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Dieses Buch ist eine faszinierende Reise zu einem der großen Wendepunkte der Menschheitsgeschichte: dem ersten Untergang der Zivilisation vor dreitausend Jahren. Der Autor entführt uns in die bunte, schillernde Welt der späten Bronzezeit, als zum Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr. die großen Zivilisationen der Mittelmeerregion in historisch kurzer Zeit wie Dominosteine in sich zusammenfielen und nach einer viele Jahrhunderte währenden Blütezeit sang- und klanglos untergingen. Niemand kennt die genauen Ursachen, doch mit hoher Wahrscheinlichkeit hat ein komplexes Zusammenspiel von Aufständen, Naturkatastrophen, Migrationsströmen und Klimawandel sowie einer starken wirtschaftlichen Verflechtung und Abhängigkeit diese Katastrophe ausgelöst - alles Faktoren, die auf geradezu unheimliche Weise an unsere Gegenwart erinnern. Wiederholt sich vielleicht die Geschichte? Ob die berühmte Schlacht von Kadesch, der Schiffbruch vom Kap Gelidonya, der Mord an Pharao Ramses III., der Untergang von Hattuscha und Ugarit oder das Sakrileg von Assur, die historisch-literarischen Miniaturen dieses Buches stehen für außergewöhnliche, dramatische Ereignisse, die sowohl das Leben der daran Beteiligten als auch die Geschichte an sich über einen langen Zeitraum nachhaltig beeinflussen sollten. Sie beschreiben gleichsam unvergessliche Schicksalsstunden der Menschheit, die vielleicht mehr mit unserer heutigen Zeit zu tun haben, als wir ahnen. Alle Geschichten orientieren sich am aktuellen historischen und archäologischen Wissensstand, die handelnden Personen sind historisch verbürgt.
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2018
Der Autor
Eberhard Knippel wurde 1947 in Berlin geboren. Er ist Naturwissenschaftler und arbeitete lange Zeit in der medizinischen Forschung. Nun hat er sich der Belletristik zugewendet. Von ihm erschienen bereits die Erzählung Der Tempel sowie die Romane Amina, Der blonde Todesgott, Der Fluch der bösen Gene und Das Geheimnis der trügerischen Schatten.
Wer unter die Lebenden eingereiht ist, der kann noch Hoffnung haben.
(Koh 9,4)
So sehr es stimmt, dass der Mensch so zu leben hat, dass er den Forderungen der Gesellschaft, in der er lebt, gerecht wird, so sehr stimmt es auch, dass die Gesellschaft so konstruiert und strukturiert sein muss, dass sie den Bedürfnissen des Menschen gerecht wird. Erich Fromm
Eberhard Knippel
Die Jahrtausend- wette
© 2018 Eberhard Knippel
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7469-6504-8
Hardcover:
978-3-7469-6505-5
e-Book:
978-3-7469-6506-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Vorwort
Prolog
Die Palastverschwörung
Vernunft und Leidenschaft
Der Fluch der Götter
Das Sakrileg von Assur
Die letzten Tage von Ugarit
Epilog
Dramatis Personae
Historisch verbürgte Personen
Ägypten
Ramses II. (1279-1213 v. Chr.) ägyptischer Pharao der 19. Dynastie, einer der bedeutendsten Herrscher Ägyptens
Nefertari favorisierte Große Königliche Gemahlin Ramses II.
Isisnofret Große Königliche Gemahlin Ramses II.
Paser Großwesir des Pharaos
Ramses III. (1187-1156 v. Chr.) ägyptischer Pharao der 20. Dynastie, letzter großer König des Neuen Reiches, im Jahre 1156 v. Chr. ermordet
Isis Gemahlin Ramses III.
Teje favorisierte Gemahlin Ramses III., war mit ihrem Sohn Prinz Pentawer in die Palastverschwörung gegen den Pharao verwickelt
Ta Großwesir Ramses III.
Das Reich der Hethiter
Muwatalli II. (1294 – 1272 v. Chr.) Großkönig der Hethiter, der Gegner von Ramses II. in der Schlacht von Kadesch
Hattuschili III. (1264-1239 v. Chr.) Großkönig der Hethiter, stürzte seinen Vorgänger Mursili III. und schloss mit Ramses II. den Friedensvertrag von Kadesch
Puduhepa Gemahlin Hattuschilis III.
Mursili III. (1272-1264 v. Chr.) bestieg als Urhi-Tessub den hethitischen Thron, von Hattuschili III. gestürzt
Sippa-Zeti Vertrauter Mursilis III.
Suppiluliuma II. (1215/10-1190/80 v. Chr.) letzter Großkönig der Hethiter
Assyrien
Tukulti-Ninurta I. (1233–1197 v. Chr.) König Assyriens, erweiterte assyrisches Staatsgebiet, 1197 v. Chr. ermordet
Adad-Nerari (1295-1264 v. Chr. ) König Assyriens, Großvater Tukulti-Ninurtas
Assur-nadin-apli (1196-1193 v. Chr.) König Assyriens, Sohn und Nachfolger Tukulti-Ninurtas, in dessen Ermordung verwickelt
Kaschtiliasch (1232-1225 v. Chr.) König Babylons, von Tukulti-Ninurta gefangen und nach Assur gebracht
Ugarit
Ammurapi III. (1215-1190 v. Chr.) letzter König von Ugarit
Rapanu (1260-1235 v. Chr.) Schreiber, Diplomat und Berater des ugaritischen Königs Ammistamru
Fiktive Personen
Urias Schreiber am Königshof in Hattuscha
Priya-muwa dessen Sohn, ebenfalls Schreiber
Tarhuwana hethitische Kaufmannstochter, Geliebte Priya-muwas
Zu-Astarti Tempelschreiber des Baal in Ugarit
Paul Greve Professor für Psychiatrie, Uni München
Karl Berghofer Doktor der Physik, Uni München
Anna Lens Doktorin der Philosophie, TU Dresden
Vorbemerkung
Dieses Buch möchte dem Leser die faszinierende Welt der späten Bronzezeit im Mittelmeerraum näher bringen (Kapitel 1-5) und ihn zu der Frage anregen, ob der hier geschilderte Zusammenbruch der gesellschaftlichen Strukturen uns heute, dreitausendzweihundert Jahre später, noch etwas zu sagen hat (Prolog und Epilog). Lassen sich neben Ähnlichkeiten im persönlichen Verhalten einzelner Menschen auch gesellschaftliche Bezüge zur heutigen globalisierten Welt herstellen, aus denen eventuell Rückschlüsse auf unser zukünftiges Schicksal abgeleitet werden können?
Dabei kommen vorbehaltlos verschiedene, konträre Ansichten zur Sprache, die nach vernünftigem menschlichem Ermessen für das Thema relevant und auch nachweislich faktenorientiert sind. Dies ist im Zeitalter von Vorverurteilungen und Vorurteilen, von Propaganda und fake news, die uns im öffentlichen Raum von allen Seiten geradezu überfluten, nicht selbstverständlich. Eine solche breite Diskussion unter Berücksichtigung aller und nicht nur der „richtigen“, das heißt genehmen Denkrichtungen, muss in einer Demokratie , die diesen Namen auch verdient, möglich sein. Sie ist geradezu ihre Geschäftsgrundlage, ohne die eine offene Gesellschaft unweigerlich in eine autokratische Scheindemokratie abgleitet.
Der Leser soll am Ende dieses Buches, ohne dass ihm eine bestimmte Richtung aufgenötigt wurde, nur aus seiner Erfahrung heraus und auf der Grundlage seines Sachverstandes entscheiden, welche Sicht der Dinge er sich zu eigen macht. Wenn das ohne die weit verbreitete Voreingenommenheit in dem Bewusstsein geschieht, dass es im realen Leben nur selten schwarz oder weiß, sondern vor allem Grautöne gibt und kein Sachverhalt aus seinem Bezug herausgelöst werden darf, weil das immer eine verzerrte Wahrnehmung zur Folge hat, dann ist schon viel gewonnen.
Wer in den gesellschaftlichen Vorgängen der späten Bronzezeit keinen Bezug zur heutigen Welt sieht oder sehen will, kann Prolog und Epilog getrost überblättern, ohne dass die anderen Kapitel darunter leiden. Jedes Kapitel steht für sich, ein halbwegs geschlossenes, wenn naturgemäß wegen der komplexen Sachlage und des immer noch lückenhaften historischen Wissensstandes auch unvollständiges Bild der Situation zu jener Zeit ergibt sich allerdings erst aus der Gesamtheit aller Kapitel.
