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Das schwache starke Geschlecht – ein längst überfälliges Buch: Jahrzehntelang galten Mädchen als das schwächere Geschlecht, die Jungen als stark – jetzt haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Pädagogen und Eltern sorgen sich um die Männer von morgen. Forscher haben angefangen, die Jungenkatastrophe auszurufen, denn zunehmend leiden Jungen und junge Männer an verschiedenen Defiziten und sind in vielen Gesellschaftsbereichen schwer verunsichert. Das Buch analysiert die Situation und entwirft Perspektiven, unentbehrlich für Eltern, Erzieher, Lehrer und alle, die sich mit dem Wandel von Geschlechterrollen und Identitäten auseinander setzen.
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Seitenzahl: 481
Veröffentlichungsjahr: 2009
Frank Beuster
Die Jungenkatastrophe
Das überforderte Geschlecht
Zitat
Widmung
Diagnose «Junge»
I. Männliche Sozialisation bei Männermangel
Zu viel Mama und zu wenig Papa
Mamasachen sind anders, Papasachen auch
Mamataub in die «Frauenschule»
Hörkanal verstopft!
Mütter – Die ohnmächtige Macht
Zu viel Mama und kein Papa
Gemischte Gefühle
Mutter-Macht
Mini-Machos
Verständnis
Die Ohren auf Durchzug gestellt
Bloß kein Mamasöhnchen!
«Hotel MAMA»
Väter – Helden ihrer Söhne – Papas aus Pappe
Vaterseelenallein
Papas aus Pappe
Fähigkeiten machen unabhängig und selbstbewusst
Eine «vaterlose Gesellschaft»
Hauptsache Arbeit – Der Teilzeitpapa
Turboman als Vater
Buhmann Vater
Die verhinderten Väter
Väter, die besseren «Mütter»?
Jammerlappen – nein, danke!
Störfeld Schule – für Jungen nicht geeignet!?
Zu unreif für die Schule
Viele Jungen brauchen Hilfe
«Ich mach, was ich will, und ich will es jetzt!»
Jungen sind schwierig
Jungen und schulische Tugenden
Jungen fehlt Struktur
Wenn der Unterricht an Jungen «vorbeirauscht»
Jungen stören
Mädchen werden immer sicherer, Jungen immer unsicherer
Jungen und der Kampf mit Worten
Was Jungen lernen
Schulversager
Erziehung zur Mündigkeit
II. Wann ist ein Mann ein Mann?
Coole Jungs
Gibt es ein «Schweige-Gen»?
Mädchen weinen – Jungen nicht mehr
«Coolsein» ist «cool»
Gefangen in der eigenen Imagefalle
Mehr Schein als Sein
Ein böser Junge muss tun, was ein böser Junge tun muss!
Harte Schale, weicher Kerl
Probleme mit dem Selbstwert
Grenzgänger
Grenzen überschreiten
Jungen wollen Grenzen durchbrechen
Spiele ohne Grenzen
Adrenalinkick gleich Leben pur
Wie hätten Sie Ihren Jungen gern? Roh, medium oder gut durch?
Ikarus, der Sonne zu nah
Arbeiten, bis der Tod kommt
Mädchen leben anders
Hauptsache Stress
Jungen von Sinnen
ADS und ADHS
Bewegung statt Bio-Chemie!
Zu dick für die Schaukel und rückwärts laufen geht auch nicht mehr
Jungen fehlt der 7. Sinn!
Auf der Suche nach Identität
Das Leben ist kein Spiel!
Identität – viel zu spät!
Orientierungslos im Wertedschungel
Viele Jungen wissen einfach nicht mehr sicher, was gut und richtig ist
III. Erster, Zweiter, Loser
Denn Jungen sind Jungen …
Erster!
Nicht lange fragen – lieber schlagen!
Jungen prügeln – Mädchen «zicken»
Jungensprache
Jungen sind Konflikt-Kulturbanausen
… das füg auch keinem anderen zu!
Gewissen
Kampf der eigenen Schwäche
Verlieren will gelernt sein
Flucht oder Angriff
Der Reiz des Verbotenen
Das überforderte Geschlecht
Loser und Luschen
Bad Boys
Alltagstaugenichtse
Jugendgewalt ist Jungengewalt
Männlich-maskulin: Das Geschlecht der Täter?
Was innen ist, zeigt sich auch im Außen
Notsignale
Anders sein, besser sein – «wer sein»!
Der Kampf um die Vorherrschaft
«Da seh ich rot!»
Ist Gewalt nur mit Gewalt zu vertreiben?
Wer zuerst zieht, überlebt
Opfer sein
Gewalt
IV. Welche Rolle in welcher Welt?
Voll von der Rolle
Abziehbilder von Männlichkeit
Platzverweis für Jungen
Die Gewissheit, ein Teil eines größeren Ganzen zu sein, gibt Sicherheit
Jungen fehlt ihr Platz im Leben
Männer im Post-Patriarchat
Der «neue Mann»
Das Kind im Manne
Sandkastenspiele
«Vater Staat» und seine Werte
Erziehung zur Demokratie
Sind wir noch eine Wertegesellschaft?
Mehrwert statt mehr Wert
Eigene Werte
Fair Play
Jungen zwischen zwei Welten
Paschas machen es sich leicht und anderen schwer
V. Diagnose Junge – und die Medizin?
Wege aus der Katastrophe
Der Vitamin-B3-Komplex
Lebens-Pfade finden
«Wer etwas Sinnvolles zu tun hat, macht keinen Unsinn»
Raus aus dem Alltag
Prügeln tabu, Boxen erlaubt
Grenzerfahrungen einmal anders
Das Taizé-Feeling
Das Geheimrezept der drei R
Regeln
Rhythmen
Rituale
Was noch zu tun bliebe – drei Utopien
Der Zivildienst
Alles ist machbar …
Anhang
Auswahl von Anlaufstellen zur Arbeit mit Jungen
Baden-Württemberg
Bayern
Berlin
Potsdam
Bremen
Hamburg
Hessen
Mecklenburg-Vorpommern
Niedersachsen
Nordrhein-Westfalen
Rheinland-Pfalz
Saarland
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Schleswig-Holstein
Österreich
Schweiz
Weiterführende Link-Liste zum Thema «Jungenerziehung»
Danksagung
Literatur
Achte auf deine Gedanken,
denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte,
denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen,
denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten,
denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter,
denn er wird dein Schicksal.
Aus dem jüdischen Talmud
Meinen Söhnen Fabian und Benedikt, zwei wunderbaren Jungen
Ich freue mich auf das Leben mit euch!
Müssen Jungen stark sein?
Ja! Sie müssen und sie wollen es auch. Doch sind viele Jungen der Meinung, es käme nur auf die äußerliche und sofort sichtbare Stärke an. Viel wesentlicher ist aber die Stärke des Herzens.
Jungen müssen stark genug sein, um ihr Leben bewältigen zu können, im Einklang mit ihren Mitmenschen, für die auch sie ein Herz haben sollten. Doch für diese Form von Stärke haben sie oft keinen Blick, ist sie doch weit aus weniger imposant anzusehen als ein kräftiger Bizeps. Posing ist vorbei, anderes wird von Jungen erwartet. Doch damit haben sie so ihre Schwierigkeiten, und das wiederum führt bei Jungen zu Problemen.
Jungen sind in Not geraten. Vieles wird von ihnen gefordert, für das ihre «Bordmittel» nicht ausreichen. Weil eine einseitige, unzureichende Prägung und eine mangelhafte Anleitung von Jungen dazu führt, dass sie den steigenden Anforderungen nicht mehr gewachsen sind, leiden immer mehr Jungen unter den Folgen und mit und unter ihnen auch andere.
Sinn dieses Buches soll sein, Anstoß zu geben, einen Blick auf Jungen zu erhalten, der sie nicht nur als Täter sieht, sondern auch als Opfer einer Welt, die ihnen nicht ausreichend gut tut. Jungen halten uns einen Spiegel vor – ihre Katastrophe ist eigentlich die Mensch gewordene Unfähigkeit der Erwachsenen und unserer Gesellschaft, die Entfaltung verhindert und Überforderung schafft. In welchen Bereichen dies geschieht, zeige ich an ausgewählten Beispielen auf, wobei Jungen auch selbst zu Wort kommen.
Mit meinem Beitrag möchte ich die gegenwärtige Situation von männlichen Menschen analysieren. Dabei spielen auch die älteren, die Väter und Männer insgesamt, eine wichtige Rolle. Haben sie doch eine wesentliche Aufgabe für Jungen: Sie sind deren Rollen-Vorbilder.
Im Wissen um die Unmöglichkeit von Ausgewogenheit bei so einem Thema habe ich des Öfteren verallgemeinernd von Jungen gesprochen. Die Jungen gibt es aber nicht. Jeder Junge ist besonders. Und dennoch gibt es viel Verbindendes zwischen ihnen: Eines Tages werden sie Männer sein. Und wie diese zu sein haben, lernen sie schon sehr früh. Vieles von dem, was ich schreibe, trifft also immer nur auf bestimmte Jungen zu, und die meine ich dann auch.
Die Sicht auf die Situation der Mädchen habe ich zumeist weggelassen, obwohl viel von dem Gesagten auch auf sie zutrifft. Wichtig ist: Ich habe ein Buch über und für Jungen geschrieben und nicht gegen Mädchen.
