geschlecht und fremdsprachlicher Leistung (vgl. Kapitel 4) gegeben, um anschließend eine genaue Identifikation der Variablen vorzunehmen, die mit den fremdsprachlichen Leistungen und dem Geschlecht in interdependenter Beziehung stehen und daher als Erklärungsansätze für Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Jungen und Mädchen in der fremdsprachlichen Leistung herangezogen werden können (vgl. Kapitel 5). Am Ende dieses Prozesses steht die Konzeption eines theoretischen Lernendenmodells, welches alle relevanten Faktoren beinhaltet (vgl. Kapitel 6). Auf Grundlage dessen wird eine empirische quantitative Studie mit einer Stichprobe von Schülerinnen und Schüler des Französischen als zweite Fremdsprache und einer zweiten mit Schülerinnen und Schülern des Spanischen als dritte Fremdsprache in Jahrgangsstufen 9 in Baden-Württemberg durchgeführt, welche sowohl die fremdsprachlichen Leistungen im Hörverstehen, Leseverstehen und Schreiben misst als auch kognitive Grundfertigkeiten über standardisierte Tests (vgl. d2-R und SPM) erhebt und schließlich mittels eines Schülerfragebogens die Mehrheit der mit der Variable Geschlecht interagierenden Variablen ermittelt (vgl. Kapitel 7 bis 10). Schließlich werden die dadurch erzielten Ergebnisse hinsichtlich folgender Forschungsfragen ausgewertet (vgl. Kapitel 11):

In welchen fremdsprachlichen Leistungen treten bezüglich des Leseverstehens, des Hörverstehens und des Schreibens jeweils im Französischen und im Spanischen Geschlechterunterschiede und -gemeinsamkeiten bei Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe auf?

Treten bei den sprachlichen Leistungen Interaktionseffekte des Geschlechts mit dem sozioökonomischen Status oder mit dem sprachlichen Hintergrund auf?

Innerhalb welcher affektiver Faktoren (integrative Orientierung, Ideal L3 bzw. L4 Self, instrumentelle Orientierung, Häufigkeit der Freizeitaktivitäten auf Französisch bzw. Spanisch, L3/L4 WTC, Interesse am Fach Französisch bzw. Spanisch, Interessensgebiete innerhalb der Unterrichtsgegenstände, Einstellungen zu den Sprechern, zu den Bewohnerinnen und Bewohnern Frankreichs bzw. Spaniens, zum Land und zur Kultur, genderstereotyp weibliche Wahrnehmung der französischen bzw. spanischen Sprache, FFS bzw. SFS Selbstkonzept und L3- bzw. L4-Angst) treten Geschlechterunterschiede und -gemeinsamkeiten auf?

Welche Geschlechterunterschiede und -gemeinsamkeiten in den wahrgenommenen Einflüssen auf Makroebene (wahrgenommene Unterstützung durch die Lehrkraft, wahrgenommene Erwartungen der Lehrkraft, wahrgenommene Aufmerksamkeitsverteilung der Lehrkraft zugunsten der Mädchen, wahrgenommene Erwartungen der Eltern, wahrgenommene Erwartungen der Peers) können festgestellt werden?

Welche Faktoren (Geschlecht, sozioökonomischer Hintergrund, sprachlicher Hintergrund, kognitive Grundfertigkeiten, affektive Faktoren, Faktoren auf der Makroebene) weisen jeweils für Französisch und Spanisch die größte Prädiktorstärke für die fremdsprachliche Leistung auf?

Inwiefern lassen sich mögliche Unterschiede in der fremdsprachlichen Leistung auf unterschiedliche bzw. unterschiedlich stark ausgeprägte Prädiktoren zurückführen?

Welche relative Vorhersagekraft besitzt jede einzelne Variable in der Untersuchung von Geschlechterunterschieden?

Am Ende der Beantwortung dieser Forschungsfragen stehen eine Interpretation der erzielten Ergebnisse und ein abschließender Vergleich zwischen den beiden fremdsprachlichen Fächern (vgl. Kapitel 12).

Es bleibt also festzuhalten, dass eine Vielzahl von endogenen und exogenen Faktoren Einfluss auf die fremdsprachlichen Leistungen von Jungen und Mädchen nimmt. Diese Faktoren gilt es möglichst in ihrer gesamten Vielfalt zu erfassen, um anschließend deren relative Prädiktorstärke sowie eventuelle intersektionale Wechselwirkungen bezüglich der fremdsprachlichen Leistung der beiden Merkmalsgruppen präzise aufzuzeigen.

2Die Kategorien Geschlecht und Gender aus interdisziplinärer Sicht

Seit den 1980er Jahren unterscheidet die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung zwischen Sex und Gender, während Sex das biologische Geschlecht einer Person bezeichnet und Gender als soziale, historische, kulturelle und psychologische Konstruktion von Geschlecht definiert wird (vgl. Steins 2010a: 13). Auch die Fremdsprachenforschung nimmt, insbesondere seit dem 21. Jahrhundert, diese Unterscheidung vor (vgl. Decke-Cornill/Volkmann 2007b; Schmenk 2016: 254): Pavlenko (2008: 167) definiert Gender beispielsweise als “discursively, culturally, and socially constructed and inseparable from other facets of social identity”. König et al. (2015: 135) weisen ebenfalls deutlich darauf hin, dass Gender als soziales und diskursives Konstrukt auf der kulturellen Opposition von Weiblichkeit und Männlichkeit basiert, und fügen hinzu, dass sich dieses Konstrukt allerdings nicht auf diese Dichotomie begrenzt, sondern Zwischenstufen zulässt.

Im Anschluss wird ein kurzer Überblick über die zahlreichen Forschungsfelder, in denen die Kategorien Geschlecht und Gender untersucht werden, konturiert, um daraufhin eine klare Eingrenzung bezüglich der Geschlechterforschung im Rahmen der Erforschung des Fremdsprachenunterrichts inklusive einer Bestimmung der für die vorliegende interdisziplinäre Arbeit relevanten Forschungsdisziplinen vorzunehmen.

Das theoretische Spannungsfeld zwischen angeborenen Anlagen, welche unter den Begriff Geschlecht subsummiert werden, und von der Umwelt erworbenen Denk- und Handlungsmustern, die unter dem Begriff Gender zusammengefasst werden, wird als nature-nurture-Konflikt bezeichnet. Im Bereich der psychologischen Geschlechterforschung wird dieses theoretische Spannungsfeld besonders ausgeprägt untersucht (vgl. Steins 2010a: 15). Stainton Rogers und Stainton Rogers (2001: 9-82) etablieren ausgehend von diesem Spannungsfeld eine Kategorisierung von drei verschiedenen Paradigmen zur Erforschung der Variablen Geschlecht und Gender: das biologische Geschlecht, das soziale und kulturelle Geschlecht sowie das interaktionistische Paradigma des Geschlechts.

Betrachtet man die Erforschung des biologischen Paradigmas sex bzw. Geschlecht, so stehen Geschlechtsunterschiede bezüglich der Anatomie, der Gehirnmorphologie, der Hormone, Chromosomen und der Genetik im Vordergrund. Auch evolutionäre Prozesse, die den Menschen als Spezies betreffen, sind innerhalb dieses Paradigmas von großem Forschungsinteresse (vgl. Stainton Rogers/Stainton Rogers 2001: 12). Die wissenschaftlichen Disziplinen, die diese Aspekte beforschen, sind vor allem die Biologie, die Sexualforschung, die Neurowissenschaften und die Psychologie, die beispielsweise den Einfluss von weiblichen und männlichen Hormonen auf das jeweilige Verhalten untersucht. Innerhalb der Fremdsprachenlernforschung haben sich Subdisziplinen wie die sogenannte „Neurodidaktik“ (vgl. Böttger 2016) etabliert, welche unter anderem der Frage nachgeht, inwiefern geschlechtsspezifische neuronale Eigenschaften innerhalb des Fremdsprachenunterrichts Berücksichtigung finden sollten. Für das Erlernen von Fremdsprachen und die fremdsprachliche Leistung des Individuums während der Adoleszenz relevant seien insbesondere die Gehirnstruktur von weiblichen und männlichen Lernenden, aber auch Geschlechtshormone, welche gewisse Effekte auf das menschliche Erleben und Verhalten hätten (vgl. Böttger/Sambanis 2017: 11). Laut Stein (2008: 12) sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, wenn diese nur nach ihrem biologischen Geschlecht differenziert werden, im Gesamten betrachtet erstaunlich gering: sie sind deutlich kleiner als die Gemeinsamkeiten und auch als die Unterschiede innerhalb der Gruppen der Frauen und innerhalb derjenigen der Männer (Steins 2008b: 12). Es zeigt sich also, dass es diesbezüglich unterschiedliche Positionen und unterschiedliche Forschungsergebnisse gibt, weshalb der Stand der Forschung bezüglich des Zusammenhangs zwischen biologischem Geschlecht und Fremdsprachenlernerfolg in Kapitel 5.1.2 ausführlicher dargelegt wird.