Vorwort
Während der Bronzezeit, die vor fünftausend Jahren einsetzte und bis zum Beginn des zwölften Jahrhunderts v. Chr. andauerte, entwickelten sich im Mittelmeerraum stabile Zivilisationen, deren herausragende Machtzentren Ägypten, Assyrien, Babylonien, Mykene und nicht zuletzt das Reich der Hethiter in Anatolien waren. Im Schatten dieser Giganten entstand eine Reihe kleinerer Palast- und Stadtstaaten wie Ugarit in Nordsyrien. Allen diesen Großreichen und Stadtstaaten war ein gewisser Wohlstand und Stabilität eigen, eine Prosperität, die vor allem einen Grund hatte: die über mehrere Jahrhunderte andauernden engen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, die man aus heutiger Sicht als erste Globalisierung der Weltgeschichte bezeichnen könnte.
Es wurden nicht nur Waren wie Holz, Stoffe, Edelmetalle, Getreide, Gewürze und Schmuck ausgetauscht, sondern auch Menschen, Ideen und Innovationen. Handwerker und Künstler begaben sich auf lange, nicht ungefährliche Reisen zur See und auf dem Lande, und selbst der hethitische Königshof in Hattuscha forderte vom ägyptischen Pharao Ärzte an, welche schon damals über die Landesgrenzen hinaus einen ausgezeichneten Ruf genossen.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass in dieses durchaus „Goldene Zeitalter“ der erste paritätische Friedensvertrag zwischen zwei Großreichen fällt, dem ein bahnbrechender politischer Gedanke zugrunde lag. Die beiden mächtigsten Staaten der späten Bronzezeit, Ägypten und das Hethiterreich, schlossen nach der Schlacht bei Kadesch 1274 v. Chr. und unter dem Eindruck des erstarkenden Assyrien in Nordmesopotamien einen Nichtangriffs- und Beistandspakt, welcher der schlichten Einsicht folgte, beide Staaten könnten in einer militärischen Auseinandersetzung den jeweils anderen nicht besiegen. Es folgte die Pax Aegyptiaca, eine längere Friedensperiode, die durch ausgedehnten Handel und intensiven Kulturaustausch geprägt war.
Doch die enge wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Staaten brachte nicht nur Wohlstand, sondern sie hatte wie alle komplexen Gebilde auch eine dunkle Schattenseite, nämlich die starke Abhängigkeit voneinander. Wenn ein Glied in der Kette der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen seine Funktion nicht mehr voll erfüllte oder gar gänzlich ausfiel, wurden auch die anderen Partner des Systems mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen. Und genau dieser Fall trat offensichtlich zu Beginn des zwölften Jahrhunderts v. Chr. am Mittelmeer ein.
In historisch kurzer Zeit verschwanden ganze Städte und ehemals bedeutende Staaten. Das Hethiterreich in Anatolien mit seiner Hauptstadt Hattuscha wurde aufgegeben, und das einst mächtige mykenische Griechenland ging ebenso unter wie das wohlhabende Handelszentrum Ugarit in Syrien. Andere Ortschaften wiederum, die über Jahrhunderte stabile Zivilisationen gebildet hatten, wurden verlassen und die meisten davon niemals mehr besiedelt.
Archäologen fanden bei Grabungen eindeutige Spuren von Gewalt: zerstörte Häuser und Mauern, Brände und Pfeilspitzen. Doch wer waren die Aggressoren, die damals eine ganze Region ins Chaos stürzten? Nähere Hinweise findet man im Totentempel Ramses III. in Medinet Habu nahe der ägyptischen Stadt Theben. Die Wände sind mit Szenen aus einer Schlacht zu Lande und zu Wasser geschmückt, aus denen wir erfahren, dass der Pharao im achten Regierungsjahr gegen fremdländische Barbaren kämpfte, die auf Inseln leben sollten und, nachdem sie eine Schneise der Verwüstung durch den ganzen Mittelmeerraum geschlagen hatten, in Ägypten eingefallen waren. Allein er, der Pharao Ramses, sei in der Lage gewesen, den Feinden die Stirn zu bieten und sie schließlich zu besiegen.
Aufgrund dieser Schilderung gingen Archäologen und Historiker lange Zeit davon aus, dass hauptsächlich diese sogenannten Seevölker den Kollaps der Zivilisationen entlang des Mittelmeeres verursacht hätten. Neuere Funde der letzten Jahre lassen allerdings vermuten, dass der Zusammenbruch komplexer Natur war und letztlich das Zusammenspiel verschiedener Faktoren zum Zusammenbruch führte: eine Serie von Erdbeben, ein gravierender Klimawandel in Form von Hitze und Dürre mit nachfolgenden Hungersnöten und daraus resultierenden Migrationsströmen, Aufstände und Unruhen sowie die Überfälle der sogenannten Seevölker, die wahrscheinlich sowohl Täter als auch Opfer dieser Ereignisse waren.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle scheint der internationale Handel gespielt zu haben, der zur gleichen Zeit seinen Charakter änderte. Der ursprünglich vor allem von den herrschenden Eliten kontrollierte Fernhandel, der immer wieder auch als Machtinstrument eingesetzt wurde, stockte mehr und mehr und wurde schließlich durch einen privatisierten Handel von Kaufleuten und reichen Unternehmern ersetzt. Dadurch gerieten zahlreiche Städte und Handelszentren zusätzlich in Bedrängnis.
Offensichtlich haben wir es also in der späten Bronzezeit im Mittelmeerraum mit einem System aus mehreren hochentwickelten Zivilisationen zu tun, die untereinander in engem Kontakt standen und dadurch von diesem Zustand nicht nur profitierten, sondern auch in gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussung gerieten. Die Gemeinsamkeiten zwischen der globalisierten Welt der späten Bronzezeit und der von heute sind frappierend. Eine zunehmende wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Fragmentierung bei gleichzeitigem, sich ständig intensivierenden Austausch von Gütern und Ideen über weite Distanzen hinweg führte dazu, dass Wirtschaft und Kultur in zunehmendem Maße intransparenter und unkontrollierbarer wurden. Vieles, was uns heute beunruhigt, beobachten wir auch schon in der späten Bronzezeit: Klimawandel, Naturkatastrophen mit vermehrten Dürren und Überschwemmungen, eine dichte Folge von Kriegen als Folge aktiver Geopolitik, Wirtschaftssanktionen, Desinformationsstrategien, Intrigen und einen allumfassenden Privatisierungsdruck von Wirtschaft und Handel.
Diese offenkundigen Parallelen werfen die Frage auf, inwieweit eine Analyse der Ursachen des Zusammenbruchs der Mittelmeerzivilisationen am Ende der Bronzezeit relevante Aussagen für unsere heutige Zeitepoche liefern kann. Das Argument, die Jetztzeit sei mit keiner früheren Epoche vergleichbar und uns werde bei den gegenwärtigen und zukünftigen technischen Möglichkeiten schon etwas einfallen, um einen Kollaps unserer Zivilisation zu verhindern, greift sicherlich zu kurz und zeugt entweder von wenig Weitsicht oder aber von leicht durchschaubaren Eigeninteressen.
Die Geschichte verläuft keineswegs kontinuierlich und wirkt auch nicht unablässig an den Meilensteinen ihrer Schöpfung. Das menschliche Dasein ist eher banal, denn nur in wenigen Augenblicken werden entscheidende Weichen für bahnbrechende Entwicklungen gestellt. Manchmal nehmen die Zeitgenossen solche Ereignisse nicht einmal wahr.
Am interessantesten und vielleicht auch lehrreichsten sind daher nicht die reinen historischen Fakten, sondern vielmehr die Sicht der betreffenden Menschen auf solche geschichtsbestimmenden Ereignisse, in unserem Fall den Kollaps der Zivilisationen am Mittelmeer in der späten Bronzezeit, und wie sie diesen wahrgenommen und verarbeitet haben könnten. Ein solcher Versuch wird mit den historisch- literarischen Miniaturen dieses Buches auf der Grundlage des aktuellen historischen und archäologischen Wissensstandes unternommen.
Prolog
„Schauen Sie sich ruhig ein wenig um. Sie könnten vielleicht einiges entdecken, das Sie interessiert. Ich werde mich indessen um unsere Brotzeit kümmern.“
Mit diesen Worten ließ Paul Greve, Psychiater und Professor an der Ludwig- Maximilians- Universität zu München, seinen Gast im Wohnzimmer des Ferienhauses in Garmisch-Partenkirchen zurück und eilte in die Küche. Anna Lens hatte den Psychiater auf einem internationalen Kongress in der bayerischen Landeshauptstadt getroffen und ihn als einen interessanten Gesprächspartner schätzen gelernt, sodass sie der Einladung in dessen Landhaus gern gefolgt war.
