Die Jagd auf Osama Bin Laden - Peter L. Bergen - E-Book

Die Jagd auf Osama Bin Laden E-Book

Peter L. Bergen

4,9
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Enthüllt erstmals die Hintergründe der lange vergeblichen Suche nach Osama Bin Laden

Beinahe zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde Osama Bin Laden endlich von amerikanischen Spezialeinheiten in seinem Versteck in Pakistan aufgespürt. Peter L. Bergen hat 1997 als erster westlicher Journalist ein Interview mit Osama Bin Laden geführt, das den Terroristen einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte. In diesem aktuell recherchierten Buch enthüllt er die Hintergründe der Jagd auf den größten Terroristen unserer Zeit. Warum dauerte es so lange, Bin Laden zu finden, wer deckte ihn und half ihm? Genoss er die Unterstützung Pakistans? Wie organisierte sich al-Qaida unter dem Druck der Verfolgung? Warum versagten wiederholt westliche Geheimdienste und Spezialeinheiten? Und, nicht zuletzt, was geschah wirklich bei der Tötung Bin Ladens in Abbottabad?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 511

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PETER L. BERGEN

Die Jagd auf Osama Bin Laden

Eine Enthüllungsgeschichte

Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Norbert Juraschitz, Thomas Pfeiffer, Heike Schlatterer und Karin Schuler

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erscheint zeitgleich 2012 unter dem Titel The Manhunt. The Ten-Year Search for Bin Laden – from 9 /11 to Abbottabad bei Crown, einem Imprint von The Crown Publishing Group, New York.

1. Auflage 2012Copyright © 2012 by Peter L. BergenCopyright © 2012 der deutschsprachigen AusgabeDeutsche Verlags-Anstalt, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Alle Rechte vorbehaltenLektorat: Werner Wahls, KölnTypografie und Satz: Brigitte Müller/DVAGesetzt aus der MinionKarten: Peter Palm, Berlin, nach der Vorlage von Gene ThorpISBN 978-3-641-09063-0V002

www.dva.de

Für Pierre Timothy Bergen, geboren am 17. November 2011

Wir schlafen ruhig in unseren Betten, weil tapfere Männer bereitstehen, diejenigen mit Gewalt abzuwehren, die uns Böses wollen.

WINSTON CHURCHILL

Nicht der Kritiker zählt: nicht der Mann, der aufzeigt, wie der starke Mann strauchelt oder wo der Mann der Tat etwas hätte besser machen können. Anerkennung gebührt dem Mann, der tatsächlich in der Arena steht, dessen Gesicht von Staub, Schweiß und Blut bedeckt ist, der tapfer ringt, der irrt und wieder und wieder fehlt, denn keine Leistung wird ohne Irrtum oder Schwächen erbracht, der aber die großartige Begeisterung, die höchste Hingabe kennt, der sein Leben einer lohnenden Sache verschreibt, der, im besten Falle, den Triumph für seine Leistungen erfährt und der, im schlimmsten Falle, wenn er versagt, wenigstens versagt, während er Großes gewagt hat, sodass am Ende sein Platz niemals bei jenen armen und zaghaften Seelen sein wird, die weder Sieg noch Niederlage kannten.

THEODORE ROOSEVELT

Über dieses Buch

Ich traf Osama Bin Laden das erste Mal im März 1997 nachts in einer Lehmhütte in den ostafghanischen Bergen. Ich war gekommen, um für CNN sein erstes Fernsehinterview überhaupt aufzuzeichnen. In natura erwies sich Bin Laden nicht als der polternde Revoluzzer, den ich erwartet hatte, sondern präsentierte sich als einfacher Geistlicher. Doch so sanft seine Art auch gewesen sein mochte, seine Worte trieften vor Hass auf die Vereinigten Staaten. Bin Laden überraschte uns damit, den Vereinigten Staaten vor laufender Kamera den Krieg zu erklären – es war das erste Mal, dass er das vor einem westlichen Publikum tat. Eine Warnung, die, wie wir alle wissen, zu der Zeit nicht ernst genug genommen wurde. Die Quittung folgte vier Jahre später am 11. September 2001.

In gewisser Hinsicht habe ich mich seitdem darauf vorbereitet, dieses Buch zu schreiben. Sowenig der exakte Zeitpunkt von Bin Ladens Gefangennahme oder seines Todes vorhergesagt werden konnte, sowenig Zweifel konnten daran bestehen, dass er früher oder später zur Strecke gebracht werden würde. Das Buch, das Sie gerade in Händen halten, erzählt die Geschichte dieser Jagd.

Nach Bin Ladens Tod flog ich drei Mal nach Pakistan. Bei meinem letzten Aufenthalt erhielt ich die Erlaubnis zu einer ausführlichen Besichtigung des Gebäudekomplexes in Abbottabad, in dem Bin Laden die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Ich war der erste Außenstehende überhaupt, dem das pakistanische Militär den Zugang gewährte. Zwei Wochen nach meinem Besuch, Ende Februar 2012, wurde der Komplex abgerissen.

Die Besichtigung des Anwesens verschaffte mir einen guten Einblick darin, wie der Al-Qaida-Führer, seine Familienangehörigen und seine Gefolgsleute dort über Jahre hinaus hatten unbemerkt leben können – und wie das Kommandounternehmen der Navy SEALs ablief, bei dem Bin Laden getötet wurde. Ich stand in dem Raum, in dem Bin Laden fast sechs Jahre seines Lebens verbrachte und schließlich den Tod fand. Ich unterhielt mich mit einer Vielzahl pakistanischer Sicherheitsbeamter und Militärs, die mit den Ermittlungen zu dem Überraschungsangriff der Navy SEALs befasst und an der Befragung von Bin Ladens Frauen beteiligt waren.

Auf der amerikanischen Seite sprach ich mit nahezu allen hochrangigen Mitarbeitern im Weißen Haus, Verteidigungsministerium, State Department, National Counterterrorism Center und im Büro des Director of National Intelligence, die für die Beschaffung und Auswertung der nachrichtendienstlichen Informationen zu Osama Bin Laden verantwortlich waren. Sie hatten die verschiedenen Handlungsoptionen nach Bekanntwerden seines wahrscheinlichen Aufenthaltsorts abzuwägen und die Ausführung des geheimen Kommandounternehmens zu überwachen. Viele dieser Personen sind hier im Buch namentlich erwähnt, aber aufgrund der Geheimhaltungsstufe, der zahlreiche Aspekte dieser Mission unterliegen, konnte ich nicht alle direkt zitieren. In den Fällen, in denen der Name eines CIA-Beamten nicht öffentlich bekannt ist, habe ich Pseudonyme verwendet. (Die Navy SEALs, die an der Mission beteiligt waren, hat bisher niemand interviewt, auch ich nicht.)

Die Enthüllungsplattform Wikileaks erwies sich als eine weitere sehr nützliche Informationsquelle. Der Einblick in die dort veröffentlichten geheimen Dokumente über Guantánamo erlaubte mir, die Bewegungen Bin Ladens nach 9 /11 besser nachzuzeichnen und zu rekonstruieren, wie die CIA dem Kurier auf die Spur kam, der sie schlussendlich bis vor die Haustür des Al-Qaida-Führers brachte. Dass Dokumente der US-Regierung der Geheimhaltung unterliegen, garantiert natürlich noch lange nicht ihre Richtigkeit, und so tat ich mein Bestes, die Informationen aus diesen Unterlagen mit einer Vielzahl anderer Berichte und Quellen abzugleichen.

Ergänzt wurden diesen Recherchen durch zusätzliche Gespräche mit ehemaligen CIA-Mitarbeitern und US-Militärs, die in dem Jahrzehnt nach 9 /11 an der Jagd auf Bin Laden beteiligt waren, sowie durch mehrere Reisen nach Afghanistan, wo ich unter anderem Bin Ladens Spuren bei der Schlacht um Tora Bora nachspürte, bei der ihm im Winter 2001 mit knapper Not die Flucht gelang.

Mein Treffen mit Osama Bin Laden im Jahr 1997 fand außerhalb der afghanischen Stadt Dschalalabad in der Nähe der Berge von Tora Bora statt – ebender Region, in der er vier Jahre später und nur ein paar Monate nach den Anschlägen vom 11. September einen der spektakulärsten »Entfesselungszauber« der Geschichte inszenieren und sich damit zum Ziel einer der intensivsten und kostspieligsten Menschenjagden aller Zeit machen sollte. So war es vielleicht nicht unpassend, dass ein Jahrzehnt später, in der mondlosen Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2011, Bin Ladens Tag der Abrechnung damit seinen Anfang nahm, dass auf dem Dschalalabad Airfield mehrere US-Hubschrauber mit Ziel Pakistan abhoben. Während die Hubschrauber an Höhe gewannen, konnten die Navy SEALs an Bord durch das verpixelte Grün ihrer Nachtsichtbrillen die Weißen Berge mit dem Höhlensystem von Tora Bora sehen, die knapp 50 Kilometer südlich der Stadt bis 4250 Meter in den Himmel ragen: den letzten Ort, an dem anno 2001 eine kleine Einheit amerikanischer Special Operations Forces Bin Laden zu Gesicht bekommen hatte. Dieses Mal, schworen sich die Soldaten, würde Bin Laden ihnen nicht entwischen.

PrologEine komfortable Zuflucht

ES WAR DAS perfekte Versteck.

