Die kalte Wut - Jürgen Große - E-Book

Die kalte Wut E-Book

Jürgen Große

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Beschreibung

Die Rede vom »Ressentiment« ist im heutigen Gesellschaftsfeuilleton inflationär. Auch Politologie, Literatur- und Kulturwissenschaft nutzen den Begriff gern. Oft ist von Ressentiment die Rede, wo es schlicht Neid, Hass oder Groll heißen könnte. Hat der Begriff mehr zu bieten als das Renommee eines Fremdworts? Ist Ressentiment gar eine kulturelle Schlüsselstimmung, die erschreckende Einsichten über uns bereithält? Jürgen Große stellt sich diesen Fragen auf unkonventionelle Weise. Er forscht der Geschichte des Ressentimentbegriffs nach, aber auch den Bedürfnissen, die dieser bis heute befriedigt. Die Studie ist systematisch und historisch angelegt. Der erste Teil diskutiert die Theorien einiger Ressentiment-Klassiker. Der zweite Teil erkundet die Funktion des Ressentimentgedankens von der frühneuzeitlichen Moralistik bis zur bundesdeutschen Gegenwart. »Ressentiment«, so wird dabei immer klarer, steht für das paradoxe Versprechen einer mehrheitsfähigen, sozial friedfertigen Bürgerlichkeit.

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Seitenzahl: 591

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Jürgen Große

Die kalte Wut

Theorie und Praxis des Ressentiments

Die Arbeit an diesem Buch wurde durch ein Nietzsche-Stipendium der KLASSIK STIFTUNG WEIMAR unterstützt.

Jürgen Große

Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments

ISBN (Print) 978-3-96317-375-2

ISBN (ePDF) 978-3-96317-941-9

ISBN (ePUB) 978-3-96317-942-6

Copyright © 2024 Büchner-Verlag eG, Marburg

Beratung und Korrektorat: Ina Kühne

Umschlaggestaltung: DeinSatz Marburg | tn

Bildnachweis Umschlag: Ausschnitt aus George Grosz’ Metropolis, 1916–1917, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid Inv.-Nr. 569 (1978.23), Raum 37. https://www.museothyssen.org/en/collection/artists/grosz-george/metropolis. Fotografie von Marcos Amigo (CC BY-SA 4.0 Deed).

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Zum AutorPROLOG: Ressentiment-Alarm!a) Alltägliche Schreckensmeldungenb) Begründete Zweifelc) Statusfragend) Erkenntnismotive, -techniken, -aussichtenTEIL A: TheorieKapitel I: Französische Moralisten1 Die Anfänge bei Montaigne2 La Bruyère3 Chamfort4 Transformationen der RanküneKapitel II: Friedrich Nietzsche1 Hermeneutische Aufwertung des Ressentiments2 Verschränkung der Perspektiven3 Der expressive Stil4 Stellung, Rezeption, ProblemerbeKapitel III: Max Weber und Max Scheler1 Kritik und Fortbildung von Nietzsches Entwurf2 These, Motiv und Ort der Ressentimentschrift in Schelers Gesamtwerk3 Weltanschauliche und methodische Eigenarten von Schelers Nietzschekritik4 Von der Ressentimentphänomenologie zur Modernekritik5 Überwindung des Kapitalismus?Kapitel IV: Ludwig Klages1 ›Leben‹ als Zentralbegriff2 Problematisierung und Umbildung von Nietzsches Lebensmetaphysik3 Der Lebensneid4 Die Nietzsche-Kritik im Detail: Psychologie, Etymologie, Kulturdeutung5 Bedeutung und WirkungKapitel V: Emil Cioran1 Strukturen von Denken und Schreiben: Entsublimierung, Übersteigerung, Auflösung2 Klarblick, Seinsschmerz und Rachsucht3 Verhältnis zu Nietzsche und Klages4 Die Weisheit der Moralisten5 Ressentiment als Stellvertreterphänomen6 Gnosis: Übermensch und alter AdamZWISCHENBILANZ: Passion der gefährdeten Mitte?TEIL B: PraxisKapitel I: Provinz und Zentrum1 Der Hof und die Stadt2 Kopien des Zentrums3 Antizentralismus4 Zurück in die Provinz5 Entwurzelung, Entgrenzung, EnthemmungKapitel II: Besitzgier und Statusneid1 Egalitarismus versus Antiegalitarismus2 Helmut Schoeck – Stardenker des Antiegalitarismus3 Nach 19904 Sloterdijks Zornbankenthese und ihre Kritiker5 Zangentheoreme6 Mitte-Miseren oder: Zynismus versus Heuchelei7 The End of History, revisited8 Schelers ErbeKapitel III: Affektreaktion und Anarchokalkül1 Ambivalenzen der Réaction2 De Maistres Groll3 Theodizee der modernen Geschichte4 Renouveau catholique: Stolze Armut, grollender Stolz5 Das deutsche Seitenstück: Carl Schmitt6 Rechte Reaktionäre und linke Radikale7 Christliche Repression und atheistische Revolte8 Anarchie und Apologie der Affekte9 »Die freie Gesellschaft«10 Haß auf den Bürger, scheiternde Mitte, Antisemitismus11 Karl Mannheims AnalyseKapitel IV: Naturstolz und Kulturleid1 Emanzipation, Feminismus, Gender2 Deutungsvorschläge: Nietzsche und Scheler3 Überdauernde Szenarien4 Negative Andrologie5 Die befreite Hausfrau6 Häusliche Pflichten und bürgerliche Rechte7 Autonomieverheißung: Entleiblichung und objektiver Geist8 Simone de Beauvoirs »Welt des Ressentiments«: eine Weininger-Reprise?9 Reconstruction, Repression, Resentment10 Teil-Ganzes-Ambivalenzen11 Gleichursprünglichkeit von Gleichheit und Differenz12 Affektbejahung und Männerhaß13 Misandrie als sublimierte Christlichkeit14 Rechtslinkes Ressentimentszenario um ›Gender‹15 Repräsentative Schwierigkeiten, zerbrechliche Synthesen16 ›Allmachtsfeminismus‹17 Totalitarismus?Kapitel V: Berufskunst und Bildungsphilisterium1 Der abhängige Wirtschaftsbürger und der betrogene Berufsautor2 Frühformen ressentimentaler Selbstreflexion3 Der intellektuelle Gegenimpuls4 Unbehagen am genialen Unverstandenen: Spätaufklärung5 Von der Spätaufklärung zur Frühromantik6 Philister überall7 Empfindsame Selbstreflexion und Romantikkritik8 Klassik, Ganzheit, Souveränität9 Probleme bürgerlicher Mannwerdung: Von Hegel zu Heine10 Weltschmerz und Philisterhaß11 Unbehagen im Biedermeier12 Kodifikation des Bürgerhasses13 Flauberts Bekenntnis zur Wut14 Politische Radikalisierung und poetische Fiktionalisierung des Bürgerhasses: Baudelaire15 Ein Spätling des Bürgerhasses16 Der Fall Nietzsche – Musterkonflikt und Wendepunkt17 Marxistischer Antinietzscheanismus18 Nazistische Antibürgerlichkeit19 Liberale Philisterapologie20 Totalitäre Ressentimentkunst als soziale Anpassungsstörung21 Stalinistischer Künstler- und Intellektuellenhaß22 Von der Staatskunst zur Kulturrevolution23 Sozialaussteiger, Bewußtseinsbefreier, Welterlöser24 Revolutionäre25 Umschichtungen26 Yuppies27 Expansion und Diffusion des Yuppietums28 Art of Resentment, State of the Art: Bobo-Kapitalismus29 Linke Spießer – rechte Ressentiments?30 Ordnungsliebe31 Mitteträume32 Schöpfungsglaube33 Exkurs: Gegenwartskunst und Publikumsressentiment34 Triumph und Gefährdung35 AusblickEPILOG: Gefühl zeigenLiteraturverzeichnisAnmerkungen

Zum Autor

Jürgen Große, (geb. 1963) ist promovierter Histo­riker und habilitierter Philosoph; er lebt als freier Publizist in Berlin. Sein Interesse gilt den dunklen Seiten der europäischen Geistesgeschichte, vor allem den Sonderwegen der Deutschen, so in Der Tod im Leben. Philosophische Deutungen von der Romantik bis zu den ›life sciences‹ (2008, 2017), Philosophie der Langeweile (2008), Ernstfall Nietzsche. Debatten vor und nach 1989 (2010), Fünf Zeitbilder. Geschichtsphilosophische Glossen (2010), Der beglückte Mann. Post­erotische Meditationen (2015, 2022), Die Sprache der Einheit. Ein Fremdwörterbuch (2019), Der sterbende Gott. Agnostische Anmerkungen (2020), Der Glaube der anderen. Ein Weltbilderbuch (2021), Die kreative Klasse. Nachrichten aus Winkel, Szene und Betrieb (2022).

PROLOG: Ressentiment-Alarm!

a) Alltägliche Schreckensmeldungen

Länder und Geister des Westens ringen heute mit einem häßlichen Gefühl. Kaum eine Woche vergeht, da nicht irgend jemand – ob in Kommentarspalten oder auf Podiumsdiskussionen – an irgend jemandem ›Ressentiment‹ vermutet und dann in psychologischen oder soziologischen, stets aber entlarvungsfreudigen Analysen nachweist. Ausdrücke wie ›Ressentimentpolitik‹, ›Ressentimentkunst‹, ›Ressentimentstaat‹, ›Ressentimentmenschen‹, ›Ressentimentmilieus‹, ›Ressentimentbewegungen‹, ›Ressentimentparteien‹, ›Ressentimentwähler‹ kursieren nicht allein in der Tagessprache von Politik und Medien. In zahlreichen kultur- und geistes­wissenschaftlichen Forschungsfeldern hat sich der Topos gleichfalls etabliert. Neben einer Phänomenologie und einer Psychologie gibt es seit längerem eine Soziologie, eine Kunstgeschichte, ja selbst eine Kunsttheorie und Ästhetik des Ressentiments.1 Sogenannte Agendawissenschaften, meist ein Amalgam einzelwissenschaftlicher Ansätze, sind ohne Ressentiment-Begrifflichkeit undenkbar geworden, seien dies nun Konflikt-, Migrations-, Extremismus-, Diskriminierungs- oder Demokratieforschung. Keine Studie über ›Populismus‹ kommt ohne den Ressentimentverdacht als Ausgangs- und oft auch Fluchtpunkt ihrer Analysen aus.