Sie selbst hatte nach Studium und Promotion eine Stelle als Philosophin an der Technischen Universität Dresden angenommen. Doch obwohl sie mit der Arbeit durchaus zufrieden war, fehlten ihr dort ihre geliebten Alpen, denn sie stammte wie der Professor aus Bayern, und wann immer es ihre knapp bemessene Freizeit erlaubte, besuchte sie ihre betagte Mutter in Mittenwald und unternahm dort ausgedehnte Bergwanderungen in die Umgebung.
Nun stand die attraktive Mittdreißigerin mit den dunkelbraunen, halblangen Haaren und den ausdrucksvollen blauen Augen vor einer großformatigen, farbigen Fotografie, die ihr schon beim ersten Betreten des Zimmers aufgefallen war, und betrachtete sie eine Zeit lang. Sie war so darin vertieft, dass sie heftig zusammenschrak, als sie plötzlich Greves Stimme hinter sich hörte.
„Interessant, nicht wahr? Nun haben Sie so ganz nebenbei auch meine zweite Leidenschaft neben der Psychiatrie entdeckt, die Archäologie.“
„Wie ich dem Bild entnehme, haben Sie sich vor allem auf das alte Ägypten spezialisiert.“
„Genauer gesagt auf die späte Bronzezeit in der Mittelmeergegend. Und zu der gehört das Neue Reich dazu.“
„Und dieses Foto hier zeigt das Grab eines berühmten Pharaos?“ Die Neugier der Philosophin war geweckt.
„Falsch!“, entfuhr es dem Professor, und seine graublauen, lebhaften Augen hinter der randlosen Brille strahlten. Mit seiner zwar ergrauten, trotz seines fortgeschrittenen Alters aber immer noch vollen Haarpracht und dem dazu passenden Schnauzbart erinnerte er tatsächlich ein wenig an den genialen Einstein.
„Dies ist das Grab Nefertaris, einer der Hauptfrauen des wahrscheinlich bedeutendsten ägyptischen Pharaos Ramses des Großen. Der Titel einer Großen Königsgemahlin spielte im Rahmen der altägyptischen Weltordnung Maat eine herausragende Rolle, denn diese schenkte gewöhnlich dem Thronfolger das Leben. Nefertari war nicht die einzige Große Königsgemahlin am Hofe, doch zweifellos die bedeutendste. Sie stand dem Herrscher am nächsten, und er muss sie sehr geliebt haben, was ihre überlieferten Beinamen vermuten lassen. Er nannte sie „die an Liebe Süße“, „schön an Gesicht“ oder „für die die Sonne scheint.“
Wie sehr Ramses sie wirklich verehrte, lässt sich auch daran ermessen, dass er ihr und der Göttin Hathor den kleineren der beiden Tempel von Abu Simbel widmete und sie damit vergöttlichte. Ihre Statue an der Außenfassade hat zudem als Ausdruck höchster Verehrung die gleiche Größe wie die Ramsesstatuen, die sie einrahmen, was als große Ausnahme gilt. Außerdem ließ er sie im Tal der Königinnen in der Nähe von Theben bestatten, obwohl sie nicht königlicher Abstammung war.“
„Das Foto hier zeigt also ihr Grab im Tal der Königinnen?“, wollte Lens wissen.
„Ja, es ist das Modell der Sarkophagkammer“, erklärte der Professor. „Es steht im Museo Egizio in Turin. Das Grab selbst wurde erst 1904 entdeckt, doch leider war es, wie die meisten anderen auch, von Grabräubern geplündert und verwüstet worden. Die Restauration der gefährdeten Malereien dauerte fünf Jahre und wurde erst 1992 abgeschlossen. Die Wandmalereien, die Sie hier sehen, geben übrigens einen tiefen Einblick in die Jenseitsvorstellungen und den Totenkult der alten Ägypter.“
„Sehr interessant“, bemerkte Lens, „und bestimmt wert, sich einmal gründlicher damit zu befassen.“
„Was heißt hier interessant“, murmelte er Gastgeber, „höchst spannend ist das, besonders dann, wenn man so etwas selbst vor Ort erlebt.“
Er wurde vom Gong der Hausglocke jäh unterbrochen. Greves Gesicht verzog sich zu einem schelmischen Lächeln.
„Ich werde Ihnen gleich einen alten Hausfreund vorstellen, Karl Berghofer mit Namen und Physiker von Beruf, ach nein, was sage ich, eher von Berufung. Ein Mann, der immer für ein gutes und anregendes Gespräch über Gott und die Welt zu haben ist.“
Der Professor ging hinaus, um seinen Gast in Empfang zu nehmen. Nach kurzer Zeit kam er in Begleitung eines sympathischen Glatzkopfes zurück, der über das ganze Gesicht strahlte und den Eindruck eines unverbesserlichen Optimisten vermittelte, der mit beiden Beinen im Leben steht.
Nachdem die beiden Gäste sich bekannt gemacht hatten, begaben sie sich auf die Terrasse, wo ein reichlich gedeckter Tisch sie erwartete. Anna Lens war vom Anblick der Bergkulisse überwältigt; auch wenn sie die unmittelbare Umgebung von Garmisch kannte, ging ihr doch jedes Mal bei diesem grandiosen Anblick das Herz auf.
„Jetzt können Sie uns ruhig ein wenig beneiden“, meinte der Physiker und konnte dabei eine leichte Schadenfreude nicht verbergen. „Sie werden einen solchen Anblick in Dresden vergeblich suchen, während wir beide ab und zu auf dieser Terrasse sitzen und“ – hier machte er eine kleine Pause, um dann mit einem süffisanten Lächeln fortzufahren – „uns streiten.“
Er lachte in seiner etwas lärmigen, bayerisch- direkten Art, als er das Gesicht seines Freundes erblickte, der schon protestieren wollte.
„Nun ja, Streiten ist vielleicht nicht das richtige Wort“, klärte er den Gast leutselig auf, „wir sind halt nur meist anderer Meinung.“
Nachdem die drei es sich in ihren Sesseln bequem gemacht hatten, füllte der Professor die Gläser mit auserlesenem Scotch Whisky und meinte dabei: „Jetzt, wo wir allein sind, vergessen wir einmal die Korrektheit und den Puritanismus, die heute wieder Hochkonjunktur haben, jeden Spaß und Genuss verderben und gegen alles vorgehen, was das Leben lebenswert macht. Und tun nur das, was wir insgeheim schon immer wollten, uns aber nicht getraut haben, es wirklich zu machen.“
Er erhob das Glas und forderte seine Gäste auf, mit ihm anzustoßen.
„Trinken wir darauf, dass die allgegenwärtige correctness uns nicht noch die letzte Freude am Diskutieren und Genießen raubt. Moral, zumal die allgemein verordnete, kann manchmal ganz schön lästig sein. Vor allem, wenn es nicht die eigene ist.“
„Nichts gegen gewisse Tugenden, die der Gesundheit dienen, aber man muss die Kirche auch im Dorf lassen“, pflichtete der Physiker seinem alten Schulfreund bei. „Und deshalb kannst du mir jetzt auch getrost eine deiner guten Zigarren anbieten.“
Greve verteilte die Zigarren, wobei Anna Lens dankend ablehnte. Sie war aus tiefer Überzeugung Nichtraucher. Als die Zigarren angezündet waren, lehnten sich alle in ihre Sessel zurück und ließen für einen Augenblick die grandiose Bergkulisse auf sich wirken.