Man muss nur die Augen ein bisschen zusammenkneifen, und die hübschen Häuser, die sich an die grünen Flanken der Hügel und Berge in der Umgebung von Abbottabad schmiegen, könnten auch in der Schweiz oder vielleicht in Bayern stehen. Die 500 000-Einwohner-Stadt liegt in der pakistanischen Nordwestprovinz auf 1250 Metern Höhe in den Ausläufern des Himalaja, die zur chinesischen Grenze beständig ansteigen. Gegründet wurde die Stadt 1853 von James Abbott, einem britischen Major, der als Randfigur in dem großen Kampf der Briten und Russen um die Vorherrschaft in Zentralasien teilnahm. Der Major wurde – nicht gerade die Norm für einen Verwalter im britischen Indien – von den Einwohnern Abbottabads geliebt.1 Er selbst verfasste anlässlich seiner Rückkehr nach England ein wiewohl unbeholfenes, so doch tief empfundenes Gedicht auf die Stadt:

Ich erinnere mich an den Tag, als ich erstmals hierher kamund den süßen Duft von Abbottabad vernahm …Der Abschied von dir macht das Herz mir schwer,dich vergessen werd’ gewiss ich nimmermehr.2

Zu den Erinnerungsstücken an die koloniale Vergangenheit der Stadt gehören die anglikanische St.-Lukas-Kirche, die aussieht, als hätte man sie per Flugzeug direkt aus Sussex hierher verpflanzt, und die Ensembles niedriger Gebäude aus dem 19. Jahrhundert entlang der Hauptstraßen, in denen einst die Verwalter des britischen Empire logierten.

Heute gilt Abbottabad als »Stadt der Schulen« und beherbergt neben einer ganzen Reihe erstklassiger Vorbereitungsschulen auch die führende pakistanische Militärakademie.3 2008 waren hier Soldaten der U.S. Special Forces stationiert, die bei der Ausbildung von Rekruten mitwirkten.4

Mit ihren vergleichsweise kühlen Sommern und der vernachlässigbaren Kriminalitätsrate hat die Stadt nicht nur viele pensionierte Armeeoffiziere und Beamte angelockt, sondern auch etliche Pakistani, die als Gastarbeiter in den Golfstaaten zu Wohlstand gekommen sind. Die Hochsaison für Urlauber beginnt im Juni, wenn aus dem heißen Tiefland scharenweise ganze Familien zur Abkühlung nach Abbottabad mit seinen sanften, von den Bergen herabwehenden Brisen strömen.5 Auch abgesehen davon, dass die Golfspieler unter den Gästen hier ihrem Hobby auf einem der besten Golfplätze des Landes frönen können, kommt man sich in Abbottabad vor wie in einem Country Club – ganz anders als in den typischen rastlosen, überfüllten und smoggeplagten pakistanischen Städten.

Auch wenn Abbottabad im Ausland relativ unbekannt ist, sind Ausländer hier kein ungewöhnlicher Anblick. Abenteuertouristen aus dem Westen, die auf dem legendären Karakorum Highway unterwegs sind, der sich durch die Stadt windet, bevor er in nördliche Richtung ins knapp 500 Kilometer entfernte China führt, machen hier gelegentlich halt, um sich mit Campingzubehör einzudecken oder sich eine Pause in einer Eisdiele zu gönnen.6 Und nicht wenige reiche Afghanen, die vor der Instabilität in ihrem Land geflohen sind, haben hier große, von Mauern umgebene Anwesen errichtet, in denen sie ihre Frauen verbergen.7

Es war sicher die friedliche Umgebung, die Osama Bin Laden ein halbes Jahrzehnt nach seinem großen Sieg am 11. September 2001 Abbottabad als Zufluchtsort wählen ließ. Die Stadt war einer der letzten Orte in Pakistan, an denen man ihn vermuten würde – weit genug entfernt von den Stammesgebieten des Landes, wo nahezu jedermann seine Basis vermutete und man nach ihm suchte, aber auch nicht so weit von ihnen entfernt, als dass er nicht relativ problemlos per Kurier mit seinen wichtigsten Anführern kommunizieren konnte, von denen sich viele in den Stammesgebieten verbargen. Außerdem war die Stadt nicht allzu weit vom pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs und den dort aktiven militanten Gruppierungen entfernt, zu denen Bin Laden schon seit langem gute Beziehungen unterhielt, ein Netzwerk, das sich unter Umständen als sehr nützlich erweisen konnte.

Im Frühjahr 2011 lebte der Terrorchef schon im sechsten Jahr in seinem Versteck im Stadtteil Bilal Town. Das Viertel ist nicht gerade die beste Adresse, aber mit seinen weißen, mit Säulenvorbauten geschmückten Villen und den kleinen Obst- und Gemüsegeschäften bietet es zweifelsohne ein angenehmes Umfeld.

Sieben Jahre zuvor hatte der Mann, dem Bin Laden sein Leben anvertraut hatte, ein Mann, der innerhalb von al-Qaida unter dem Decknamen Abu Ahmed al-Kuwaiti – wörtlich: »der Kuwaiter, der der Vater von Ahmed ist« – bekannt war, sich darangemacht, am Rand von Bilal Town nach und nach Land zu erwerben. In vier auf die Jahre 2004 und 2005 verteilten Transaktionen kaufte er mehrere kleine Ackergrundstücke, für die er insgesamt rund 50 000 Dollar bezahlte.8 Die meisten Grundstücke erwarb er von einem lokalen Arzt namens Qazi Mahfooz ul-Haq, der den Kuwaiter als einen »sehr einfachen, zurückhaltenden und bescheidenen Mann« beschreibt, der Paschtu sprach, ein traditionelles paschtunisches Gewand trug und vorgab, die Grundstücke für einen Onkel zu kaufen.9

Der Kuwaiter beauftragte einen Architekten von Modern Associates, einem örtlichen, in Familienbesitz befindlichen Architekturbüro, eine Wohnanlage mit Platz für eine Familie mit zwölf oder mehr Mitgliedern zu entwerfen. Die Vorgaben für das Gebäude waren nicht ungewöhnlich für die Region: zwei Geschosse mit je vier Schlafzimmern, davon jedes mit einem eigenen Badezimmer. »Einer meiner Studenten hätte den Entwurf anfertigen können«, erinnert sich Junaid Younis, der Eigentümer von Modern Associates. Das Architekturbüro reichte die Pläne für das Haus beim städtischen Bauamt ein, das die Genehmigung denn auch problemlos gewährte.10

Irgendwann 2005 wuchs auf dem vormals offenen Land, das der Kuwaiter gekauft hatte, Bin Ladens künftiger Wohnsitz in die Höhe. Nachbarn schätzen die Baukosten für den weitläufigen, 40 Ar umfassenden Komplex auf einen niedrigen Hunderttausenddollarbetrag.11 Ohne Baugenehmigung wurde dann dem Gebäude noch ein drittes Geschoss aufgesetzt,12 kein unübliches Vorgehen für eine Gegend, in der das Entrichten von Grundsteuern gemeinhin als Zeichen mangelnder Intelligenz gilt. Aber dass die Aufstockung zumindest den Behörden gegenüber verheimlicht wurde, hatte auch einen triftigeren Grund: Das auf den Plänen nicht vorhandene Stockwerk war für die ausschließliche Nutzung durch Osama Bin Laden und seine neueste und jüngste Frau vorgesehen, die temperamentvolle Jemeniterin Amal.13

Dieses dritte Geschoss unterschied sich vom Grundriss her etwas von den anderen Stockwerken. So gab es nur Fenster zu einer Seite hin, und diese Fenster waren von außen her undurchsichtig. Bei vier der insgesamt fünf Fenster handelte es sich genau genommen um schmale, deutlich über Augenhöhe eingefügte Schlitze. Eine winzige Dachterrasse war von einer 2,15 Meter hohen Mauer umgeben, ausreichend also, um auch jemanden vor neugierigen Blicken zu schützen, der wie Bin Laden 1,93 Meter groß war.

Bin Laden, der für gewöhnlich ein helles Gewand, eine dunkle Weste und eine Gebetsmütze trug, wagte sich in den über fünf Jahren, die er in dem Haus verbrachte, nur selten aus dem zweiten oder ersten Stock hinaus ins Freie.14 Wenn doch, dann nur, um in dem kleinen Küchengarten des Komplexes ein paar Schritte zu gehen.15 Eine eigens über den Garten gespannte Plane sollte selbst diese Spaziergänge vor den Kameras der alles sehenden amerikanischen Spionagesatelliten geheim halten, die auch am Himmel über Abbottabad ihre Bahnen zogen.16

Einem Mann wie Bin Laden, der das Leben draußen in der Natur liebte und gerne damit prahlte, dass er 60 Kilometer am Stück auf dem Rücken eines Pferdes reiten könne, ohne auch nur eine einzige Pause einzulegen, einem Mann, der mit seinen Söhnen regelmäßig anstrengende Märsche über mehr als zwölf Stunden durch die afghanischen Berge unternommen hatte, muss das sehr einengend vorgekommen sein.17 Nicht zu vergessen, Bin Laden war auch ein leidenschaftlicher Fußball- und ein recht guter Volleyballspieler.18 Vor dem Sturz der Taliban hatte es ihm immer großes Vergnügen bereitet, mit seinen diversen Frauen und Kindern Ausflüge in die weiten Wüsten im Süden Afghanistans zu unternehmen, um ihnen das Schießen beizubringen und sie für das Leben auf der Flucht abzuhärten, von dem er fest überzeugt war, dass es eines Tages ihr gemeinsames Los sein würde.

Bin Laden lebte in Abbottabad in einem von ihm selbst errichteten Gefängnis. Aber dieses Leben hatte durchaus Vorteile. Zum einen war er weit weg von den Zielgebieten der amerikanischen Drohnen, die in den rund 300 Kilometer weiter westlich gelegenen pakistanischen Stammesgebieten viele seiner einstmaligen Kampfgefährten, die Creme von al-Qaida, ins Jenseits beförderten. Er versteckte sich auch nicht in irgendeiner muffigen Höhle, wie es viele »Ungläubige« sich gerne vorstellten. Und er litt nicht, wie in den westlichen Medien immer wieder berichtet wurde, unter einem auszehrenden Nierenleiden.19 Tatsächlich war er dafür, dass er auf Mitte 50 zuging, gut in Form, auch wenn er ein bisschen ergraute und behäbiger wurde. Vor allem aber war für den familiensinnigen Bin Laden wichtig, dass drei seiner Frauen und ein Dutzend Kinder und Enkelkinder bei ihm lebten.