Dergleichen Themensetzungen rund um ›Ressentiment‹ mögen nun tagespolitischem Kalkül oder langfristigem Forschungsinteresse entsprungen sein. Auffällig ist jedoch, daß sie ihrerseits beträchtlich die politische und mediale, zuweilen sogar die küchenpsychologische Umgangssprache beeinflußt haben. Selbst die zeitgenössische Erzählliteratur, sofern versehen mit Agenda und Engagement, hat inzwischen das Ressentiment für sich entdeckt. Sie findet in ihm einen Begriff, »mit dem eine Grundstimmung, eine Grundschwingung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Befindlichkeit zu fassen versucht wird, die jenseits, unter oder hinter ökonomischen, soziologischen oder politischen Mustern und Erklärungsmodellen zum Tragen kommt«, die »selbst aber sehr wohl von diesen beeinflußt ist und wiederum auf diese zurückreflektiert.«2

Neben der sprachschöpferischen Kraft durch prinzipiell unbegrenzt mögliche Ressentiment-Genitive – einzig ein Ressentimentressentiment ist derzeit noch nicht nachgewiesen – imponiert ›Ressentiment‹ sprachpragmatisch durch seine Anwendungsbreite. Es genießt Hausrechte im gesamten sozialen Raum, tritt auf als Affekt der Ober- gegen die Unterschicht wie der Unter- gegen die Oberschicht, als zentralgesellschaftliches wie als sozial randständiges, als linkes und rechtes, demokratisches und reaktionäres, emanzipatorisches und antiemanzipatorisches Ressentiment. Die sprachlichen Verwendungsweisen reichen von vorsichtig tastender Sondierung über sarkastische Provokation bis zu geballtem Vernichtungswillen. Wer sich als ›Ressentimentmensch‹ oder ›Ressentimentmilieu‹ bloßgestellt sieht, weiß sich sozial erledigt. Aus einem über Jahrhunderte eher beiläufig gebrauchten Terminus in Moralistik, Belletristik und Psychologie scheint ein Allzweckbegriff geworden, der durch Synonyme nur notdürftig zu ersetzen wäre.3

b) Begründete Zweifel

Soviel tagesaktuelle Prominenz sollte Mißtrauen erwecken, zumindest philosophisches und geisteshistorisches. In vielen Fällen nämlich ist ›Ressentiment‹ offenkundig das Synonym für etwas, das sich weitaus schlichter benennen ließe, etwa als Mißgunst, Neid, Groll bis hin zum derzeit prominenten Crimekürzel ›Haß und Hetze‹.4 Zuweilen erscheint ›Ressentiment‹ als synonym mit negativer Gestimmtheit oder feindseligem Affekt überhaupt.5 Außer dem Renommee eines Fremdwortes spräche dann wenig für exorbitanten Begriffsgebrauch, diskursökonomisch sogar einiges dagegen. Doch gründet die Attraktivität von ›Ressentiment‹ vielleicht in etwas anderem, das in seiner Verwendung als Schlag- und Verdachtswort faßbar wird: Es verheißt einen ideologischen, freundlicher gesagt: theoretischen Überschuß. Im Ressentiment-Verdacht ist stets mehr unterstellt als nur ein häßlicher Affekt. Der gewährte Bedeutungskredit läßt sich in sprachpolitisch ambitionierten Kampfspielen und Selbstbildern ausmünzen.

Und mehr noch in gefühlspolitischen. Die Hochkonjunktur von ›Ressentiment‹ gehört zu einer kulturellen Atmosphäre, in der politische, soziale, vor allem aber moralische Selbst- und Fremdbestimmung wesentlich über öffentlich prämierte oder perhorreszierte Gefühle erfolgt. ›Ressentiment‹ und seine theoretischen und moralischen Assoziationen sind nun aber ein Gefühl oder Gefühlskomplex, der fast ausschließlich in Fremdzuschreibungen anzutreffen ist. Auch wenn jemand seinem Ressentiment wesentliche Einsichten über sich selbst und die Welt verdanken sollte, wird er sich kaum explizit zu ihm bekennen. Das unterscheidet ›Ressentiment‹ von philosophisch intensiv traktierten Gemütszuständen wie Langeweile oder Melancholie. Diesen wurde seit ihren meist religiös-theologischen Ursprüngen hohes hermeneutisches Potential zugetraut, wenn man es nur einmal wagte, sich bis auf ihren verborgenen ›Grund‹ herabzulassen – auf einen Ort tieferer Erkenntnis, die dann nicht mehr objektabhängig und anlaßgebunden sei. Spleen, Ennui, Acedia u. ä. konnten so zum emotionalen Rohstoff ausgreifender individueller wie kultureller Selbsterforschungen werden. Sie galten europäischen Denkern aller Prominenzgrade als läuternde Krisenstimmungen, dank denen man zu moralischer Erneuerung und praktischer Entscheidung finden könne.6

Pragmatisch wie semantisch ist ›Ressentiment‹ von ähnlicher Komplexität. Doch eine selbstreflexive Vertiefung ins Ressentiment ist schwierig. Wer sich in sein Ressentiment reflexiv vertieft hätte, der wäre dann vielleicht nur mit einem nackten Affekt konfrontiert, dem gegenüber jede Rationalisierung oder gar Moralisierung wie hinterhergereicht wirkte. Anders also als Schwermut, Langeweile usw., aus denen sich ein weltloses Ich durch einen existentiellen oder zumindest intellektuellen ›Sprung‹ in die Welt retten sollte, um dadurch gleichermaßen seine totale Macht und seine totale Ohnmacht zu erfahren, scheint im ›Ressentiment‹ der Mensch etwas zu durchleiden, über das er bloß bedingt verfügen kann. Es zeigt ihm eine Lage an, die sowohl subjektiv mißlich als auch objektiv und konkret ist. Die Ressentimentsituation ist kaum oder nur mit hohem – intellektuellen, ästhetischen, religiösen, moralischen – Aufwand sublimierbar. Das sublimierte Ressentiment steht seinerseits unter dem Verdacht, eine Verfälschung, ja ein Selbstbetrug zu sein.

Dadurch zeichnet sich ein scharfer Gegensatz gegenüber den anderen, in der europäischen Geistesgeschichte traktierten Negativstimmungen ab. So galt zuweilen die Melancholie als anlaßlose, prinzipiell gewordene Trauer, galt eine ›tiefe‹, gegenstandslose Langeweile als ursprünglicher Grund allen banalen Sich-Langeweilens bei oder an etwas.7 Melancholie und tiefe Langeweile reüssierten somit als Eintrittsbillets zu philosophischer Erkenntnis. Als allerfassenden, subjektüberschreitenden Stimmungen traute man ihnen mehr zu denn vorübergehenden, durch Einzelnes veranlaßten und nur den Einzelnen treffenden Gefühlen. Das ›Ressentiment‹-Gefühl aber kennt keine philosophisch ehrwürdigen Doppelgänger. Zwar hatte Friedrich Nietzsche dem Ressentiment eine philosophische Rahmung gegeben, durch das es von einem konkret veranlaßten Affekt zu einer Dauerbefindlichkeit erhoben wurde, die allen konkreten Anlässen vorausgehe, in »einer physiologischen Verstimmung«. Nietzsche assoziierte mit dem Ressentiment sogar »die schwarze Traurigkeit« der religiös-metaphysischen Tradition (KSA V 376f.)8. Doch ändert das nichts an der intellektuellen und moralischen Geringschätzung. Seit seiner philosophischen Inanspruchnahme ist Ressentiment nichts mehr, das sich auf respektable Weise überwinden ließe. Ressentimentmensch und Ressentimentstimmung scheinen rettungslos in sich selbst verfangen.

Populären Erfolg hat allerdings gerade der philosophisch beanspruchte Ressentimentbegriff erzielt. Das provoziert die Frage nach seinem hermeneutischen Gebrauchswert. Ist durch ›Ressentiment‹ etwas über Ich und Welt und ihr Verhältnis zu erfahren, das mehr als seine Synonyme ›Haß‹, ›Neid‹, ›Groll‹ erbringt?

c) Statusfragen

›Ressentiment‹ dient heute meistens als ideologisches Syntagma9 mit allerlei theoretischen und normativen Verheißungen für seine Nutzergemeinschaft. Sein Nennwert ist psychologisch bzw. psychophänomenologisch meist der eines Affekts oder einer Emotion,10 manchmal einer Lebensstimmung, ja einer existentiell verankerten Disposition. Soziologisch oder politologisch kann ›Ressentiment‹ sogar als unaufklärbar gelten, als schlichtweg irrational.11 Den einschlägigen, meist abwertenden Vorbegriff von ›Ressentiment‹ zeigen viele Studien zum Populismusphänomen oder zur sogenannten Identitätspolitik.12 In diesen ist stillschweigend ein subjektives Vorverständnis von ›Ressentiment‹ unterstellt, dessen Explikation dann anhand gesellschaftlich problematisierter Gruppen erfolgt. Der Übergang vom individual- zum kollektivpsychologischen Begriffsgebrauch ist dabei fließend.13

Unabtrennbar von der Ressentimentrede bleibt die Zuschreibung einer Verdecktheit oder Verlarvtheit. Wer von ›Ressentiment‹ spricht, meint in der Regel etwas, das sich prinzipiell nicht als das zeigen kann oder will, was es ist – ein Gefühl etwa, das sich als Gedanke, oder ein Interesse, das sich als Idee, Norm, Moral maskiert.14 Dadurch liegt die Souveränität über Inhalt und Umfang des Begriffs ›Ressentiment‹ exklusiv bei seinem Erforscher. Der Ressentimentmensch nämlich, um schon hier der Formel Nietzsches vorzugreifen, ist per definitionem jemand, der nicht »mit sich selber ehrlich« (KSA V 272) sein kann. Die paradoxien­reiche Thematik der Selbsttäuschung scheint im ›Ressentiment‹ auf.15 Es gilt als exemplarischer Anwendungsfall für Ideologiekritik, für Entlarvungspsychologie, kurz: für Analysetechniken, die mit Phänomenverschiebung, Kategorienwechsel, Kategorienreduktion einhergehen.

Somit läßt sich gerade am durchschnittlichen, vielleicht allzu unbefangenen Gebrauch der Ressentiment-Kategorie ein typischer Phänomenbestand fassen. ›Ressentiment‹ steht für eine intellektuelle Unsauberkeit, für einen innerlich widerspruchsvollen Komplex von Erfahren, Denken, Fühlen, Werten, Handeln, der aber in sich selbst kein schöpferisches Potential aufweist. Form und Richtung gewinne diese komplexe Affektmaterie folglich erst durch vermeintlich oder tatsächlich widerständiges Äußeres, vornehmlich durch dessen moralische ›Umwertung‹. Da ›Ressentiment‹ in einem philosophisch oder zumindest theoretisch anspruchsvollen Sinne fast durchweg als Fremdzuschreibung begegnet, ist durch das bloße Faktum einer Ressentimentanalyse unterstellt: Die ressentimentgeleitete Person verwirklicht ihren emotionalen bzw. affektiven Impuls – zwecks Vermeidung einer Selbstkonfrontation! – auf einem sachfremdem, beispielsweise auf moralischem, religiösem, künstlerischem oder wissenschaftlichem Feld. Hierbei erzeugt oder beansprucht sie umfassende Welt- und Lebensdeutungen.16 Um aber den Ressentimentmenschen entlarven zu können, muß der Ressentimentanalytiker seinerseits in hermeneutische Vorleistung gehen, indem er sich geistig der Möglichkeit eigener Ressentimentverfallenheit stellt. So wird er beispielsweise eine Norm affektgereinigter ›wissenschaftlicher Weltsicht‹ vertreten oder – im Gegenteil – auch die Norm moralisch oder kognitiv wertvoller, mithin sozial vorzeigbarer Affekte.