„Man kann nur hoffen, dass uns diese wunderbare Natur noch länger erhalten bleibt“, sinnierte die Philosophin. „Ich weiß nicht, ob die Herren die Studie der NASA über den Untergang unserer Zivilisation kennen. Sie kommt zu dem eindeutigen Ergebnis, dass ein Kollaps systemimmanent und deshalb nicht zu vermeiden sei, wie wir dies bei anderen, früheren Hochkulturen übrigens auch sehen.“
Der Physiker horchte auf: „Ich würde diese Studie als Verschwörungstheorie einordnen, wenn die Quelle eine unbekannte wäre. Die NASA jedoch ist ohne Zweifel seriös, und sie so einfach abzutun, fällt meist auf den Urheber zurück. Und trotzdem, so richtig glauben kann ich es nicht.“
„Mit dem Vorwurf der Verschwörungstheorie würde ich sehr vorsichtig sein, mein Lieber“, wandte sich der Professor an Berghofer. „Dieser Kampfbegriff wurde vorsätzlich in Umlauf gebracht und war immer dazu gut, abweichende und damit unliebsame Meinungen zu diskreditieren und diejenigen, die sie vertreten, unglaubwürdig zu machen. Und diese Feststellung wiederum, das kannst du mir glauben, ist keine Verschwörungstheorie.“
„Nun gut, ich ziehe diesen unseriösen und inflationären Begriff zurück, Euer Ehren“, zeigte sich der Physiker einsichtig. „ Aber, obwohl ich die Studie nicht näher kenne, bezweifele ich ihre Schlussfolgerung. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte, wo sich letztlich doch die Vernunft durchgesetzt hat. Nehmen wir als Beispiel nur den Kampf der allmächtigen Kirche gegen die Wissenschaften in der frühen Neuzeit. Galilei hat schließlich gesiegt. Oder denken wir an das Potential der neuen Technologien, ich nenne hier stellvertretend die moderne Informationstechnik, nachhaltige Energiegewinnung und künstliche Intelligenz. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.“
„Apropos künstliche Intelligenz“, bemerkte der Professor mit einem leicht ironischen Unterton, „da hast du dir ein Paradebeispiel für die Rettung der Menschheit durch moderne Technologien ausgesucht. Meinst du damit etwa die Verknüpfung biologischer mit digitaler Intelligenz?“
„Genau die meine ich“, bestätigte Berghofer. „Ich bin nämlich, das muss ich gestehen, begeisterter Anhänger des Transhumanismus, der längst zum Leitbild der digitalen Elite wurde und die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung stark beeinflussen wird. Sein Ziel ist ja bekanntlich die physische, mentale, aber auch psychische Optimierung des Menschen mithilfe moderner Technik. Dadurch ergeben sich ganz neue Möglichkeiten der Problemlösung.“
„Gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr, dass die künstliche Intelligenz eines Tages die Macht übernehmen und die Menschheit, wie sie bisher existierte, ganz abschaffen könnte; ganz zu schweigen von der Erschaffung seelenloser Cyborgs. Ich glaube, die ethische Seite dieser Entwicklung wird sträflich unterschätzt“, warf der Professor ein.
„Dieser Gefahr sucht man zu begegnen“, entgegnete Berghofer, „indem man Gehirn- Computer- Schnittstellen erzeugt. Dabei werden Elektroden ins Gehirn implantiert, die die geistigen Fähigkeiten des Menschen steigern sollen. Auf diese Weise hofft man, die Kontrolle über künstliche Intelligenz nicht eines Tages zu verlieren. Denn die Gefahr, die du befürchtest, existiert natürlich und sollte wirklich nicht ignoriert werden.“
„Diese Entwicklung hat einen gewissen Reiz“, bestätigte die Philosophin, „denn die überforderten Apparate der gerade herrschenden Machteliten werden keine Antwort auf die drängenden Fragen der Zeit liefern. Ich muss gestehen, in einer gewissen Weise halte ich die Künstliche Intelligenz trotz aller offensichtlichen Gefahren für eine Chance. Denn die Unvernunft und Kurzsichtigkeit derjenigen, die über das Schicksal der Menschen entscheiden, scheint mir manchmal noch schlimmer und für uns alle verheerender zu sein als eine rein künstliche, aus Robotern bestehende Führung, wo menschliche Entgleisungen wie Machtgier und Egomanie ausgeschlossen sind. Es sei denn, man hat sie von vornherein mit einprogrammiert.“
„Eben, wenn wir es mit sich selbständig entwickelnden Systemen zu tun haben oder wenn, wie Sie betonten, bei der Programmierung absichtlich ein bösartiger Virus implantiert wurde“, bemerkte Paul Greve mit einem leicht sarkastischen Unterton zu seinem Dresdner Gast.
Die Philosophin nickte nachdenklich. „Eine verzwickte Geschichte, zugegeben. Aber kehren wir zum Grundsätzlichen zurück. Der Homo sapiens befindet sich, wenn ich es recht sehe, an einem epochalen Wendepunkt: Er ist dabei, die biologischen Fesseln der natürlichen Auslese, die ihn seit dem Beginn seiner Entwicklung begleitet hat, abzustreifen und sich zum Gott zu erheben, der seine eigenen Regeln schafft, nämlich das intelligente Design. Vielleicht hat ja unsere technologische Zukunft auf der Grundlage von Cyborg- und Biotechnik sowie des nichtorganischen Lebens die Potenz, einen Kollaps unserer Zivilisation, wie ihn die NASA befürchtet, zu verhindern. Wenn ich allerdings etwas genauer hinschaue, welche Gefahren dieser Entwicklung innewohnen und wie wenig Vernunft die Geschichte der Menschheit begleitet hat, dann wird mir, ehrlich gesagt, bange.
Schon bei flüchtiger Betrachtung fällt mir ein schwerwiegendes Probleme auf. Die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung macht die technologische Basis der Menschheit sehr anfällig für Störungen und Manipulationen. Das hat in besonderem Maße Auswirkungen auf das Militär, wo schon in naher Zukunft Maschinen und Algorithmen ohne jeden menschlichen Einfluss Entscheidungen über Leben und Tod treffen werden. Wieder einmal wird eine gänzlich neue, richtungsweisende Wissenschaft zuerst im militärischen Sektor erprobt und eingesetzt. Allein das macht mir Angst und lässt nicht Gutes ahnen.“
„Unabhängig davon, wie sich künstliche Intelligenz entwickeln wird“, ergänzte der Professor, „am Anfang steht zweifellos der Mensch und gibt die Richtung vor. Ich bezweifele aber, dass die gegenwärtigen Führungseliten über so viel Vernunft verfügen, das Ganze in die richtigen, das heißt dem Menschen zuträgliche Bahnen zu lenken.“
Die Philosophin nickte zustimmend. „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich zur Entwicklung der künstlichen Intelligenz zu verhalten. Man kann sie zum Beispiel verteufeln oder man ignoriert sie ganz, indem man den Kopf in den Sand steckt und sich durch Zerstreuung ablenkt. Beides ist nicht zielführend. Am Menschen selbst muss etwas verändert werden, an seiner Haltung und seinem Verantwortungsbewusstsein, was dann vielleicht zu mehr Vernunft und Humanismus führen würde.
Unter besonders günstigen Umständen könnte die Künstliche Intelligenz sicher hilfreich für den Menschen sein und vielleicht wirklich eine höhere Stufe der Evolution darstellen, wie der Transhumanismus es postuliert. Wenn es zum Beispiel gelänge, der Künstlichen Intelligenz moralische Prinzipien zu implementieren, noch bevor sie die menschliche Intelligenz überflügelt, dann könnte das vielleicht ein großer Wurf werden. Denn dann würde der reale Mensch, der im Laufe seiner Entwicklung im Umgang miteinander weitgehend versagt hat und eher ein Weltmeister im Missbrauch von Moral und Ethik ist, in seiner jetzigen Form abgeschafft und unsere gute alte Erde auf diese Weise gerettet werden.“
Der Professor widersprach: „Das aber ist zu bezweifeln, weil die herrschenden Eliten die „Moral“ der Roboter bestimmen, und die werden sich nicht selbst entmachten, sondern ihre Moral fortschreiben. Implementiert man jedoch der Künstlichen Intelligenz die vorherrschende, pervertierte Form der Moral, also die gängige Unmoral, die den ganzen Entwicklungsweg des Menschen begleitet hat, dann kann man sich dieses Experiment sparen, und es besteht sogar die Gefahr, dass der neue Kunstmensch noch erbarmungsloser wird. Wenn das Ganze also, aus welchen Gründen auch immer, nicht gelingt, dann erwartet uns der blanke Horror.“
„Redet die Vernunft des Menschen doch nicht so klein“, beschwichtigte Karl Berghofer. „Denkt an Galilei, den ich bereits erwähnt habe. Es gibt wahrlich genug Beispiele aus Geschichte und Gegenwart, die uns optimistisch stimmen sollten.“
Lens protestierte wiederum energisch: „Da bin ich aber viel skeptischer, was die menschliche Vernunft angeht. Ich denke, es gibt viel mehr Beispiele dafür, dass sich die Vernunft eben nicht durchgesetzt hat, obwohl sie sich eigentlich hätte durchsetzen müssen, etwa im Fall der Atombombe. Die schon vorhandenen können die Erde bekanntlich um ein Vielfaches zerstören und sie unbewohnbar machen. Also wäre es doch vernünftiger, sie als zu gefährlich abzuschaffen, anstatt fieberhaft an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten im Sinne eines erfolgreichen nuklearen Erstschlags.