Bin Ladens erste Ehefrau, seine groß gewachsene und hübsche syrische Cousine Najwa, war nicht darunter.20 Die beiden hatten 1974 geheiratet, als er 17 und sie 15 war, und sie hatte ihn voller Ergebenheit auf seinem Weg in den Dschihad begleitet, der ihn in den Achtzigerjahren nach Pakistan und Afghanistan, dann in den Sudan und Ende der Neunzigerjahre zurück nach Afghanistan führte. Doch nachdem sie fünf Jahre im harschen, von den Taliban beherrschten Afghanistan ausgehalten hatte, verlangte Najwa im Sommer 2001 immer nachdrücklicher, nach Hause zurückkehren und ihre Familie in Syrien besuchen zu dürfen. Immerhin hatte sie Bin Laden elf Kinder und fast drei Jahrzehnte ihres Lebens geschenkt, die sie zum Großteil mit ihm im Exil verbracht hatte, und schließlich gab er ihrem Drängen nach.21 Allerdings erlaubte er ihr, nur drei ihrer noch unverheirateten Kinder mit nach Syrien zu nehmen; die elfjährige Iman und der sieben Jahre alte Ladin mussten bei ihm bleiben.22

Bin Laden war der unumschränkte Monarch in seinem Haushalt, und Najwa hatte keinerlei Möglichkeit, seine Entscheidung anzufechten. Als sie aus Afghanistan abreiste, sagte Bin Laden, der womöglich ahnte, dass er sie nicht wiedersehen würde, zu ihr: »Ich werde mich nicht von dir scheiden lassen, Najwa. Auch wenn du hören solltest, dass ich mich von dir habe scheiden lassen, es wird nicht wahr sein.«23

Najwa verließ Afghanistan am 9. September 2001, am selben Tag, als Bin Ladens Männer Ahmed Schah Massud ermordeten, den Anführer der wenigen afghanischen Gruppen, die zu der Zeit noch gegen die Taliban kämpften, und nur 48 Stunden vor den Angriffen der al-Qaida auf Washington und New York.24 Vielleicht wusste Bin Laden, dass die sanfte Najwa, die ihn geheiratet hatte, lange bevor er sein Leben dem Heiligen Krieg und den damit verbundenen Entsagungen widmete, mit den Auswirkungen der Anschläge auf Amerika auf ihr Leben nicht zurechtkommen würde.

Dennoch, ein Jahrzehnt nach 9 /11 konnte sich Bin Laden immerhin der Tatsache erfreuen, dass seine drei anderen Frauen mit ihm in seinem Versteck in Abbottabad lebten. Vom Alter her reichten sie von der 29 Jahre alten Amal bis zur 62 Jahre alten Khairiah Sabar, die im Spätsommer 2010 nach neunjähriger Abwesenheit höchst unerwartet und gesund und munter in Abbottabad aufgetaucht war.

Bin Laden hatte Khairiah 1985 geheiratet. Damals war er 28 und sie 35, in Saudi-Arabien ein extrem hohes Alter für eine Braut. Die Entscheidung, Khairiah zu heiraten, traf Bin Laden aus religiösen Motiven heraus.25 Er glaubte, Allah würde es gutheißen, wenn er eine alte Jungfer heiratete. Sollte er mit ihr Kinder bekommen, würde das nämlich die Zahl der Muslime auf der Welt erhöhen. Vor ihrer Ehe hatte sich Khairiah nach der Promotion an der Universität als Lehrerin für taubstumme Kinder so etwas wie eine unabhängige Existenz aufgebaut. Khairiah, die einer wohlhabenden und sehr angesehenen Familie entstammte, die ihren Stammbaum bis auf den Propheten zurückführt, hatte nur deshalb die Stellung als Bin Ladens Zweitfrau akzeptiert, weil sie mit einem Mann verheiratet sein wollte, den sie für einen wahrhaft heiligen Krieger hielt – Mitte der Achtzigerjahre hatten sich Bin Ladens Heldentaten im Kampf gegen die russischen Besatzer Afghanistans längst bis nach Saudi-Arabien herumgesprochen.26 Vier Jahre nach ihrer Hochzeit bekamen die beiden einen Sohn, Hamza, und seit dieser Zeit wurde Khairiah Umm Hamza, »Mutter des Hamza«, genannt.27

Als das Talibanregime im Herbst 2001 in sich zusammenbrach, floh Khairiah zusammen mit ihrem geliebten Hamza und mehreren anderen Kindern Bin Ladens von seinen anderen Frauen über die Grenze in den Iran.28 In den folgenden Jahren lebten sie unter einer Art Hausarrest in Teheran. Sie führten ein angenehmes Leben, unternahmen Shoppingtouren, die Kinder hatten Playstations, es gab Swimmingpools.29 Der Käfig, in dem sie lebten, mochte golden sein, aber es war ein Käfig. Höchstwahrscheinlich betrachtete das iranische Regime Bin Ladens Frau und seine Kinder als wertvolle Verhandlungsmasse, sollte es irgendwann zu einem Deal mit den Vereinigten Staaten kommen.

Als Al-Qaida-Angehörige Ende 2008 den iranischen Diplomaten Heshmatollah Attarzadeh-Niyaki unweit seines Hauses in der westpakistanischen Stadt Peschawar entführten, hatte die iranische Führung die Hoffnung auf eine Aussöhnung mit den Vereinigten Staaten schon längst aufgegeben.30 Nach über einem Jahr in Geiselhaft entließen die Entführer im Frühjahr 2010 Attarzadeh-Niyaki. Dies geschah ohne großes Aufheben und war wohl Teil eines Deals, der Khairiah und Bin Ladens Kindern die Ausreise aus dem Iran ermöglichte.31

Irgendwann im glühend heißen Sommer 2010 gelang es Khairiah, inzwischen über 60, von Teheran nach Nordwasiristan zu reisen, eine abgelegene Stammesregion in Pakistan gut 2300 Kilometer östlich der iranischen Hauptstadt, eine Reise, die sie über schroffe Gebirgszüge und durch einige der lebensfeindlichsten Wüsten der Erde führte.32 Von dort aus reiste sie weiter nach Abbottabad, um sich nach fast einem Jahrzehnt wieder mit ihrem Mann zu vereinen. Nur ein Schmerz blieb ihr, dass ihr einziges Kind, Hamza, der mit ihr den Iran verlassen hatte, in den pakistanischen Stammesregionen geblieben war, wo so viele hochrangige Al-Qaida-Führer lebten.33

Die nächste Frau in der Rangfolge im Anwesen Bin Ladens war Siham Sabar, die ebenso alt war wie ihr 54 Jahre alter Mann und die wie Khairiah, seine älteste Frau, einer hoch angesehenen saudischen Familie entstammte, die ihre Abstammung bis auf den Propheten zurückführt. Für Bin Laden, der – zumindest in seiner Vorstellung – versuchte, sein Leben nach dem des Propheten auszurichten, besaß diese direkte Verbindung zum Gründer des Islam ohne Zweifel eine ganz besondere Bedeutung. Zusammen mit seinen Eltern wohnte in dem Anwesen in Abbottabad auch Sihams erster Sohn, der 23 Jahre alte Chalid.34

Siham hatte an der Abdul-Asis-Universität in der heiligen Stadt Medina Religionswissenschaft studiert, als Bin Laden ihr Mitte der Achtzigerjahre erstmals einen Heiratsantrag machte.35 Sie bestand darauf, zuerst ihr Studium abzuschließen, bevor sie seinem Antrag stattgab, eine Bedingung, die er nur widerstrebend akzeptierte. Ihre Eltern waren gegen die Verbindung, da Bin Laden bereits andere Frauen hatte, was Siham aber nicht schreckte, die fest an Bin Laden und sein Dschihad-Projekt gegen die Sowjets in Afghanistan glaubte.36 Zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung war Bin Laden schon dabei, sich in Saudi-Arabien einen Ruf als dschihadistischer Kriegsheld zu erwerben. Den gesamten Goldschmuck, den Bin Laden ihr traditionsgemäß als Mitgift schenkte, spendete sie dem afghanischen Dschihad.37

Nach ihrem Magister in Religionswissenschaft, den sie in Medina erworben hatte, setzte Siham nach der Heirat mit Bin Laden ihr Studium fort. Mitte der Neunzigerjahre promovierte sie im Sudan in koranischer Sprache und redigierte als Dichterin und Intellektuelle häufig Bin Ladens Schriften.38 Weil er ihre Promotion nur widerwillig akzeptierte, widmete sie ihre Doktorarbeit nicht ihm, sondern ihren Kindern. Ihr Bruder sagte, sie sei wegen ihrer übergroßen Liebe an Bin Laden »gefesselt« gewesen.39

Der Platz für die nach islamischem Recht erlaubte vierte Ehefrau war wieder frei geworden, als nach Bin Ladens Umzug in den Sudan Mitte der Neunzigerjahre eine seiner älteren Frauen, eine Saudi-Araberin namens Khadija, ihn in der sudanesischen Hauptstadt Khartum zur Rede stellte: Sie habe nichts übrig für ein Leben des Dschihad in dem von Armut geplagten Sudan, dem er, der Sohn eines saudischen Milliardärs, sich nun verschrieben habe, und sie verlangte die Scheidung. Bin Laden ging darauf ein und begann über die Eigenschaften nachzudenken, auf die er bei einer neuen Frau besonderen Wert legen würde.