Zweifellos setzt die explizite oder implizite Unterstellung von ›Ressentiment‹ bei Gruppen wie Individuen gewisse Dichotomien von Gefühl und Verstand oder von Interesse und Idee voraus, die heute als veraltet gelten müssen. In solchen Dichotomien liegt ein ›ideologisches‹ Moment, ohne das freilich keine ›Ideologiekritik‹ arbeiten kann, und zwar als die Substanz, von der sie sich nährt. Doch ließe sich zumindest hypothetisch eine schwächere Bestimmung oder Umgrenzung von ›Ressentiment‹-Phänomenen annehmen. Mitunter findet sie sich gerade in der tagespolitisch aggressivsten, zur Polemik bestimmten Ideologiekritik: Es ist eine Ansprache von ›Ressentiment‹ als bloßer – politischer wie psychologischer – Disposition, der keine von sich aus kulturschöpferische, gar gesellschaftsordnende Intention zuzutrauen sei. ›Ressentiment‹ wäre hierbei also das, was in der älteren, etwa phänomenologischen, lebens- oder existenzphilosophischen Literatur als gegenständlich unfixierte Befindlichkeit oder Gestimmtheit im Unterschied zum stets gegenständlich fixierten Gefühl galt. Eine Gestimmtheit mag moralisches oder sogar intellektuelles Potential bergen, doch sie kann es nicht aus eigener Kraft realisieren. Ressentiment wäre somit innerpsychisch turbulente Non-Intentionalität. Erst ein – z. B. politisch oder religiös aktivierender – Wille, ja Willkür könnte ihm Richtung verleihen. Hierzu paßt der verbreitete Topos einer ›ressentimentgesteuerten‹ Aneignung bereits in sich geschlossener Weltbilder (›Verschwörungsnarrative‹) oder eines politischen Verhaltens gegen die eigenen sozialen Interessen (›Protestwahl‹).

Solche Ressentimentdeutungen wirken ihrerseits ideologisch interessiert, zudem oft vormundschaftlich. Sie bieten dennoch eine Anknüpfungsmöglichkeit für die überführten Ressentimentmenschen. Deren Grund- oder Daseinsstimmung ›Ressentiment‹ ist dadurch nämlich zunächst einmal als rein affektive, folglich weder form- noch richtungssichere seelische Bewegtheit anerkannt.17 Äußere Beobachtung durch den Ressentimentanalytiker und innere Wahrnehmung durch den Ressentimentaffizierten müßten also nicht einander ausschließen. Allerdings wird die ressentimentale Daseinsstimmung oder ›Befindlichkeit‹ erst durch ihre affektive Konkretisierung überhaupt sichtbar, populär: im ›Sündenbock‹, akademisch: als ›Projektion‹. Deren Analyse richtet sich gewöhnlich auf zwei Aspekte: 1. auf ein häßliches Gefühl oder einen häßlichen Antrieb (etwa: Haß, Hetze, Häme), dem es 2. an moralischer, auch intellektueller Selbstdurchsichtigkeit gebricht. Rachsucht beispielsweise, um einen Ressentimentanalyse-Klassiker zu bemühen, maskiere sich als Gerechtigkeitsbedürfnis, auch vor sich selbst. Zwar hat es immer wieder Versuche gegeben, sowohl die Boshaftigkeit als auch das Rache­bedürfnis zu rehabilitieren – das eine beispielsweise ästhetisch oder kunstpraktisch18, das andere sozialpolitisch oder gesellschaftsethisch19. Dennoch dominiert in den westlichen Gesellschaften bis heute die geistig-­moralische Abwertung des Ressentiments.

Tatsächlich sind in der Hypothese – oder Unterstellung oder Verurteilung – einer prinzipiell unaufrichtigen Gefühlsverfaßtheit die ethische und die epistemische Problematik miteinander verschränkt: Ein Wille zur Selbsttäuschung über das eigene moralische Wesen entspricht demzufolge moralischen Zerrbildern der sozialen Umwelt. Was die episte­mische Potenz der Ressentiment-Stimmung im engeren Sinne betrifft, so zeigen sich abermals Ähnlichkeiten zur älteren existenzphilosophischen und lebensphänomenologischen Diskussion über Stimmungen. Auch dem ›Ressentiment‹ wird an sich zwar keine Kraft zu konkreter Erkenntnis zugeschrieben, durchaus jedoch eine Kraft zur Erschließung oder Eröffnung von Erkenntnisbereichen insgesamt. Diese seien freilich dauerhaft durch die einschlägig negative Stimmung imprägniert. Vulgo: Die Ressentimentmenschen spüren mehr als andere. Seit Nietzsche konzediert man diesen vital ›Schwachen‹ oder ›Schlechtweggekommenen‹, ganze Phänomenbereiche geistig zu eröffnen, überhaupt ›Geist‹ als symbolische Kompensation realer Machtversagung auszubilden. So könnten gerade sie Leerstellen existentiellen oder kulturellen Sinns benennen, die dann allerdings positivere Naturen ausfüllen müßten.

d) Erkenntnismotive, -techniken, -aussichten

Mag sein, daß bis hierher dem Ressentiment immer noch zu viel systematisches Potential zugetraut ist. Doch bleibt ein Erkenntnisinteresse an ihm durch die Prominenz wie durch die Penetranz gerechtfertigt, die der Begriff mittlerweile erlangt hat. ›Ressentiment‹ ist in zeitgenössischen, speziell zeitdiagnostischen Redeweisen ein gängiger Wechsel, der zwar ständig neu ausgegeben, jedoch ungern in Zahlung genommen wird. Es behält die Konnotation des Bedrohlichen, meist einer unterdrückten, nur gewaltsam lösbaren Spannung. Sie zeigt an, daß weder Ressentiment noch Ressentimentanalytik in einem rein theoretischen Raum zu verorten sind. Viel stärker als kulturdiagnostisch einst strapazierte Termini wie ›Nihilismus‹, ›Langeweile‹, ›Ennui‹ verheißt ›Ressentiment‹ ein theoretisch kaum auflösbares Affektsubstrat.

Die soziokulturelle Realität, in der ›Ressentiment‹ prominent werden konnte, ist fraglos die einer inflationären Gefühlsbekundung in der Öffentlichkeit. Für dieses Phänomen und speziell für ›Ressentiment‹ kommen zwei etablierte Interpretationen in Betracht. Die erste behandelt die heute verbreitete Kränkungsfühligkeit als exemplarischen Fall des Modernisierungsparadigmas. Emotionalisierung, Sensibilisierung, vor allem die Entfaltung und das Ausgreifen von ›Innerlichkeit‹ im öffentlichen Raum perfektionieren demzufolge unaufhaltsame, meist bejahte Formalisierungs- und Egalisierungstendenzen. Erst durch ›Achtsamkeit‹ nämlich für die ungleich beschaffene Affekt- und Bedürftigkeitsstruktur der Individuen sei soziale Gerechtigkeit im Zeichen der Gleichheit herzustellen, eine Gleichheit, die im brutalen Formalismus des Leistungs­prinzips unvollständig bliebe. Die zweite Interpretation hingegen erblickt in genau dieser Affektfühligkeit ein Rückfall- oder Komplementärphänomen, und zwar angesichts erlebter, aber nicht als modernetypisch begriffener und moralisch akzeptierter sozialer Kälte. Zumeist heißt das ›Rousseauismus‹.

Selbstverständlich kann eine Studie zu Begriff und Geschichte des Ressentiments nicht abschließend über die Triftigkeit solcher Interpretationen entscheiden. Sie sind unablösbar von der Selbstverortung ihrer Interpreten innerhalb bewußtseinsgeschichtlicher Situationen. Doch sicherlich gehören die Prominenz der Ressentiment-Rede, aber auch der unablässige Streit um vorzeigbare, schützenswerte oder abzulehnende Gefühle oder Affekte in dieselbe bewußtseinsgeschichtliche Situation. Gefühlshaftes oder Affektives ist hier bereits hochgradig objektiviert und dadurch tendenziell handhabbar. Ja, Gefühle oder Affekte werden sogar verhandelbar vor intellektuellen oder moralischen Gerichtshöfen, die ihrerseits souverän über deren Wert und Recht entscheiden. Die Eskalation des ›Authentischen‹ in der zeitgenössischen Politik-Performance, der Überbietungsdruck in der Darstellung schlicht-›natürlichen‹, unbefangenen, weil moralisch bereits vorsortierten Fühlens geht einher mit einer gesteigerten Wachsamkeit gegenüber Gefühlen, die in ihrer Komplexität weit mehr verheißen als nur Gefühle. ›Ressentiment‹ ist diesbezüglich ein Musterfall. Semantische Feinheiten wie die Unterscheidung fortschrittsförderlicher Wut von rückwärtsgewandtem Haß gehören in diese Konstellation. Sie ist historisch weit entfernt von klassisch-bürgerlichen, namentlich spätaufklärerischen Idealen des ›ganzen Menschen‹ – einer Ganzheit auch seiner anti- wie sympathischen Affekte!20

Welcher analytische Zugriff auf ›Ressentiment‹ wird diesem Phänomenbestand am ehesten gerecht? Die Stimmungs- und Befindlichkeitsanalysen eines Martin Heidegger oder Otto Bollnow, beide ja aufgeklärten Denkszenarien gründlich entfremdet, unterstellten humane Ganzheitlichkeit weiterhin durch ihre Totalitätskategorie des Psychischen. Sie suchten die schon ihrerzeit umstrittenen Gefühl-Verstand-Hierarchien durch Unterscheidungen zwischen vorbegrifflichem Erschließen und begrifflichem Erkennen abzulösen. Die Vorliebe dieser älteren Denker-Generation für das Selbst und die Welt ›erschließende‹ Stimmungen – für Schlüsselstimmungen also – scheint im Falle von ›Ressentiment‹ jedoch nicht zu kurz, sondern zu weit zu tragen. Der Begriff ist durch die historisch akkumulierte Bedeutungslast, die er tragen muß, schlichtweg überbestimmt. Auch entlarvungshermeneutische, etwa psychoanalytisch oder ideologiekritisch motivierte Zugriffe auf ›Ressentiment‹ haben ihre Grenzen. Sie könnten sich ihrerseits – durch ihre argumentative Zirkularität – als unbegriffener Teilbestand dessen erweisen, was sie analysieren sollen.

Eine begriffs- und problemhistorische Rekonstruktion bei spekulativ minimalem Einsatz verheißt analytisch maximalen Ertrag.

TEIL A: Theorie

Kapitel I: Französische Moralisten

Der Begriff ›Ressentiment‹ hat eine lange, teils turbulente Geschichte. Heute wird er überwiegend pejorativ wie in Nietzsches Genealogie der Moral benutzt. Doch Nietzsche war nicht der erste, der sich als Denker und Autor dem Ressentiment zugewandt hatte. Seine Vorläufer waren Schriftsteller der französischen Renaissance und Klassik gewesen. Erst durch den philosophischen Gebrauch, den Nietzsche vom Ausdruck ressentiment machen sollte, wurde dieser stark mit moralischen und metaphysischen Sinnkomponenten überformt und sein negativer Begriff etabliert. In klassischen Dramentexten wie denen von Corneille, Molière und Racine lautet der Wortgebrauch zumeist moralisch neutral. Selbst bei älteren Zeitgenossen Nietzsches wie Sainte-Beuve oder Balzac ist ressentiment nicht um die Gekränktheits- und Racheproblematik zentriert. Es kann auch nur einen besonders intensiven, nachwirkenden Schmerz bezeichnen. Zwar bedeutet den frankophonen Autoren ressentiment zumeist etwas Komplexeres denn spontanes sentiment. Dennoch bleibt der Übergang zwischen beiden psychologisch fließend. Auch ist das ressentir meist an einen konkreten Adressaten gebunden und daher mit gewissen anlaßüberdauernden Leistungen des Gedächtnisses assoziiert. Dies kann ein Gedächtnis für ungesühnten Frevel, aber ebenso positiver Verpflichtung, also Dankbarkeit sein. Was noch völlig fehlt, ist die Idee einer Ab- oder Umleitung des ressentimentalen Affekts in andersgerichtete, vielleicht sogar affektüberdauernde Ausdrucksformen. Begrifflich unbekannt ist folglich auch der ›Ressentimentmensch‹ Nietzsches, Schelers und vieler ihrer Nachfolger, wenngleich gerade die klassische europäische Moralistik gern mit Charaktertypen (der Neider, der Heuchler usw.) gearbeitet hat.