Das Gegenteil von Vernunft ist also die Realität, und nach den Gründen braucht man nicht lange zu suchen. Die gegenwärtigen Atommächte, insbesondere die kleineren, würden zu schwachen Regionalmächten schrumpfen, die dann keine Kriege mehr aus ihrer Unantastbarkeit heraus führen könnten, um damit ihre Machtinteressen durchzusetzen. Damit würden sie in der Bedeutungslosigkeit versinken.“
Und an den Physiker gewandt, fuhr sie fort: „Könnten Sie sich das etwa bei Großbritannien und Frankreich vorstellen, die Grande Nation nicht mehr groß und die ehemalige Kolonialmacht England nicht mehr mächtig? Von dem drohenden Machtverlust der Russen, Amerikaner und Chinesen einmal ganz zu schweigen.“
Berghofer zog die Stirn in Falten und blickte skeptisch drein. „Trotzdem beharre ich darauf, dass es heute im Gegensatz zu früher neue und auch potentielle Techniken gibt, mit denen sich ein Kollaps verhindern lässt.“
„Gerade dies aber bestreiten die Urheber der Studie“, meinte die Philosophin. „Mehr Technologie bringt zwar mehr Effizienz, andererseits aber auch mehr Konsum. Egal, mit welchen Variablen sie ihren Computer fütterten, es gab immer wieder das gleiche Ergebnis. Der Untergang unserer Zivilisation ist unausweichlich.“
„Und welche Gründe führen sie für ihre Erkenntnis an?“, wollte der Physiker wissen.
„Es sei eine innere Dynamik, nämlich ein viel zu hoher Verbrauch weltweiter Ressourcen bei zeitgleicher Spaltung der Gesellschaft in eine kleine, superreiche Oberschicht und den überwältigend großen Rest, der entweder in Armut oder Bedeutungslosigkeit versinkt. Diese unselige Koppelung ist übrigens auch bei allen Untergängen großer Kulturen in der Vergangenheit zu beobachten. Selbst eine sofortige, drastische Verringerung des Verbrauchs und eine gleichmäßigere Verteilung der Ressourcen könnte den Kollaps allenfalls verzögern, ihn aber nicht mehr gänzlich verhindern.“
„Die Wahrscheinlichkeit, dass in nächster Zeit ein Gesinnungswandel der herrschenden Eliten einsetzt, geht gegen null“, vermutete der Professor. „Sie sind blind, sie können einfach ihre Gier nach Macht und Einfluss nicht zähmen, zumal sie wahrscheinlich den eigenen Untergang auch gar nicht erleben werden, wie sie hoffen. Ein klarer Fall für den Psychologen.“
In dem nun folgenden, kurzen Schweigen warf er einen heimlichen Seitenblick auf seine alten Schulfreund. Er kannte ihn genau, Karl Berghofer wollte sich nicht mit dem Negativen abfinden. Und richtig, er glaubte es regelrecht zu spüren, wie es hinter dessen hoher Stirn arbeitete, ob nicht in der Argumentation der NASA eine Schwachstelle zu entdecken sei. Doch bevor er noch zu einem Ergebnis gelangt war, meldete sich Anna Lens wieder zu Wort.
„Es mündet eben alles in der Frage, ob das Gute oder das Böse im Menschen überwiegt, was also letzten Endes stärker ist.“ Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Spontan fällt mir dazu erst einmal ein, dass wir als Menschen immerhin diese beiden Begriffe zu unterscheiden vermögen, das heißt ein Gefühl diesbezüglich entwickeln, was die Voraussetzung dafür ist, diese Frage überhaupt mit Erfolg zu diskutieren.“
„Wenn Sie sich da mal nicht zu früh freuen, verehrte Frau Kollegin“, meinte der Professor und strich sich nachdenklich über sein Haar. „Denn es gibt einige naturgegebene Aspekte, die einen vernünftigen Ausgleich der Interessen und damit auch die Lösung wirklich substantieller Probleme der Menschheit sehr erschweren und die nicht einfach ignoriert werden können. Der Mensch will bekanntlich nicht nur seine Gene weitergeben, sondern auch die Meme, also kulturelle Informationen. Die Erfahrung hat nun gezeigt, dass diese Weitergabe allzu oft mit militanten Mitteln erfolgt, weil mit einem friedlichen Ausgleich assoziierte Meme sich offenbar nicht ausreichend stark im menschlichen Gehirn verankern lassen.
Außerdem hat uns gerade die Evolution gezeigt, dass speziell die menschlichen Exemplare, die ihre Mitkonkurrenten übervorteilten und ihnen damit schadeten, Vorteile im Wettkampf um die Weitergabe ihrer Gene hatten. Das hat sich bis heute nicht geändert. Das Ergebnis liegt also klar auf der Hand: Je größer das Ungleichgewicht zwischen Teilhabern und Nichtteilhabern an den globalen Ressourcen ist, umso militanter und aggressiver wird der ewige Streit um den Fortpflanzungserfolg geführt. Dieser Streit scheint im Augenblick weltweit zu eskalieren. Es werden moralische Bewertungen und Schuldzuweisungen der wirklichen oder eingebildeten geopolitischen Konkurrenten vorgenommen und die Menschheit in Gut und Böse eingeteilt. Und das alles in der Hoffnung, die eigenen politischen Interessen maximal durchzusetzen. Kompromisse werden oftmals gar nicht mehr angestrebt.
Dass man selbst zu den Guten gehört, der Konkurrent aber zu den Bösen wird vorausgesetzt, und dass Doppelstandards schon zur Regel geworden sind, macht die Sache nicht einfacher. Weil aber der freie Wille des Menschen aus guten Gründen angezweifelt werden kann und das menschliche Gehirn eher nach vererbten und erfahrenen Verhaltensroutinen funktioniert, sollte endlich zur Kenntnis genommen werden, dass eine realistischere, pragmatische Handhabung des menschlichen Kommunikationsverhaltens vernünftige Übereinkünfte fördern würde.“
Es entstand ein längeres Schweigen, das zuerst von Karl Berghofer unterbrochen wurde: „Zugegeben, das gegenwärtige Handeln der politischen Akteure trägt teilweise schon chaotische Züge, doch könnten da nicht die Wissenschaften mit ihrer klaren Sprache und den berechenbaren Kausalketten auf der Grundlage deterministischer Gesetze als Vorbild dienen, um das Chaos in der Weltpolitik etwas zu entschärfen?“
„Ein gar nicht so schlechter Gedanke, Karl“, resümierte der Professor. „Doch wäre dieser Weg auch realistisch? Ihr Physiker standet doch schon immer im Verdacht, euch eine Kunstwelt der Einfachheit geschaffen zu haben, in der die Komplexität der Materie wie zum Beispiel Nichtlinearitäten als Dreckeffekt bezeichnet und einfach beiseite geschoben werden.“
Diesen Einwand ließ der Physiker nicht gelten. „Das traf vielleicht früher zu, doch inzwischen hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass die exakten Wissenschaften zum Beispiel logische Unvollständigkeiten und Unentscheidbarkeiten enthalten. Damit werden zunehmend komplexe Lösungen bearbeitet, die bisher, das muss ich eingestehen, vernachlässigt wurden. Die Chaos- und Komplexitätstheorie nimmt Fahrt auf.“
Anna Lens schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, trotz dieses bemerkenswerten Lichtblicks sehe ich eher skeptisch in die Zukunft. Zuviel spricht gegen eine glimpfliche Lösung, denn wo man auch hinschaut, es werden immer seltener vernünftige Kompromisse gesucht.“
Berghofer ließ sich jedoch nicht beirren. „Ich ziehe aus dem Verhalten der Menschen in der Vergangenheit andere Schlüsse als Sie. Doch wer von uns beiden hat nun Recht?“
Das wusste die Philosophin auch nicht. „Um das zu entscheiden, müsste es in der Vergangenheit vergleichbare Epochen gegeben haben, die man analysieren könnte, um daraus Rückschlüsse auf die Gegenwart zu ziehen.“
Berghofer pflichtete ihr bei. „Das wäre eine gute Idee, doch eine solche Epoche gibt es leider nicht. Unserer heutige Zeit ist singulär und lässt sich mit keiner anderen aus der Vergangenheit vergleichen, zu groß ist der wissenschaftliche und technische Fortschritt der letzten hundert Jahre.“
„Du scheinst dir da ziemlich sicher zu sein, mein Lieber“, fiel der Professor dem Schulfreund ins Wort. „Ich bin da eher vom Gegenteil überzeugt. Wie wäre es, wenn wir darauf eine Wette abschlössen, nämlich dass du Unrecht hast mit deiner Feststellung, unsere Zivilisation wäre prinzipiell mit keiner anderen vergleichbar, denn etwas Vergleichbares hätte es in der Vergangenheit nicht gegeben.“
Diese Bemerkung des Professors stachelte den Wetteifer des Physikers nun erst recht an. „Du wettest also im Umkehrschluss, dass wir unsere Gesellschaft mit einer früheren vergleichen könnten. Würde man daraus denn auch Rückschlüsse auf die heutige Zivilisation ziehen können?“
Er sah seinen Freund herausfordernd an. Der nickte. „Genau das will ich damit sagen.“ Und er wies mit der Hand auf die Whiskyflasche. „Wenn du mit deiner Vermutung richtig liegst, lasse ich dir zehn Flaschen dieser edlen Sorte frei Haus liefern. Das entspricht immerhin einer halben Lebensration. Behalte ich aber Recht, bekomme ich das Gleiche von dir.“
Der Professor bot seinem Schulfreund die Hand. Dieser schlug ohne Zögern ein, denn es lag für ihn außerhalb jeder Vorstellung, dass er diese Wette jemals verlieren könnte.