Nach Aussagen des jemenitischen Geistlichen, der die Brautschau übernahm, »sollte sie religiös sein … und jung genug, um keine Eifersucht auf die anderen Frauen … zu empfinden«.40 Er denke da, sagte der Geistliche zu Bin Laden, an eine junge Frau, die bei ihm Religionsunterricht gehabt habe und sehr fromm sei. Außerdem komme sie aus einer bescheidenen Familie und könne mit den Entbehrungen eines Lebens an der Seite des Führers von al-Qaida zurechtkommen. Vor allem aber sei sie »aufrichtig davon überzeugt, dass ihr als pflichtbewusster und gehorsamer Frau ein Platz im Paradies gewiss ist«.41 Ihr Name war Amal Ahmed al-Sadah.

1999 schickte Bin Laden einen Abgesandten, um bei Amals Mutter in Ibb vorzusprechen, einem kleinen Provinzstädtchen gut 150 Kilometer südlich der jemenitischen Hauptstadt. Anfangs wurde der Heiratsantrag im Namen eines Unternehmers aus der jemenitischen Provinz Hadramaut ausgesprochen, was ein Körnchen Wahrheit enthielt, da Osamas Familie ein großer Baukonzern im Nahen Osten gehört und sie ursprünglich aus Hadramaut stammt.42 Doch im Lauf der Verhandlungen ließ der Abgesandte durchblicken, dass es sich bei dem Brautwerber in Wahrheit um Osama Bin Laden handelte, was aber kein sonderliches Aufsehen erregte, da al-Qaida zu diesem Zeitpunkt noch nicht das mit Sprengstoff beladene Schlauchboot mit dem Auftrag losgeschickt hatte, den im Hafen von Aden vor Anker liegenden Zerstörer USS Cole zu versenken. Das geschah erst ein Jahr später.

Amal, eine hübsche, ein wenig blasse, aber fröhliche junge Frau mit einem widerborstigen schwarzen Haarschopf, die nicht allzu viel an Bildung mit auf den Weg bekommen hatte, willigte schließlich mit den Worten »Gott hat seinen Segen gegeben« in die Eheschließung mit dem geheimnisvollen Osama Bin Laden ein.43 Bin Laden schickte einen seiner vertrauenswürdigsten Leibwächter aus Afghanistan mit einer Mitgift in Höhe von 5000 US-Dollar zur Braut, Geld, das unter anderem dazu verwendet wurde, Goldschmuck und festliche Gewänder für Amal zu kaufen.44 »Wir willigten in die Eheschließung ein«, erzählte Amals Cousin später, »weil wir wussten, dass Bin Laden ein guter Muslim und sehr fromm war. Aber viel mehr wussten wir nicht.« Nur dass die Mitgift »sehr bescheiden« war.45 (Was niemanden, der sich mit dem Al-Qaida-Führer schon intensiver befasst hat, sonderlich überraschen dürfte. Wie es bei Kindern reicher Familien manchmal der Fall ist, war Bin Laden berüchtigt für seinen Geiz.)

2001 trat die aufgeregte junge Braut in Begleitung mehrerer männlicher Verwandten die lange Reise vom Jemen nach Kandahar im Süden Afghanistans an, wo Bin Laden damals lebte. Bin Laden lud zu einer gut besuchten – und natürlich ausschließlich männlichen Gästen vorbehaltenen – Hochzeitsfeier ein, auf der Gedichte rezitiert, Lämmer für die Festgesellschaft geschlachtet und salvenweise »Freudenschüsse« abgefeuert wurden. Für die Frauen fand eine eigene, bescheidenere Feier statt.46

Anfangs waren Bin Ladens andere Frauen erbost wegen seiner neuen, kaum 17 Jahre alten Gespielin, nicht zuletzt, weil er der Familie gegenüber offenbar behauptet hatte, Amal sei eine »reife« Frau von 30 Jahren und kenne den Koran in- und auswendig. Ob nun der jemenitische Geistliche, der die Verbindung arrangiert hatte, Bin Laden hinters Licht geführt oder ob Bin Laden seine anderen Frauen belogen hatte, ist unklar. Für Ersteres spricht, dass, auch wenn sich Bin Ladens Gefühle Amal gegenüber später ändern sollten, sein oberster Leibwächter aussagte, er habe in der ersten Zeit nach der Vermählung »seine vierte Frau wie einen Klotz am Bein empfunden«.47

Ungefähr ein Jahr vor den Anschlägen vom 11. September 2001 machte sich Amals Vater vom Jemen auf den Weg nach Afghanistan, um zu sehen, wie es seiner Tochter ging.48 Nachdem er in Pakistan hatte warten müssen, während Al-Qaida-Angehörige offenbar prüften, ob er beschattet wurde, folgte eine anstrengende Tour durch Afghanistan, an deren Ende er zu einem Haus in einem Höhlensystem – höchstwahrscheinlich in den Bergen von Tora Bora im Osten des Landes – geführt wurde, wo seine Tochter lebte. Am zweiten Tag seines Besuchs schließlich machte sein Schwiegersohn ihm die Aufwartung. Bin Laden, der eine Waffe trug, wirkte nervös und fürchtete offensichtlich, sein Schwiegervater könne ein Spion für wen auch immer sein.

Nachdem Bin Laden den Vater seiner vierten Frau mit Geschichten über die diversen Attentatsversuche, die er überlebt hatte, unterhalten hatte, dankte er ihm überschwänglich für die Erziehung, die er seiner Tochter hatte angedeihen lassen. »Ich möchte Ihnen für Ihre hervorragende Erziehung danken«, sagte er. »Eine Erziehung wie diese hatte ich nicht erwartet. Sie ist wie ich.«49 Während Bin Laden, der sich dieses Mal nicht knauserig gab, zu Ehren seines Schwiegervaters einen Bullen schlachten ließ, verkündete Amal, die inzwischen genau wusste, mit wem sie da verheiratet worden war, ihrem Vater, dass sie sich danach sehnte, als Märtyrerin an Bin Ladens Seite zu sterben.

Schon als Teenager hatte Amal einem ihrer Cousins anvertraut, sie wolle, wenn sie einmal erwachsen sei, »in die Geschichte eingehen«.50 »Deine Geschichte findet in der Küche statt«, hatte ihr Cousin entgegnet, was sie mit den Worten »Glaubst du etwa, die Geschichte sei den Männern vorbehalten?« quittiert hatte. Nun, mit Bin Laden als Ehemann, hatte sie in der Tat eine reelle Chance, sich in den Geschichtsbüchern zu verewigen, eine Chance, die sich ihr in dem abgelegenen Ort im ländlichen Jemen wohl niemals eröffnet hätte.

Bin Laden war 43, als er Amal heiratete, aber der Altersunterschied von 27 Jahren zwischen ihnen schien der Liebe, die sich zwischen ihnen entwickelte, nicht im Wege zu stehen. Safia, ihre Erstgeborene, kam ein Jahr vor 9 /11 zur Welt. Sie hätten, erzählte Bin Laden Freunden, ihre Tochter nach der Safia benannt, die im 7. Jahrhundert als Zeitgenossin des Propheten gelebt hatte und von der es hieß, sie habe einen Juden getötet.51 Er hoffe, sagte er, dass seine Tochter Safia eines Tages auch Juden töten werde. Nach Safia gebar ihm Amal weitere vier Kinder,52 zwei von ihnen während ihrer Zeit in Abbottabad.53

Dass er in Abbottabad seine Familie um sich hatte, war für Bin Laden, der Polygamie und Fortpflanzung als religiöse Pflichten betrachtete, eine Quelle großen Trostes. Gegenüber engen Freunden zitierte er gern einen dem Propheten zugeschriebenen Ausspruch: »Heiratet und mehrt eure Zahl, denn mit euch mehre Ich das Volk [der Muslime].«54 Anderen Freunden gegenüber scherzte er: »Ich verstehe nicht, warum sich manche Leute nur eine Frau nehmen. Wenn du vier Frauen hast, führst du immer das Leben eines Jungvermählten.«55 (Was im Übrigen der einzige belegbare Witz zu sein scheint, den Bin Laden je gemacht hat.)

Das Leben in dem Anwesen in Abbottabad war nicht unbedingt luxuriös, aber für Amal dürfte es sich kaum von dem Leben unterschieden haben, das sie bis zur ihrer Hochzeit im ländlichen Jemen geführt hatte. Der Fleischkonsum der über ein Dutzend Mitglieder der Bin-Laden-Familie sowie des Kuwaiters und seines Bruders und deren Familien wurde durch zwei Ziegen pro Woche gedeckt, die innerhalb des Anwesens geschlachtet wurden.56 Milch kam von den Kühen, die in Betonställen untergebracht waren, Eier von rund 100 in Käfigen gehaltenen Hühnern, ein Bienenstock lieferte Honig und im weitläufigen Küchengarten wurden verschiedene Gemüse gezogen. Ergänzt wurden diese Erzeugnisse durch vor Ort gekauftes Sasso-Olivenöl und Haferflocken in Kartons von Quaker Oats.57