Das Buch ist subjektiv und hat mit meiner Wahrnehmung und meinen Erfahrungen zu tun. Als ehemaliger Junge könnte ich schon viel zum Thema anmerken, auch als Vater zweier Söhne mache ich viele Erfahrungen. In der Schule als Lehrer habe ich ebenfalls sehr viel mit Jungen zu tun. Ganz besonders häufig mit denen, die Schwierigkeiten haben und die Schwierigkeiten machen. Als Beratungslehrer sowohl an einer Grund- als auch an einer Gesamtschule bleibt es nicht aus, ihre spezielle Not besonders in der Schule zu erkennen.
Der Befund könnte dort wie an anderer Stelle lauten: Diagnose «Junge». Ohnmächtig stehe ich manchmal vor den Herausforderungen, die die Arbeit mit Jungen mit sich bringt. Es kommt mir so vor, als würde ich versuchen, einen See mit einem Löffel zu leeren. Elternhaus, Arbeitswelt, Öffentlichkeit und die Macht der Medien scheinen immer wieder das zu torpedieren, was mühevoll von engagierten Eltern und Pädagogen zur «Rettung» vieler Jungen getan wird.
So ist meine Hoffnung darin begründet, dass sich immer mehr Menschen einen unverstellten Blick auf und einen liebevollen Zugang zu Jungen verschaffen und damit ebenso viel verändern können, wie es die «Frauenbewegung» für die Mädchen konnte. Dieses Buch hat das Ziel, Jungen nicht zu verdammen, sondern aufzuzeigen, was Jungen brauchen, um innerlich stark zu werden.
Machen wir sie stark und vergessen ihr Herz dabei nicht!
Viele Jungen haben es in der Erziehung fast ausschließlich mit Frauen zu tun. Immer mehr Jungen werden nach immer mehr «Familienauflösungen» von ihren Müttern allein erzogen. Da in den allermeisten Fällen im Kindergarten und im Hort die Bezugs und Erziehungspersonen ebenfalls weiblich sind, fällt zumeist Frauen die Aufgabe zu, die schwierige Sozialisation von Jungen zu gestalten und mit deren ersten Machoallüren umzugehen. Auch die Grundschule ist eine Welt fast ohne Männer. Die Lebenswelt von Jungen ist überwiegend weiblich geprägt.
Fast jede zweite Ehe in der Bundesrepublik wird geschieden. Viele Väter wollen oder können die alltägliche Betreuung ihrer Kinder nicht leisten, manchmal sollen sie es aber auch nicht, und so wachsen die meisten Scheidungsjungen bei ihren Müttern auf. In Deutschland erziehen zwanzig Prozent aller Mütter ihre Kinder ohne deren Vater!1 Das bedeutet, jede fünfte Frau mit mindestens einem Kind unter 15Jahren ist allein erziehend. Knapp zwanzig Prozent aller Kinder leben inzwischen in Deutschland in so genannten «Einelternfamilien». Rund 3Millionen Alleinerziehende, achtzig Prozent davon sind Frauen, haben sich entweder selbst entschieden, diese wichtige Aufgabe zu leisten, oder sind durch die Umstände dazu gezwungen worden. Verheiratete Frauen erziehen sehr oft auch allein, aber meist aus anderen Gründen als geschiedene. Allein stehende Frauen leisten mit viel Liebe, oft mit dem Verzicht auf ein ausgedehntes Privatleben und eine eigene berufliche Karriere, was Kinderlose sich nur schwer vorstellen können: Die verantwortungsvolle Aufgabe der Erziehung von immer mehr trennungsgeschädigten Jungen und Mädchen liegt in den allermeisten Fällen in rein weiblichen Händen.
Frauen haben großen Einfluss auf die nächste Generation. Sie beackern ein entscheidendes Feld. Sie säen ihre Sicht der Welt und des Mensch- und Mannseins in ihre Kinder. Viele können und wollen dieses Feld gar nicht räumen, wissen sie doch sehr genau, wie bedeutsam das Muttersein ist, was sie an ihren Kindern haben: erfüllende Beziehungen zu ihren Kindern, die im Alter auch noch für sie da sind. Kinder sind ein «Schatz», den es zu bewahren gilt.
Viele Väter «verwaisen», wenn sie von ihrer Frau verlassen werden. Sie verlieren nicht nur die Partnerin, die in immer mehr Fällen die Trennung aktiv einleitet, sondern auch ihre Kinder. Väter, die es nicht besser wussten oder konnten, die zu wenig in die Familie investiert haben, leiden erst dann, unter dem Verlust ihrer Familien, wenn es zu spät ist. Viele Männer kommen gar nicht auf die Idee, dass sie zu einer aktiven positiven Vaterschaft fähig wären und wie diese aussehen könnte. Oftmals haben sie in ihren Augen bereits all das gegeben, was sie unter einer guten Vaterschaft verstehen. Sind sie doch das Produkt ihrer eigenen Sozialisation. Ihnen wurde von Männern nicht ausreichend vorgelebt oder – auch von Frauen – nicht intensiv genug vermittelt, was es bedeutet, ein «besserer» Mann und Vater zu sein. Viele Männer vereinsamen und verwahrlosen emotional noch mehr, wenn sie von ihrer Familie getrennt leben.
Jungen, denen aufgrund ihrer Familienverhältnisse wenig väterliche und viel mütterliche Präsenz beschieden ist, müssen sich nicht zwangsläufig zu Problemkindern entwickeln. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Kindheit voll mütterlicher Liebe positiv auf ein Jungenleben auswirkt, ist sehr groß. Mütter dürfen sich nicht schuldig fühlen. Und sie sollten nicht nur deshalb bei ihren oft gar nicht vorbildhaften Männern bleiben, um zu gewährleisten, dass ihr Sohn eine männliche Identifikationsfigur hat. Nur wegen der Kinder zusammenzubleiben ist keine Lösung für elterliche Spannungen. Das hat sich zu oft als falscher Weg herausgestellt. Die richtige Konsequenz wäre es aber, sich wegen der Kinder um ein besseres Miteinander zu bemühen und sich mit den eigenen, unterschiedlichen Rollenbildern auseinander zu setzen, denn Jungen brauchen echte Papas und das rechte Maß Mama.
Väter sind für Kinder nicht zu ersetzen, ebenso wenig wie Mütter. Väter sind keine Mütter und Jungen keine Mädchen. Jungen sind anders und diese Andersartigkeit will berücksichtigt sein.
Achtzig Prozent der Ratsuchenden, die eine Erziehungsberatungsstelle aufsuchen, sind Mütter mit ihren Söhnen. Mütter reden mit anderen über ihre Probleme, sie holen sich Hilfe, gerade auch bei Erziehungsfragen. Dabei geht es häufig um das häusliche Verhalten des Sohnes, um die schulische Situation der Jungen, ihre «Nullbockhaltung». Insgesamt haben Jungen schon mehr Schwierigkeiten, wenn sie ohne Vater aufwachsen. Drogenkonsum, aggressives Verhalten, auch autoaggressive suizidale Gedanken und Handlungen kommen bei Jungen häufiger vor, wenn sie keinen Vater mehr greifbar in ihrer Nähe haben. Die krisenhafte Entwicklung vieler Jungen weist nicht auf ein Versagen der Mutter hin. Es ist vielmehr ein deutlicher Hinweis darauf, wie wichtig und wie besonders die Beziehung eines Jungen zu seinem Vater sein kann.
Ein anwesender Vater ist aber keine Garantie, vor derlei Problemen bewahrt zu bleiben. Es gibt vielmals gerade auch wegen des Vaters eine ganze Reihe von Schwierigkeiten für Jungen. Als Beispiel sei hier nur der hohe schulische oder berufliche Erwartungsdruck von manchen Vätern gegenüber ihren Söhnen erwähnt. Die oftmals überforderten Jungen wissen oft keinen Rat mehr und handeln kurzschlussartig. In seltenen Fällen auch mit dem «Vatermord». Doch dank des Verhaltens vieler Mütter kommt es gar nicht erst zu solch drastischen Maßnahmen. Manche Mütter verlassen aus Fürsorge ihren Kindern gegenüber den Mann, der seine Vaterpflichten missbraucht und in bestimmten Fällen gar nicht mehr «Vater» genannt werden dürfte.
Wenn Frauen ihren Mann verlassen, weil er in ihren Augen als Partner, als Mann oder als Vater versagt, dann bleibt den Jungen nur noch die Mutter. Sie ist dann die einzige elterliche Bezugsperson. Sie, die Alleinerziehende, ist für alles verantwortlich, ist immer da: morgens, mittags und abends. So ist die Mutter die erste und einzige Bezugsperson, diejenige, die morgens das Schulbrot schmiert und abends die Einschlafkassette umdreht. Eine Mutter für alle Fälle und vor allem rund um die Uhr, auch in den Situationen, in denen Jungen eigentlich einen Mann, einen Papa bräuchten. Eine schwierige Situation, für Mutter und Sohn.