1 Die Anfänge bei Montaigne

Ein deutlich negativer Begriff des Ressentiments als eines ohnmächtigen Schmerzes, der sich mit Rachegedanken verbindet, findet sich in der Versdichtung von Théophile de Viau (1590–1626). Allerdings bleibt dies ohne psychologische Vertiefung. Zum Referenzautor Nietzsches in der Ressentiment-Psychologie wurde der Skeptiker Michel de Montaigne (1533–1592), der ungefähr zwei Generationen vor de Viau schrieb. In seinem Essay Couardise mère de la cruauté fragt Montaigne nach dem Ursprung einer Grausamkeit, die über Rachlust hinausgeht. Er findet ihn in der Feigheit gegenüber einem übermächtigen Gegner, letztlich in der Schwäche. Spontane Rache ist dann unmöglich, und durch ihren Aufschub entsteht ein bewußtes, ›kalt‹ anmutendes Verhalten. Es kann auch einer übergroßen Empfindlichkeit gegenüber Beleidigungen entspringen, die selbst durch Rache nicht zu kompensieren wären. All diese Punkte sind in die Ressentiment-Psychologie Nietzsches eingegangen. Doch gibt es Unterschiede in den Denkmotiven der beiden Autoren. Nietzsche gibt seine Beschreibungen im Rahmen einer breit ausgeführten Lebensmetaphysik, die in seiner Übermenschenlehre kulminiert. Zeit- und kulturkritische Anwendungen mittels Ressentimentpsychologie illustrieren seine These vom gesunden und vom kranken Machtwillen, ja letztlich vom starken und vom schwachen Leben. Montaigne ging von zeitgenössischen Beobachtungen aus.

Als unmittelbaren Zeugen der Konfessionskriege beschäftigen ihn der Verfall der ritterlichen Zweikampfmoral, die »unerhörten Grausamkeiten« des Folterns und Schlachtens, welche er dem Söldnerwesen zuschreibt. Hier gebe, so ein erster Erklärungsversuch Montaignes, der »Abschaum des Volkes« den Maßstab vor. Solche Menschen töteten zum Vergnügen oder ohne Gefühl, weil sie ohnehin außerhalb der sozialen Welt und ihrer moralischen Maßstäbe stünden. Ihr Töten und Foltern sei bestialisch oder gedankenlos, sei deswegen aber kaum plausibel als Befriedigung von Rachedurst. Es bleibt – gerade weil es nicht durch die Hitze des Kampfes motiviert ist! – psychologisch teilweise rätselhaft. Ja, es mutet fast absurd an: »Einen Menschen töten heißt ihn unserm Gegenschlag entziehn.« (344)21 Auch durch kalkuliert zugefügten »Schmerz zur Reue« bringen kann man den Gegner dann nicht mehr. In derartigen Gedanken Montaignes artikuliert sich eine christlich-chevalereske Gefühlswelt, die Nietzsche seelisch verschlossen war (und die erst wieder beim »katholischen Nietzsche« Max Scheler eminent wird). Das »kalte« Töten kann vernünftig sein: Wer als Tyrann alle möglichen Widersacher ausrottet, handelt zwar »der Ehre zuwider«, trägt so aber Sorge um »sein eigenes Leben« (ebd.). So fließend wie die Grenzen zwischen dem ›kalten‹, strategisch-kalkulierten Töten einerseits und strategieloser Grausamkeit andererseits sind auch ihre Beschreibungen bei Montaigne. Anscheinend ungeordnet überläßt er sich zeitgenössischen Berichten und Erlebnissen, Binsenweisheiten, Klassikerreminiszenzen und philosophischem Räsonnement. Am Ende des Essays stehen Referate antiker und moderner Folter des Leibes. »Alles, was über die einfache Tötung hinausgeht, scheint mir schiere Grausamkeit.« (347)

Hier spricht – zunächst – ein (früh)moderner Humanist. Montaigne beurteilt die am Leibe des Unterworfenen ausgekostete Rache genau konträr zur seelischen Folter. Seelische Folter durch Erweckung von Reue hält er weder für unritterlich noch für unchristlich. Montaignes Gedanken dazu umschreiben das gut evangelische Glutkohlensammeln auf dem Haupte des Widersachers, der aktuell an Macht überlegen sein mag, jedoch nicht an Moralität. Ebenso nüchtern wie die Vor- und Nachteile der Folter erwägt Montaigne aber auch Abweichungen von der ritterlichen Zweikampfmoral. »Lediglich im Kräfteverhältnis zu Beginn des Treffens ist eine etwaige Ungleichheit gebührend zu berücksichtigen; danach gilt: Nutze jeder sein Kriegsglück!« (344) Kämpfe, bei denen nicht mehr die eigene Ehre oder das eigene Leben betroffen ist, sondern in denen man als Söldner oder Sekundant agiert, dürften zwar noch dem Rachegedanken verpflichtet bleiben, doch sollte dieser nicht überschäumen. Das gebiete schon die militärische Vernunft. Man kann also grausam scheinen und doch kühlen Blutes, ja gemäß rationalen und moralischen Standards handeln!

Montaignes reflexive Unbefangenheit widerspiegelt ethische und religiöse Ambivalenzen der Frühneuzeit. Im Übergang von ritterlichen Ehrenhändeln zu konfessionellen und territorialen Staatenkonflikten schichtete sich auch das individuelle Vernunft-Affekt-Verhältnis um, differenzierte und hierarchisierte sich das Seelenleben neu. Selbstachtung, Respekt vor dem Feind und Bedenken des eigenen Vorteils zeigen sich bei Montaigne in ihrem neuen, beweglichen Gefüge. Sie werden durch diesen Autor kühl gegeneinander abgewogen. ›Ressentiment‹ bedeutet hierbei mehr als der Neid oder der Haß in christlichen Lasterkatalogen. Es hat, durch das freiere Bedenken moralischer und machtstrategischer Komponenten, an sachlicher Eigenart gewonnen. Ressentiment ist nicht länger nur unbeherrschbarer Affekt, sondern Gegenstand rationaler Erwägung. Das unterscheidet Montaignes Zugriff von jenem des spanischen Moralisten Balthazar Gracian (1601–1658), einem Autor zwischen chevaleresker Renaissance und höfischer Verhaltenslehre des Barock. Gracians Kunst der Weltklugheit enthält manche Hinweise, wie man Kränkungen des sozialen Selbstgefühls abfangen und sogar umleiten könne, resigniert jedoch hinsichtlich des Racheproblems. »Vergessen können« lautet der Rat des Spaniers.22

Bei Montaigne hingegen ist schon die Eskalationsspirale der Rachsucht mitbedacht: Wer sich umgehend rächen kann und das ohne weitere Erwägung tut, erweckt die dann vielleicht unwägbare Rachlust des ursprünglichen Angreifers (»le hazard de son ressentiment«)! Er bezahlt temporäre seelische Entlastung mit dem Risiko einer existenzbedrohenden Dauergekränktheit auf der Gegenseite. »Alles zu seiner Zeit!« heißt der Nachfolgeaufsatz in Montaignes Essais.

2 La Bruyère

Montaigne hatte das, was Spätere als ressentiment diskutieren werden, in einer Zwischenzone von Empfinden und Verhalten, von Handlung und Handlungsinterpretation gefunden. Augenscheinlich mußte dieser frühe französische Moralist hierfür nicht eine quälende Selbsterfahrung verarbeiten. Montaignes Beobachtungen am Ressentiment sind nicht primär diejenigen eines Intellektuellen, gar eines Berufsdenkers, der ständig mit dem Mißverhältnis zwischen geistigem Machtanspruch und faktischer Ohnmachtserfahrung zu ringen hat. Montaigne war Gelegenheitsdenker, ein Ämterbesitzer und Gutsherr, dem ésprit weder erst zu kulturellem Einfluß noch gar zu Selbstachtung, zu sozialem Stolz verhelfen mußte. Ein deutlicher Unterschied zu den Moralisten der folgenden Jahrhunderte! Jean de la Bruyère (1645–1696), der seelisch stabilste unter ihnen, ist gleichwohl eine erste Autorität in Sachen Ressentiment und Ressentimenterfahrung geworden. Die Rolle des Denkers nicht mehr als Häretiker einer geistlichen, sondern als Außenseiter der weltlichen Macht beginnt sich bei ihm abzuzeichnen, mithin auch ein zuvor nicht bekannter Komplex von Stolz, Frustration und Gekränktheit. La Bruyère schrieb als Zeitgenosse Ludwigs XIV., Bossuets, Malebranches, Racines, Boileaus, im siebzehnten, dem ›klassischen Jahrhundert‹ Frankreichs. Anders als der bittergewordene Frondeur La Rochefoucauld entstammte La Bruyère einer Bürgerfamilie, kannte das Gefühl sozialer Unterordnung bei sicherer geistiger Überlegenheit – er war Prinzenerzieher in der Familie Condé. Eine Laufbahn als freier Schriftsteller eröffnete sich ihm erst durch den damals üblichen Ämterkauf. Auch wenn das Wort ein Anachronismus sein mag, zögert man nicht, ihn einen Intellektuellen zu nennen. Seine Charaktere oder Sitten des Jahrhunderts, seit 1688 in ständig erweiterten Auflagen erscheinend, kreisen um das Thema seelischer wie sozialer Illusion, um Betrug wie Selbstbetrug. ›Falsche Größe‹ von Blendern oder Privilegierten – ein typischer Ressentimentanlaß! – ist ein hier häufiger Topos. La Bruyères Aphorismen, Sentenzen, Kurz-Essays und charakterologische Miniaturen sind ein Kompendium intellektuell gebändigter Bosheit. Jene literarischen Formen erlaubten ihrem Autor, ein Höchstmaß an expressiver Unmittelbarkeit mit der Kälte distanzierter Menschenbeobachtung zu verbinden. Das apodiktische Sprechen, im philosophischen Genre mit hohem Begründungsaufwand verbunden, verheißt im literarischen Genre unmittelbaren Ertrag dank physiognomischer Sofortevidenz. Das Atmosphärische geht unmerklich ins Apodiktische über, was überzeugen kann, wenn im Halbgefühlten, Halbausgesprochenen gesellschaftlichen Verkehrs ein verborgener, durch brillante Geister nur mehr literarisch zu evozierender Wesensgehalt spürbar ist. Dieses Wesen des sozialen Lebens ist die – verbal, symbolisch – explizierte Form der Selbstsucht, die Geltungssucht, letztlich: anmaßende Eitelkeit. Darin denkt La Bruyère nicht anders als Moralisten, die vor ihm schrieben, etwa La Rochefoucauld. Doch nicht nur die falsche, die bloß prätendierte Größe ist sein Thema, sondern auch der Versuch, sich angesichts echter Größe neidlos zu behaupten, sich – verunsichert, ja gedemütigt – zu stabilisieren in der Behauptung eines Selbstwerts, der von sozialer Geltung unabhängig sein soll. Bei der falschen Größe geht es um den Betrug, bei der Abwertung der echten Größe um Selbstbetrug. Letzterer ist die sich im ressentiment abzeichnende, neuzeittypische Intellektuellenmalaise.