Ein soziales Leben führten die Bewohner des Anwesens so gut wie gar nicht. Das Anwesen, das durch Felder abgetrennt separat von anderen Häusern stand, war nur über einen schmalen Feldweg erreichbar. Die über dreieinhalb Meter hohe Außenmauer, die mit Stacheldraht gekrönt und mit Überwachungskameras bespickt war, verlieh dem Anwesen das Aussehen eines Gefängnisses und lud nicht gerade dazu ein, einfach mal an das Tor zu klopfen. Wenn Nachbarskinder aus Versehen einen Kricketball über die Mauern schlugen, drückte man ihnen 50 Rupien (etwa 60 US-Cent) in die Hand und sagte, sie sollten sich einen neuen kaufen.58 Brachten sie doch einmal genug Mut auf, an das Haupttor des Anwesens zu klopfen, weil sie mit den vielen Kindern spielen wollten, die hinter den Mauern lebten, mussten sie zehn oder zwanzig Minuten klopfen, bevor jemand öffnete.59 Und wenn dann Kinder herauskamen, nannten sie niemals ihre Namen und betrugen sich auffällig fromm – so fromm, dass sie mitten im Spiel aufhörten, wenn von den umliegenden Moscheen der Gebetsruf erschallte.60

Zur Innenseite hin waren die Wände des Anwesens weder gestrichen, noch gab es – in Übereinstimmung mit Bin Ladens ultraorthodoxen Überzeugungen – irgendwelche Bilder. Es gab im Haus keine Klimaanlage und nur ein paar einfache Gasheizer – und das in einer Gegend, in der die Temperaturen im Sommer auf über 38° Celsius steigen und der Winter Schnee und Eis bringt. Mit durchschnittlich 50 US-Dollar pro Monat fielen die Strom- und Gasrechnungen für ein Gebäude dieser Größe und die rund 24 Menschen, die dort lebten, denn auch sehr bescheiden aus. Die Betten bestanden aus zusammengenagelten Brettern, und überhaupt erweckte alles den Eindruck, als würden die Bewohner des Anwesens auf einem zwar improvisierten, aber auf Dauer angelegten Zeltplatz leben.61

Doch eine enthaltsame Lebensführung war für Osama Bin Ladens Familie nichts Neues. Seit Jahrzehnten praktizierte der Al-Qaida-Führer die Kunst, möglichst autark und mit so wenig wie möglich zu überleben, und wies konsequent alle Annehmlichkeiten des modernen Lebens zurück. Als er mitsamt seiner Familie in den glühend heißen Sudan zog, verwehrte er zum Beispiel die Anschaffung einer Klimaanlage,62 und als sie später in die Wüstenei von Kandahar umsiedelten, gab es im dortigen Anwesen der Familie kein fließendes Wasser.63 Einem libyschen Al-Qaida-Angehörigen zufolge, der Bin Laden eine Zeit lang nahestand, schärfte der Terrorchef seinen Gefolgsleuten immer wieder ein: »Ihr solltet lernen, alles, was das moderne Leben bietet, aufzugeben, Dinge wie Elektrizität, Klimaanlagen, Kühlschränke, Benzin. Wenn ihr ein Leben in Luxus führt, wird es euch sehr schwerfallen, das alles zurückzulassen und zum Kämpfen in die Berge zu ziehen.«64

Mit Ausnahme eines der Söhne des Kuriers, der eine Medrese besuchte,65 ging keines der in dem Anwesen lebenden Kinder zur Schule.66 Stattdessen brachten ihnen die zwei ältesten Frauen Bin Ladens, die beide einen Universitätsabschluss besaßen, in einem Zimmer im ersten Stock des Hauptgebäudes die Feinheiten des Arabischen und des Koran nahe.67 Auf einer Kreidetafel ließen die beiden Frauen die Kinder regelmäßig ihr Wissen demonstrieren, und Bin Laden, der sich selbst für eine Art Poet hielt, unterrichtete die Kinder in Dichtkunst.68 Und fast jeden Tag rief der strikt auf Disziplin achtende Terrorchef seine Familie zu einem Vortrag darüber zusammen, wie die Kinder zu erziehen seien, erklärte die Ge- und Verbote und hielt zum Abschluss eine Predigt.69

Bin Laden hatte lange und intensiv darüber nachgedacht, wie ein polygames Leben am besten zu führen sei. Als Student an der Universität hatte er mit einem Freund lange Diskussionen darüber geführt, wie man ein Leben mit mehr als einer Frau einzurichten und dies vor allem auf eine gottesfürchtige, »islamische« Weise zu tun habe. Die beiden Freunde stimmten darin überein, dass sie niemals dem Weg folgen würden, den Bin Ladens Vater gewählt hatte und der darin bestand, sich immer wieder scheiden zu lassen und dann neu zu heiraten – und zwar so oft, dass er es am Ende auf 20 Frauen gebracht hatte. Der Freund erinnert sich noch, wie Bin Laden sagte, dass er nur die vom Islam sanktionierten vier Frauen heiraten und alle absolut gleich behandeln würde. »Man muss gerecht sein, man muss sie alle nach gleichem Recht behandeln, man muss seine Zeit aufteilen und jeder das geben, was für sie ausreichend ist«, stimmten die beiden überein.

Auch wenn Khairiah, Bin Ladens älteste Frau, kraft ihres Alters und ihrer gestrengen Art in der Hackordnung ganz oben stand, gab es zwischen seinen Frauen kaum Auseinandersetzungen.70 Alle waren die Ehe in dem Wissen eingegangen, dass es sich um eine polygame Beziehung handeln würde, etwas, was ihrem Glauben nach von Gott gutgeheißen wurde. Um ein harmonisches Miteinander zu ermöglichen – ob in den Achtzigern in Saudi-Arabien, Anfang der Neunziger im Sudan oder später in Afghanistan und schließlich in Abbottabad –, sorgte Bin Laden dafür, dass alle Frauen in seinem Haushalt einen eigenen Wohnbereich hatten.71 In Abbottabad hatte jede Frau ein eigenes Apartment mit separater Küche (und einem Dunstabzug, der aus einem über dem Herd umkehrt montierten Eimer bestand, von dem die Küchendünste durch ein provisorisches Rohrsystem nach draußen geleitet wurden).72 Der zweite Stock des Hauptgebäudes war Amals Reich, im Stock darunter wohnten seine beiden älteren Frauen.73

Für einen Mann, der ultraorthodoxe Ansichten über die gesellschaftliche Rolle von Frauen hegte, erwies Bin Laden seinen Frauen vergleichsweise viel Respekt und sagte ihnen, sie könnten ihn, sollte ihnen sein Leben des Heiligen Kriegs zu viel der Entbehrung aufbürden, verlassen, wozu er einen passenden Vers aus dem Koran zitierte: »Der Ehemann sollte die Frau entweder auf geziemende Weise behalten oder sie in Güte entlassen.«74 Und niemals erhob er seine Stimme im Zorn gegen seine Frauen,75 was möglicherweise mit daran lag, dass er als Einzelkind eine außergewöhnlich enge Beziehung zu seiner Mutter gehabt hatte.76 Auch später, als Erwachsener, verehrte er sie noch abgöttisch, küsste ihre Hände und Füße, wann immer er sie sah, und rief sie (als das noch möglich war) häufig an, um sich mit ihr zum Beispiel darüber zu unterhalten, was sie an diesem Tag koche.

Ein Hinweis darauf, wie der 54 Jahre alte Bin Laden es anstellte, jeder seiner Frauen das zu geben, »was ausreichend für sie ist«, könnte der Avena-Sirup – eine Art natürliches, aus wildem Hafer hergestelltes Viagra – liefern, der nach seinem Tod in dem Anwesen gefunden wurde.77 Da Bin Laden sich weigerte, Chemikalien gleich welcher Art zu schlucken, nahm er ausschließlich aus Kräutern hergestellte oder aus anderen natürlichen Quellen stammende Arzneimittel zu sich.78

Obwohl sie mit Bin Laden in dem Anwesen in Abbottabad wohnten, führten der Kuwaiter und sein Bruder mit ihren Frauen und Kindern ein Leben in bitterer Armut. Der Terrorchef zahlte dem Kurier und seinem Bruder rund 12 000 Rupien im Monat, etwas mehr als 100 US-Dollar, was nicht nur ein Zeichen für Bin Ladens gewohnte Knauserigkeit war, sondern auch dafür, dass al-Qaida nicht gerade im Geld schwamm.79 In Juweliergeschäften in Abbottabad und dem benachbarten Rawalpindi kaufte und verkaufte einer der Brüder gelegentlich Armreife und Ringe aus Gold. Insgesamt belief sich der Umfang dieser Geschäfte auf rund 1500 US-Dollar, was zweifelsohne dazu beitrug, mit dem auszukommen, was sie hatten.80

Der Kuwaiter war mit seiner Familie in einem bescheidenen einstöckigen Gebäude untergebracht, das von einer über zwei Meter hohen Mauer vom Haupthaus abgetrennt war. Mariam, die Frau des Kuwaiters, ging nur selten ins Haupthaus, es sei denn um zu putzen; nur ein Mal, im Frühjahr 2011, erhaschte sie dort einen Blick auf einen seltsamen, groß gewachsenen Mann, der Arabisch sprach.81 Ihr Mann hatte ihr schon Jahre zuvor erklärt, dass ein Fremder auf dem Anwesen lebe, und ihr eingeschärft, auf keinen Fall über ihn zu reden.82 Bin Laden verbarg sich sogar vor manchen der Menschen, die mit ihm in dem Versteck lebten.

Im Allerheiligsten im obersten Stockwerk vertrieb sich Bin Laden zusammen mit Amal die Tage. Dank der weiß getünchten Wände und der großen, auf die kleine, ummauerte Terrasse hinausgehenden Fenster war es in ihrem Schlafzimmer vergleichsweise hell, für einen Mann von Bin Ladens Größe aber war der Raum recht beengt. In dem winzigen Badezimmer waren die Wände grün gekachelt, nicht aber der Fußboden; neben einer rudimentären Toilette – nicht mehr als ein Loch im Boden, über dem man in die Hocke gehen musste, um sein Geschäft zu verrichten – gab es noch eine billige Plastikdusche. In diesem Badezimmer applizierte Bin Laden regelmäßig das »Just for Men«-Haarfärbemittel auf Haar und Bart, um nun, da er schon halbwegs die Fünfziger durchschritten hatte, ein etwas jüngeres Aussehen zu bewahren. An das Badezimmer schloss sich eine abstellkammergroße Küche an, und über den Flur lag Bin Ladens Arbeitszimmer, wo er seine Bücher in rohen Holzregalen aufbewahrte und an seinem Computer saß und schrieb.