„Ja“, resümierte der Professor nach einer kurzen Schweigepause, „Chaos, Naturkatastrophen, Klimawandel mit vermehrt auftretenden Dürren und Überschwemmungen, überall Kriege als Folge erbarmungsloser Geopolitik, Wirtschaftssanktionen, steigender globaler Privatisierungsdruck von Wirtschaft und Handel, dazu internationale Intrigen und Desinformationsstrategien statt vertrauensvoller Gespräche und Diplomatie. Das alles kommt euch doch sicherlich bekannt vor.“ Der Professor hatte sich entspannt zurückgelehnt und sah seine Gäste hintergründig schmunzelnd an.
„Durchaus“, meinte Berghofer. „Ich tippe darauf, das hast du heute früh in der Süddeutschen Zeitung gelesen.“
„Oder im letzten Jahresrückblick des Spiegel“, riet Lens. „Falsch geraten!“, löste der Professor sein Rätsel auf. „Ich habe euch soeben eine Situation beschrieben, die über dreitausend Jahre zurückliegt.“
Karl Berghofer machte ein erstauntes Gesicht. „Willst du etwa im Sinne deiner Wette andeuten, dass es damals wirklich eine Epoche gab, die unserer heutigen ähnelt?“
Der Professor lachte. „Nicht nur das. Vielleicht gab es damals schon politische und wirtschaftliche Verhältnisse, die mit der gegenwärtigen Globalisierung mehr gemein haben als wir ahnen und die man deshalb durchaus mit der gegenwärtigen vergleichen und eventuell sogar Schlüsse daraus ziehen könnte, wie ein Kollaps heute verhindert werden kann.“
Auf den Gesichtern der Gäste spiegelte sich ungläubiges Staunen. „Da bin ich aber auf weitere Einzelheiten gespannt“, konnte Berghofer seine Neugier nicht bezähmen. „Die Botschaft hör’ ich wohl, möchte man mit Goethe sagen, allein mir fehlt der Glaube.“ „In der Tat, jetzt haben Sie auch mich neugierig gemacht“, pflichtete Anna Lens bei und sah den Professor erwartungsvoll an. Dieser füllte in aller Ruhe die leeren Whiskygläser auf, zündete sich seine inzwischen erloschene Zigarre an und begann eine ebenso abenteuerliche wie wahre Geschichte zu erzählen, die ihm zunächst keiner der beiden Gäste glauben wollte.
Die Palastverschwörung
Der 7. April des Jahres 1156 v. Chr., Königspalast Medinet Habu, Theben
Seine Majestät User-maat-re-meri-Amun, Herr der beiden Länder, erwacht aus unruhigem Schlaf. Der Gottkönig Ramses III. muss auf seinem Lieblingsstuhl eingeschlafen sein. Er öffnet die Augen und blickt verstört auf die Umrisse der Treppe, die zum erhöht stehenden Bett im königlichen Schlafgemach führt, und auf die farbigen Ornamente an der gegenüberliegenden Wand. Erst allmählich wird das Bild, das er wahrnimmt, schärfer und das Flimmern lässt nach. Seine alten Augen sind auch nicht mehr die, die sie einmal zu seinen besten Zeiten waren.
Dann, Sekunde für Sekunde, kehrt auch die Erinnerung zurück. Seine Brust schmerzt und der Atem geht kurz. Warum soll er es jetzt, wo er allein mit sich ist, nicht endlich eingestehen. Er ist ein alter Mann in der sechziger Jahren seines Lebens, und die Gebrechen mehren sich; er ermüdet schnell, und das Treppensteigen fällt ihm schwer. Da kann auch sein Leibarzt nichts mehr ausrichten.
Manchmal ist er müde des Regierens, müde des anstrengenden Tagesablaufs: der morgendlichen Reinigungszeremonie, des Ankleidens, der Gebete und religiösen Rituale, der Staatsgeschäfte, Audienzen und Empfänge. Zu sehr drücken ihn die Insignien der Macht, die schwere Doppelkrone und all die anderen Kronen mit den Skarabäen, der Uräus-Schlange oder den Federn, mit dem Krummstab zusammen das Symbol für die Herrschaft über Oberund Unterägypten. Schwerer aber noch wiegt die Bürde des Regierungsgeschäftes und der Verantwortung; immer beschwerlicher wird es ihm, sich bei den Audienzen zu konzentrieren und Entscheidungen zu treffen. Es sind seine zahlreichen Gebrechen, die ihm so zu schaffen machen. Das hohe Alter seines Vorfahren und heimlichen Vorbildes Ramses II., der bald neunzig Jahre wurde, wird er mit Sicherheit nicht erreichen.
Doch immerhin, zweiunddreißig Regierungsjahre hatte er durchgehalten. Das war keinesfalls selbstverständlich, wenn er nur an die kurze Regierungszeit Ramses I. dachte, der schon im fortgeschrittenen Alter den Thron bestieg und nur sechzehn Monate regierte. Beides, Verdienst und Makel, hatten dessen kurze Amtszeit geprägt. Sein Verdienst war die Gründung der stolzen Dynastie der Ramessiden, der auch er angehörte, und der Makel, nicht als leiblicher Sohn, sondern als General und späterer Wesir des amtierenden Pharaos auf den Thron gelangt zu sein, was nicht der allgemeinen Praxis entsprach und einen faden Beigeschmack hinterließ.
Dieser Makel seines Vorgängers legte sich wie vergifteter Blütenstaub über seine ganze Amtszeit und prägte sein Leben. Immer wieder hatte er sich die Frage gestellt, ob er mit diesem Makel denn „Maat“, das heilige ägyptische Ordnungsprinzip, erfüllen konnte. Denn er war immerhin der König Ägyptens, der Repräsentant der Götter auf Erden, und wenn es ihm nicht gelang, seine Aufgabe makellos zu erfüllen, nämlich den Wohlstand des Reiches zu mehren und Frieden nach innen und außen zu schaffen, dann würde nicht Horus als Gott der Ordnung, sondern Seth, der Gott des Chaos, die Oberhand gewinnen und das stolze Land am Nil zugrunde richten.
Das konnte er nur durch übermächtige Anstrengung verhindern, indem er dem großen Ramses nacheiferte, der vor vielen Jahrzehnten nicht nur Bleibendes für die Nachwelt erschaffen, sondern dem Land und der ganzen Region auch eine lange Friedensperiode beschert hatte. Und plötzlich stand die Frage im Raum, ihn ganz und gar ausfüllend und auf endgültige Antwort drängend: Hatten sich seine Zweifel inzwischen zerstreut, hatte er also seine Aufgaben in den Jahren seiner langen Regierung zur Ehre der „Maat“ erfüllt?