Wie sehr Jungen die Andersartigkeit von Männern genießen, zeigt mir mein achtjähriger Sohn Benedikt immer dann, wenn er zum Beispiel von einem Ausflug mit seinem Freund Marcial und dessen Vater zurückkommt. Marcials Vater hat einen «richtigen» Geländewagen, mit dem die drei hin und wieder durchs Gelände fahren. Das Größte für die beiden Jungen ist es, wenn der Vater dabei – vorsichtig fahrend – die Jungen auf der Motorhaube sitzen lässt. Ängstliche Bedenkenträger werden vor Augen haben, was alles Schreckliches in dieser Situation passieren könnte. Die Begeisterung aber, mit der mir mein Sohn stolz von einem solchen Erlebnis berichtet, würden sie vielleicht gar nicht wahrnehmen können. Wie gut, dass es auch andere verantwortungsbewusste Väter gibt, die mit meinem Sohn etwas Aufregendes unternehmen, etwas «für Jungen», etwas, was ich ihm vielleicht nicht ermöglichen kann.
Mütter können solche Prozesse unterstützen, in denen ihre Söhne sich ausprobieren wollen. Allerdings kommen sie in Bereichen, die ihrer Erfahrungswelt fern liegen, schnell an ihre eigenen Grenzen. Sie müssen ihrem Sohn aber auch nicht beweisen, sie könnten alles. Mütter können eher als Väter über ihre Defizite sprechen, auch über ihre Überforderungen, weil es sich ja nicht um Bereiche handelt, durch die sie sich stark identifizieren. Einem Vater würde dies vor seinem Sohn oder anderen Vätern nicht so leicht fallen. Viele Väter sind gerne die Helden ihrer Söhne.
Jungen haben in ihrem Leben oft nur mit Frauen zu tun. Ganz besonders eindrücklich wird dies in der Grundschulzeit. Dort gibt es wie allgemein bekannt eine deutliche Überrepräsentanz von Lehrerinnen, in Einzelfällen gibt es sogar bei mehreren hundert Kindern keinen einzigen Lehrer. In einer Schule in Hamburg wird selbst die Hausmeisterei von einer Frau betrieben. Eine Schule ganz ohne Männer! Ist das nicht die Erfüllung eines radikalfeministischen Traumes der Frauenbewegung? «Eine Welt ohne Männer!» Für viele Lehrerinnen von heute ist es wohl eher ein Albtraum. So wünschen sich die weiblichen Kollegien dringend mehr Männer an den Schulen, nicht unbedingt nur die «soften». Auch die kleinen Knirpse an den Grundschulen äußern den Wunsch nach mehr männlicher Präsenz in der «Frauenschule». Einer meiner (wenigen!) männlichen Lehramtsstudenten befragte diverse Klassen der 3. und 4.Jahrgangsstufe nach ihrer schulischen Situation. Die Auswertung der schriftlichen Ergebnisse zeigte, dass lediglich ein Junge es gut fand, dass nur Frauen an seiner Schule sind. Seine Begründung: Er findet sie lieb und nett. Alle anderen Jungen äußerten sich mehr oder weniger ablehnend gegen eine Beschulung allein durch Pädagoginnen. Oftmals mit dem Grund, Frauen würden Mädchen bevorzugen und könnten sich nicht richtig durchsetzen. Männer werden von ihnen als «härter» angesehen, auf die würden sie hören.
Viele Lehrerinnen bestätigen, dass sich Jungen oft nichts mehr von ihnen sagen lassen, sie reagieren auch nach mehrmaliger Aufforderung oder Ermahnung nicht. Sie sind «mamataub» geworden. Jungen schalten auf «Durchzug», wenn Frauen ihnen – in ihrer höheren Stimmlage– Anweisungen geben. Sie sind auf der «Mama-Frequenz» immun geworden. Zu viele Korrekturen und Hinweise haben sie über sich ergehen lassen müssen. Zwischen Sohn und Mama gibt es dafür immer wieder Anlässe, ihre Rollen und Eigenarten sind zu verschieden. Sobald Pädagoginnen aber ihre Stimme gezielt senken, reagieren Jungen viel eher.2
Jungen spüren, dass sie die Korrektur letztlich brauchen, aber ihr Unabhängigkeitswunsch, ihr «Ego» ist oftmals stärker. Und solange der Druck nicht groß genug und wirklich eindrücklich ist, geschieht häufig erst einmal gar nichts. «Abwarten und sehen, was passiert» – lautet die Devise. So fordern deshalb gerade Jungen immer wieder gezielt nach einem durchsetzungsstarken, strengen, aber gerechten Pädagogen.
Auf dem Rückweg der Drittklässler vom Hallenschwimmbad zur Schule scherte ein recht klein gewachsener Junge immer wieder aus der Gruppenordnung seiner Klasse aus. Die Kollegin, selbst auch recht klein, forderte den Jungen mehrmals auf, sich von der stark befahrenen Straße fern zu halten. Doch er reagierte einfach nicht. Als er Anstalten machte, die vierspurige, stark befahrene Straße schon weit vor dem gesicherten Ampel-Überweg zu überqueren, ging ich zu dem Jungen (ich war mit meiner Klasse ebenfalls auf dem Rückweg vom Schwimmbad) und «klemmte» ihn mir unter den Arm. «Wenn du allein nicht sicher gehen kannst, dann muss ich dich wohl tragen!» Mehr Worte hatte ich nicht für ihn. Die Lehrerin ließ mich gewähren und war froh, dass der Junge «gebändigt» war, schließlich war sie für seine Sicherheit verantwortlich. Einige hundert Meter blieb der Junge still in der nicht ganz bequemen Position. Dann meinte er: «Ich kann jetzt wieder alleine gehen.» Ich ließ ihn hinunter, und wir gingen ruhig nebeneinander bis zur Schule. Von diesem Tag an grüßte er mich freundlich. Die Lehrerin fand diese paradoxe Intervention in Ordnung. Sie hatte nicht den Eindruck, ich hätte ihre Autorität untergraben. Ihr Verhältnis zu dem Jungen war ab diesem Zwischenfall ebenfalls verbessert. Vielleicht hat er etwas gelernt. Es geht zwar oft um die Macht-Frage zwischen Schülern und Lehrern, aber vornehmlich sollte es um ihre Entwicklung und um ihre Sicherheit gehen.
«Wer Ohren hat, der höre!» Das ist bei Jungen aber nicht so einfach. Durch das Ohr erreicht man Jungen schwer, sie reagieren eher auf andere Sinne. Sie hören weniger und fühlen mehr. Besonders wichtig ist ihnen, mit den Rezeptoren ihres ganzen Körpers die Umwelt wahrzunehmen. Aus diesem Grund hat die Kinderpsychologin Jirina Prekop gerade für wilde Jungen die so genannte «Festhalte-Therapie» propagiert, die den Erwachsenen das enge Festhalten des Kindes als Alternative zu anderen (oft viel härteren) Maßnahmen anrät.3 Bei der großen «Liebe» vieler Jungen am Raufen und Balgen – wobei sie selbst auch sehr fest halten und den engen Kontakt suchen – erfassen und spüren Jungen sich und die Situation, auch den Ernst der Lage, viel besser. Doch gerade Müttern ist der nahe Kontakt zu ihrem Sohn schnell zu grob. Meine Frau hat allzu schnell einen blauen Fleck, wenn sie mit unserem ältesten Sohn aus Spaß «rauft».
Der sehr persönliche Text eines meiner Studenten bringt das zum Ausdruck, was vielleicht viele Jungen empfinden, wenn sie einzig mit ihrer Mutter zusammen sind
«…Meine Mutter, meine Mutter ist für mich die Person, die mich von Geburt an großgezogen und vor allem erzogen hat. Ich glaube nicht, dass sie mich in dieser Zeit je verstanden hat, aber vielleicht konnte ich auch bloß nicht ihr Verständnis von gut und schlecht, von Benehmen und Fehlverhalten auf meine Verhaltens- und Erlebnisweisen umsetzen.
Wir haben uns ständig gezofft und gestritten, und ihre Kritik an meiner (Er-)Lebensweise liegt mir heute noch in den Ohren. Papa, Papa ist anders gewesen. Wir haben uns nie gestritten, nie habe ich ihn schreien gehört oder gar eine Ohrfeige bzw. einen Arsch voll von ihm bekommen. – Aber Papa war auch nie zu Hause. Anfangs hat er immer sehr lange gearbeitet, sodass ich schon im Bett lag, als er nach Hause kam. Später dann ist er ganz bei seiner Arbeit geblieben, und von Zeit zu Zeit hat meine Mutter einen Ersatzpapa mit nach Hause gebracht, nur, eine wirkliche Nähe oder gar Geborgenheit ist dabei nicht entstanden. Aber warum sollte ich denn schon zu diesem Zeitpunkt klagen? Ich hatte doch noch meine gesamte Zukunft vor mir, und an deren Anfang stand die (Grund-)Schule. – Juhu? – Endlich ein Lehrer in meinem Lebenslauf, ein Vorbild, eine Identifikationsperson!