Die beengten Wohnverhältnisse in Abbottabad erinnerten etwas an sein Refugium in den Bergen von Tora Bora, ein bescheidenes Lehmhaus, das er mit eigenen Händen erbaut und in dem er von Mitte 1996 bis Frühjahr 1997 gelebt hatte. Dort, in Tora Bora, rund drei Stunden Fahrt auf holperigen Straßen von der nächsten Stadt entfernt, hatte Bin Laden am glücklichsten gewirkt. Hier hatte er mit seinen engsten Gefolgsleuten Feldfrüchte angebaut, Brot gebacken und überhaupt ein sehr naturverbundenes Leben geführt. Vor allem aber hatte Bin Laden in Tora Bora frei durch die Berge streifen und die klare Gebirgsluft atmen können, was, wie er Besuchern erzählte, eine seiner größten Freuden war.

In Abbottabad dagegen konnte er das Haus kaum verlassen und hatte entsprechend viel Zeit totzuschlagen. Aller Wahrscheinlichkeit nach führte er auch hier die religiösen Praktiken aus seiner Jugendzeit fort, was bedeutete, dass er vor Anbruch der Dämmerung aufstand und sich sieben Mal am Tag zum Gebet auf den Boden kniete, zwei Mal mehr, als vom traditionellen Islam vorgeschrieben.83 Als Nachrichtenjunkie verfolgte er aufmerksam die Berichterstattung von al-Dschasira und auf BBC.84 In einem kahlen Raum im Erdgeschoss, im Winter zum Schutz gegen die Kälte in eine Decke gehüllt, saß er vor einem billigen Fernsehgerät und betrachtete alte Videoaufnahmen von sich.85 Hier sah er sich auch die Pressekonferenzen des verhassten US-Präsidenten Barack Obama an, der von der Al-Qaida-Führungsriege ebenso verachtet wurde wie zuvor schon Präsident George W. Bush. Bin Ladens oberster Stellvertreter, Aiman al-Sawahiri, nannte den US-Präsidenten einmal öffentlich einen »Hausneger«, womit er wohl andeuten wollte, dass Obama nichts weiter als ein Sklave sei, der von seinen weißen Herren nur etwas besser behandelt wird als die Sklaven, die draußen auf den Feldern schuften.86

Einen Großteil der ihm aufgezwungenen Freizeit verbrachte Bin Laden mit der Abfassung schriftlicher Abhandlungen zu einer Vielzahl von Themen, hauptsächlich zu Palästina, aber auch zu Umwelt- und globalen Wirtschaftsfragen.87 Und er verschlang Bücher, die sich kritisch mit der amerikanischen Außenpolitik auseinandersetzten, Bücher wie Rogue State: A Guide to the World’s Only Superpower von William Blum. Besonders angetan war er von Imperial Hubris: Why the West is Losing the War on Terror, einer ätzenden Kritik an Bushs Außenpolitik, verfasst von, Ironie der Geschichte, Michael Scheuer, der die Bin-Laden-Einheit der CIA geleitet und viele Jahre darauf verwendet hatte, Geheimdienstinformationen mit dem Ziel zusammenzutragen, den Al-Qaida-Chef aufzuspüren und zu eliminieren.88 Bin Laden war schon als Jugendlicher besessen gewesen von der Palästinafrage, und so fanden sich auf seiner Leseliste auch israelkritische Bücher aus der Feder des amerikanischen Ex-Präsidenten Jimmy Carter und der Politikwissenschaftler Stephen Walt und John Mearsheimer.

So eingeengt das Leben in Abbottabad auch gewesen sein musste, alles in allem war es doch eine komfortable Zuflucht für den Terrorchef. Hier konnte er sich ungestört seinen Leidenschaften widmen – Lesen und die Nachrichten verfolgen –, und natürlich achtete er weiterhin auf die strikte Einhaltung der Prinzipien des Islam. Er genoss die Fürsorge von drei seiner Frauen und war von vielen seiner innig geliebten Kinder umgeben. Kein schlechtes Leben für den meistgesuchten Mann der Welt. Ganz und gar kein schlechtes Leben.

19 /11 und danach

BIN LADEN WAR BESESSEN von der Vorstellung, die Vereinigten Staaten seien schwach. In den Jahren vor dem 11. September 2001 beschwor er gegenüber seinen Anhängern oft diese Schwäche und führte als Beleg dafür Beispiele an wie den Rückzug der US-Truppen aus Vietnam in den Siebzigerjahren und zwei Jahrzehnte später den Rückzug aus Somalia nach dem »Black Hawk Down«-Vorfall, bei dem 18 amerikanische Soldaten ihr Leben verloren. Gerne erzählte der Terrorchef auch von den Kämpfern, die al-Qaida 1993 als Ausbilder zu den Clans nach Somalia entsendet hatte, die gegen die im Rahmen der UN-Hilfsmission zur Ernährung der hungernden Somalier im Land stationierten amerikanischen Truppen kämpften. »Unsere Leute waren entsetzt von der geringen Moral des amerikanischen Soldaten und sahen, dass der amerikanische Soldat nur ein Papiertiger ist«, frohlockte Bin Laden,1 und seine Schüler stimmten dem Mann, den sie wie einen Vater liebten, begeistert zu.2

»Die Amerikaner«, versicherte Bin Laden seinen Männern, »lieben das Leben, so wie wir den Tod lieben.« Nach der Niederlage, die die Dschihad-Kämpfer den Sowjets in Afghanistan zugefügt hatten, hätten die Amerikaner viel zu viel Angst, auch nur einen Stiefel auf afghanischen Boden zu setzen!3 Amerika sei, predigte Bin Laden seinen Anhängern, genauso schwach wie die frühere Sowjetunion.4 Wer auch immer aus seinem inneren Zirkel Zweifel an dieser Einschätzung hegen mochte, behielt das für sich.

Als die Pläne für die 9 /11-Attacken konkretere Formen annahmen, äußerten einige hochrangige Al-Qaida-Funktionäre die Sorge, die Anschläge könnten den Zorn des Talibanführers Mullah Mohammed Omar erregen, dem Bin Laden, zumindest formell, ja einen Treueid geleistet hatte.5 In den fünf Jahren, die Bin Laden zu der Zeit schon als Gast der Taliban in Afghanistan weilte, hatten Mullah Omar und andere hochrangige Taliban klargemacht, dass al-Qaida Afghanistan nicht als Basis für einen eigenen Krieg gegen Amerika benutzen durfte. Bin Laden glaubte, sich gegen jeden möglichen Unwillen, den die Anschläge auf Amerika bei den Taliban auslösen könnten, immunisieren zu können, indem er ihnen einen höchst begehrten Kopf auf dem Silbertablett präsentierte: den von Ahmed Schah Massud, dem legendären Führer dessen, was vom Widerstand gegen die Taliban in Afghanistan noch übrig geblieben war.6 Für das Attentat auf Massud hatte Bin Laden zwei belgisch-tunesische Al-Qaida-Selbstmordattentäter ausgewählt, die, als Fernsehjournalisten getarnt, vorgaben, ein Interview mit dem Führer der Nordallianz führen zu wollen.7

Im Sommer 2001, während die Massud-Attentäter auf ihren Anschlag vorbereitet wurden, legten die Al-Qaida-Führer letzte Hand an ihre Pläne für die spektakulären Angriffe auf die amerikanische Ostküste. Von Hamburg aus schickte Ramzi Binalshibh, eine der Schlüsselfiguren der dortigen Terrorzelle, am Donnerstag, dem 6. September, eine Nachricht an Bin Laden, in der er ihm mitteilte, dass die Anschläge auf Washington und New York am folgenden Dienstag erfolgen würden.8 Und am 9. September vernahm Bin Laden die willkommene Nachricht, dass seine Attentäter Massud erledigt hatten.9 Damit war die Bühne bereit für die Aktion, von der Bin Laden überzeugt war, dass sie sein größter Triumph werden würde: für einen spektakulären Schlag gegen das Land, in dem er den größten Feind des Islam sah, weil es die gottlosen Diktaturen und Monarchien im Nahen Osten und, natürlich, Israel am Leben erhielt. Mit einem einzigen, gewaltigen Schlag gegen die Machtzentren Amerikas würde er, Bin Laden, die Vereinigten Staaten dazu bewegen, sich aus dem Nahen Osten zurückzuziehen, woraufhin Israel – und die arabischen Autokratien – hinweggefegt und durch Regime nach dem Vorbild der Taliban ersetzt würden. Das war Bin Ladens Traum und inbrünstige Hoffnung.10

VON DEM TAG AN, an dem Präsident George W. Bush am 20. Januar 2001 als Präsident der Vereinigten Staaten eingeschworen wurde, trug der CIA-Beamte Michael Morell, ein bohnenstangendürrer Mann Anfang 40, dem Präsidenten außer sonntags jeden Morgen in knappen und klaren Worten vor, was nach Überzeugung der diversen US-Geheimdienste aktuell die wichtigsten nationalen Sicherheitsthemen waren.11 Am 6. August, acht Monate nach Bushs Amtsantritt, trat Morell vor den Präsidenten, der in Texas Urlaub machte, und berichtete ihm, dass Bin Laden nach Einschätzung der CIA entschlossen war, innerhalb der Vereinigten Staaten zuzuschlagen.12 Das Briefing stand ganz unter dem Eindruck der Tatsache, dass sich kurz zuvor ein zum Al-Qaida-Netzwerk gerechneter Algerier namens Ahmed Ressam schuldig bekannt hatte, Mitte Dezember 1999 einen Bombenanschlag auf den internationalen Flughafen von Los Angeles geplant zu haben.13 In dem Briefing vom 6. August erwähnte Morell, dass dem FBI Informationen vorlagen, die auf »Vorbereitungen auf Flugzeugentführungen oder Angriffe anderer Art« hindeuteten.14 Unbeeindruckt von dem Briefing setzte Bush seinen Urlaub – den drittlängsten Urlaub eines Präsidenten seit drei Jahrzehnten – fort.15