Betrachtet man das soziale und kulturelle Paradigma, also die konstruierte Entität Gender, so steht die genderspezifische Internalisierung von externen Aspekten, wie beispielsweise Normen, Werten und Regeln, nach denen das Individuum denkt, handelt und fühlt, im Mittelpunkt (vgl. Stainton Rogers/Stainton Rogers 2001: 37-38). Diese Internalisierung wird während der Sozialisation durch Familie, Lehrkräfte, Peers und andere relevante Bezugspersonen ausgelöst. Mögliche Untersuchungsgegenstände innerhalb dieser Kategorie sind neben der geschlechtsspezifischen Sozialisation auch geschlechtsspezifische Verhaltensweisen, oft gepaart mit kulturspezifischen Verhaltensweisen, Eigenschaften, Interessen und sozialen Geschlechtsmerkmalen wie beispielsweise Kleidung, Geschlechterrollen und -stereotype als gestaltende und prägende Faktoren von Interaktion und Kommunikation; dies alles kann als Inszenierung von Gender zusammengefasst werden (vgl. Budde 2005: 25).

Primär kulturelle Einflussgrößen werden vor allem aus anthropologischer, aber auch aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht im Rahmen der Gender Studies untersucht, während soziale und wirtschaftliche Einflussgrößen eher aus psychologischer und sozialwissenschaftlicher Sicht erforscht werden (vgl. Steins 2010a: 14). Die sogenannte Diversityforschung, die neben Gender Studies auch Migrations-, Ungleichheits-, Minderheiten- und Gleichstellungsforschung in sich vereint, ist sowohl in der Betriebswirtschaftslehre als auch in der Soziologie, der Politik- und Rechtswissenschaft sowie in der Erziehungswissenschaft anzutreffen und untersucht ebenfalls kulturelle, soziale und wirtschaftliche Einflussgrößen (vgl. Krell et al. 2007b: 7). Gesetzlich verankert ist die Nichtdiskriminierung aufgrund verschiedener Dimensionen von Diversität beispielsweise in Artikel 21 der Grundrechtecharta der EU:

Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten. (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2000: 13)

Die psychologischen Prozesse, die durch die Kategorie Geschlecht initiiert werden, sind immer dann Untersuchungsgegenstand, wenn Geschlechtsidentität (männlich/weiblich/transgender/ transsexuell), Geschlechtsrollenidentität, geschlechtsspezifische Erziehung und Sozialisation und damit zusammenhängend die Internalisierung von Normen und Werten, Beschreibungen und Erklärungen von Emotionen, Beschreibungen der für den Menschen charakteristischen Beweggründe von Handlungen und schließlich Bedingungen und Wirkungen von Handlungen erforscht werden. In der Psychologie wird beispielsweise nach Steins (2010a: 16) davon ausgegangen, dass Kinder und Jugendliche sich besonders stark mit Modellen des gleichen Geschlechts identifizieren, somit geschlechtsgleiche Bezugspersonen als Modell betrachten und danach streben, geschlechtsangemessenes Verhalten zu zeigen. Dabei ist es von großer Relevanz, neben den Theorien zum Modelllernen (vgl. Bandura 1986) die Perspektive der Denkschule des sozialen Konstruktivismus zu berücksichtigen, die Geschlechtsidentität als konstruierte Entität auffasst und die Prozesse der sozialen Kategorienbildung präzise erforscht (Steins 2010a: 14). Auch bezüglich des Fremdsprachenlernens, das im weitesten Sinne eine Verhaltensweise darstellt, wird oftmals die Untersuchung der Kategorie Gender bevorzugt, wie bereits Labov (1991: 206) beschreibt: “[T]here is little reason to think that sex is an appropriate category to explain linguistic behavior.“ Innerhalb der Französisch- und der Spanischdidaktik wird insbesondere verstärkt untersucht, wie der Unterricht unter Gender-Aspekten motivierender gestaltet werden und dadurch das sprachliche Verhalten der Lernerinnen und Lerner positiv beeinflusst werden kann, was als gendersensibler Unterricht bezeichnet wird (vgl. Braun/Schwemer 2013: 8).

Zum sozialen und kulturellen Paradigma gehört auch der Begriff Doing Gender, welcher von West und Zimmerman (1987) erstmals eingeführt wurde. Der Terminus betont im Rahmen eines sozialisationstheoretischen Ansatzes den bedeutenden Anteil von Inszenierung und Interaktion bei der Produktion von Geschlecht, Männlichkeit und Weiblichkeit. Er impliziert außerdem eine Kritik an der scharfen Trennung zwischen Sex und Gender und berücksichtigt soziale, kulturelle sowie historische Faktoren, die die Definition des biologischen Geschlechts durchaus beeinflussen. Doing Gender beschreibt daher auch die Verinnerlichung des jeweiligen Verständnisses von Geschlecht vor dem zeitgenössischen Hintergrund im Bewusstsein jedes Menschen sowie den Prozess der sozialen Konstruktion von Geschlecht (vgl. Budde 2005: 24; Steins 2010a: 13). Auch die Bildungsforschung und die Fremdsprachendidaktik untersuchen diese Konstruktionsprozesse: Budde (2005: 24-25) geht zum Beispiel davon aus, dass im Fremdsprachenunterricht Doing Gender sowohl innerhalb der geschlechtshomogenen Gruppen als auch zwischen den Geschlechtern bzw. Geschlechtergruppen und in Interaktionen mit den Lehrkräften geschieht. Er beschreibt Schule als Raum, in dem Inszenierungen, individuelle und interaktionale Prozesse „auf Grundlage kollektiver und dichotomer Deutungsmuster“ verlaufen (Budde 2005: 25). Eng verbunden mit der Konstruktion von Gender ist also die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit, welche oft unbewusst Entscheidungen des täglichen Lebens prägend beeinflusst (vgl. Lohaus/Vierhaus 2015b: 207): Ein Beispiel für Doing Gender aus dem schulischen Kontext wäre nach Budde (2005: 20) die bewusste oder unbewusste Konstruktion von Männlichkeit durch die Wahl des Faches Physik und die bewusste oder unbewusste Konstruktion von Weiblichkeit durch die Wahl des Faches Französisch. Darüber hinaus stellt die stereotype Zuweisung von weiblichen oder männlichen Eigenschaften zu einer Sprache einen Prozess des Doing Gender dar, wobei bezüglich des Französischen im deutschen und angelsächsischen Raum oft eine weibliche Konnotation festgestellt wurde (vgl. Bonin 2009; Carr/Pauwels 2006; Cohen 2010; Grein 2012: 176; Leupold 2007: 15; Williams et al. 2002; vgl. Kapitel 5.1.3.1.12).