Mein erster Lehrer hieß allerdings Frau R.… und war weiblich. Bis heute bin ich das Gefühl nicht losgeworden, dass ihr Unterricht an mir vorbeilief. So seltsame Unterrichtskonzepte, geprägt von Sozialkompetenz, Teamorientierung, Kommunikations- und Sprachfähigkeit, hatten in ihrem Sinnverständnis eine ganz andere Bedeutung als in meinem. Auch ihre Wertlegung auf den Unterschied von Mädchen und Jungen – hört sich doch gar nicht so schlecht an! – kommt mir im Nachhinein etwas suspekt vor. Wenn ich das Ganze so rekapituliere, erscheint es mir schon recht merkwürdig, dass weibliche Power nach ihrem Verständnis gleichzusetzen ist mit Temperament, während die männliche Übersetzung wohl eher Verhaltensstörung geheißen hätte.»4
Jungen sind oft so ganz anders als Mädchen. Viele Frauen und weibliche Altersgenossinnen der Jungen haben Schwierigkeiten, dies anzuerkennen und damit angemessen umzugehen. An toughe, starke Mädchen, die sich dank ihrer intensiven Förderung in den letzten Jahrzehnten immer selbstbewusster entwickeln konnten, haben sich inzwischen viele Erwachsene gewöhnt. Viele Jungen aber offensichtlich noch nicht. Mädchen sind zum Maßstab geworden, an dem Jungen sich zu messen haben. Doch gemessen an diesem hohen Maß des sich behauptenden, aufstrebenden weiblichen Geschlechts stechen Jungen deutlich hervor, und zwar negativ. So wird ihre geschlechtsbezogene Schwäche in vielen Bereichen oftmals schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt recht deutlich. Kindergärten-Muttis und Grundschullehrer-Tanten beklagen die Schwächen des ehemals als stark bezeichneten Geschlechts zunehmend.
Besonders Frauen, Mütter, bekommen zu spüren, wie schwer es in vielen Fällen geworden ist, mit einem aus dem Lot und in Not geratenen, angeknacksten Helden zusammenzuleben. Um für das Leben mit einem Jungen gerüstet zu sein, reicht es für viele, hauptsächlich allein erziehende Frauen nicht aus, auf die eigene Lebenserfahrung zurückzublicken, es reicht nicht, erwachsen zu sein oder Mutter zu sein. Vielfach ist das Verhältnis zum männlichen Geschlecht bestimmt vom Unverständnis für dessen Andersartigkeit. Allerdings kommen manche Mütter besser mit ihren Söhnen zurecht als andere. Nicht alle Mütter sind gleich, und vor allem sind nicht alle Jungen gleich. Es gibt eben Jungen jeder Sorte. Was letztlich im Leben darüber entscheidet, wie sich ein Junge entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab. So zum Beispiel auch von der Art und Weise, wie er gefördert und gefordert wird, wer mit ihm zusammenlebt, wie er erzogen wird und welche Anlagen er mitbringt.
So verschieden, wie Jungen sind, so verschieden sind auch Mütter oder Väter. Manche kommen gut mit Jungen aus, andere eher mit Mädchen. (Sicherlich gibt es auch Mütter und Väter, die die Unterschiedlichkeiten der Geschlechter zu schätzen wissen und mit beiden gut klarkommen.) Schwierig scheint es aber dann zu werden, wenn eine «typische» Mädchenmutti einen wilden Kerl großziehen soll. Sie wird wahrscheinlich viel mehr Irritationen erleben als eine so genannte «Jungenmutti», das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn wird eher von Unverständnis geprägt sein.
Die Tatsache der Feminisierung der Lebenswelt von Jungen kann zum Problem für sie werden, denn sie wollen und sollen keine Frauen werden. Doch benötigen sie männliche Vorbilder, besonders in der Schule. Eine zu starke «Verweiblichung» ihres Lebensumfeldes, die Allgegenwart des anderen Geschlechts, das massive Erleben der weiblichen Einflussnahme auf ihren Alltag, das Gefühl, dass vieles von dem, was sie tun, von weiblichen Menschen nicht nachvollzogen werden kann und abgelehnt wird, kann dazu führen, dass sich Jungen ganz bewusst von Frauen entfernen. Eine fatale Entwicklung, denn grundsätzlich empfinden die allermeisten Jungen Dankbarkeit und Wohlwollen gegenüber ihren Müttern. Dies kann sich aber verändern, denn viele Mütter haben aufgrund der Doppelbelastung durch Beruf und Erziehung auch eine andere Rolle bekommen. Sie müssen Mütterlichkeit und Väterlichkeit in sich vereinigen und verlieren so einen Teil ihres Mutterseins.
Die rund 2,4Millionen Alleinerziehenden weiblichen Geschlechts in Deutschland versuchen ihren Kindern zu geben, was sie brauchen: Nähe, Liebe, Schutz, Sicherheit und die Erfüllung anderer existenzieller Grundbedürfnisse. Ein Elternpaar kann sich diese umfangreichen Aufgaben so gut es geht teilen. Eine ideale Ergänzung bisweilen. Beide Geschlechter können beide Parts (finanzielle Versorgung und häusliche Betreuung) übernehmen, falls die Möglichkeit dazu besteht. Alles gleichzeitig, das ist oft eine Überforderung. Viele Mütter wollen ihre Kinder gar nicht allein großziehen, doch mangelt es an kompetenten Partnern für sie und passenden «Ersatzvätern» für ihre Kinder.
Manche Frauen haben aber auch schon viel Übung mit dem Alleinerziehen, weil ihr Partner sich nie ernsthaft um einen tieferen Zugang zur Familie bemüht hat oder weil sie selbst ihn gar nicht ernsthaft in die engere Familie integrieren wollen. Trotz all der möglichen Konsequenzen, die sich aus der Situation des Alleinerziehens ergeben können, wagen Mütter diesen Schritt heute eher als noch zu Zeiten ihrer Mütter. Zumeist, weil sie eine Berufsausbildung haben und weil es heute gesellschaftlich kein Stigma mehr ist, geschieden zu sein. Doch Mütter und Väter, und vor allem die Kinder, zahlen dafür einen hohen Preis. Gerade die Jungen sind durch die familiären Veränderungen, den Verlust des Vaters, besonders betroffen. An ihnen wird deutlich, wie wichtig ein Vater für die Entwicklung speziell eines Jungen ist, und wenn es auch nur ein «Teilzeitpapa» ist.
Die allein erziehende Mutter eines sieben Jahre alten Sohnes drückte das einmal mit folgenden Worten aus:
«Ich kann den Bedürfnissen meines Sohnes nach männlichen Themen nicht mehr gerecht werden. Ich kann ihm zeigen, wie er mit dem Taschenmesser umgehen muss, um sich nicht zu schneiden, aber ich kann ihm nicht zeigen, was man damit eigentlich machen kann. Ich versuche mit ihm Mamasachen und Papasachen zu machen, doch es gibt einfach Dinge, da merke ich, das ist nicht meins und das wird auch nie meins werden. Da verbiege ich mich auch nicht. Das geht einfach nicht. Dazu gehört auch das Spielen mit Legosteinen. Mein Sohn liebt es, aber ich kann dem überhaupt nichts abgewinnen. Es ist die reinste Strafe für mich.»
Vielen Müttern fällt es schwer, sich auf gemeinsame Unternehmungen, auf «jungentypische» Spiele und Beschäftigungen mit ihren Söhnen einzulassen. Sie entsprechen oft nicht ihren eigenen Interessen. Und wenn sie dennoch mitspielen, spüren die Jungen ihre Lustlosigkeit sehr schnell und verlieren ebenfalls die Freude am Spiel. Gleiches gilt natürlich auch für lustlose Väter. Echtheit und Authentizität werden nicht nur in der Erwachsenenwelt eingefordert. Kinder spüren sehr schnell, wer es wie mit ihnen meint. Dafür haben sie feinste Antennen. Eine Mutter, die ständig über ihren eigenen (weiblichen) Schatten springt, ist zwar «tapfer» und ausdauernd, aber sie wird dadurch mit ihrem Sohn nicht die gleiche gemeinschaftliche Intensität erleben wie ein Vater, der mit Begeisterung auch seine eigenen Interessen verfolgen kann. Man kann den positiven Beitrag des Vaters auf die Entwicklung eines Kindes nicht auf Taschenmessereinsätze und Legobaustellen beschränken. Väter sind anders als Mütter, dementsprechend gehen sie auch anders mit ihren Söhnen um. Diese Andersartigkeit ist es denn auch, die dem Sohn fehlt.
Jeden Tag eine Hawaiipizza kann irgendwann einmal dazu führen, dass man Hawaiipizza nicht mehr mag. Kinder, die nur mit einer Mutter aufwachsen, müssen sich damit arrangieren, dass sie keine Beziehungsalternative haben. Sie erleben die Mutter als einzige Person, die sie erzieht, betreut und versorgt. Eine Mutter für alle Fälle. Dies kann beiden irgendwann einmal auch zu viel sein: zu viel Sohn und zu viel Mama. Junge und Mutter – das ist heutzutage in vielen Fällen schon die ganze Familie. Das ist besser als gar keine Familie, aber oft reicht dem Jungen das nicht aus. Für Mutter und Sohn bringt diese Situation Schwierigkeiten mit sich, die keiner von beiden will. Oft verursacht durch die unterschiedliche Art der beiden: er ein kleiner Mann und sie ein großes Mädchen.