La Bruyère war bestens disponiert, diese zwei Phänomene zu durchdenken. Er war von bürgerlichem Stande, hatte dadurch sowohl einen Blick für die Arroganz adliger Nichtsnutze gegenüber bürgerlichem Verdienst als auch für die Kompensationsversuche der bürgerlichen Sozialaufsteiger, inkarniert im ›Bürger als Edelmann‹. Das in Wahrheit vulgäre, pseudovornehme Getue karikiert er ausgiebig und gnadenlos, aus dem Gefühl substantiellen geistigen Eigenwertes. Diesen hatte er als Star der Pariser Salons erfahren, wo nicht soziale Abkunft, sondern situativ abrufbarer Esprit zählte. Das Gefühl, durch Geist, im weiteren: Vernunft, Urteilskraft, eine stabile Position jenseits von tradierten Sozialhierarchien erwerben zu können, verweist auf stoische Denkmuster. Der Neustoizismus eines Justus Lipsius (1547–1606) war wichtiges Ingrediens bürgerlicher Selbstbewußtseinsbildung. Das Ich erfährt, als rationales und moralisches, seinen Wert unmittelbar, im Angesicht einer ewigen (Welt)Ordnung, nicht aus den zufälligen Unterschieden von Stand und Geburt. In dieser Herausforderung geistlichen und weltlichen Hierarchieglaubens sollten später Nostalgiker des Mittelalters oder gar antiker Noblesse-Begriffe ein eigentümlich bürgerliches, neuzeitliches Ressentiment entdecken, in der Verfestigung, aber auch Verkümmerung des – durch Natur oder Gnade spärlich bedachten – Lebens im stoischen Selbstbewußtsein (M. Scheler).

La Bruyère kennt diese stoische Versuchung des Rückzugs auf sich selbst. Erliegt er ihr? Im Kapitel »Von Verdienst und Wert« seiner Charaktere23 schreibt er: »Sich in Wert setzen durch etwas, was nicht von andern abhängt, sondern von uns selbst, oder lieber auf jede Geltung verzichten: unschätzbarer Grundsatz von unerschöpflicher Kraft im tätigen Leben, förderlich für die Schwachen, die Tüchtigen, die Menschen von Geist, die dadurch zu Herren ihres Glücks oder ihrer Beschaulichkeit werden; verderblich aber für die Großen, weil dieser Grundsatz ihren Anhang oder vielmehr die Zahl ihrer Sklaven verringern würde; weil sie samt einem Teil ihres Ansehens ihren Dünkel aufgeben müßten und ihnen fast nichts als ihr feines Essen und ihre Equipagen bliebe; weil sie sich des Vergnügens beraubt sähen, sich bitten, umdrängen oder um Gesuche angehen zu lassen, hinzuhalten und doch abzuschlagen, zu versprechen und doch nicht zu geben; weil sie in ihrer Neigung gestört wären, Toren ins Licht zu stellen und das Verdienst zu erniedrigen« – und so geht es viele Zeilen weiter! (56f.) Derartigem Sarkasmus wird man bei Nicolas Chamfort und bei Emil Cioran wieder begegnen. Das geistig selbstbestimmte Ich glaubt sich durch seine Weltlosigkeit souverän, sieht die Sphäre des Potentiellen – cartesianisch: Denkbaren, mithin Ratioiden – weltlicher Machtwirklichkeit überlegen. Auch dies findet sich bereits bei La Bruyère: »Ein rechtschaffener Mann lohnt sich seine Beflissenheit bei der Erfüllung seiner Pflicht selber durch das Vergnügen, das ihm sein Handeln gewährt, und entschädigt sich so dafür, daß er Lob, Achtung und Anerkennung bisweilen entbehren muß.« (58)

Hier zeichnet sich die Entwicklungslinie zur Grundforderung der kantischen Pflichtmoral ab, zum Tun einer Sache um ihrer selbst willen. Ein durch Geburt oder Besitz gestütztes Selbstwertgefühl erscheint La Bruyère nicht nur unsicher, sondern oftmals auch lächerlich. Den Bürger, der das nachzuahmen sucht, vergleicht La Bruyère mit Pfauen und anderen Symbolwesen der Eitelkeit. Doch das Selbstwertgefühl, das La Bruyére der ›äußerlichen‹ Wertsetzung und Wertschätzung entgegensetzt, das eine constantia unabhängig von den Wechselfällen des Schicksals – etwa der Gnade der Großen (grandseigneurs) – verschaffen soll, ist seinerseits psychologisch wie moralisch ambivalent. La Bruyère preist es mit Worten, welche die gepriesene Sache in ein Zwielicht rücken: er nennt die Unabhängigkeit eine Rolle, die man überzeugend – vor sich und anderen – spielen können müsse. Das stoische bene vixit, qui bene latuit scheint in Zweifel gezogen, wenn von der ›falschen Größe‹ die Rede ist, die sich – vorm Urteil der Welt? – verbirgt (69). Die Untätigkeit des stoisch selbstgenügsamen Weisen – ist sie vielleicht Unvermögen der Rache am großen Herrn, der ihn verletzt hat? »Aus Schwäche haßt man einen Feind und sinnt darauf, sich an ihm zu rächen; und aus Trägheit beruhigt man sich und unterläßt die Rache.« (105) Besitz- und Geltungssucht sind für La Bruyère Quellen des persönlichen Unglücks. Ihre sozial zerstörerische Wirkung interessiert ihn weniger. La Bruyère hat die Unruhe und seelische Abhängigkeit im Blick, die besagte Sucht mit sich bringt, auch die »Scheinhaftigkeit«, »Äußerlichkeit« jener Güter. Den Ehrgeiz an sich verwirft er jedoch nicht, ja, »Ehrgeiz selbst heilt den Weisen vom Ehrgeiz: er strebt nach so hohen Dingen, daß er sich nicht auf das beschränken kann, was man Schätze nennt, Stellen, Glücksgüter und Gunst; so schwache Vorzüge« befriedigten ihn nicht. »Das einzige Gut, das ihn zu locken vermöchte, ist der Ruhm, der aus der ganz reinen, einfachen Tugend entspringt; diesen erkennen die Menschen ungern an, und so verzichtet er darauf.« (69)

Das stoische Unabhängigkeitsverlangen ist bei La Bruyère sublimiert durch die psychologische Einsicht, daß eine gehemmte Bewegung der Seele ein minderer Zustand, ja, Unglück sei. Das steht in Übereinstimmung mit der rationalen, stark neustoisch inspirierten Psychologie der Zeit (Descartes, Hobbes, Spinoza). Das per se unbegrenzte Verlangen (vouloir, voluntas; conatus) ist seelisch und sozial nur dann abträglich, wenn es der Kontingenz des Sinnlichen, Weltlichen, Materiellen überantwortet wird. Leidenschaft bedeutet Schwäche, weil die Seele von ihr passiv erfaßt wird. »Die Menschen erröten weniger über ihre Laster als über ihre Schwächen und ihre Eitelkeit. Mancher ist ganz offen ungerecht, gewalttätig, verräterisch, verleumderisch, der seine Liebe oder seinen Ehrgeiz ohne andere Absicht verheimlicht, als sie zu verbergen.« (107f.) Von ›außen‹ gesetzte Handlungs- und Bewertungsmotive beschädigen die Souveränität der Seele! Dies ist ganz im Sinne des frühmodernen Stoizismus gedacht, dessen Vorzeichen sich bei Montaigne finden. Doch erfährt der Neostoizismus bei La Bruyère eine unmißverständliche Absage, sobald er von bloßem Trostdenken zu einer Anthropologie, ja einer Sozialphilosophie aufzusteigen beansprucht. Eigene Erfahrungen mit der psychologischen Unmöglichkeit, dauerhaft in zwei Ordnungen – von souveränen Selbstwerten und von aktuell geltenden Sozialwerten – zu leben, dürften dabei ihre Rolle gespielt haben. In dem umfangreichsten Kapitel der Charaktere, betitelt »Vom Menschen«, heißt es unmißverständlich: »Die stoische Lehre ist ein Spiel mit Worten und ein Gebilde der Phantasie wie der platonische Staat. Die Stoiker wollten sich einreden, man könnte in tiefster Armut fröhlich sein, unempfindlich gegen Beleidigungen, Undankbarkeit, Verlust der Glücksgüter wie der Angehörigen und Freunde; dem Tod gelassen entgegensehen und ihn als etwas Gleichgültiges betrachten, das uns nicht freudig noch schmerzlich berührt; Lust und Leid gleichmütig hinnehmen; sich den Leib von Stahl oder Feuer versehren lassen, ohne einen Seufzer auszustoßen oder eine Träne zu vergießen; und dieses trügerische Wunschbild von sittlicher Kraft und Standhaftigkeit haben sie einen Weisen genannt. Sie haben dem Menschen alle Fehler gelassen, die sie an ihm entdeckten, und kaum eine seiner Schwächen gerügt: Statt ihm seine Laster in ihrer Furchtbarkeit oder in ihrer Lächerlichkeit lebhaft vor Augen zu malen und damit zu ihrer Besserung beizutragen, haben sie ihm ein Bild der Vollkommenheit und des Heldentums entworfen, dem er nicht gleicht, und haben ihn zum Unmöglichen angestachelt.« (260f.)