Am Morgen des 11. September 2001 war Morell in Sarasota, Florida, beim Präsidenten und trug ihm wie üblich den geheimdienstlichen Lagebericht vor, der an diesem Tag keinerlei Besonderheiten enthielt.16 Anschließend fuhr Morell zusammen mit Präsidentenberater Karl Rove und Pressesprecher Ari Fleischer in der Wagenkolonne des Präsidenten zum Besuch der örtlichen Grundschule. Auf der Fahrt fragte Fleischer Morell, ob er irgendetwas von einem Flugzeug gehört habe, das ins World Trade Center gestürzt sei.17 Das hatte Morell nicht, aber er setzte sich mit dem Operations Center, der Einsatzzentrale der CIA, in Verbindung. Diese bestätigte die Nachricht und räumte auch schnell mit der zu dem Zeitpunkt noch verbreiteten Annahme auf, es habe sich um ein vom Kurs abgekommenes Kleinflugzeug gehandelt; es sei vielmehr ein großes Verkehrsflugzeug gewesen.

Als dann im Fernsehen die Bilder von dem zweiten Flugzeug zu sehen waren, das in das World Trade Center flog, wurde Bush, der gerade einer Gruppe von Zweitklässlern eine Geschichte über eine Ziege vorlas, von der Schule zur Air Force One geschafft, die kurz darauf mit Ziel Barksdale Air Force Base in der Nähe von Shreveport, Louisiana, abhob. Fleischer, der den ganzen Tag über sorgfältig Notizen machte, vernahm den Namen Osama Bin Laden zum ersten Mal um 10.41 Uhr, als Stabschef Andy Card an Bord der Air Force One zu Bush sagte: »Das riecht mir ganz nach Osama Bin Laden.«18 Zu dem Zeitpunkt waren die beiden Türme des World Trade Center bereits eingestürzt und hatte ein weiteres entführtes Flugzeug das Pentagon getroffen. Bushs Blut kochte, und er schwor sich: »Wir werden herausfinden, wer das getan hat, und sie fertigmachen.«19

AM SELBEN MORGEN sagte Bin Laden zu Ali al-Bahlul, einem Leibwächter, der zugleich als sein Medienexperte fungierte, dass es »heute sehr wichtig ist, die Nachrichten zu sehen«.20 Bahlul beeilte sich, dem Wunsch seines Bosses nachzukommen; Bin Laden herrschte über al-Qaida ebenso, wie er das über seinen eigenen Haushalt tat: als von niemandem in Frage gestellter absoluter Monarch. Bin Laden war, wie fast immer, von seinen vertrauenswürdigsten Leibwächtern umgeben, hauptsächlich Jemeniten und Saudis. Wie die anderen Mitglieder von al-Qaida hatten auch die Leibwächter in einem religiösen Eid persönlichen Gehorsam gegenüber Bin Laden und nicht etwa gegenüber seiner Organisation geschworen. (So wie diejenigen, die im Dritten Reich der NSDAP beigetreten waren, Adolf Hitler und nicht dem Nationalsozialismus die Treue geschworen hatten.)

Bin Laden hatte al-Qaida 1988 gegründet und sich seitdem als der unumstrittene Führer der Gruppe etabliert. Gemeinhin wird zwar angenommen, dass Aiman al-Sawahiri, ein ägyptischer Arzt und lange Zeit stellvertretender Kommandeur der Organisation, Bin Ladens »Gehirn« war. Aber bei der wichtigsten strategischen Neuausrichtung in der Geschichte von al-Qaida – durch die die Vereinigten Staaten und nicht mehr die nahöstlichen Regime als vorrangiger Feind identifiziert wurden – nahm Bin Laden keine Rücksicht auf Sawahiri, der davon besessen war, die ägyptische Regierung zu stürzen.21 Vor allem aber ließ er Sawahiri über mehrere Jahre hinweg im Dunkeln über die wichtigste Operation von al-Qaida – die Vorbereitung der 9 /11-Anschläge – und weihte seinen Stellvertreter erst im Sommer 2001 in die Pläne ein.

Seine Gefolgsleute verehrten Bin Laden, den Sohn eines saudischen Milliardärs, der ein Leben im Luxus aufgegeben hatte, um im Dienst des Heiligen Kriegs ein von Gefahr und Entbehrung geprägtes Leben zu führen, als einen wahrhaftigen Helden. Dazu kam, dass er im persönlichen Umgang von entwaffnender Bescheidenheit und tiefster Inbrunst war. Die Mitglieder von al-Qaida strebten dem Vorbild des Mannes nach, den sie mit »Scheich« ansprachen, lasen die Worte von seinen Lippen ab, und wenn sie mit ihm sprechen wollten, fragten sie ihn zuerst um Erlaubnis. Sie verehrten ihn nicht nur, sie liebten ihn. Abu Jandal, ein Jemenit, der Bin Laden als Leibwächter diente, beschrieb sein erstes Zusammentreffen mit ihm als »wunderbar«.22 Und ein anderer Leibwächter charakterisierte ihn als »einen höchst charismatischen Mann, der andere einfach durch die Art und Weise überzeugen konnte, wie er sprach. Man könnte sagen, dass er viele junge Männer ›verführt‹ hat«.23

Am Morgen des 11. September 2001 brachen Bin Ladens Leibwächter voller Begeisterung mit dem Mann auf, den sie als ihren »Vater« betrachteten. Auf sein Geheiß hin machten sie sich auf den Weg von seiner Hauptbasis unweit der im Süden Afghanistans gelegenen Stadt Kandahar in die gebirgige Provinz Khost im Osten des Landes. Bahlul installierte in einem Minibus, der zu Bin Ladens Fahrzeugkolonne gehörte, einen TV-Satellitenempfänger, aber bei ihrer Ankunft in Khost hatten sie Probleme, ein Signal zu empfangen, und so stellte Bin Laden am Radio den BBC Arabic Service ein.24

Da sagte Bin Laden: »Gleich, wenn er sagt: ›Soeben erreicht uns die Meldung, dass …‹, dann wissen wir, dass unsere Brüder zugeschlagen haben.«25 Dann, gegen 17.30 Uhr lokaler Zeit, sagte der BBC-Nachrichtensprecher: »Soeben erreicht uns die folgende Meldung: In den Vereinigten Staaten ist ein Flugzeug zerschellt, als es in das World Trade Center in New York flog.«26 Bin Laden ermahnte seine Männer, noch etwas »Geduld zu haben«.27 Erst nach der Meldung, dass ein zweites Flugzeug den Südturm des World Trade Center getroffen hatte, brachen die Leibwächter in wilden Jubel aus; al-Qaida führte wahrhaftig einen großen, weltumspannenden Krieg gegen die Ungläubigen!

Auch gut 1250 Kilometer weiter südlich, in der pakistanischen Megacity Karatschi, hatten sich einige von Bin Ladens ergebensten Gefolgsleuten versammelt, um im Fernsehen die Berichterstattung über die Anschläge zu verfolgen – Chalid Scheich Mohammed, der korpulente Kommandeur der 9 /11-Operation, der Jemenit Ramzi Binalshibh, der die Anschläge koordiniert hatte, und Mustafa al-Hawsawi, der saudische Zahlmeister der Operation, der den in den Vereinigten Staaten lebenden Entführern nach und nach mehrere zehntausend Dollar (unter anderem für Flugstunden) überwiesen hatte.

Zusammen mit diesen drei Architekten des 11. September 2001 verfolgten mehrere andere Al-Qaida-»Brüder« die Fernsehbilder von den Anschlägen. Als im Fernsehen zu sehen war, wie die beiden entführten Flugzeuge nacheinander in die WTC-Türme flogen und explodierten, brachen die Brüder in Freudentränen aus, warfen sich zu Boden und riefen »Gott ist groß!«, woraufhin Binalshibh sie ermahnte: »Geduld! Geduld! Schaut weiter zu! Es ist noch nicht zu Ende.« Was noch folgte, waren die Bilder von dem Flugzeug, das ins Pentagon gestürzt war, und die Meldungen von dem Absturz des vierten Flugzeugs in Pennsylvania. Am Ende umarmten sich die Männer und vergossen wieder Tränen, aber dieses Mal Tränen der Trauer um die Brüder, die in den entführten Flugzeugen ihr Leben geopfert hatten.28

Bin Laden war zuversichtlich, dass die Vereinigten Staaten auf die Anschläge von New York und Washington nur mit Cruise-Missile-Schlägen antworten würden, wie sie es schon nach den Al-Qaida-Anschlägen von 1998 auf zwei amerikanische Botschaften in Afrika getan hatten.29 Im Höchstfall erwartete er Luftschläge der Art, wie die USA und die NATO sie während des Kosovokriegs 1999 gegen die Serben geführt hatten. Der Papiertiger würde vielleicht seine Krallen zeigen, aber zum tödlichen Sprung ansetzen, dass würde er nicht.