Die Andersartigkeit zwischen Mutter und Sohn führt immer wieder zu großem Unverständnis auf beiden Seiten. Manchmal passiert genau das, was auch schon zwischen Frau und Mann zu Spannungen geführt hat. «Du bist genau wie dein Vater!» Jeder Junge weiß, dass dies kein Kompliment ist. Hat er doch in vielen Fällen die vorwurfsvolle Haltung seiner Mutter gegenüber dem Vater miterlebt. Nun wird er, der letzte Mann im Haus, immer wieder Anlass für Konflikte und Auseinandersetzungen.
Diese Auseinandersetzungen können eine Mutter an den Rand ihrer psychischen wie physischen Kräfte bringen. Nicht selten eskalieren solche Situationen und erhalten den Charakter eines Dramas. Mutter und Sohn können dann aus diesen Mustern nicht mehr alleine heraus. Es kann zu gewalttätigen Übergriffen kommen, zuerst noch dominiert von der Mutter, doch mit zunehmendem Alter und wachsender Kraft dann auch vom Sohn. Die Übergriffe, von denen ich Kenntnis bekommen habe, sind nicht repräsentativ, aber sie zeigen mir die große Not in diesen Beziehungen. Beide, Mutter wie Sohn, spüren in solchen Katastrophensituationen letztendlich ihre Ohnmacht. Sie haben das Gefühl, nichts gegen diese verhängnisvolle Entwicklung ihrer ehemals oft guten, manchmal auch symbiotischen Beziehung unternehmen zu können. Mütter suchen Rat und Verständnis. Sie wollen verstehen, warum dies so ist. Sie verstehen die Jungen nicht und fühlen sich selbst auch unverstanden. Wie tickt ein Junge? Kann sich eine Mutter das überhaupt vorstellen? Viele Menschen nehmen sich selbst als Maß aller Dinge. Müttern fällt es oft schwer, sich in ihren Sohn hineinzuversetzen, wenn es ihnen nicht gar unmöglich ist. Auch der Sohn hat Schwierigkeiten, seine Mutter zu verstehen. Er darf sich als angehender Mann gar nicht uneingeschränkt mit seiner Mutter identifizieren. Tut er dies doch, setzt er seine männliche Identität aufs Spiel. In jedem Jungen wächst irgendwann der Wunsch, anders sein zu wollen als die Mutter. Er will ein Mann werden und nicht eine Kopie seiner Mutter. Bei einem «Zuviel» an Mama ist die Abwendung vom weiblichen Vorbild manchmal besonders ausgeprägt und für die Mutter schwer zu ertragen. Je mehr Mama, desto mehr Abkehr? Dies ist sicherlich nicht bei allen Jungen die Regel. Doch stark auf die Mutter bezogene Jungen müssen auf der Suche nach Männlichkeit viel nachholen. Viele Jungen gehen dann in genau die entgegengesetzte Richtung, sie setzen sich bewusst stark von der Mutter ab und tun genau das, was eine Frau nicht tut. Sie versuchen den wichtigen Spannungszustand zum Weiblichen herzustellen, indem sie den Gegenpol einnehmen. Ein Zuviel der einen Seite verlangt danach, die andere Seite stärker auszubilden.
Jungen wie Mädchen gehen in Opposition zu Erwachsenen, wenn sie ihre eigene Persönlichkeit entwickeln. Sie stellen Autoritäten und Lebensformen infrage, um sich abzugrenzen und eine Identität aufzubauen. Steht für diesen wichtigen Prozess der Abnabelung und Selbstfindung einzig allein die Mutter zur Verfügung, kann es bei dem Sohn zu einem Wirrwarr an Gefühlen ihr gegenüber kommen. Die Mutter ist einerseits die zärtliche und vertraute Lebensstifterin, sie ist diejenige, die für den Sohn sorgt und seine immer höheren Ansprüche erfüllt und oft genug auch finanziert. Andererseits ist sie der Reibeklotz, durch den der Junge seine Unabhängigkeit und Identitätsfindung voranbringen möchte. Sie wird gleichzeitig verehrt und bekämpft. Gefühle von Zärtlichkeit, Dankbarkeit, Zuneigung, Trauer, Angst, Unsicherheit und Wut mischen sich miteinander, wenn der Sohn versucht, sich abzunabeln, und belasten das Mutter-Sohn-Verhältnis, besonders, wenn sich alles auf die Mutter konzentriert, weil das «männliche Element» in der Kleinstfamilie fehlt.
Ich hatte ein längeres Gespräch mit einer Mutter von zwei Söhnen (sechs und acht Jahre), deren Situation ich hier beschreiben möchte:
Die Frau ist geschieden und erzieht ihre zwei Söhne zum größten Teil allein. Sie ist bemüht, alles richtig zu machen und ihren Söhnen möglichst keinen Nachteil durch die Trennung vom Vater zu verschaffen, die sie aktiv betrieben hatte.
Obwohl sie sich bereits während der Ehe als stark führend und hauptverantwortlich für die Partnerschaft und die Jungen empfand, fühlt sie sich nun in der klaren Einzelsituation mit den Jungen noch mehr allein. Besonders in Krisenzeiten. Die Jungen sollen nach ihren Wert- und Erziehungsmaßstäben erzogen werden. Ein besonders wichtiges Ziel sieht die Mutter darin, dass ihre Söhne verantwortungsvolle und reflektierende Menschen werden, die die eigenen Bedürfnisse und die der Mitmenschen erkennen und ernst nehmen. Um dies zu erreichen, spricht sie sehr viel mit den Jungen und reflektiert über das Verhalten aller Familienmitglieder. Die Jungen sind deshalb sprachlich sehr sicher und wirken diesbezüglich auf andere eher wie kleine Erwachsene und weniger wie Kinder.
Der jüngere Sohn reagiert in Konfliktsituationen mit heftigen emotionalen An- und Ausfällen, die die Mutter sehr beunruhigen. Dann weiß sie nicht, wie sie mit ihm umgehen soll, wie sie ihm eine Grenze setzen kann. Manchmal ist er erst in der Lage, sein Verhalten zu ändern, wenn sie Gewalt androht oder anwendet. Dann ist er so erschrocken, dass es ihm manchmal gelingt, sich zu beruhigen. Doch die Mutter möchte es nicht jedes Mal dazu kommen lassen. Es tut ihr seelisch weh, so weit gehen zu müssen. Sie sucht nach Alternativen.
Ich versuchte ihr aufzuzeigen, wie sie eventuell auf ihren Sohn wirkt und was ihn zu seinem Verhalten bewegen könnte. Ihr ist es nicht möglich, sich vorzustellen, was ihn antreibt oder wie er sich fühlt, warum er sie so weit bringt und was sie falsch macht. Der Junge erlebt seine Mutter im Alltag meist sehr kontrolliert und gut strukturiert. Sie bemüht sich, ihn immer sehr vernünftig anzusprechen und erwartet von ihm ebenfalls ein an Vernunft orientiertes Verhalten. Ich stellte einige Vermutungen an: Vielleicht möchte der Junge wissen, wie seine Mutter hinter der Fassade der Vernunft ist, wer sie eigentlich ist. Wann verliert sie die Kontrolle über sich? So wie er auch bisweilen die Kontrolle verliert. Wann bricht sie zusammen und macht etwas, das sie eigentlich zutiefst ablehnt? Dann könnte er vielleicht sein Verhalten, das er wahrscheinlich selbst auch ablehnt, aufgeben. Wann zeigt sie sich ihm echt, ganz unkontrolliert? Wann zeigt sie ihm seine und ihre Grenzen?
Fragen, die anregen, danach zu schauen, was sein könnte; die als Angebote dienen.
Doch es könnte auch ganz anders sein:
Vielleicht erwartet der kleine Junge auch die Souveränität seiner Mutter, eine besonnene Stärke, die ihm Sicherheit vermittelt, wenn er selbst nicht weiß, was mit ihm passiert während seiner Gefühlsausbrüche. Er ist vielleicht erschrocken und hilflos, wegen seiner eigenen Kraft und Wut. Er will kontrolliert werden, wenn er selbst die Kontrolle verloren hat.
Es gibt sicherlich noch andere Erklärungsversuche, an denen die Mutter ihr weiteres Vorgehen orientieren könnte. Eine genaue psychologische Analyse der Situation kann hilfreich sein, doch in dem Gespräch mit der Mutter ging es nicht darum, die Lösung für all die Alltagsprobleme zu finden. Es ging vielmehr darum, der Mutter wieder einen Zugang zu ihrem Sohn zu ermöglichen, ihr mögliche Beweggründe für sein Verhalten aufzuzeigen, sie wieder handlungsfähig zu machen. Und sei es erst einmal nur gedanklich. Dazu musste ich ihr vermitteln, dass ihr Sohn seine Gründe für sein Verhalten hat. Es gibt kein Verhalten ohne Sinn. Sie ist nicht schuld und hat auch nicht versagt, nur weil sie die Situation nicht lösen kann. Es bedeutet auch nicht, dass der Sohn die Mutter ablehnt oder gleich als psychisch gestört gelten kann, er reagiert in bestimmten Situationen eben nur ganz anders als sie.