Der Pharao spürte, wie ihn bei diesem Gedanken eine flatternde Unruhe anfiel, die Furcht vor einer ehrlichen Antwort, wie eine Angst tief in seinem Herzen seine Tatkraft zu lähmen drohte. Er kannte diesen Zustand. Erregt sprang er auf, doch ach, er hatte seinen schwachen Körper unterschätzt, der ihm nun seine Gebrechen schmerzlich in Erinnerung rief. Unruhig lief er, der Gottkönig, der Allmächtige, in den Räumen umher, die Stirn umwölkt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, durch das königliche Schlafgemach ins Wohnzimmer, vorbei an den beiden mitten im Raum stehenden, hochragenden Säulen bis vor den Alabasterthron, von dort ins Ankleidezimmer und wieder zurück. Gar nicht mehr so mächtig fühlte er sich, der Pharao, zu groß war die Last, die seine Schultern drückte, zu explosiv die Atmosphäre gleich hinter diesen schützenden Mauern des Palastes von Medinet Habu, da draußen in den beiden Teilen seines Reiches.
Das Staatswohl war in großer Gefahr, das spürte er wohl, doch wie es zu dieser Situation gekommen war, darüber rätselte er bis heute. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, war sie wieder da, diese zittrige Unruhe, diese Urangst, dieses Gefühl, Teil eines historischen Ereignisses zu sein und ohnmächtig zusehen zu müssen, obwohl sich etwas ändern müsste, in diesem Augenblick, bevor es endgültig zu spät war. Schon oft hatten ihn solche Gefühle in der letzten Zeit überschwemmt, waren ihn von Zeit zu Zeit angefallen, doch heute spürte er zum ersten Mal fast körperlich, dass eine akute Gefahr über ihm schwebte und er sich selbst im Zentrum dieser Gefahr befand. Sie schien hinter jeder Ecke zu lauern, während der Zeremonie bei Hofe, bei der Prozession zum Opetfest oder zum „Schönen Fest des Tales von Amun-Re“, ja selbst hier in seinem königlichen Schlafgemach.
Ramses ließ sich in seinen Lieblingssessel fallen und rang erschöpft nach Luft. Der Schmerz in seiner Brust hatte zugenommen. Er schloss die Augen und versuchte, die Ruhe herbeizuzwingen. Später, wenn diese Attacke vorüber war, würde er ins Frauenhaus gehen, ein warmes Bad nehmen und sich von Teje massieren lassen. Das hatte ihm immer gut getan, ihre einfühlsamen, weichen Hände zu spüren, die ihn so unvergleichlich entspannten wie sie ihn zugleich erregten.
Sie hatte dieses gewisse Etwas, das ihn so wunderbar anrührte, ein Gefühl, das er in dieser Intensität von Isis nicht kannte. Er mochte sie beide, gewiss, doch Teje war und blieb seine heimliche Favoritin, sozusagen seine inoffizielle Große Königsgemahlin, auch wenn Isis wahrscheinlich dachte, der Titel stände ihr zu. Zwar hatte er Prinz Ramses, den Sohn der Königin Isis und zugleich seinen Erstgeborenen, zum Oberbefehlshaber der Armee ernannt, was allgemein als Thronfolge gedeutet wurde. Das war jedoch nicht zwingend so. Solange er nicht eine von beiden, Isis oder Teje, ganz offiziell zur Großen Königsgemahlin , also zur Mutter des Thronfolgers ernannte, hielt er, ob er es wollte oder nicht, die Sache in der Schwebe.
Ein hintersinniges Lächeln glitt über die Gesichtszüge Seiner Majestät, ein stilles Lächeln der Zufriedenheit. Nicht immer im Leben musste man klare Entscheidungen treffen, die eindeutig waren und keine Missverständnisse zuließen. Manche Dinge wurden lieber in der Schwebe gehalten, dann pendelte sich von ganz allein ein Gleichgewicht ein, dass am Schluss zu besseren Ergebnissen führte.
Der Großkönig spürte in diesem Augenblick eine tiefe Befriedigung über die göttliche Weisheit seines Entschlusses, die Angelegenheit der Thronfolge, Prinz Ramses oder Prinz Pentawer, der Erstgeborene seiner Favoritin Teje, zu einem Staatsgeheimnis gemacht zu haben, das Spekulationen in alle Richtungen zuließ. Das sicherte ihm die größtmögliche Loyalität aller Kandidaten und ihres ganzen Anhanges. Zu gegebener Zeit würde er Klarheit schaffen und die Dinge zu einem ordnungsgemäßen Abschluss bringen, auf dass „Maat“ erfüllt würde, die göttliche Ordnung der Ägypter.
Oder war diese Entscheidung etwa gar keine Weisheit, sondern zeugte nur von seiner Willensschwäche und Unentschlossenheit? Das feine Lächeln auf Seiner Majestät Gesicht erstarb und wich einer seltsamen Erstarrung der Züge. Er war sich nun nicht mehr ganz so sicher, wie er es immer in dieser Frage gewesen war. Konnte das In-der-Schwebe-Halten denn nicht auch zu Konkurrenz und Missgunst führen und ihm am Ende selbst gefährlich werden? Weil derjenige, der sich im Nachteil wähnte, die Dinge zu seinen Gunsten entscheiden würde? Doch gleich, wer sich auch benachteiligt fühlte, ob Teje oder Isis, wer von beiden wollte die Hand gegen ihn erheben?
Unwillig schüttelte Ramses den Kopf. Keine würde es tun, keiner würde er es zutrauen. Und doch, einmal ins Grübeln geraten, ließ ihn der Gedanke nicht wieder los. Vielleicht sollte er die Ernennung zur großen Königsgemahlin doch zügig klären und die Thronfolge regeln.
Diese Aussicht beruhigte das erregte Gemüt des Pharaos. Mochte auch etwas Ungeheuerliches in der Luft liegen, das wichtig für den Bestand des Reiches war und Gefahr bedeutete, doch warum sollte er persönlich gefährdet sein? Mit einer energischen Handbewegung scheuchte der König seine Bedenken beiseite. Er war schließlich ein Gott, war nicht von dieser Welt, ihm konnte sowieso nichts Irdisches etwas anhaben. Umgab ihn nicht die Aura des Unberührbaren, die keines Menschen Hand jemals anzutasten wagte? Das wusste keiner besser als er, der sich sein Leben lang intensiv mit Magie befasst hatte.
Wieder erhob sich der Gottkönig und wanderte im königlichen Schlafgemach umher, diesmal etwas ruhiger. Er blieb am Eingang zur mächtigen Säulenhalle stehen, wo er seine Audienzen abzuhalten pflegte, betrachtete in aller Stille den prächtigen Thron, wanderte schließlich ans entgegengesetzte Ende und betrat den kleinen Säulensaal. Hier hielt er wiederum inne, zählte mechanisch die Stufen der beiden Treppen, die zum Erscheinungsfenster führten, machte schließlich kehrt und ging geradewegs den Weg zurück , durch den Audienzsaal zu seinen Privatgemächern, nicht ohne einen verstohlenen Blick nach rechts zu werfen, zum Eingang des Ipet Nisut, des königlichen Frauenhauses. Als er das Schlafgemach erreicht hatte, sank er erschöpft in seinen Sessel.
Er atmete jetzt gleichmäßiger, wenn er auch wusste, dass ihn zu jeder Zeit diese verzehrende Unruhe wieder anspringen konnte, deren tiefer Ursprung zweifellos mehr im Zustand des Reiches lag denn in seiner Person. Dabei hatte doch alles so verheißungsvoll begonnen, damals, in den ersten Jahren seiner Regentschaft, als er den Thron bestieg und mit glücklicher Hand das Land regierte.
Ipet Nisut – die Gemächer des Königlichen Frauenhauses
Zur gleichen Zeit, da Seine Majestät im königlichen Schlafgemach seiner Residenz in Medinet Habu völlig arglos in Erinnerungen an die stabile und glückliche Zeit seiner frühen Regierungsjahre schwelgte, geschah wenige Meter davon entfernt, nur durch eine Ziegelmauer getrennt, etwas ganz und gar Ungeheuerliches. Im „Harem in der Begleitung“, der dem Pharao auf all seinen Reisen folgte, wurde ein absolutes Tabu gebrochen und eine Angelegenheit besprochen, die nie hätte gedacht, geschweige denn beredet werden dürfen. Es ging um nichts Geringeres als einen Staatsstreich, einen frontalen Angriff auf die Staatsordnung Ägyptens.
Wo hatte es das in der Geschichte des Landes schon gegeben: Ein Gottkönig, die Inkarnation der Götter auf Erden, sollte gewaltsam vom Thron gestoßen werden. Und als wäre diese Ungeheuerlichkeit, die kein rechtschaffener Ägypter auch nur in seinen Gedanken zu erörtern gewagt hätte, nicht schon genug, fügten die Verschwörer diesem Frevel einen weiteren, noch verabscheuungswürdigeren hinzu. Es sollte nicht einmal abgewartet werden, bis der ohnehin schlechte Gesundheitszustand Seiner Majestät zu einem natürlichen Ende führte, um dann gewaltsam einen den Verschwörern genehmen Nachfolger zu inthronisieren, nein, es sollte vielmehr nachgeholfen werden. Das aber war nichts anderes als Mord.