Neben dem biologischen und dem sozialen und kulturellen Paradigma gibt es in der Psychologie das interaktionistische Paradigma des Geschlechts. Dieses bewegt sich zwischen Geschlecht und Gender und beruht nach Stainton Rogers und Stainton Rogers (2001: 60) auf der, je nach Perspektive als Zusammenspiel oder Konflikt zu betrachtenden, Wechselwirkung von nature und nurture. Es behandelt die Frage, ob beziehungsweise zu welchem Anteil Geschlechterunterschiede und -gemeinsamkeiten ihren Ursprung in biologischen oder aber sozialen und kulturellen Aspekten haben, sprich inwiefern diese entweder angeboren oder anerzogen sind. Davon ausgehend entstanden in der Psychologie und Sozialwissenschaft mehrere interaktionistische Theorien, die versuchen, sowohl biologische als auch soziale Einflüsse sowie ihre Wechselwirkungen in ein zusammenhängendes theoretisches Beschreibungs- und Erklärungsmodell zu übertragen. Interaktionistische Theorien gehen davon aus, dass bestimmte Fähigkeiten genetisch bedingt sind und deren Ausprägung und Entwicklung dann von der Umwelt beeinflusst werden. Steins (2010a: 17) nennt, basierend auf Stainton Rogers und Stainton Rogers (2003: 66-73) als erste bekannte Beispiele für interaktionistische Theorien Freuds Psychoanalyse (Freud 1925) und Piagets kognitive Entwicklungstheorie (Piaget/Inhelder 1972).

Das interaktionistische Paradigma wirft also die Frage nach der Trennschärfe von Geschlecht und Gender auf, welche einstweilen aus den Reihen der Gender Studies, der Psychologie und der Fremdsprachenforschung als nicht haltbar kritisiert wird (vgl. Fausto-Sterling 2000; Pavlenko 2008; Steins 2010a: 13). Vielmehr beeinflussen soziale, kulturelle und historische Faktoren die Definition des biologischen Geschlechts und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund muss festgehalten werden, dass es die Forschung bisher noch nicht ermöglicht, die jeweils genauen Anteile des biologischen und des sozialen und kulturellen Paradigmas zu bestimmen, auch und gerade weil diese Kategorien nicht trennscharf sind. Aus dem interaktionistischen Ansatz kann also zunächst lediglich abgeleitet werden, dass eine gewisse Art von Interaktion zwischen Geschlecht und Gender durchaus existiert, deren genaue Ausprägung aber oft unergründet bleibt (vgl. Steins 2010a: 18).

Bereits nach dieser kurzen Diskussion zu den Definitionen von Geschlecht und Gender steht fest, dass im Kontext der Untersuchung schulischer fremdsprachlicher Leistungen eine Abkehr vom Denken von Geschlecht als rein anthropologischer Konstante in polaren Begrifflichkeiten wie z. B. Mann und Frau, hin zu einer Sichtweise, die Männlichkeit und Weiblichkeit als das Resultat aus zahlreichen sozialen Praktiken betrachtet, notwendig ist (vgl. Wieland/Horstkemper 2012: 26). Dies wird in der vorliegenden Studie dadurch angestrebt, dass neben den reinen Vergleichen zwischen den fremdsprachlichen Leistungen und Ausprägungen affektiver Faktoren von Jungen und Mädchen auch Variablen wie das Doing Gender durch wahrgenommene Erwartungshaltungen von Eltern, Lehrkräften und Peers oder auch die wahrgenommene genderspezifische Aufmerksamkeitsverteilung der Lehrkräfte und schließlich die genderstereotyp weibliche Wahrnehmung des Französischen bzw. Spanischen Teil der Untersuchungsgegenstände sind (vgl. Kapitel 9.3.4.8, 9.3.5.1 bis 9.3.5.5).

3Intersektionale Geschlechterforschung im Kontext des Fremdsprachenunterrichts

Der interaktionistische Forschungsansatz der Psychologie hat, wie in Kapitel 2 erläutert, zum Ziel, Aufklärung über den Anteil von biologischen Faktoren einerseits und sozialen sowie kulturellen Faktoren andererseits bezüglich verschiedener Fähigkeiten, Einstellungen oder Werte von Männern und Frauen, zu leisten (vgl. Steins 2010a: 18). Im Falle der Erforschung der Kategorien Geschlecht und Gender vor dem Hintergrund der fremdsprachlichen Leistung von Jungen und Mädchen der 9. Jahrgangsstufe in Französisch und Spanisch würde dies beispielsweise bedeuten, den genauen Anteil von nature und nurture bei Jungen und Mädchen bezüglich eines möglichen Geschlechterunterschieds bestimmen zu wollen. Jedoch weist Steins (2010a: 18) auf ein zentrales Problem hin: „Interaktionistische Paradigmen machen den Blick auf einen Forschungsgegenstand insgesamt komplexer. Häufig sind die Daten jedoch so kompliziert, dass sie das Bedürfnis nach Klarheit nicht befriedigen können.“ Abgesehen davon kritisieren Gottburgsen und Gross (2012: 87), dass dem Einfluss des sozialen Kontexts bei der Erforschung von Bildungsungleichheiten insgesamt in der Regel zu wenig Aufmerksamkeit beigemessen wird. Driessen und Van Langen (2013: 71) führen in diesem Kontext an, dass biologische und neurologische Faktoren nicht erklären, weshalb sprachliche Leistungen von Jungen und Mädchen im Laufe der Geschichte und in unterschiedlichen Ländern ständig und teilweise stark variieren und dass die interaktionistische Erforschung des jeweiligen Anteils von nature und nurture hierauf keine Antworten liefert.

Aus den oben genannten Gründen wird in der vorliegenden Studie kein interaktionistischer, sondern ein intersektionaler Forschungsansatz gewählt, welcher ursprünglich aus der soziologischen Bildungsforschung stammt und mittlerweile Einzug in die Fremdsprachenlernforschung gehalten hat (vgl. Grein 2012; Steinlen 2019). Diese Forschungsperspektive erlaubt es, die Komplexität der Abhängigkeitsverhältnisse der Faktoren, die zu möglichen Bildungsvorteilen und -ungleichheiten führen, zu erfassen (vgl. Bührmann 2009).

Geschlecht und Gender werden im intersektionalen Forschungsansatz als interdependente und intersektionale Kategorien betrachtet, die in wechselseitiger Abhängigkeit von weiteren, inneren und äußeren Faktoren stehen und nicht isoliert erforscht werden können (vgl. Riemer 2002, 2006). Intersektionalität bezeichnet in der Soziologie das Ineinanderwirken verschiedener Ungleichheitsstrukturen oder -kategorien:

We regard the concept of ‘intersectionality’ as signifying the complex, irreducible, varied, and variable effects which ensue when multiple axis of differentiation – economic, political, cultural, psychic, subjective and experiential – intersect in historically specific contexts. The concept emphasizes that different dimensions of social life cannot be separated out into discrete and pure stands. (Brah/Phoenix 2004: 76)

Laut dem Intersektionalitätsansatz gibt es verschiedene Ungleichheitsachsen. Darunter fallen bezüglich der Erforschung von Bildungsungleichheiten bei Jugendlichen innerhalb der Institution Schule insbesondere Gender, Migrationsstatus und soziale Herkunft. Zum einen werden in der Intersektionalitätsforschung multiple Gruppenzugehörigkeiten zu diesen drei Kategorien untersucht, was als Multidimensionalität bezeichnet wird, und zum anderen die Wechselwirkungen der Gruppenzugehörigkeiten, welche als Intersektionalität determiniert werden (Gottburgsen/Gross 2012: 87). Schließlich wird explizit beschrieben, dass die drei genannten Kategorien je nach sozialem Kontext anders wirken können, was durch den Terminus Kontextualität ausgedrückt wird. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass in unterschiedlichen sozialen Kontexten außerhalb der Schule, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt oder innerhalb von Familienstrukturen dieselben Merkmale (also Gender, soziale Herkunft und Migrationsstatus) relevant sind, jedoch in völlig in anderer Weise wirken können. Es bedeutet aber auch, dass eventuell in unterschiedlichen Kontexten weitere Intersektionalitätsachsen, die über Gender, Migrationsstatus und soziale Herkunft hinausgehen, betrachtet werden müssen (vgl. Gottburgsen/Gross 2012: 89). Folglich zeigt dieses Verständnis von Kontextualität der Intersektionalitätsforschung erneut deutlich, weshalb es wenig zielführend ist, Studien lediglich auf biologische und neurowissenschaftliche Voraussetzungen von Jungen und Mädchen im Zusammenhang mit ihrer fremdsprachlichen Leistung zu untersuchen, da der soziale Kontext einen sehr starken Einfluss zu nehmen scheint. Auch Schmenk (2002: 26) bestätigt dies in ihrer Metaanalyse, welche Anfang der 2000er-Jahre den Startpunkt für eine vertiefte, kritische und mehrperspektivische Auseinandersetzung mit den Variablen Geschlecht und Gender innerhalb der Fremdsprachenlehr-/lernforschung darstellt: „Die ‚Sozialisationsthese‘ stellt einen machtvollen theoretischen Überbau dar, der Äußerungen zum Geschlecht als vorübergehend, nicht endgültig fixiert lesbar macht.“ Dadurch wird die isolierte Betrachtung des Faktors Geschlecht innerhalb der Fremdsprachenforschung als nicht zielführend erklärt und vielmehr eine Forschungsweise gefordert, die mehrere Perspektiven und Lernervariablen berücksichtigt.