La Bruyère spricht hier als psychologischer Skeptiker. Spricht er auch als christlicher, etwa jansenistisch beeinflußter Pessimist?24 Der Pessimismus der Moralisten ist seinerseits skeptische Abwehr eines falschen, sogar praktisch gewordenen Wissensanspruchs, nämlich in den Illusionen, die die ›Großen‹ sich über sich selbst machen. Diese Illusionen können geistlich wie weltlich imprägniert sein. Noch die stoische Versicherung gegen ihren Zusammenbruch ist eine von ihnen. Die Kur, die La Bruyère dem Schicksalsgebeutelten empfiehlt, lautet daher nicht auf moralische Selbstertüchtigung, sondern auf ästhetisch-intellektuelle Selbstkonfrontation, auf ein Innewerden kreatürlicher Lächerlichkeit. Der Ernstfall eines Schicksalsschlages ist für einen geistreichen Gesellschafter der ›Großen‹ stets der Gunstverlust, d. h. der Fall in die Ungnade gewesen. Das Kapitel »Von den großen Herren« bietet ein Kompendium typischer Verletzungen und gängiger Heilungen. Die großen Herren, suggeriert La Bruyère dort in seinen Typenbildern und halbfiktionalen Porträts, sind zumeist von Leidenschaften getrieben, daher ein seelisch-moralisch defizitärer Menschenschlag. Was sie sind, verdanken sie nicht sich selbst, sondern sozialer, aber auch seelischer Geburtsnatur, ererbter Macht, ererbtem Besitz. Ihre Größe ist ein Zufallsprodukt. La Bruyère hat den Begriff der glücklichen Geburt weit gefaßt. Alles, was der petit bourgeois Nietzsche einmal von den Vornehmen sagen wird, gegen die sich das Ressentiment, die ohnmächtige Schwäche richteten, erscheint beim petit robe La Bruyère unter negativem Vorzeichen: Die Großen zeigen unsublimierte, unbeherrschte, zudem innerlich disparate Natur, sie sind nicht Persönlichkeiten kraft eines rationalen und moralischen Willens. Der Verlockung, die Großen in purer ressentimentaler Umkehr ihrer eigenen Selbstherrlichkeit zu diffamieren, entgeht La Bruyère durch seine Skepsis auch gegen sich selbst: »Gewisse Persönlichkeiten geben zu den widersprechendsten Urteilen Anlaß. Nach ihrem Tode laufen freche Spottverse unter dem Volke um, während die Kirchengebäude von ihrem Lob widerhallen. Bisweilen sind sie weder Schmähschriften noch Leichenreden wert; bisweilen verdienen sie auch beides.« La Bruyères Schlußwort zu den Großen könnte auch von Montaigne sein: »Über die Mächtigen muß man schweigen: Gutes von ihnen zu reden, ist fast immer Schmeichelei; ihnen Übles nachzusagen, birgt Gefahr, solange sie leben, und zeugt von Feigheit, wenn sie tot sind.« (236)

3 Chamfort

Ein Jahrhundert darauf, in der französischen Moralistik vor (und während) der Revolutionszeit, ist die skeptische Distanz bedroht. La Bruyère hat in der Literaturgeschichte des Ressentiments eine Übergangs­position inne. Bei ihm zeigen bürgerliches Selbstbewußtsein und intellektueller Selbstzweifel ein wenn auch prekäres Gleichgewicht. La Bruyère – Parteigänger der klassischen Antike in der querelle des anciens et des modernes (1687/88) – ist ein Mann der entstehenden Mittelklasse, einer médiocrité jenseits sozial oder gar geistig abwertender Bedeutung. Diese soziokulturelle Schicht bestreitet nun zusehends – im Unterschied zur Erfahrungswelt Montaignes – symbolische Kämpfe. Sie ist oftmals nicht adliger Abkunft, orientiert sich jedoch an einer aristokratischen Werte­welt, hält sie gar selbstbewußt dem Geburtsadel entgegen. In diesem Selbstbewußtsein liegt eine souveräne Abgeklärtheit, von der sich Nicolas Chamfort (1741–1794), frühzeitig ein Günstling, bald aber ein Widersacher der Adelsklasse, deutlich entfernt hat. Chamforts Aphoristik und Physiognomik ist eine Prosa des verletzten Stolzes. In seinem Glauben, sich aristokratisch fühlen zu können, ohne dafür geborener Aristokrat sein zu müssen, ist Chamfort der seelenbiographisch wichtigste Vorläufer Nietzsches. Als unehelicher Sohn einer Aristokratin und eines Domherrn war Chamfort schon leiblich auf die zwei herrschenden Stände verwiesen, denen später sein ganzer Haß gelten sollte. Die zwar vornehme, aber illegitime Geburt begünstigte die zweideutige Biographie eines Aufsteigers wie eines Niederreißers, eines Eroberers wie eines Umwälzers der Gesellschaft (le monde) und ihrer Werte. Dem geistlichen Collège nach Paris entlaufen, gehört Chamfort zu jenen Büchermenschen, die sich unvermittelt ins Leben gestoßen finden und ihre in der Klausur gezüchtete Reizbarkeit in ätzenden Beobachtungen ausleben. Durch seine literarische Begabung stieg Chamfort im vorrevolutionären Frankreich rasch auf, errang als Dramatiker sogar die Gunst der Königin. Sein Stück La jeune Indienne pflegt den damals konventionellen Topos des edlen Wilden, seine berühmten Maximes zeigen Chamfort, wie er selbst dachte und sprach. Dieses Werk, nicht die epigonale Dichtung über edle Wildheit, hat seinen postumen Ruhm begründet. Bereits als erfolgreicher Autor wollte Chamfort nie nur Schriftsteller sein. Chamforts unbändiger Geistesstolz verachtete alle Äußerlichkeit, alle dingliche Manifestation des Ruhms. Paris verließ er, zugleich Aufsteiger geworden und Außenseiter geblieben, auf der Höhe seines Ruhms; seine ländlichen Aussteiger-Phantasien waren kaum mehr als Phantasterei. Chamfort lebte in einem durchaus professionellen Intellektuellenethos, das alle Dienstbarkeit des Geistes ausschloß, sich in dieser radikalen Negativität aber um so mehr auf äußere Objekte – von Spott, Räsonnement, Negation – verwiesen sah. Mit Voltaire und anderen frivolen Geistern beklagte er den Niedergang des Kirchenchristentums, weil damit ein Nährmittel schriftstellerischen Spottens verschwinden würde. Das Mißtrauen und der Haß gegen äußerliche – ererbte oder erworbene – Geltung machten vor dem eigenen Ruhm, auch der eigenen Beliebtheit als Gesellschaftslöwe nicht halt. Chamfort galt als Verräter aller seiner Gönner und Förderer, als Spötter über die Familien, bei denen er ein und aus ging. Sein Stolz ließ es nicht zu, sich als Mensch und Autor gemäß vorgefundenen Maßstäben zu etablieren. Chamforts trotziger Welt- und Menschenhaß wandelte sich in den letzten Jahren vor der Revolution in konkrete Gesellschaftskritik, setzte somit revolutionäre Alternativen voraus. Er suchte die Nähe Mirabeaus und anderer Reformer der Königsherrschaft, radikalisierte sich bald und fand sich schließlich, als Sympathisant der liberalen Gironde, unter der Jakobinerherrschaft selbst eingekerkert. Chamfort starb 1794, als Mensch und Politiker völlig verzweifelt, an den Folgen eines Selbstmordversuchs.

Was ließ den Revolutionär historisch später Stunde für einen Friedrich Nietzsche, dessen Politik-, Gesellschafts- und auch allgemeine Lebenserfahrung deutlich hinter der Chamforts zurückblieb, so faszinierend werden? Die Denk- und Schreibhaltung der französischen Moralistik, aber auch der Aufklärung des 18. Jahrhunderts – Chamfort gehört beiden Formationen an – suchte der mittlere Nietzsche, der Autor der Fröhlichen Wissenschaft, unzeitgemäß aufzunehmen. Nietzsche sieht sich Chamfort in einem starken Affekt der Abwehr dessen verwandt, was ›den Menschen‹ (und noch nicht ›die Vornehmen‹) klein halten will: die Feminisierung der Kultur, das Christentum, eine überkommene, ver­festigte, aber ganz und gar nicht natürliche Ordnung. Der Geniekult ist hier nicht romantisierend, sondern antikisierend, richtet sich nicht auf die unberechenbar expressive, sondern die genial schaffende Natur. Das Ideal lautet (noch) nicht auf Herrschaft, sondern auf Unabhängigkeit von den Mächten, die diese starke, zur Autarkie geborene Natur einengen. Die starke Natur soll sich nicht in einem falschen – ›konventionellen‹ – Spiel verschleißen. Chamforts Zeitgenossenschaft zur Aufklärung zeigt sich im Ideal eines von Idolen und Eitelkeiten befreiten, eines aufs ›Natürliche‹ hin ermäßigten Menschen; eine Option, zu der Nietzsche erst nach langem Denkumweg in seinem Fragment Lenzer Heide fand.25 Viele Jahre seines Denkerlebens hingegen interpretierte Nietzsche den ›gemäßigten‹ Menschen, wie er ihn in spätantiker Lebenskunst und französischer Moralistik fand, als reduzierte, pessimistisch-verzagte Form des Machtwillens, bewundernswert allenfalls ob ihrer furchtlosen Welt- und Menschenbeobachtung. Während Nietzsche sich zeitweilig als Erben der Aufklärung sah und bald als deren Vollender in einem neuen, übermenschlichen Begriff des Lebens- und Denkmöglichen, sind beim Aufklärer und Aufklärungsskeptiker Chamfort die Ambivalenzen intellektueller Idealbildung voll entfaltet.

In früher Radikalität zeigt sich bei Chamfort der moderne Intellektuelle als Akteur wie Medium des Ressentiments, einer Geistigkeit, die sich zugleich als autark begreifen will und sich doch nur in sozialer, in kultureller Negation erfahren kann. Immer wieder begegnet bei Chamfort das Motiv der verkehrten Welt, konkret in der ›Perversion der Vernunft‹, der Verkehrung einsamer Wahrheiten zu öffentlichen Lügen, des falschen und doch so mächtigen Imitators des Echten von Geist wie Natur. ›Meinung‹, ›Öffentlichkeit‹, ›Dummheit‹, ›Erfolg‹ sind Chamfort fast Synonyme, sie begründen eine falsche, in ihrer Teuflischkeit kohärente Ordnung, die das präzise Negativ einer wahren sei. Diese deutet er sich mehr und mehr als die göttliche und zugleich natürliche, die der Mensch verlassen hat. Bei Chamfort wird der Haß auf diese Realität des Falschen, das nur noch in literarischem Sarkasmus gemilderte Rachemotiv zu einer Form der Erkenntnis, auch und gerade des Höchsten. Chamfort vertraut auf die Natürlichkeit seines Affekts, auch des bösen, wodurch er von der vorherrschend stoisch-intellektualistischen Tendenz der Moralistik abzweigt.