In ihrem Privatgemach stand Teje, die inoffizielle Große Königliche Gemahlin, vor ihrem zierlichen Schminktisch und betrachtete sich in einem glänzenden Metallspiegel. Sie musste immer schön sein, schön, vollkommen und betörend, denn Seine Majestät konnte zu jedem Zeitpunkt unverhofft im Frauenhaus erscheinen. Das weiße, raffiniert plessierte Gewand schmiegte sich eng an ihren schlanken Körper und betonten ihre vollendeten Rundungen, die sich deutlich, wenn auch dezent unter dem dünnen, leicht transparenten Stoff abzeichneten. Wie weltweit keine zweite Frau verstand es doch die Ägypterin, mit ihren erotischen Reizen zu spielen, ohne sich gänzlich preiszugeben. Das kam Tejes Natur sehr entgegen, sodass sie es darin zu vollendeter Meisterschaft gebracht hatte.
Sogar der Pharao höchstpersönlich hatte sich durch diese Meisterschaft in ihrem raffinierten Netz verfangen, denn dass sie ihre Stellung bei Hofe vor allem ihren weiblichen Reizen und weniger anderen Eigenschaften verdankte, die sie von der Masse abhoben, gab sie im Geheimen unumwunden zu. Dass sie jedoch in der Öffentlichkeit am Bild ihrer Einzigartigkeit webte, stand auf einem ganz anderen Blatt.
Nicht zu Unrecht, wie sie fand. Denn mehr, viel mehr zeichnete sie aus als nur ihre äußere Schönheit. Ungewöhnliches schlummerte in ihr, davon war sie fest überzeugt, und zu Höherem war sie berufen und dazu, noch stärker in die großen politischen Entscheidungen einzugreifen, als es ihre gegenwärtige Stellung bereits erlaubte. Sollten sie auch die meisten am Hofe heute noch unterschätzen, morgen schon wollte sie alle Skeptiker, allen voran Königin Isis, vom Gegenteil überzeugen.
Ein versonnener Zug spielte um ihren Mund, als sie an ihrem Körper hinab schaute. Das schlichte Weiß ihres knöchellangen Kleides wurde durch einen mit wertvollen Perlen besetzten Gürtel, der ihre Taille betonte, und eine goldene Kette aus edlem, einheimischen Amethyst ergänzt. Die Füße staken in zierlichen Sandalen aus feinem Ziegenleder.
Wenn sie es recht sah, entsprach sie doch schon weitgehend dem ägyptischen Schönheitsideal, was sie nicht ohne Stolz und tiefe Genugtuung registrierte: feinsinnige Gesichtszüge, dunkle, ausdrucksvolle Augen, schwarze, lange Haare, zierlicher Hals, ein schlanker Körper, schließlich schmale Hand- und Fußgelenke und wohlgeformte Brüste.
Während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, zog sie sorgfältig ihre Augenbrauen nach, verfeinerte die grün schimmernden Lidschatten und rieb ihr Gesicht mit erlesenen Ölen und Salben ein, die einen dezenten, betörenden Duft verströmten.
Nachdem Teje einen letzten Blick auf ihr Äußeres geworfen hatte und mit sich zufrieden war, ließ sie sich in einen reich verzierten Sessel fallen. Im Gegensatz zu ihrem vollkommenen Äußeren war ihr Herz voller Unruhe. Früher konnte sie stundenlang still in einer Ecke sitzen und vor sich hin träumen. Seit sie aber diese aufrührerischen Gedanken bewegten, war es mit dieser Muße vorbei. Nicht nur fühlte sie ständig den inneren Drang, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, denn was sie tat, war in den Augen des Volkes ohne jeden Zweifel ein großer und unverzeihlicher Frevel, ja etwas ganz Ungeheuerliches: den amtierenden, gottgleichen Pharao vom Thron zu stürzen und ihn gar zu töten. So etwas hatte es in der Geschichte Ägyptens noch nie gegeben.
Und hatten diejenigen, die ein Attentat scharf verurteilten, nicht sogar Recht? Ja, sie hatten Recht, musste Teje sich eingestehen. Doch was wusste das Volk schon von ihren großen Gedanken und erhabenen Gefühlen und was vom wahren Zustand des Reiches, von den tiefen Ursachen der Zerfallserscheinungen. Das Nildelta war durch Kriege verwüstet, die Staatskasse leer, überall Dürre und Trockenheit in der ganzen Region, was die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln gefährdete. Dazu die permanenten Unruhen im ganzen Land, die ihren Ausgangspunkt im Aufbegehren der Nekropolenarbeiter vom „Platz der Wahrheit“ hatten. Und der Gottkönig selbst? Er war wie gelähmt, baute und verewigte sich unverdrossen weiter, obwohl gar kein Geld dafür zur Verfügung stand. Überdies war er auch noch krank.
Alles in allem war das ein explosives Gemisch für das Land. Der Pharao als Sohn der Sonne, und dann dieses Chaos überall, wie passte das zusammen? So konnte es nicht weitergehen. Der Schaden für die Großmacht Ägypten war nicht abzusehen.
Teje, gepackt von einer verzehrenden Unruhe, hielt es nicht im Sessel. Sie erhob sich nervös und ging ein paar Schritte umher. Wie oft hatte sie in letzter Zeit abgewogen: Das Staatswohl Ägyptens gegen das Wohl Seiner Majestät User-maat-Re-meri-Amun, Stellvertreter der Götter, den völlig Unantastbaren. Doch war er wirklich unantastbar? Gab es nicht elementare Situationen, wo alles anders war, wo die überkommenen, zeitlos gültigen Regeln ausgesetzt und aufgehoben waren?
Obwohl sie es sich manchmal nicht eingestehen wollte, spürte sie doch, dass es etwas gab, das noch stärker war als all diese rationalen Argumente den Staat und Seine Majestät betreffend, nämlich die Aussicht, ihr Sohn Pentawer säße auf dem Thron. Er wäre dann der mächtigste Mann Ägyptens und sie als seine leibliche Mutter die mächtigste Frau an seiner Seite. Eine Aussicht, die nach der Ernennung des Prinzen Ramses, Sohn der Isis, zum Generalissimus, was ihm eine herausragende Stellung unter allen Prinzen sicherte, durchaus in Gefahr war.
Gegen diesen geheimen Wunsch schien ihr die Besorgnis um das Staatswohl wie eine billige Ausrede vor sich selbst. Es hatte keinen Zweck, auch wenn sie es wollte, sie konnte sich auf Dauer nicht selbst belügen. Es waren eben zwei Paar Schuhe, was man selbst im Geheimen dachte und was davon nach draußen drang.
Es dauerte lange, bis sie dies akzeptierte. Aber dann hatte sie konsequent gehandelt. Sollten die Götter sie einst für diesen Frevel zur Rechenschaft ziehen, würde sie ihnen entgegenschleudern, sie habe mit ihrer Tat weit Schlimmeres verhindert. Jetzt war es ohnehin zu spät, man konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Die Dinge waren angeschoben und hatten sich entwickelt. Die Kugel rollte einen steilen Abhang hinunter, sie rollte und rollte, und niemand konnte sie mehr aufhalten.
Die Verschwörer, über vierzig an der Zahl, die entweder die Verschwörung aktiv unterstützten oder zumindest den Plan schweigend duldeten, bereiteten den Tag X vor, jeder an seinem Platz, ob in der Palastverwaltung, draußen im Militär oder in den Tempeln: im Frauenhaus selbst Tejes zahlreiche Vertraute, in der Verwaltung die Kammerdiener Weren und Mery-re sowie der Libyer Inini als Kellermeister, der Lykier Peluka, Angestellter des Schatzhauses, weiterhin der Schatzmeister Pairi und die Haremsaufseher Pejnok, Chamopet, Petennamen, Keroes und Chammale, um nur einige zu nennen.
Allen voran aber ihr persönlicher Vertrauter und Kammerherr Palakenamun, der Haushofmeister, der dank seiner herausragenden Stellung und seiner guten Beziehungen die Fäden zog und die Verbindung zur Außenwelt herstellte. Auf diese Weise konnten wichtige Persönlichkeiten für die Verschwörung gewonnen werden, so der General Paiis, Oberbefehlshaber des Heeres, und der Vorsteher der Sachmet- Priesterschaft Iryi.
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