Schließlich muss bezüglich der Kontextualität im Sinne der Intersektionalitätsforschung festgehalten werden, dass diese im Setting der vorliegenden Studie nicht ausschließlich an der Institution „Schule“ festgemacht werden kann, sondern spezifische Gruppenzugehörigkeiten je nach Bundesland und Schulart unterschiedliche Auswirkungen auf Bildungsprozesse haben können (vgl. Gottburgsen/Gross 2012: 89). Daher wird in Kapitel 8 die zu untersuchende Grundgesamtheit präzise beschrieben und im Verlauf der Auswertung und Interpretation der Ergebnisse erneut darauf Bezug genommen. Ein weiteres Argument für die Verwendung der Intersektionalität als Grundkonzept für die Forschungsmethodik ist, dass diese per se einen interdisziplinären Charakter besitzt, da sie zum einen offen genug ist, um verschiedene Sichtweisen aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen bei Bedarf zu integrieren und andererseits einen ausreichend konkreten Rahmen spannt, damit die Integration dieser Perspektiven durch die Anwendung des Forschungsparadigmas der Intersektionalität erfolgen kann (vgl. Bührmann 2009: 37; Uhl 2019: 209). Eine Herausforderung stellt aber dennoch die Tatsache dar, dass das Forschungsparadigma der Intersektionalität, insbesondere in der erziehungswissenschaftlichen und soziologischen Bildungsforschung und in fachdidaktischen Studien, vorwiegend in der qualitativen Forschung eingesetzt wird (vgl. z. B. Grein 2015). Gottburgsen und Gross (2012: 87-95) zeigen allerdings anhand des Datensatzes der PISA-Studie von 2006 (vgl. Prenzel et al. 2008) Möglichkeiten auf, wie dies auch in quantitativer Forschung mittels Mehrebenenanalysen gelingt.

Im Sinne des Intersektionalitätsparadigmas gilt es daher zunächst, die Kontextfaktoren und entsprechend die relevanten Forschungsdisziplinen zu ermitteln, die für die fremdsprachliche Leistung im Französischen und Spanischen von Jungen und Mädchen im Alter von ca. 15 Jahren besonders relevant sind. Außerdem zeigen die oben genannten Definitionen von Geschlecht und Gender (vgl. Kapitel 2), dass in der aktuellen Geschlechterforschung im Rahmen der Fremdsprachenforschung der reine Vergleich von fremdsprachlichen Leistungen von männlichen und weiblichen Probanden nur ein erster Schritt, aber noch keine umfassende Analyse darstellt. Zugunsten von sogenannten diversity frameworks müssen also Forschungsfragen wie „Wie unterscheiden sich Mädchen und Jungen in Y?“ durch Fragen wie „Wer bzw. welche Geschlechtergruppe wird von Z mehr beeinflusst?“ erweitert werden, um so dem intersektionalen Ansatz Rechnung zu tragen. Dies wird entsprechend in der aktuellen Studie berücksichtigt, in der neben der Erforschung vielfältiger Geschlechterunterschiede auch die vielschichtige Erfassung von Prädiktoren bzw. Einflussfaktoren im Zentrum steht (vgl. Kapitel 11.6, 11.8 bis 11.11).

4Stand der Forschung: Geschlecht und fremdsprachliche Leistungen

4.1Fremdsprachliche Leistung als komplexer Forschungsgegenstand

Um Forschungsergebnisse zum Themenkomplex Geschlecht, Gender und fremdsprachliche Leistung einordnen zu können, stellt sich neben der Frage nach der Definition von Geschlecht und Gender, die bereits in Kapitel 2 beantwortet wurde, auch immer die Frage nach der Definition von fremdsprachlicher Leistung. Fremdsprachliche Leistung wird in der Forschungsliteratur meist als Ergebnis der Bearbeitung bestimmter Aufgaben im Rahmen von Leistungsermittlungen und Leistungsbewertungen definiert (vgl. z. B. Schröder 2017: 210). Sie wird innerhalb der von Chomsky (1969, 2001) initiierten Kompetenz-Performanz-Debatte, die bis heute kontrovers diskutiert wird, im Bereich der Performanz, also der konkreten Ausführung und Anwendung des fremdsprachlichen Wissens verortet (vgl. Chudaske 2012: 38; Jude 2008: 13). Die konkrete Ausführung fremdsprachlichen Wissens bedeutet gleichzeitig eine Bedingtheit durch situative und personale Einflüsse (vgl. Klieme/Hartig 2007: 16), die es bei der Interpretation der Ergebnisse fremdsprachlicher Leistungsermittlungen zu berücksichtigen gilt. Caplan et al. (1997: 72-74) behaupten sogar, dass aufgrund der Unklarheit, was man genau unter ‚verbaler Fähigkeit‘ verstehe und wie diese zu messen sei, eine weibliche oder männliche Überlegenheit gar nicht messbar sein könnten.

Schmenk (2002: 35), die wie bereits erwähnt in ihrer Metaanalyse eine kritische Aufarbeitung aller relevanter Studien zum Thema Geschlecht und fremdsprachliche Leistung des 20. Jahrhunderts betrieb, fand heraus, dass vor Burstall (1970, 1975; Burstall et al. 1974) niemand versucht hatte fremdsprachlichen Lernerfolg systematisch, etwa nach den vier Fertigkeiten Lesen, Schreiben, Hören und Sprechen zu klassifizieren und entsprechende unterschiedliche Messungen von Mädchen und Jungen vorzunehmen, sodass Forschende oft von generell besseren fremdsprachlichen Leistungen sprachen ohne zu differenzieren, was im jeweils spezifischen Fall wie gemessen wurde (vgl. Schmenk 2002: 35). Schmenk (2002: 35) fand außerdem heraus, dass die Praxis des undifferenzierten Umgangs mit der fremdsprachlichen Leistung der Geschlechtergruppen in den 90er Jahren stark abnahm und eine immer präzisere Dokumentation der Erhebungsinstrumente, der Testgegenstände und der Auswertungsprozesse stattfand. Daher wird auch in der vorliegenden Studie viel Wert darauf gelegt, Untersuchungsgegenstände, Testmaterialien und Auswertungsverfahren präzise zu definieren und transparent zu dokumentieren (vgl. Kapitel 9.2 bis 11).

In der folgenden Analyse des Stands der Forschung wird zudem die in den einzelnen Studien verwendete Definition von fremdsprachlicher Leistung stets kritisch hinterfragt. Im Zentrum stehen insbesondere Studien, die den Forschungsgegenstand der fremdsprachlichen Leistung möglichst klar definieren und sich durch einen hohen Grad an Objektivität, Validität und Reliabilität (vgl. Kapitel 9.2) bei der Leistungsmessung auszeichnen. Studien, bei denen beispielsweise die Schulnoten in den Fremdsprachen zur Ermittlung von möglichen Leistungsunterschieden zwischen Mädchen und Jungen dienten, werden entsprechend weniger berücksichtigt und lediglich kurz erwähnt, da Schulnoten nicht im selben Maße objektiv, valide und reliabel sind wie standardisierte empirische Leistungstests (vgl. Kapitel 4.1).