Der Deismus, dem der Sarkastiker Chamfort sich in seinen letzten Lebenstagen verpflichtet zeigte, ist die abgewandte, vermeintlich positive Seite seines Gnostizismus, in der schwärzesten Variante eines totalen Dualismus. Der gute Gott ist nicht der Feind dieser Welt. Er steht hilflos neben ihr. Der Schöpfer sieht seine Schöpfung durch rätselhaft allmächtige, boshafte und dumme Geschöpfe verwüstet. Überall in Chamforts Notaten26 findet man diesen Topos einer ursprünglichen Ordnung, einer Primärschöpfung. Natürlichkeit und Güte zeichnen sie aus, doch ist sie nicht jene Rousseaus. Die ›wahre‹ Welt schließt bei Chamfort bereits – das sollte ihn für Nietzsche interessant machen – angeborene Rangunterschiede ein, auch artistisch-intellektuelle. Die wirkliche Welt repräsentiert weder seelische noch soziale oder intellektuelle Größe korrekt! Ja, nicht selten erliegt der Gnostiker Chamfort der Versuchung, aus der niedrigen Stellung eines Menschen in der einen Sphäre unmittelbar auf seinen hohen Rang in der anderen zu schließen. Eine längere Probe hierfür aus den Maximen: »Es ist leicht erklärlich, daß die Unredlichen und selbst die Dummköpfe in der Welt immer besser fortkommen als die ehrlichen und die geistreichen Leute. Den Unredlichen und Dummköpfen fällt es leichter, mit dem Ton der Welt Schritt zu halten, der im allgemeinen aus Unredlichkeit und Dummheit besteht. Ein Rechtlicher und ein Verständiger hingegen kommen nicht so bald in Verkehr mit der Welt und verlieren kostbare Zeit. Die einen gleichen Kaufleuten, die die Landessprache verstehen und schnell und guten Umsatz haben, die andern aber müssen erst die Sprache ihrer Kunden erlernen, ehe sie ihnen Waren anbieten und mit ihnen verkehren können. Das verbietet ihnen ihr Stolz, darum lassen sich mit ihnen keine Geschäfte machen.« (20f.) Fazit: »Es ist ein großes Unglück, wenn wir durch unsern Charakter die Rechte verlieren, die uns unsere Talente über die Gesellschaft geben.« (118)

Das Urphänomen verkehrter Welt ist der literarische Ruhm. Chamfort ist ein Schriftsteller, der sich ständig an der Grenze zum publizistischen Verstummen sieht. »Warum geben Sie dem Publikum nichts?« beginnen die Maximen. Antwort: »Weil das Publikum sich zu überbieten scheint im schlechten Geschmack und in der hemmungslosen Verleumdung«, »weil ein Erfolg mich nicht freuen« würde, »weil ich meine Ruhe nicht stören darf«, »weil ich zu arbeiten habe und weil man durch Erfolg Zeit verliert.« (5f.) Kurz, weil der »literarische Ruhm heute eine einzige Lächerlichkeit« sei. Daher seien Schriftsteller »selten eifersüchtig auf den manchmal übertriebenen Ruf, dessen sich manche Werke der Hof­leute erfreuen. Solche Erfolge sehen sie so an wie anständige Frauen das Vermögen der Huren.« (119) Bereits hier wird klar, daß Chamfort eine Rangordnung geistiger oder künstlerischer Verdienste anerkennt, die einer sozialen Ordnung täuschend ähnlich sieht, jedoch nicht mit dem Fluch der Geltung (und der ihr anhaftenden Eitelkeit) verbunden ist. Wie sein nachmaliger Verehrer Cioran schätzt Chamfort das Potentielle höher als das Realisierte, die geschaute Wahrheit höher als die zu Macht und Geltung erhobene. Souveränität bedeutet für den verbitterten Menschen, welcher der moderne Gnostiker zweifellos ist, zuallererst Autarkie, Unabhängigkeit. Dieses eigentlich defensive Lebensideal, wie es in politischen und kulturellen Zerfallszeiten attraktiv wird, leitet im Radikalfall zur Einsamkeit. Der Vollbegriff des künstlerischen oder philosophischen Genies auch der Neuzeit bleibt der Anachoret. »Allzu große Überlegenheit mach oft ungeeignet für die Gesellschaft. Man geht auch mit Kleingeld, nicht mit Goldbarren auf den Markt.« (70) Die ressentimentale Wertbasis dessen zeigt sich provozierend offen in der Bitterkeit, mit der Chamfort von den »Vorzügen des einsamen Lebens« (Kapitel 1 seiner Maximes) spricht: »Man ist in der Einsamkeit glücklicher als in der Welt. Kommt es nicht daher, daß man in der Einsamkeit an die Dinge denkt, in der Gesellschaft aber an die Menschen denken muß?« (76)

›Philosoph‹ und ›Schriftsteller‹ sind bei Chamfort die Alias-Namen des Einsamen, der die Natur erkennt und die Gesellschaft verachtet, wobei das eine offensichtlich das andere notwendig nach sich zieht. Oft meint man in Chamforts Sentenzen einen Vorläufer Schopenhauers – ebenfalls ein eifriger Chamfort-Leser! – zu vernehmen. Das der ›verkehrten Welt‹, der ›falschen Geltung‹ entzogene Sozial- und Seelenleben hat nur eine Erscheinungsform, in welcher Inneres und Äußeres konvergieren: den Stolz. Max Scheler wird ihn in seiner Moralphänomenologie als modern-subjektivistisches Substitut des vormodernen, stets objektiv begründeten Hochmuts interpretieren. Der moderne Bürger-, Künstler- oder auch Mannesstolz sei stoisches Erbe. Stolz mache den Menschen seelisch reich, indem er ihn sozial reduziere. Gerade dies preist Chamfort: »Stolz ist selbstbewußt, still, ruhig, unerschütterlich, Eitelkeit unsicher, beweglich, unruhig, schwankend. Stolz macht den Menschen groß, Eitelkeit bläht ihn auf. Stolz ist die Quelle von tausend Tugenden, Eitelkeit die fast aller Laster und Fehler. Es gibt eine Art Stolz, die alle Gebote Gottes einschließt, und eine Eitelkeit, die alle sieben Todsünden umfaßt.« (37) Der Stolz führt – wie die kantische Sollensethik, die Ethik der Pflichterfüllung um ihrer selbst, also des eigenen moralischen Selbstbildes willen – in eine Welt des Als-Ob. »Folgende Gegensätze sollte man vereinen können: Tugend mit Gleichgültigkeit gegen die öffentliche Meinung, Arbeitsfreude mit Gleichgültigkeit gegen den Ruhm, und die Sorge um die Gesundheit mit Gleichgültigkeit gegen das Leben.« (38) Stolz mache frei von Männern wie Weibern (71), von den Reichen wie den Gesellschaftsleuten. Sinne und Leidenschaften könnten nur versklaven, wie Chamfort in Einklang mit der antiken Tradition sagt. Manchmal bleibe dann nur, sich vollständig von der materiellen und sinnlichen Realität abzuwenden; eine Situation, in die sich Chamfort, bei allem Erfolg in ihr innerlich leergeblieben, mehr als einmal gedrängt sah. »Ich habe meine Leidenschaften zerstört, so ungefähr wie ein Jähzorniger sein Pferd erschlägt, das er nicht mehr lenken kann.« (90)

Daß der Tugendmotor Stolz so seinerseits zur Leidenschaft werden könne, wäre innerhalb eines antiken stoischen Szenarios unvorstellbar. Es ist Tribut an die neuzeitliche rationale Psychologie wie an frühe, schwarz-romantische Neigungen, die dann etwa ein Baudelaire literarisch exzessiv artikulieren wird. Die Art jedoch, wie Chamfort über die Leidenschaften spricht, kündet noch von einem Bewußtsein der Souveränität, ja einem jovialen Geltenlassen. Wie einige andere Zivilisations- und Zeitkritiker im späten 18. Jahrhundert glaubte Chamfort, daß die Gesellschaft nicht durch entartete Leidenschaften, sondern durch eine pervertierte Vernunft verdorben sei. »Seine Leidenschaften – ich meine, die dem Menschen im Naturzustand angehören – bewahren innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung das bißchen Natürlichkeit, das dort noch zu finden ist.« Auch das steht in einem gnostisch-dualistischen Deutungsrahmen: »Die Gesellschaft ist nicht, wie man gewöhnlich glaubt, die Entwicklung der Natur, sondern deren Auflösung und totale Neuschöpfung. Es ist ein zweites Gebäude auf den Trümmern des ersten, Trümmern, die man mit überraschtem Vergnügen wiederfindet. So erstaunt man über die naive Äußerung eines natürlichen Gefühls inmitten der Gesellschaft, das noch mehr gefällt, wenn es einer höhergestellten, der Natur fernen Person entgleitet.« (12)

Die höfisch-aristokratische Welt – sie ist sich selbst die ganze Welt, eben le monde und als solche mondaine. Diese Welt scheint durch die Künstlichkeit der Erfolge und die Eitelkeit ererbter Stellung unwiderruflich verdorben. Soll man nun alle Hierarchien revolutionär umstürzen oder, in einem tieferen, wörtlichen Verständnis von Revolution, sich zurück zu einem heilen Vorzustand bewegen? Soll man einer ewigen, dadurch aber in der weltlichen Zeit nicht durchweg repräsentierbaren Ordnung zur Sichtbarkeit verhelfen? Aber was kann Repräsentation angesichts überhistorischer Größe wie beispielsweise ›Genie‹ oder ›Güte‹ bedeuten? An diesem Punkt findet sich der Autor der Maximen vor die Alternative von Revolution und Resignation, von Resignation und Ressentiment gestellt. Warum das Ressentiment Chamforts einen Versuch mit der sozialen Revolution wagte, läßt sich aus seiner Kritik am mora­listischen Vorläufer Montaigne schließen: »Als Montaigne von der Größe sagte: ›Da wir sie nicht erlangen können, rächen wir uns, indem wir sie schlechtmachen‹, hat er etwas Witziges, oft Wahres, aber doch Empörendes gesagt, das den Dummköpfen, die das Glück begünstigt hat, Waffen in die Hand gibt. Oft haßt man aus Kleinheit die Ungleichheit der Lebenslagen, aber ein weiser und ein wertvoller Mensch können sie hassen als die Schranke, die gleichgestimmte, füreinander bestimmte Seelen trennt. Es gibt wenige hervorragende Menschen, die sich nicht den Gefühlen gesperrt hätten, die dieser oder jener vornehme Mensch in ihnen weckte, die nicht trauernd der Freundschaft entsagt hätten, die für sie eine Quelle trostreicher Freuden gewesen wäre. Sie können, anstatt das Wort von Montaigne zu wiederholen, sagen: ›Ich hasse die Größe, die mich zwingt, zu lassen, was ich liebte oder geliebt hätte.‹« (62)

4 Transformationen der Ranküne

In Chamforts Entwurf einer menschlichen Größe, die von sozialer Geltung unabhängig sei, kulminiert die Ressentiment-Diskussion in der französischen Moralistik. Im Dreischritt vom 16. zum 18. Jahrhundert zeigte sich: Montaigne hat über das ressentiment am unbefangensten nachgedacht, während Chamfort bis zur prekären Frage vorstieß, ob die Wurzel der unstillbaren Rachsucht im Menschen selbst oder in seiner Gesellschaft aufzufinden sei. Sein und Gelten – das ist ein Standardthema der Moralistik, die zuallererst vorurteilsfreie Sitten- und Menschenbeobachtung war und auch sein wollte. Im Gang der Jahrhunderte wird die Beobachtung immer mehr zu Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Schon La Bruyère, mehr noch Chamfort wie auch seine Zeitgenossen Rivarol und Joubert werden auf die Frage nach der Souveränität des beobachtenden Ichs geführt. Das führt bald zum schmerzlich scharfen Bewußtsein der sozialen, seelischen und sinnlichen Abhängigkeit des Denkens von seiner Welt. Vor allem aber der Abhängigkeit des Intellektuellen von seinen Gönnern, den ›Großen‹; ein Bewußtsein, das in Chamforts intimen Reflexionen ständig spürbar ist. Zugleich etabliert sich die Vorstellung einer Größe, die auf souveräner Eigenleistung beruhen soll, die wiederum – als künstlerisches oder schriftstellerisches génie – nicht jedem gegeben sei. Ein Ethos (und Logos!) des Geistestäters zeichnet sich ab, der gerade in der Permanenz seiner Kritik, seines Negierens eine bestimmte Souveränität gewinnt. Er ist, um ein Wort Chamforts aufzugreifen, auf uneigennützige, ja oft selbstzerstörerische Weise gehässig.