IN WASHINGTON MACHTE BALD die Nachricht die Runde, dass eine palästinensische Terrorgruppe, die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), die Verantwortung für die Anschläge übernommen habe. Bush rief Morell zu sich und bat ihn um seine Einschätzung. »Die DFLP hat viele Terrorakte gegen Israel verübt, aber ihre Fähigkeiten sind begrenzt«, antwortete Morell. »Sie verfügt weder über die Ressourcen noch die Reichweite, um etwas in dieser Größenordnung aufzuziehen.«30

Am frühen Nachmittag befand sich die Air Force One auf dem Weg von Louisiana zur Offutt Air Force Base in der Nähe von Omaha, Nebraska, wo auch das U.S. Strategic Command seinen Sitz hat, das die amerikanischen Atomstreitkräfte kontrolliert.31 Bush rief Morell ein zweites Mal zu sich und drängte ihn, ihm zu sagen, wer seiner Meinung nach hinter den Anschlägen stecke. »Bislang liegen mir keinerlei Geheimdienstinformation vor«, antwortete Morell. »Bei dem, was ich Ihnen jetzt sagen werde, handelt es sich also nur um meine persönliche Ansicht. Es gibt zwei Terrorstaaten, die über die Fähigkeit verfügen, eine derart aufwendige Operation zu inszenieren – den Iran und den Irak. Aber weder Teheran noch Bagdad würden mit einem Angriff auf die USA viel gewinnen, dafür aber riskieren, alles zu verlieren. Beim Verantwortlichen für diese Anschläge«, setzte er hinzu, »handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen nicht staatlichen Akteur, und meiner Überzeugung nach wird uns die Spur zu Bin Laden und al-Qaida führen.«

»Bis wann werden wir das mit Sicherheit wissen?«, hakte Bush nach.

Morell überlegte kurz, wie lange die Vereinigten Staaten bei früheren Terroranschlägen gebraucht hatten, um die Schuldigen zu identifizieren. »1998, nach den Bombenanschlägen auf unsere Botschaften in Afrika, wussten wir nach zwei Tagen, dass al-Qaida dahintersteckte, aber bei dem Anschlag auf die Cole dauerte es Monate. Kurz gesagt, Sir«, schloss Morell, »vielleicht wissen wir es schon sehr bald, vielleicht wird es aber auch eine ganze Weile dauern.«32

Tatsächlich brauchte es nur wenige Stunden. Als Bush gegen 15.30 Uhr in Nebraska landete, sprach er zum ersten Mal mit CIA-Direktor George Tenet, der ihm sagte, dass die Anschläge für seinen Geschmack »nach Bin Laden aussehen, nach Bin Laden riechen und sich nach Bin Laden anfühlen«, zumal man auf den Passagierlisten eines der abgestürzten Flugzeuge die Namen von zwei Männern mit Verbindungen zu al-Qaida entdeckt hatte, Nawaf al-Hazmi und Chalid al-Mihdhar.33 In den Monaten vor den Anschlägen hatten bis zu 60 CIA-Mitarbeiter Kenntnis davon erhalten, dass sich Hazmi und Mihdhar in den Vereinigten Staaten aufhielten, unerklärlicherweise aber hatte keiner von ihnen das FBI informiert.34

In den darauf folgenden Tagen entwarfen Bush und sein Kriegskabinett einen Schlachtplan zum Sturz der Taliban in Afghanistan – einen in der Hinsicht höchst unkonventionellen Plan, als er im Verein mit massiven amerikanischen Luftschlägen den Einsatz von zusammengenommen gerade einmal 400 Green Berets, Soldaten anderer Special Operations Forces und CIA-Agenten auf dem Boden vorsah.35 Am 17. September unterzeichnete Bush einen streng geheimen Erlass, die Al-Qaida-Führer aufzuspüren und, wenn nötig, auch zu töten, wobei er der CIA einen sehr großen Spielraum im Hinblick darauf einräumte, wie sie das zu bewerkstelligen gedachte. Einer der besten Juristen der Agency, John Rizzo, der auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs zur CIA gegangen war und an der Ausarbeitung der Anweisung beteiligt war, sagte später: »In meiner ganzen Zeit hatte ich nicht ein Mal mit einer Anweisung des Präsidenten zu tun oder auch nur von einer gehört, die derart umfassend und aggressiv gewesen wäre. Die Anweisung war ganz einfach völlig außergewöhnlich.«36 Am selben Tag, als Bush dieses »Presidential Finding« unterzeichnete, trat er im Pentagon vor die Presse und verkündete: »Ich will Gerechtigkeit. Und draußen im Westen gibt es, wie ich mich erinnere, einen alten Steckbrief, auf dem steht: ›Gesucht: tot oder lebendig‹.«37

AM 12. SEPTEMBER empfing Jamal Ismail, Pakistan-Korrespondent für Abu Dhabi TV, in seinem Büro in Islamabad den Anruf eines Abgesandten des Al-Qaida-Führers, der ihn mit den Worten »Jamal, ich bin letzte Nacht in aller Eile von Afghanistan hierhergekommen« begrüßte und anschließend eine Erklärung von Bin Laden verlas, in der er zwar keine Verantwortung für die Anschläge übernahm, sie aber doch freudig begrüßte: »Wir sind überzeugt, dass das, was in Washington und andernorts gegen die Amerikaner passiert ist, eine Strafe von Allah dem Allmächtigen ist und dass es gute Menschen waren, die dies getan haben. Wir stimmen mit ihnen überein.« Der Journalist verlor keine Zeit, die Nachricht von Bin Laden an die Zentrale von Abu Dhabi TV weiterzuleiten.38

Ismail, ein gewiefter Journalist palästinensischer Herkunft, war seit langem in Pakistan tätig und hatte Mitte der Achtzigerjahre als Reporter für eine von Bin Laden finanzierte Publikation namens Jihad gearbeitet, die über die Heldentaten der damals gegen die Russen kämpfenden Araber berichtete. Seitdem war er immer wieder einmal mit Bin Laden zusammengetroffen und hatte den Kontakt vor nicht allzu langer Zeit reaktiviert, als er Bin Laden ausführlich für ein dokumentarisches Profil interviewte, das 1999 auf al-Dschasira ausgestrahlt wurde.39 Nach dem, wie Ismail die Erklärung Bin Ladens zu den Anschlägen interpretierte, wusste er aller Wahrscheinlichkeit nach deutlich mehr über die Flugzeugentführer, als er öffentlich einzugestehen bereit war. »Osama hat noch nie jemanden gelobt, der kein Muslim war«, sagte Ismail. »Daraus schließe ich, dass er etwas weiß und sich der Identität der Flugzeugentführer sicher ist. Sie haben Verbindungen untereinander.«40

Die Regierung Bush verlangte von den Taliban die Auslieferung von Bin Laden, nicht anders, als das die Regierung Clinton in den Jahren nach den Anschlägen von 1998 auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania getan hatte – und mit ebenso wenig Erfolg.41 Abu Walid al-Misri, ein Ägypter, der in Kandahar lebt und enge Kontakte zu al-Qaida und den Taliban hatte, erinnert sich daran, wie Mullah Omar ausrief: »Um keinen Preis werde ich einen Muslim an einen Ungläubigen ausliefern.«42

»Wenn ein Muslim dich um Schutz bittet«, erklärte der Talibanführer seinen Anhängern, »dann, sagt der Islam, sollst du ihm Schutz gewähren und ihn auf keinen Fall seinen Feinden ausliefern. Und unsere afghanische Tradition besagt, dass wir selbst einem Feind, der um unseren Beistand bittet, vergeben und Schutz gewähren sollen. Osama hat dem Dschihad in Afghanistan geholfen und hat uns in schlechten Zeiten beigestanden. Ich werde ihn an niemanden ausliefern.«43

Rahimullah Yusufzai, einer der renommiertesten Journalisten Pakistans, hatte den Talibanführer schon viele Male persönlich und am Telefon interviewt. Sowohl vor wie nach dem 11. September 2001 ließ Mullah Omar keinen Zweifel an seiner Haltung in der Frage einer Auslieferung Bin Ladens an die Amerikaner aufkommen. »Ich möchte nicht«, erklärte er Yusufzai, »als ein Mann in die Geschichte eingehen, der seinen Gast verraten hat. Dafür bin ich bereit, mein Leben zu geben und meine Regierung. Wir haben Osama Bin Laden Zuflucht gewährt, und so kann ich ihn jetzt nicht hinauswerfen.«44

Mullah Omar ließ sich in seinen Entscheidungen sehr von seinen Träumen leiten. »Waren Sie schon einmal im Weißen Haus?«, wollte er von Yusufzai wissen. »Mein Bruder hatte einen Traum, in dem das Weiße Haus in Flammen stand. Ich weiß nicht, wie ich das deuten soll.«45 Auch nahm Omar Washingtons Drohung mit ernsthaften Konsequenzen, sollte er Bin Laden nicht ausliefern, nicht sonderlich ernst. Nach Aussage von Abdul Salam Zaeef, dem damaligen Botschafter der Taliban in Pakistan, war der Talibanführer in seiner Naivität überzeugt, dass die Vereinigten Staaten keine Militäroperation gegen Afghanistan starten würden. »Omar schätzte das Risiko, dass Amerika mehr tun würde, als bloß Drohungen auszustoßen, auf unter zehn Prozent«, sagte Zaeef, der anderer Meinung war und Omar warnte, dass »die Vereinigten Staaten Afghanistan auf jeden Fall angreifen werden«.46

Genau betrachtet war Omars wahnhafter Fanatismus völlig vorhersagbar. Als er Mitte der Neunzigerjahre an die Macht kam, rief er sich zum »Befehlshaber der Gläubigen« aus, ein nur selten in Anspruch genommener religiöser Titel aus dem 7. Jahrhundert, womit er andeuten wollte, dass er sich nicht nur als Anführer der Taliban, sondern aller Muslime sah.47