Hertel (1994) zeigte das geringe Maß an Aussagekraft von Schulnoten in ihrem Forschungsergebnis konkret auf: Sie führte eine Studie zu fremdsprachlicher Leistung und Geschlecht mit 950 Schülerinnen und Schülern durch, bei der einerseits die Schulnote erfragt und andererseits das Ergebnis des Bundeswettbewerbs Fremdsprachen berücksichtigt wurde. Während die Mädchen zwar zahlenmäßig überlegen waren und bessere Noten in den Fremdsprachen angaben, erzielten die Jungen jedoch bessere Leistungen im Bundeswettbewerb Fremdsprachen. Dass Noten die Leistung nur bedingt widerspiegeln, belegten später auch Anders et al. (2010: 323-324) empirisch und kamen zu dem Ergebnis, dass Lehrkräfte bei der Übergangsempfehlung und auch bei der Notengebung Aspekte wie bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen berücksichtigten: Insbesondere bei Kriterien wie Sozialverhalten, Motivation und Lerntugenden wurden Mädchen positiver eingeschätzt als Jungen, was sich auf die Notengebung auswirkte.

4.2Geschlecht und fremdsprachliche Leistung

Innerhalb der Forschung zeigten sich bisher hinsichtlich des Lernerfolgs beim Erlernen von Fremdsprachen und dessen Zusammenhang zur Variable Geschlecht uneinheitliche Ergebnisse, die je nach Epoche, Land, Zielsprache und Forschungsansatz unterschiedlich ausfielen. Dabei können Studien gefunden werden, die eine weibliche Überlegenheit attestieren (vgl. Burstall et al. 1974; Köller et al. 2010; Nisbet/Welsh 1972; Nyikos 1990; Randwaha/Korpan 1973; Schröder/Macht 1983), Studien, die zum Ergebnis einer männlichen Überlegenheit kommen (vgl. Bügel/Buunk 1996; Carrell/Wise 1998; Cross 1983; Scarcella/Zimmerman 1998) und Studien, die keinerlei Geschlechtsunterschiede nachweisen konnten (vgl. Bacon 1992; Berga/Newell 1967; Farhady 1982; Hyde/McKinley 1997; Walker/Perry 1978).

In neuerer Zeit sind auch einige Studien publiziert worden, bei denen die Ergebnisse von Jungen und Mädchen je nach Fertigkeit unterschiedlich ausfallen, indem teilweise die Jungen, teilweise die Mädchen Vorteile zeigen und teilweise vergleichbare Ergebnisse erzielt werden (vgl. DESI-Konsortium 2006, 2008). Da sich die Erforschung der Variable Geschlecht bezüglich des Fremdsprachenlernerfolgs im Laufe des 20. und im beginnenden 21. Jahrhunderts stark gewandelt hat und die Metastudie von Schmenk (2002) im deutschsprachigen Raum eine wichtige Zäsur in diesem Forschungsbereich darstellte, werden im Folgenden zunächst Studien aus dem 20. Jahrhundert aufgearbeitet, bevor Studien des 21. Jahrhunderts genauer in den Blick genommen werden.

In den 50er Jahren kam ein verstärktes Interesse an biologischen, psychologischen und soziologischen Ausprägungen von Geschlechterunterschieden auf (vgl. für eine Übersicht Fuchs 2013: 45), jedoch wurde eher weniger Wert auf die Erforschung der Variable Geschlecht im Hinblick auf den Fremdsprachenlernerfolg gelegt, auch weil eine weibliche Überlegenheit als per se gegeben betrachtet wurde (vgl. Überblick bei Boyle 1987: 273). In den 80er und 90er Jahren erfolgte dann erstmals eine intensive Auseinandersetzung mit einem möglichen Zusammenhang zwischen Geschlecht und Fremdsprachenlernen (vgl. Schmenk 2002: 33). Dabei untermauerten zahlreiche Studien die Annahme der Überlegenheit des weiblichen Geschlechts beim Fremdsprachenlernen (vgl. z.B Burstall et al. 1974; Nisbet/Welsh 1972; Nyikos 1990; Randhawa/Korpan 1973; Schröder/Macht 1983). Bezüglich des Französischen als Fremdsprache war die Vorstellung der weiblichen Überlegenheit fast noch deutlicher ausgeprägt als bei anderen modernen Fremdsprachen wie beispielsweise dem Englischen: „Die Beobachtung, dass Mädchen Jungen im Französischunterricht weit hinter sich lassen, durchzieht das gesamte 20. Jahrhundert“ (Bonin 2009: 19). Oftmals wurden lediglich Vermutungen zu der Ursache der weiblichen Überlegenheit aufgestellt: Dabei wurden Mädchen und Frauen Eigenschaften zugeschrieben, die dem Fremdsprachenlernen besonders zuträglich zu sein schienen: Anpassungsbereitschaft, Bereitschaft zu kontinuierlichem Lernen, empathische Fähigkeiten, Intuition, Selbstdisziplin (vgl. Kahlke 1996: 19-21), eine Offenheit für neue sprachliche Formen und ein schnelleres Korrigieren fehlerhafter Phänomene der Interlanguage (vgl. Ellis 1994: 202), ein wenig spezifisches Notenkalkül, eine eher unspezifische Berufsplanung und ein erhöhtes Interesse an literarischen Texten bei gleichzeitig „spezifische[r] Begabung“ für Fremdsprachen (vgl. Christ 1996: 23-24) waren nur einige der Attribute, die in diesem Zusammenhang genannt wurden. Ellis (1994: 202) kam zu folgendem pauschalisierendem Schluss: “Female learners generally do better than male“.

Jungen und Männer wären hingegen eher an theoretischen und systematischen Betrachtungen interessiert und weniger an praktischer Umsetzung der nicht immer systematisch funktionierenden Fremdsprachen; außerdem seien sie weniger willig als weibliche Lernerinnen, die Aussprache einer Fremdsprache zu erlernen (vgl. Kahlke 1996: 21), wählten eine Fremdsprache aufgrund des praktischen Nutzens für das spätere Berufsleben und interessierten sich eher für Politik und Geschichte (vgl. Christ 1996: 23). Schmenk (2002: 26) kritisierte daran, dass lediglich stereotype Attribute zugewiesen wurden, wobei ein Widerspruch vorläge, da die vermeintlich als männliche Dominanz und weibliche Unterordnung lesbaren Eigenschaften im Falle des Fremdsprachenlernens eine Überlegenheit der Mädchen und Frauen zur Folge hätten. Der aktuelle Stand der Forschung zu den möglichen Gründen für Geschlechterunterschiede in der fremdsprachlichen Leistung wird daher in der vorliegenden Arbeit in Kapitel 5 vertieft analysiert.

In den 90er Jahren etablierte sich auch aufgrund der Annahme der weiblichen Dominanz beim Fremdsprachenlernen in vielen Ländern Europas der Begriff des „Jungenproblems“ oder des Gendergap (vgl. für eine Übersicht Driessen/Van Langen 2013: 70). Dies zog auch die politische und mediale Aufmerksamkeit auf das Thema (vgl. Smith 2003). Driessen und Van Langen (2013: 70) bemerken in dieser Diskussion zum Gendergap das Problem, dass oft eine empirische Diskussionsgrundlage fehlte, da zum einen die fraglose Akzeptanz der weiblichen Überlegenheit die Studien bis in die 1990er Jahre stark prägte. Zum anderen fußte die Debatte um den Gendergap auf einer recht kleinen Anzahl an nur teilweise empirisch basierten Studien (vgl. Schmenk 2016: 254).