Bis zu einer vergleichbaren Selbstdurchdringung des ressentiment, vorbildlich in Ciorans Essay Odyssée de la rancune, wird es noch anderthalb Jahrhunderte dauern. Mit Nietzsche, Scheler, Klages folgen drei Klassiker der Ressentiment-Theorie, die den Affekt mittels dichter Beschreibung und teils auch aus intimer Erfahrung systematisch einzuhegen suchen.

Kapitel II: Friedrich Nietzsche

Friedrich Nietzsche (1844–1900) bewunderte Montaigne als einen der französischen Moralisten, die stets ins Schwarze der menschlichen Seele träfen. Die »tapfere und frohmüthige Scepsis eines Montaigne« (KSA XI 552) stellt der deutsche Pfarrerssohn in den Dienst eines philosophischen Projekts. Nietzsche nämlich geht über den neutral beschreibenden Gebrauch von ressentiment weit hinaus. In der Genealogie der Moral (1887) bildet es die psychologische Achse seiner Willensmetaphysik. Ein Wille zur Macht eigne allem Lebendigen. Bei den Starken, Vornehmen, den reichen und aus ihrem Reichtum schaffenden Naturen wage dieser Wille zur Macht es, sich unverhüllt zu zeigen und zu bejahen, denn solche Naturen repräsentieren ästhetisch die (tragische) Herrlichkeit des Lebens insgesamt. Die starke, vornehme Natur hält das Leben ohne eine lebenstranszendente moralische Bewertung aus. Sie realisiert lebensfaktisch die ›Werte‹, die sie für sich selbst, für ihresgleichen und gegen anders Geartete setzt. Sie bedarf somit keiner sprachlichen Sondersphäre, muß beispielsweise einen Machtkonkurrenten nicht moralsprachlich abwerten. Sie fühlt sich ›gut‹ in einem leibseelischen wie sozialnormativen Sinne. Der ›Mensch des Ressentiments‹ hingegen sei der von Natur Benachteiligte, sein Schöpfertum sekundär. Er könne die realen Verhältnisse des Lebens, welche Machtverhältnisse seien, nicht verändern, sondern nur verfälschen. Dies geschieht, indem er die Werte der Starken (›Schaffenden‹, ›Vornehmen‹) umwertet – zunächst mittels der platonischen und christlichen, später der demokratisch-elitären Moral bzw. moralverengten Weltschau. Erfasse diese dank priesterlich (›geistig‹) erfolgreicher Machtausübung auch die von Natur ›Starken‹ bzw. ›Vornehmen‹, dann verfalle die kulturelle Ordnung des Lebens als ganze.

1 Hermeneutische Aufwertung des Ressentiments

Bei Nietzsche begegnet ›Ressentiment‹ in verschiedenen argumentativen Kontexten, die jeweils über Sinngehalt und Wertakzent des Wortes bestimmen. ›Ressentiment‹ kann zunächst ein Verletztheitsgefühl bedeuten, das sich in der Rache befriedigt oder als Rachewunsch schwärt; hier ist der Wortgebrauch fast psychologisch neutral.27 ›Ressentiment‹ kann weiterhin für eine Unmöglichkeit konkreter und anlaßnaher Befriedigung besagten Grolls stehen, was es zu einer Daseinsstimmung mutieren läßt. Mitunter inspiriere diese Daseinsstimmung – kompensatorisch! – geistige Sublimierungen etwa in Kunst oder Religion; eine durch Nietzsche ambivalent gesehene Lösung. Schließlich kann ›Ressentiment‹ sich als Wesen eines bestimmten Menschentypus erweisen. In diesem philosophisch stärksten Sinne verweist ›Ressentiment‹ auf eine ursprüngliche, dem schwachen (›kranken‹, ›unvornehmen‹) Leben angeborene Disposition, an welcher die bereits »physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen« (KSA V 370) zunächst innerlich, aber ratlos leiden: »Irgend jemand muß schuld daran sein, daß ich mich schlecht befinde«. Die Verletzungen durch den unbekümmerten Egoismus der Lebensstarken kommen erst akzidentell hinzu; Kollateralschäden aus deren Vitalität gleichsam.

Aus diesem anthropologischen Szenario ergeben sich die kulturphilosophischen Details von Nietzsches Argumentation: Verletzungen, die nicht gerächt werden können, leben im Gedächtnis fort. Als unbefriedigte Rachlust bedroht solche Erinnerung nicht nur die Seelenruhe der Schwachen, sondern die soziale Ordnung insgesamt, die stets eine Schöpfung naturgeboren starker, wertesetzender Menschen sei. Die schmerzhaft erfahrene eigene, im Gedächtnis fortwirkende Unterlegenheit zwingt den Lebensschwachen zu einer haltbaren Lösung. Sie besteht in einer explizit moralischen, die implizite Moral der Starken pervertierenden Umdeutung der Stärke zur Bosheit und der Schwäche zum Gutsein. Die schwache (kranke) Vitalität im Menschen des Ressentiments kann, zur Moral und zur Theorie verselbständigt, nunmehr zerstörerisch auf die naive Selbstbejahung der Starken übergreifen, durch das erpreßte Mitleid und Schuldgefühl. Sie kann aber auch, wenn sie sich nach innen wendet, zu haltlosem Selbsthaß, ja Selbstvernichtung der Schwachen führen. In beiden Fällen wäre eine – sozial wie politisch – stabile Kulturganzheit aus befehlenden Starken und dienenden Schwachen kaum möglich. Es ist der Priester, der hier einspringt. Er stabilisiert und beruhigt das Selbstgefühl der Ressentimentmenschen, indem er es auf jenseitige Werte und Hoffnungen umlenkt. Nietzsche nennt exemplarisch die jüdische Priesterreligion, die als Abwehrmittel eines bedrängten Volkes gegen seine selbstherrlichen Unterdrücker nicht pathogen gewesen, später aber zur christlichen Schwachenverklärung, in der Moderne dann zur demokratischen Gleichheitslüge verengt worden sei. Krank wird die moderne Seele durch die Ermutigung zum moralischen Selbstbetrug, die vom habitualisierten Ressentiment ausgeht. Moral, ein Mittel im Kampf des Lebens, mutierte so zu dessen vermeintlichem Selbstzweck. Das Phänomen des »guten Menschen«, der »unschuldigen Verlogenheit« über die eigene Schwäche als Gutseinsmotiv, wird im christlich geprägten und erst recht im postchristlich-demokratischen Europa mehrheitsfähig. Die vital wie zunächst noch sozial Schwachen glauben – nach dem Muster der christlichen Heuchelei – an ihre eigenen Lügen. Die selbstbewußte, strategische Lüge der Herren gegenüber den Beherrschten (»Lüge mit gutem Gewissen«) hingegen wird schwierig. Moral als Herrschaftsmittel, als Mittel zur Ruhigstellung unterklassigen (unvornehmen) Grolls, kann als souveräne Forderung ans Leben auf die Herrenschicht übergreifen. Das beschreibt Nietzsche als ›Nihilismus‹, als kulturelle Dekadenz.

Im Ressentiment erblickt Nietzsche das Movens zeitgenössischer Emanzipations- und Fortschrittsbewegungen. Sie beerbten in ihren maßlosen Aufstiegswünschen und Teilhabeforderungen die egalitären Motive des Christentums. Die »Revolution von rechts« der 1920er Jahre konnte sich mit guten Gründen auf Nietzsches Ideen von naturgegründeter Sozialdifferenz berufen. Doch war die politische Deutbarkeit des Ressentiments beim späten Nietzsche langfristig durch eine dazu passende spekulative Psychologie vorbereitet. Als ehemaligem Musterschüler und einem der damals jüngsten deutschen Professoren war Nietzsche der Wettkampfgedanke teuer. Schon in den bildungs- und kulturkritischen Schriften der 1870er Jahre macht er sich für die gute Eris stark, für Antriebe, zu denen die Griechen sich unverdruckst bekannt hätten. ›Neid‹ und ›Eifersucht‹, so sehr auch nachmals von christlichen Schuld- und Schamgefühlen umhüllt, seien als aktive Affekte mit der Selbstachtung durchaus vereinbar. Von ›Ressentiment‹ ist von Geburt der Tragödie bis zu Morgenröte nicht explizit die Rede, jedoch von dem, was es als reaktiven, passiven Affekt von jener guten Eris unterscheidet: der Übersetzung eigener Vitalschwäche in eine Sprache objektiver Werte (die Erkenntnis als solche, das Gute an sich usw.). In ihr will Nietzsche einen lebensärmeren Menschentyp erkennen, der sich nicht als – schwacher – Einzelner, sondern nur vergrößert durch ›höhere Ideale‹ zu zeigen wage. In einer demokratischen Massengesellschaft verlange er für seine vitale Gedrücktheit zusehends Respekt.

2 Verschränkung der Perspektiven

Nietzsches Machtwillenslehre verschmilzt Kultur-, Sozial- und Religions­psychologie in der Gegenüberstellung ›vornehmen‹ und ›unvornehmen‹ Lebens. Grundcharakter des ›Vornehmen‹ sei, daß er alles kann, was er will, so auch: sich rächen. Nietzsche bestreitet also nicht, daß die ›Vornehmen‹, ›Prächtigen‹, ›Wohlgeratenen‹ ihrerseits Rachegefühle empfinden können. Da sie jedoch die vital Überlegenen sind, erschöpft sich ihr Ressentiment »in einer sofortigen Reaktion« (KSA V 273). Sie leben in ihrer eigenen, selbstgesetzten Zeit. Deshalb dürfen sich diese Wohlgeborenen auch als die Glücklichen fühlen. Bei ihnen gibt es keine schmerzende Kluft zwischen Gegenwart und Zukunft, Wollen und Vollbringen (wie bei der Masse der Menschen und Völker!). Die aus eigener Kraft und eigenem Antrieb Tätigen (›die Schaffenden‹) bedürfen nicht des Trugs ›moralisch‹ legitimierter Ziele. Ihr Tun ist so selbstherrlich-zwecklos wie das Leben selbst. Diese im Stile eines archaischen Adels gezeichneten Vornehmen konnten deshalb auch die – später durch den Priestertyp pervertierten – moralischen Begriffe des Guten und Schlechten »von sich aus« konzipieren. Ihr adelsnatürlicher Machtwille darf »aufrichtig, naiv, mit sich selber ehrlich« sein. Wenn solche Menschen einmal Haß, Neid, Eifersucht fühlten, dann gälten diese Affekte stets Gleichrangigen; es ist Hesiods »gute Eris« des offenen Wettstreits, der die klare Entscheidung bringt (KSA V 274ff.). Primär geht das Handeln der Vornehmen nach außen. Es seien volle Naturen, in denen ein »Überschuß bildnerischer Kraft« wirke; daher die gelegentlich nötigen, barbarisch anmutenden Entladungen. Gegen diese »aufsteigende Bewegung des Lebens, die Wohlgerathenheit, die Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung auf Erden« (KSA VI 192) hält der »Instinkt des ressentiment« mangels Lebenskraft dann seine lebensverneinende Ideal-Welt.

Nietzsche liebt suggestive Aufzählungen: Die Lebensstarken und Vornehmen, das seien die »Aktiven, Starken, Spontanen, Aggressiven«. Den unvornehmen Lebensschwachen verbleibt nur die geistige Tat einer Umwertung