Sie ist eine Frau, ein ehemaliges liebes Mädchen, das sich einfach nicht vorstellen kann, was in ihrem Jungen vor sich geht. Sie selbst war als Kind ganz anders, angepasst, freundlich und hat ihre Mutter geachtet, hat ihr nicht Kummer oder «Leid» zufügen wollen, wie sie es unbewusst von ihrem Sohn vermutet! Sie verfügt also über keine Erfahrungen, die ihr helfen würden, diese Situationen mit eigenem Erleben gleichzusetzen. Und im konkreten Konfliktfall verschwinden alle angelesenen Erziehungstipps irgendwo im Bermuda-Dreieck des Situations-Stresses. In Notfällen greifen Menschen oft nur noch auf ganz tief sitzende Erfahrungen oder Verhaltensmuster zurück. Doch wenn dort kaum etwas Konstruktives ist, kommt sehr schnell das Gefühl der Ohnmacht auf. Ohnmächtige Menschen aber können nicht mehr angemessen reagieren.
Deshalb müssen besonders allein erziehende Mütter von dem Gefühl der Ohnmacht befreit werden, sie müssen entlastet werden von dem Anspruch, sie allein könnten ein Kind vollständig prägen, sie allein seien dafür verantwortlich, dass das Leben ihres Sohnes gelingt oder scheitert. Müttern muss auch geholfen werden, einen anderen Blick auf ihre Söhne zu entwickeln, sodass sie in ihnen nicht das gestörte Kind sehen, sondern den überforderten und ebenso auch den fordernden Jungen.
Das Gespräch mit dieser Mutter endete damit, dass ich den Eindruck hatte, sie konnte wieder tief ausatmen, ihre Spannungen ein wenig abbauen. Sie weinte und schien die Situation aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Sie sah ihren Sohn nun als einen hilflosen kleinen Menschen, dem sie nicht alles sein muss, für den sie aber im Moment alles ist.
Viele Mütter fühlen sich verantwortlich für die problematischen Verhaltensweisen ihrer Söhne und deren «Störungen». Sie meinen versagt zu haben. Zwar hören sie immer wieder, dass den Jungen der Vater fehlt, und doch fühlen sie sich für das Gelingen, dieser eigentlich nicht für eine Einzelperson gedachten Aufgabe, ganz allein verantwortlich. Sie hören aber ebenfalls – und zwar besonders von anderen–, dass ihr Sohn stört, wegmuss. Die eigenen Kinder sollen geschützt werden vor diesem «missratenen» Kind einer unfähigen Mutter.
Vielen Frauen, Müttern, Erzieherinnen, Lehrerinnen, fällt es besonders schwer, mit den Machoallüren umzugehen, mit denen Jungen gern ihr Gefühl von Unzulänglichkeit kompensieren oder männliches Verhalten imitieren. Frauen sind es, die auf diese Demonstration falsch verstandener Männlichkeit vornehmlich reagieren müssen. Manche Jungen fallen damit ganz besonders stark auf. Jungen, die unter Herrschsucht leiden. Etwa fünfmal häufiger sind diese «kleinen Tyrannen» (J.Prekop) männlichen Geschlechts. Diese Kinder leiden unter einer besonderen Sucht, der Tyrannis, der Sucht nach der Beherrschung von allem und jedem. Kontrollverlust macht sie hilflos. Dann wissen sie nicht mehr, was sie tun sollen, sie können mit der unkontrollierten Situation nicht mehr anders umgehen, als einen Zustand zu erzwingen, der ihnen wieder die Kontrolle ermöglicht. Wenn sie spüren, dass die Grenzen ihrer Macht erreicht sind, wenn sie erfahren, dass Einschränkungen in ihrem Leben existieren, von denen sie vorher nichts geahnt haben, bereitet ihnen das solche Probleme, dass sie unterschiedslos ihre Umwelt tyrannisieren. Meist sind dann keine Männer in Sicht, die den kleinen Herrscher in seine Schranken weisen und ihm helfen, mit den aufgezeigten Grenzen umgehen zu können. Frauen fühlen sich nicht unterstützt – könnte doch die Zusammenarbeit mit einem Mann in solch prekären Situationen ganz sinnvoll sein. Wird dies nicht auch Mädchen zum Vorteil, wenn sich Frauen intensiv um sie kümmern?
Besonders bei diesen herrschsüchtigen Minimachos ist es schwierig, sie zu erreichen, da sie auf Frauen aufgrund ihrer Vorerfahrungen und ihres Geschlechterrollenbildes nicht genügend reagieren (Mamataubheit!). Sie brauchen Anweisung und Korrektur besonders von männlicher Seite. Wer nicht hören will, muss fühlen, muss vielleicht auch mal festgehalten werden, um sich wieder spüren zu können.
Das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, die Störung ihrer Beziehung, kann auf Dauer auch das innigste Verhältnis verschlechtern. Die Auseinandersetzungen über die Eigenheiten des Sohnes werden zu alltäglichen Ritualen: seine Vergesslichkeit (mehr als eine Sache zurzeit kann man ihm nicht sagen, alles andere vergisst er, noch bevor er seine Zimmertür wieder hinter sich zugemacht hat), seine Unordnung, seine Ungeschicktheit, sein Benehmen, seine Freunde, seine Anspruchshaltung, sein Aussehen, sein Tonfall, seine Sprüche, seine Interessen, seine Computerbesessenheit, seine Musik, sein Verhältnis zur Schule, seine Feindseligkeit und Kampfbereitschaft, seine Bequemlichkeit, seine Gerüche, seine Blindheit (vor dem offenen Schrank stehen und das T-Shirt nicht sehen können, obwohl es ihn gleich anspringt) und seine oft obercoole Art. Wenn die Differenzen sich derart eingespielt haben, fällt es beiden sehr schwer, etwas zur Verbesserung ihres Verhältnisses zu tun. Der Sohn entwickelt im schlimmsten Fall ein problematisches Frauenbild, da niemand anderes da ist, kein Vater, der ihn zur Seite nimmt und ihm erklärt, wie Frauen denken, was sie wollen und brauchen. Jungen, die sich schon früh angewöhnen, auf «Durchzug» zu schalten, wenn ihre Mutter sie kritisiert, behalten dieses Verhalten Frauen gegenüber oft auch bei, wenn sie später in ihren Partnerschaften mit denselben Vorwürfen konfrontiert werden.
Dass es zu Konflikten mit anderen Familienmitgliedern kommt, ist normal, auch in meiner Familie. Doch es ist gut, wenn jemand da ist, der etwas zur Entspannung der Situation beitragen kann. So nehme ich meinen Sohn nach einem Mutter-Gewitter zur Seite und spreche mit ihm über das, was er am Verhalten seiner Mutter nicht versteht, und auch, wo seine Anteile liegen könnten. Die starken Emotionen zum Beispiel, die Empfindsamkeit in bestimmten Bereichen, die unterschiedliche Beurteilung von Dingen. Ich versuche ihm zu erklären, was ich selbst auch nicht bis ins Letzte verstehe. Doch ich verstehe, dass sich die beiden, Mutter und Sohn, lieben und dass es wichtig ist, Verständnis füreinander entwickeln zu können. So bemühe ich mich, meinem Sohn ein Dolmetscher zu sein und ihm die Sprache einer Frau, seiner Mutter, so zu übersetzen, dass er sie verstehen kann. Er kann lernen, ihr Anderssein zu respektieren. Ebenso spreche ich mit meiner Frau, um ihr einen kleinen, jungen Mann zu erklären. (Das fällt mir schon bedeutend leichter.) Mütter und Söhne, die nur sich haben, müssen Wege finden, mit ihrer besonderen Situation zurechtzukommen. Das kann gelingen, wenn Verständnis füreinander, für die Schwächen und die Andersartigkeit des anderen, vorhanden ist.
Jungen haben in den Augen von Frauen oftmals viele Schwächen. Sie sind oft so vergesslich, besonders bei den Dingen, die andere von ihnen wollen. Ihre eigenen Interessen haben sie dagegen immer im Kopf. Mein Sohn Fabian baut die aufwendigsten Holz- und Metall-Konstruktionen, dabei denkt er an alle Details. Das bekommt er gut hin. Doch wenn seine Mutter ihn auffordert, auf dem Weg in sein Zimmer noch eben vorher der Katze Futter zu geben, die Schultasche im Flur wegzustellen und oben im Bad das Fenster zuzumachen, ist er damit total überfordert. Sie, als Frau, kann nicht begreifen, dass er das nicht hinbekommt. Sie macht den ganzen Tag mehrere Dinge gleichzeitig und im Vorbeigehen. Warum tut er das nicht? Sie hat das Gefühl, «er will mich ärgern, er nimmt mich nicht ernst, er will, dass ich alles mache, er belastet mich».
Er hört den Klang der Stimme seiner Mutter wohl, doch die Worte erreichen ihn nicht. Nicht aus Bösartigkeit. (Motivation ist alles!) Mütter, die ihrem Sohn das Gefühl geben, er sei vergesslich, zu faul oder ignorant, sollten bedenken, dass ein Junge sich viel mit anderen vergleicht, sich oft in Konkurrenz zu anderen befindet. Doch gegen eine berufstätige Mutter, die nebenbei einen komplexen Haushalt führt und das Leben der Kleinfamilie managt, fühlt sich der Junge nicht konkurrenzfähig. Seine Mama ist ihm deutlich über, und er spürt, dass er sie in ihren Domänen auch nicht kopieren oder übertrumpfen kann. Vielleicht, wenn er mit ihr sein neuestes Computergame spielen würde, doch dafür hat sie keine Zeit – und meistens auch kein Interesse. So kann er ihr nur immer wieder seine Inkompetenz vorführen und sich – in vielen Fällen vergeblich – bemühen, es besser zu machen.