Aufgrund der damaligen Debatte besteht bis in die Aktualität das Risiko, Geschlechterunterschiede überzubewerten oder ungerechtfertigte Verallgemeinerungen zu wagen. Außerdem stellt sich die Frage, inwiefern so etwas wie ein Gendergap im Zusammenhang mit Fremdsprachenlernen tatsächlich existierte bzw. im 21. Jahrhundert immer noch existiert. Gillborn und Mirza (2000) gehen beispielsweise davon aus, dass der Gendergap stetig größer wird, während Gorard et al. (1999) diese Meinung nicht teilen und vielmehr die grundsätzliche Frage aufwerfen, ob Mädchen in den 70er und 80er Jahren tatsächlich bessere fremdsprachliche Kompetenzen aufwiesen als Jungen. Insgesamt lässt sich bei den Studien zu fremdsprachlicher Leistung und Geschlecht Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts eine Tendenz dahingehend erkennen, dass eine weibliche Überlegenheit als „normal“ und erwartungserfüllend aufgefasst wurde, während eine männliche (fremd)sprachliche Überlegenheit stets hinterfragt wurde (vgl. Schmenk 2002: 11, 23).

Die Debatte um die vermeintliche weibliche Überlegenheit und den Gendergap lenkte jedoch ein Stück weit davon ab, dass bereits im Laufe des 20. Jahrhunderts uneinheitliche Ergebnisse erzielt wurden, wobei zahlreiche Studien gar keine Geschlechterunterschiede oder aber eine männliche Überlegenheit in der fremdsprachlichen Leistung attestierten. Nachfolgend werden daher einige zentrale Forschungsergebnisse in zusammenfassender Form dargelegt, welche alle Arten von Forschungsergebnissen berücksichtigen (vgl. für einen ausführlichen Überblick auch Schmenk 2002).

Studien, die die weibliche Überlegenheit untermauerten, waren beispielsweise diejenige von Nisbet und Welsh (1972) mit 1 947 schottischen Probandinnen und Probanden im letzten Jahr der Primary School (P7) und im ersten Jahr der Sekundarstufe (S1), d. h. im Alter von 12 und 13 Jahren, die signifikante Vorteile von weiblichen Französischlernerinnen bei mündlichen Sprachtests fanden (vgl. Nisbet/Welsh 1972: 171, 173). Randhawa und Korpan (1973) kamen zu dem Ergebnis, das bei einem Sample von 100 Französischlernenden im englischsprachigen Teil Kanadas die weiblichen Probandinnen der 7. und 8. Klasse in der fremdsprachlichen Leistung besser abschnitten und begründeten dies ebenfalls mit einer erhöhten Motivation, welche sich in den Regressionsanalysen als stärkster Prädiktor für die Französischleistung erwies (vgl. auch Schmenk 2002: 34). Nyikos (1990) fand unter 118 Studierenden in den USA schließlich signifikant höhere Abschlussnoten in Deutsch bei weiblichen Lernerinnen, wobei Noten wie gesagt nur bedingt die fremdsprachliche Leistung widerspiegeln (vgl. Kapitel 4.1).

Schmenk (2002: 33) fasst zusammen, dass sich all diese Studien durch fehlende konsistente Begründungen für die Überlegenheit der weiblichen Lernenden kennzeichnen und mögliche Hintergründe ihrer Entstehung nicht einmal ansatzweise aufgearbeitet wurden, sondern dass Geschlecht vielmehr als Konstante aufgefasst wurde, eine Tatsache, die sich erst mit der einschlägigen Studie von Burstall et al. (1974) änderte: Dabei handelte es sich um eine sehr umfangreiche Längsschnittstudie, die die weibliche Überlegenheit im Französischen ebenfalls untermauerte: Die Forschenden erhoben zwischen 1964 und 1974 im Rahmen eines Pilotprojekts der National Foundation for Educational Research (NFER) Daten zum Französischunterricht an britischen Schulen auf der Primar- und Sekundarstufe von über 18 000 Lernenden im Alter von 8 bis 16 Jahren hinsichtlich ihrer Leistungen, Einstellungen und Motivation im Fach Französisch. Wenngleich das primäre Ziel vielmehr darin lag, die Wirkung des frühen Fremdsprachenunterrichts zu ergründen und weniger darin, den Faktor Geschlecht zu erforschen, wurden diesbezügliche Ergebnisse im Nachhinein berichtet: Dabei bestätigte sich durchgängig eine weibliche Überlegenheit bei den Französischkenntnissen: “Sex differences in achievement favouring the girls were evident on the first occasion of testing and persisted throughout the period of the experiment, showing no sign of diminution when the pupils entered the adolescent period.“ (Burstall 1975: 11). Burstall et al. (1974) führten Korrelationsanalysen der Variable Geschlecht mit verschiedenen Hintergrundvariablen durch (Schultyp, sozioökonomischer Hintergrund, Lage und Größe der Schule) und versuchten dadurch mögliche Zusammenhänge zu berechnen. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass eine starke Abhängigkeit des Geschlechts von der sozioökonomischen Herkunft gegeben war, da Geschlechterunterschiede zugunsten der Mädchen vor allem innerhalb der Probandinnen und Probanden mit niedrigem sozioökonomischem Status auftraten (vgl. Burstall 1975: 11). Auch kulturelle Bedingungen, d. h. beispielsweise der Grad der kollektiven stereotypen Wahrnehmung des Lesens als spezifisch weibliche Fertigkeit, haben laut Burstall et al. (1974: 30) entsprechende Auswirkungen auf die fremdsprachliche Leistung. Sie sahen daher das gute Abschneiden von weiblichen Lernerinnen als Symptom eines gesellschaftlich determinierten Rollenverständnisses von Mädchen, bei denen gute Leistungen in fremdsprachlichen Fächern durch die Gesellschaft eher vorgesehen bzw. gewünscht waren als bei Jungen. Die Ursachenforschung bezüglich der Interaktion von Geschlecht und affektiven sowie sozialen Faktoren, die von Burstall et al. (1974) besonders in den Blick genommen wurde, wird daher in Kapitel 5.1.3.1.6 noch einmal genauer bezüglich der möglichen Erklärungsansätze von Geschlechterunterschieden analysiert. Mit den späteren Ergebnissen der vorliegenden Studie werden daher ebenfalls Korrelations- und Regressionsanalysen durchgeführt um komplexere Zusammenhänge darzustellen (vgl. Kapitel 11.8 bis 11.10). Außerdem wird in der vorliegenden Studie eine mögliche Interaktion zwischen Geschlecht und sozioökonomischem Status mithilfe von zweifaktoriellen Varianzanalysen geprüft (vgl. Kapitel 11.6).

Um zunächst aber noch einmal auf die Rezeption der Studie von Burstall et al. (1974) zurückzukommen, sei ergänzt, dass Ekstrand (1980) daran kritisierte, dass sich statistische Signifikanz bei so hohen Probandenzahlen trotz geringer Unterschiede rechnerisch schnell ergäbe, dies also noch kein Beleg für weibliche Überlegenheit sei, und die Studie von Burstall et al. (1974) ferner eine mangelnde Kontrolle durch fehlende Kovarianzanalyse aufwiese; darüber hinaus warf er Burstall et al. (1974) vor, die Variable Geschlecht nicht in Form von Intelligenztests oder Tests zu allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten kontrolliert zu haben. Aufgrund dieser berechtigten Kritik werden in der vorliegenden Arbeit zum einen der Aspekt der kognitiven Fertigkeiten in Kapitel 5.1.2 theoretisch aufgearbeitet und zum anderen Tests zu den kognitiven Grundfertigkeiten ergänzend zu den Sprachstandserhebungen durchgeführt (vgl. Kapitel 9 und 11.3).