Dieser ausweglose Kampf, dieser nicht zu gewinnende Wettbewerb mit der Hauptidentifikationsfigur, die leider das «falsche» Geschlecht hat, kann den Jungen in eine resignative Haltung führen. Wegen der häufigen Konflikte und Misserfolge kann er ein belastetes, von Schmach und Versagen geprägtes Verhältnis zu Frauen bekommen. Während der Junge zu seinem Vater eine Rivalität entwickeln könnte, bei der er im Laufe der Zeit den Vater meist nicht nur in der Schuhgröße übertrumpfen kann. Wenn Jungen sich mit dem Vater vergleichen können, freuen sie sich mehr über ihre Fortschritte. Und ihn zu «entthronen» schafft Selbstvertrauen.
Frühe Versagensgefühle wecken nicht unbedingt den Wunsch, einen übermäßigen Ehrgeiz zu entwickeln. Leichter ist es, die Überforderung dadurch erträglich zu machen, dass Jungen und Männer die Bereiche ihrer Unterlegenheit zu «Frauenkram» degradieren und sie somit außerhalb der männlichen Konkurrenz stellen.
Jungen brauchen Bewunderung und Lob, nicht pausenlos, aber doch sehr häufig. Jedem Menschen tut eine positive anerkennende Rückmeldung gut, doch Jungen scheinen sehr viel auf der Suche nach diesem Balsam für ihre Seele zu sein. Kritik wirkt auf Jungen wie Gift, zu viel davon kann tödlich für ihre Beziehungen sein.
Der Einfluss von Frauen auf Jungen, ihre Mitgestaltung von Männlichkeit, ist nicht zu unterschätzen. Vielfach erziehen doch meist nur Frauen die nächste Männergeneration. Ihre Erwartungshaltung an Männer und ihre Vorstellung von der männlichen Rolle haben neben den medialen Vorbildern großen Einfluss auf Jungen. Nicht nur Väter bemühen sich, jungentypisches Verhalten bei ihren Söhnen zu fördern, auch Mütter wollen aus ihren Söhnen einen lebenstüchtigen Mann machen. Sie wollen auch, dass er sich wehren kann und die Fähigkeit zum Überleben entwickelt. Dies fällt besonders bei den Müttern auf, die ihren Sohn ohne Vater aufziehen. Sie übernehmen dann oftmals zwangsläufig die Aufgabe des Vaters mit.
Sie wollen ihrem Sohn eine männliche Identität vermitteln. Er soll auf keinen Fall ein «Jammerlappen» werden. Starke Frauen mögen keine jammernden Männer. Immer noch nicht und wahrscheinlich auch in Zukunft nicht.
Folgende Szene erlebte ich vor einigen Jahren auf einem Kinderspielplatz, als mein Sohn Benedikt ungefähr dreieinhalb Jahre alt war: Benedikt probierte zuerst viele Spielgeräte aus. Er rannte von einem zum anderen, bis er sich dann für die Schaukel entschied. Anschließend wollte er unbedingt auf das attraktive, recht hohe Klettergerüst. Ich sah, wie geschickt er sich dabei anstellte, und ließ ihn gewähren. So kletterte er immer höher, er wollte bis zur Spitze. Inzwischen hatte sich eine Mutter mit ihrem Sohn auf dem Spielplatz eingefunden. Der Junge schien etwas älter zu sein. Als er Benedikt auf dem Gerüst sah, fühlte er sich sofort motiviert, ebenfalls zu klettern. Doch schon nach den ersten Bemühungen, die etwas großen Sprossenabstände zu meistern, hielt er inne und sah verängstigt zu seiner Mutter: «Na los, reiß dich zusammen, der andere Junge ist sogar kleiner als du, und der schafft das auch!»
Die Tatsache, dass sich ihr Sohn nicht höher traute, dass ihm offensichtlich der Mut und die Fähigkeit fehlten, schien sie nicht akzeptieren zu wollen. Er sollte zeigen, dass er in der Konkurrenzsituation zu einem anderen Jungen bestehen kann. Dass er dabei seine Fähigkeiten und Grenzen richtig einschätzte, schien sie nicht zu sehen. Eine eigentlich wichtige Kompetenz wurde nicht gefördert.
Fordern ist wichtig. Damit regt man jemanden an, einen Schritt vor den anderen zu setzen und ein Stück weiterzugehen. Fordern kann deshalb in vielen Fällen auch hilfreich sein. Doch der Ton dieser Mutter überraschte mich. Darin klang Härte durch und der Wunsch, der Junge solle rücksichtslos gegen sich selbst sein. «Mein Sohn soll ein Mann werden, er soll sich durchbeißen und nicht aufgeben.»
Auch Mütter haben Anteil daran, wenn Jungen lernen, nicht auf ihre innere Stimme zu hören, und sich überfordern. Viele Frauen wollen keine Männer, die nicht Manns genug sind, und so bemühen sie sich, ihre Söhne so zu erziehen, dass sie sie als zukünftige Männer auch achten können. Mütter lieben an ihren Söhnen ab einem bestimmten Alter nicht mehr das Kindliche, sondern das sich entwickelnde Männliche.
Die Liebe und Fürsorge, die Jungen bei ihrer Mutter erfahren, möchten viele von ihnen auch mit fortschreitendem Alter nicht mehr missen.
Nicht alle Jungen trennen sich rechtzeitig von der ersten Frau in ihrem Leben, ihrer ersten «großen Liebe». Noch nie gab es so viele erwachsene Söhne, die noch bei ihren Müttern leben. Es handelt sich dabei um ein auffallend aktuelles Phänomen.
In Deutschland lebt fast die Hälfte aller jungen Männer bis 24Jahre noch bei ihren Müttern.5 Bei den jungen Frauen ist es dagegen nur etwa ein Viertel.
Die Gründe dafür sind verschieden. Neben den Bequemlichkeiten, die das «Hotel Mama» mit sich bringt, ist es oft die nicht ausreichende finanzielle Lage der jungen Menschen. Anders als noch vor einer Generation stehen Frauen heute früher als viele Männer auf eigenen Beinen. Die männlichen Nesthocker hingegen müssen damit rechnen, dass ihr Ansehen in der Männerwelt, aber auch bei vielen Frauen, massiv leidet. Mamasöhnchen werden nicht richtig ernst genommen und finden schwerer eine Partnerin. Gerade selbstbewusste Frauen suchen nach ebenbürtigen, selbständigen Männern. Verwöhnte Jungen gelten leicht als unmännlich und unselbständig. Mancher Sohn, der an seiner Mutter hängen bleibt, kann sich zu einem recht verschrobenen Kauz entwickeln. Solche Beziehungen bergen für den Jungen weitaus mehr Nachteile als für die Mütter.
Wie wichtig eine Mutter für Kinder ist, braucht man nicht weiter auszuführen. Mütter haben schon eine Beziehung zu ihren Kindern, wenn diese noch nicht einmal geboren sind. Ihre Haltung gegenüber dem ungeborenen Leben, die Achtsamkeit ihres Lebenswandels und ihre Vorfreude auf das Kind sind schon erste wichtige Zeichen mütterlicher Liebe, die für das Kind von großer Bedeutung sind.
Wie sieht es mit der Bedeutung des Vaters aus? Darüber ist viel nachgedacht und geschrieben worden. Zum Beispiel, wie wichtig es ist, sich als Vater auch schon während der Schwangerschaft mit dem zukünftigen Familienmitglied zu befassen. Werdende Väter sollen mit dem unbekannten Wesen reden, obwohl sie es nicht einmal sehen können. Sie sollen Kontakt aufnehmen mit dem «Kind in der Frau». Oft reden sie aber nicht einmal genug mit der zukünftigen Mutter ihres Kindes. Männer lernen spezielle Massagetechniken, um ihre Frau während der Geburt zu unterstützen und ihr Entspannung zu verschaffen. Sie reiben den Schwangerschaftsbauch mit speziellen Ölen ein und bemühen sich, mit den Stimmungsschwankungen ihrer Partnerinnen klarzukommen; sie renovieren das neu einzurichtende Kinderzimmer mit der Tapete und dem Fußboden, die die zukünftige Mutter aussucht. Der zukünftige Vater leistet seinen Beitrag auf seine Weise, als Betreuer der werdenden Mutter und als Nestbauer. Manche Väter besuchen auch Kurse, in denen ihnen ein künstlicher Schwangerschafts-Bauch umgehängt wird, damit sie einen Eindruck davon bekommen, wie sich eine Schwangerschaft anfühlt. Sie lernen auch, wie ein Baby gefüttert, gewickelt, getragen und gebadet wird, wie man bei den Presswehen richtig atmet und was eine PDA (Peridural-Anästhesie) ist. Männer machen dies heute sehr oft mit viel größerer Selbstverständlichkeit als zu früheren Zeiten, und sie tun es meistens in der ernsthaften Überzeugung, dass dies wichtig ist, auch wenn sie manchmal während der Entspannungsphase in den Schwangerschaftskursen einschlafen. Der Teamgedanke zwischen den redlich bemühten Vätern und den engagierten Müttern wird am Anfang einer modernen Beziehung meistens noch recht hoch gehalten. Doch diese Ehe-Teams halten immer seltener bis in alle Ewigkeit.