Obwohl die stereotype Annahme der weiblichen Überlegenheit beim Fremdsprachenlernen stark verbreitet war, gab es also auch Stimmen aus der Forschung der 1960er und 1970er Jahre, die generalisierende Aussagen wie diejenige einer allgemeinen weiblichen Überlegenheit für verfrüht und ohne ausreichende Evidenz kritisierten (vgl. Carrol 1963: 1091; Ekstrand 1980). Außerdem wurde kritisiert, dass das Geschlecht vor allem als Konstante betrachtet wurde, deren Bezug zur fremdsprachlichen Leistung, aber auch zu affektiven Variablen wie Motivation oder Interessen, nicht ausreichend erforscht wurde (vgl. Ekstrand 1980; für Überblicksdarstellungen vgl. Fuchs 2013: 45; Schmenk 2002: 33), weshalb die affektiven Faktoren in der vorliegenden Arbeit in Kapitel 5.1.3 verstärkt in den Fokus gerückt werden.

Was das Stereotyp der weiblichen Überlegenheit neben der Vielzahl an Studien, die diese augenscheinlich belegten, befeuerte, war außerdem das sogenannte file drawer Problem, was beschreibt, dass Befunde ohne statistisch signifikante Unterschiede oftmals unveröffentlicht blieben (vgl. z. B. Richardson 1997: 9; Schmenk 2002: 32). Dennoch liegen einige Studien aus dem 20. Jahrhundert vor, bei denen keinerlei Geschlechterunterschiede in der fremdsprachlichen Leistung dokumentiert wurden, allerdings vorwiegend erwachsene Lernende als Zielgruppe haben: Beispielsweise fanden Brega und Newell (1967: 409) bei US-amerikanischen Schülerinnen und Schülern der High School keinerlei geschlechtsspezifische Unterschiede in der fremdsprachlichen Leistung in Französisch. Walker und Perry (1978) fanden in Kanada bei rund 400 französischsprachigen erwachsenen Lernenden im Alter zwischen 18 und 22 ebenfalls keinerlei geschlechtsspezifische Unterschiede in der fremdsprachlichen Leistung in Englisch. Farhady (1982) stellte bei Tests für Englisch als Zweitsprache an einer US-amerikanischen Universität keinerlei Geschlechterunterschiede fest. Bacon (1992) fand schließlich bei 50 US-amerikanischen Studierenden des zweiten Semesters keine geschlechtsspezifischen Leistungsunterschiede bei Hörverstehenstests im Spanischen.

Cross (1983), Boyle (1987), Bügel und Buunk (1996) Scarella und Zimmerman (1998) sowie Carrell und Wise (1998) wiesen wiederum eine männliche Überlegenheit vorwiegend in den Bereichen des Hörverstehens, des Leseverstehen und des Wortschatzes nach:

Cross (1983) untersuchte zahlreiche sprachliche Fertigkeiten von 59 vierzehnjährigen Französischlernerinnen und -lernern in Großbritannien und kam zu dem Ergebnis, dass in der Versuchsgruppe, die eine männliche Lehrkraft hatte, die Jungen im Leseverstehen (survival reading und extensive reading), im Hörverstehen, im C-Test und in der Flüssigkeit beim mündlichen Sprachtest signifikant bessere Ergebnisse erzielten als die Mädchen. Durch die Vergleichsgruppe, in der eine weibliche Lehrkraft unterrichtete, wurden allerdings alle signifikanten Unterschiede wieder ausgeglichen, wodurch am Ende keinerlei Geschlechterunterschiede vorlagen. Daher ging Cross (1983: 162) davon aus, dass die Lehrkraft, deren Geschlecht, Alter und Unterrichtsstil mehr Einfluss auf die fremdsprachlichen Leistungen der jeweiligen Geschlechtergruppe hat als das Geschlecht der Lernenden an sich (vgl. hierzu auch Kapitel 5.2.3).

Boyle (1987: 274) untersuchte neben einer ganzen Reihe anderer fremdsprachlicher Fertigkeiten das Hörverstehen einzelner Lexeme (listenting vocabulary) von 490 Studierenden aus Hong Kong im Englischen. Dabei ging es zum einen darum, gehörte Wörter Bildern zuzuordnen und zum anderen, gehörte Wörter den chinesischen Äquivalenten zuzuweisen. In beiden Subtests konnten deutliche Vorteile zugunsten der männlichen Lernenden gefunden werden.

Bügel und Buunk (1996) fanden in den Niederlanden in der Sekundarstufe bei 2980 Lernenden des Englischen im Leseverstehen bessere Leistungen bei den Jungen als bei den Mädchen. Aus ihrer Rahmenuntersuchung bezüglich geschlechtsspezifischer Interessen und geschlechtsspezifischen Vorwissens schlussfolgerten sie deshalb, dass Jungen insgesamt über eine größere Erfahrung mit komplexeren informativen Texten verfügen würden. Bügel und Buunk (1996: 26) begründeten die bessere Leistung im Leseverstehen durch die größere Erfahrung von Jungen mit komplexeren sprachlichen Strukturen und mit spezialisiertem Vokabular, welche sie beim gelegentlichen Lesen von Fachzeitschriften, in denen eine größere sprachliche Komplexität auftreten würde, erworben hätten. Im Gegensatz dazu würden Mädchen bei ihrer zwar umfangreicheren Lektüre verschiedener, aber eher im literarischen Bereich zu verortenden, Textsorten lediglich mit einfachen Strukturen und Vokabular konfrontiert (vgl. auch Kapitel 5.1.3.1.9). Schmenk (2002: 100) kritisierte die Studie dahingehend, dass sie die Argumentationslinie von Bügel und Buunk (1996) als nicht ausreichend bewertete, da die Textsorte und das Thema nicht ausschlaggebend für den Komplexitätsgrad der sprachlichen Strukturen der Texte seien. Die Begründung männlicher Superiorität sei somit an stereotype Alltagsvorstellungen geknüpft und die Ergebnisse dieser Studie wären daher wenig aussagekräftig (vgl. Schmenk 2002: 101). Außerdem stellt sich die Frage, ob eine weniger bzw. nicht auf Stereotypen beruhende Studie Anfang des 21. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des zu beobachtenden veränderten Leseverhaltens im Zeitalter digitaler Medien nicht zu völlig anderen Ergebnissen kommen würde.

Scarcella/Zimmerman (1998) wiesen außerdem eine signifikante Überlegenheit der männlichen Studienanfänger unterschiedlicher Fächer der Universität California im Englischen als Zweitsprache1 bezüglich der Verwendung von wissenschaftlichen, disziplinübergreifenden Termini wie beispielsweise to assert, research oder conclusion mittels des Tests of Academic Lexicon (TAL) nach. Die wissenschaftlichen, disziplinübergreifenden Termini wurden für den Studienerfolg ausschlaggebend definiert und beeinflussten sowohl das Hör- und Leseverstehen als auch die mündliche und schriftliche Produktion wissenschaftlicher Texte (vgl. Scarcella/Zimmerman 1998: 29). ANCOVA-Analysen zeigten zudem, dass das Alter zum Zeitpunkt der Einreise in die USA, die Länge des Aufenthalts in den USA und verbale Intelligenz, gemessen durch den Scholastic Aptitude Test (SAT), keinen Einfluss auf die Abhängigkeit zwischen Geschlecht und dem Ergebnis im TAL-Test hatten. Als Erklärungsansätze für den Geschlechterunterschied wurden vielmehr soziale Hierarchien, Einflüsse des Unterrichts und Interaktionsverhaltens sowie des Leseverhaltens vermutet (vgl. Scarcella/Zimmerman 1998), wodurch erneut gewisse Geschlechterstereotype bemüht wurden.

Schließlich wurde auch in der Studie von Carrell und Wise (1998) mit 104 Studierenden des Englischen als Zweitsprache eine leicht höhere Leistung männlicher Lernender beim Textverständnistest gemessen.