Väter, die nicht mehr da sind, die gegangen sind oder verlassen wurden, hinterlassen eine große Lücke im Leben ihrer Söhne. Von den ca. 2,4Millionen Kindern, die bei Alleinerziehenden aufwachsen, sind etwa die Hälfte Jungen. Nur ca. 240000 von ihnen leben mit einem allein erziehenden Vater zusammen. Alle anderen knapp 1Million Jungen erleben zu wenig reale Männlichkeit in ihrem Leben. Den Jungen fehlt das Vorbild, wie ein Mann ist und wie sie selbst werden können; es fehlt ein konkretes Identifikationsangebot. Ihnen fehlt der regelmäßige und alltägliche Umgang mit einem Vertreter ihres Geschlechts. Ihnen fehlt jemand, der ihnen das Lernen am Modell ermöglicht und der als zusätzliche Liebes- und Vertrauensperson uneingeschränkt zur Verfügung steht.
Eine Untersuchung der Universität Oxford an 1500Jungen im Alter zwischen 13 und 19Jahren ergab, dass Jungen sich durch mehr Lebensfreude und ein größeres Selbstbewusstsein auszeichnen, wenn ihre Väter sich aktiv und regelmäßig mit ihnen befassen, mit ihnen sprechen und Interesse an ihrer Entwicklung, an ihrem Leben zeigen. Wenn aber anstatt des Vorbildes bestenfalls noch ein Bild des Vaters an der Wand im Kinderzimmer hängt, ein Foto auf Papier oder Pappe, ist das kein Ersatz für einen realen Vater. Väter sind zum Anfassen da, nicht nur zum Ansehen. Gerade im direkten Kontakt sind Väter für Jungen besonders gut zu begreifen. Mit ihnen zu toben, ihre Kraft zu spüren und ihre Nähe zu erleben, bringt Jungen mehr, als sie vielleicht nach außen zu erkennen geben. Ihre Seele wird angerührt. Ein Foto hat keine Seele, und ein Junge ohne Vater ist vaterseelenallein. Ihm fehlt das Studienobjekt «Mann» und der Mensch, der dahinter steckt. Ein Mann mit Ecken und Kanten, aber mit einem weichen Herzen, der Zeit für ihn hat. Nicht alle Väter können das immer im notwendigen Maß bieten, aber wenn sie sich ernsthaft bemühen und das geben, was ihnen möglich ist, ist dies mehr, als ein sehr großer Teil der Jungen von väterlicher Seite erfährt.
Ein Junge will wissen, wie ein Mann ist, wie man einer wird und wie man sich als Mann verhält. Dazu gehören die einfachen alltäglichen Dinge, wie das Pflegen des Körpers, die Rasur, das Einkleiden, das Verhalten von Männern unter Männern, die Behandlung von weiblichen Menschen und, ganz wesentlich, der Umgang mit Stresssituationen und Konflikten. Wie drückt ein Mann seine Gefühle aus? Und, vor allem, wie redet er darüber? Das Gesprächsverhalten des Vaters ist ein wichtiges Beispiel für männliche Kommunikation. Es hat einen ganz direkten Einfluss auf die Entwicklung des Sohnes. Unterhält sich der Vater regelmäßig und intensiv mit dem Sohn, so fühlt sich der Junge wahrgenommen und erwünscht. Reden ist ein wichtiges Mittel zur Stärkung der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Darin offenbart sich auch die Einstellung zum Sohn. Vermittelt der Vater seine persönliche Lebenseinstellung, seine Haltung zum Leben, dann gibt er dem Sohn mehr als nur ein paar Informationen zu seiner Person. Er gibt ihm ein Modell für sein Leben, das der Sohn entweder übernehmen oder ablehnen kann.
Auch das gemeinsame Spiel hilft den Söhnen, sich an ihren Vätern zu orientieren. Anders als Gleichaltrige, auch anders als die Mütter, erteilen Väter in gemeinsamen «Jungenspielen» wichtige Lektionen für die männliche Identität: Durchhalten, Aushalten, Zusammenhalten. Auf keinen Fall sollte man sie gering schätzen. Oft sind es auch die technischen Dinge, die ein Junge sich bei seinem Vater abgucken kann. So habe ich meinem handwerklich sehr geschickten Vater unzählige Stunden über die Schulter geschaut und dabei viel gelernt. Dieses Wissen und Können ist ein Teil meiner väterlichen Mitgift. Jungen ohne Väter denken oft eher ans Neukaufen anstatt ans Reparieren. Den Umgang mit Werkzeugen lernen Jungen sonst fast nirgendwo mehr richtig. Somit erwerben immer weniger Jungen den praktischen Umgang mit Geräten und Werkzeugen aus der bisher von Männern dominierten Welt der Technik und des Handwerks. Jungen fehlen zunehmend auch die bisher als männlich angesehenen Kompetenzen.
Meinem 15-jährigen Sohn Fabian habe ich schon vor Jahren gezeigt, wie man sachgerecht mit Werkzeugen, auch elektrischen, umgeht. Inzwischen baut er sich völlig selbständig die kompliziertesten Skaterrampen und dergleichen. Das gibt ihm Selbstvertrauen und das Image eines kompetenten Jungen, nicht nur im Kreise seiner Freunde. Als er sich in einem Fahrradladen ein neues Tretlager für sein Spezial-Mountain-Bike kaufen wollte, fragte ihn der Verkäufer, wo das Fahrrad denn sei, er wolle ihm das Lager einbauen. «Das mach ich selber!», antwortete mein Sohn. Der Mann war verwundert, erlebt er doch täglich, dass die meisten Jungen mit ihrer Mami oder ihrem Papi das kaputte Rad zum Reparieren vorbeibringen oder lieber gleich ein neues kaufen.
Doch viele Jungen fahren schon gar nicht mehr mit dem Fahrrad, sie werden von ihrer Privatchauffeurin, dem «Mamataxi», zu allen Nachmittagsverabredungen gebracht. Jungen erwerben heutzutage weder ausreichend handwerkliche Kompetenzen, körperliche Ausdauerfähigkeit noch praktische Erfahrungen in den ehemals weiblichen Domänen. Handarbeit, kochen und bügeln können viele von ihnen ebenso wenig, wie mit Schnitzmesser, Hammer oder Säge umzugehen. Jungen verlieren an allgemeiner Alltagskompetenz.
Dabei ist es ungeheuer wichtig für Jungen, Kompetenzen zu erwerben. Es hilft ihnen, leichter einen Platz in einer Gruppe zu finden. Wer etwas kann, was anderen nutzt, ist immer gern gesehen. Durch ihre Stärken bekommen Jungen oft auch spezielle Rollen innerhalb einer Gruppe, sie werden zu Spezialisten («unser Torwart», «unser Computerfreak» etc.). Das stärkt ihr Selbstwertgefühl, verhilft auf der Suche nach einer passenden Identität zu wichtigen Erfahrungen.
Überschaubare Risiken in bestimmten Situationen helfen, geistige und körperliche Fähigkeiten zu entfalten und eigene Grenzen auszuloten. Dadurch lernt ein Kind sich und seinen Körper besser kennen. Es lernt, ihn zu kontrollieren und rechtzeitig auf Stoppsignale zu achten. Es lernt, sich nicht zu überfordern. Durch Erfolg kann Selbstvertrauen wachsen. Auch die Selbständigkeit wächst, wenn neue Aufgaben und Herausforderungen bewältigt werden. Häufig ist zu erleben, dass Väter ihre Söhne schneller für selbständig halten als Mütter. Dies mag am bewussten oder unbewussten Wunsch liegen, den Sohn zu fordern, damit er sein zukünftiges Leben besser bewältigen kann. Er muss später vieles selbst und ständig lösen, deshalb ist es gut für ihn, wenn er früh damit anfängt. Den eigenen Sohn künstlich klein zu halten, widerstrebt vielen Vätern. Sie trauen ihren Söhnen manchmal eher zu viel zu. «Ach, das schaffst du schon, mach das mal alleine!» Mitunter mag dabei auch die Bequemlichkeit des Vaters eine Rolle spielen. Je intensiver Väter ihre Söhne zur Selbständigkeit erziehen, desto weniger müssen sie sich fürsorglich um sie kümmern. Umso mehr Zeit haben sie für andere Dinge. Sie entlasten sich klugerweise.
Doch eine gewisse Lässigkeit bei einem Vater ist nichts im Vergleich zu einem Vater, der gar nicht vorhanden ist. Wenn ein Junge keinen gleichgeschlechtlichen Menschen in seinem Leben hat, der ihm auf seine ihm spezifische Weise Halt, Orientierung und Liebe geben kann, fehlt ihm etwas Wesentliches für seine Entwicklung.
Viele Jungen ohne Väter bekommen eben oft nur die Hälfte von allem. Häufig wird versucht, den fehlenden Vater irgendwie auszugleichen. (Auch durch materielle Zuwendungen oder ungezügelte Freiheiten.) Die wahren Bedürfnisse bleiben aber unerfüllt. In den Jungen entstehen Sehnsüchte, die unbefriedigt bleiben. Väter sind für Kinder nicht zu ersetzen, ebenso wenig wie Mütter.
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