Schmenk (2002: 105) kritisierte in ihrer Meta-Studie, dass in den Studien zur männlichen Überlegenheit beim Fremdsprachenlernen, welche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden, als Begründungen Vorteile von Jungen und Männern hinsichtlich des besseren analytischen Denkens, des höheren Durchsetzungsvermögens und der höheren sozialen Machtpositionen genannt wurden. Dadurch würden erneut Stereotype reproduziert, welche aufgrund der methodisch fragwürdigen Umsetzung der Studien wenig haltbar schienen. Zudem warf Schmenk (2002: 105) den Studien wie derjenigen von Bügel und Buunk (1996) eine „Maskulinisierung“ der Einschätzung des Fremdsprachenlernens vor, in dem Sinne, dass in den 1990er Jahren die Tendenz zu beobachten war, stereotyp maskuline Eigenschaften wie eben das analytische Denken als besonders vorteilhaft für das Erlernen von Fremdsprachen anzusehen. Es stellt sich also die Frage, inwiefern die Publikation der Metastudie von Schmenk (2002), welche vor allem die genderstereotypen, nicht evidenzbasierten Erklärungsmuster für Geschlechterunterschiede kritisierte als auch einigen Studien methodisch unsauberes Arbeiten vorwarf, zu einer Steigerung der Qualität bei der Untersuchung von Geschlechterunterschieden führte.

Vor allem seit Ende der 1990er Jahre lässt sich die Tendenz erkennen, dass differenziertere Studien zum komplexen Zusammenhang zwischen Geschlecht und Fremdsprachenlernerfolg erschienen, was zur Verbesserung der Qualität der Studien beitrug. Nur noch selten fanden sich pauschale Behauptungen, dass Mädchen „besser“ oder „begabter“ seien als Jungen (vgl. für Überblicksdarstellungen Sunderland 2000; Schmenk 2002, 2016). Daher lauten weitere wichtige Fragen hinsichtlich der Aufarbeitung des Stands der Forschung, ob sich seit den 2000er Jahren Geschlechterunterschiede in den modernen Fremdsprachen Englisch, Französisch und Spanisch nur in bestimmten Bildungszweigen von bestimmten Ländern finden lassen und ob in Bezug auf die fremdsprachliche Leistung lediglich einzelne Teilkompetenzen einzelner Zielsprachen betroffen sind oder ob es sich um ein universelles Phänomen handelt. Wenn Geschlechterunterschiede tatsächlich nur in einzelnen Bildungszweigen bestimmter Länder, Zielsprachen und darin wiederum lediglich in einzelnen fremdsprachlichen Teilkompetenzen vorzufinden wären, würde dies laut Driessen und Van Langen (2013) vor allem ein Indiz für die negativen Effekte für die jeweilige Geschlechtergruppe des spezifischen Bildungssystems sprechen. Eine zusätzliche Frage, die sich anschließend im Sinne der Intersektionalität stellen wird, lautet, welche Wechselwirkungen bisher von Gender mit anderen Faktoren hinsichtlich des Lernerfolgs untersucht wurden.

Insgesamt liegt auch im 21. Jahrhundert eine hohe Anzahl an Studien vor, die die Faktorenkomplexion rund um Geschlecht und Fremdsprachenlernen erforscht. Diese sind bezüglich der kulturellen, sozialen und institutionellen Kontexte, hinsichtlich der untersuchten individuellen Lernervariablen und fremdsprachlichen Leistungen sowie bezüglich der Forschungsdesigns und -methoden sehr heterogen, weshalb sie erneut uneinheitliche Ergebnisse hervorbringen (vgl. z. B. DESI-Konsortium 2006, 2008; Hartig/Jude 2008; HarmoS Konsortium Fremdsprachen 2009; Jiménez Catalán/Terrazas Gallego 2005-2008). Im Folgenden werden in erster Linie Studien mit hohen Stichprobenzahlen aus dem deutschsprachigen Raum, welche Schülerinnen und Schüler in der Adoleszenz als Zielgruppe haben, im Detail dargestellt:

Eine Studie, die Geschlechterunterschiede bezüglich sprachlicher Leistungen im Deutschen und Englischen von Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe in Deutschland sehr differenziert hinsichtlich verschiedener Teilkompetenzen untersuchte, stellt die DESI-Studie (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International) aus den Jahren 2002 und 2003 dar (vgl. Beck/Klieme 2007; DESI-Konsortium 2006, 2008).2 Dabei wurden jeweils unterschiedliche Teilkompetenzen im Englischen3 und im Deutschen4 gemessen, wodurch ein differenziertes Leistungsbild entstand: Die Geschlechterunterschiede fielen im Englischen deutlich kleiner aus als im Deutschen (vgl. Hartig/Jude 2008: 203), dennoch konnten die Mädchen im Gesamtergebnis im Englischen einen klaren Vorsprung erzielen (vgl. Hartig/Jude 2008: 203). Die deutlichsten Geschlechterunterschiede zugunsten der Mädchen fanden sich in der schriftlichen Textproduktion und in der Textrekonstruktion, die mittels eines C-Tests erhoben worden war (vgl. Hartig/Jude 2008: 204). Die Jungen konnten wiederum im Kompetenzbereich Sprechen einen Leistungsvorsprung erzielen, wobei sie den größten Vorsprung auf die Mädchen in den Teilbereichen Flüssigkeit und Aussprache hatten, wohingegen lediglich ein geringer Unterschied beim Satzbau vorzufinden war (vgl. Nold/Rossa 2008: 178). Ausschließlich im Leistungsbereich Wortschatz erzielten die Mädchen beim Sprechen im Englischen höhere Ergebnisse als die Jungen.5 Somit wird die Gesamttendenz erkennbar, dass die Jungen in der mündlichen Sprachproduktion Vorteile zeigten und die Mädchen wiederum in der schriftlichen Textproduktion, aber auch beim Hör- und Leseverstehen höhere Ergebnisse erzielten. Eine nach Bildungsgängen getrennte Analyse zeigt zudem, dass die Geschlechterunterschiede zugunsten der Mädchen im Gesamtergebnis im Englischen sowohl an Haupt- und Realschulen, Integrierten Gesamtschulen (IGS) und an Gymnasien zu finden waren, wobei sie an Gymnasien am geringsten ausfielen (vgl. Hartig/Jude 2008: 205). Bei Betrachtung der Deutsch- und Englischleistungen in ihrer Gesamtheit und in ihrer Progression vom ersten zum zweiten Erhebungszeitraum fielen die Leistungszuwächse bei den Mädchen deutlich größer aus als bei den Jungen. Bei ausschließlicher Betrachtung der Ergebnisse im Englischen waren die Leistungszuwächse von Jungen und Mädchen in der Textrekonstruktion und im Hörverstehen jeweils signifikant, d. h. beide Geschlechtergruppen erzielten in diesen beiden Teilkompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe ein signifikant besseres Ergebnis als am Anfang der 9. Jahrgangsstufe, wenngleich die Lernzuwächse bei den Mädchen jeweils etwas höher ausfielen als bei den Jungen. Da Hartig und Jude (2008: 206) mittels Mehrebenenanalysen berechneten, dass die genannten „[…] Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen auch unter Kontrolle des Bildungsganges signifikant variieren“, kamen sie zu der Schlussfolgerung, dass es lohnenswert sein könnte, auf Klassen- und Unterrichtsebene nach erklärenden Variablen zu suchen, welche entweder für das Zustandekommen von Geschlechterunterschieden förderlich waren oder eher zu deren Vermeidung beitrugen.

Die Forschungsmethodik der DESI-Studie ist von besonderer Relevanz für das weitere Vorgehen in der vorliegenden Studie, da hier ebenfalls verschiedene fremdsprachliche Teilkompetenzen detailliert erfasst und auf Geschlechterunterschiede untersucht werden. Außerdem wird in der vorliegenden Studie nach vielfältigen Erklärungsansätzen für Geschlechterunterschiede und Gemeinsamkeiten geforscht, womit der Forderung von Hartig und Jude (2008: 206) Rechnung getragen wird, auf Klassen- und Unterrichtsebene nach erklärenden Variablen zu suchen (vgl. Kapitel 5, 11.7 bis 12). Die Ergebnisse der DESI-Studie können zu einigen anderen, später durchgeführten Langzeitstudien in Beziehung gesetzt werden. Lehmann et al. (2004) begleiteten beispielsweise in der Hamburger Lern-Ausgangs-Untersuchung (LAU) Jungen und Mädchen6 aus verschiedenen Schularten7