Der Glaube der Anderen - Jürgen Große - E-Book

Der Glaube der Anderen E-Book

Jürgen Große

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Beschreibung

Ein Pandämonium zeitgenössischer Frömmigkeit in 55 Porträts. Der Hoffnungsstille, die Leibeswächterin, der Geistgewisse, die Kindsanbeterin, der Sündenstolze: lauter Typen des Religiösen, die einem seltsam bekannt vorkommen. Man hat sie irgendwo gesehen – aber wann war das? Und wo? War es innerhalb oder außerhalb eines Tempels, bei heiligen oder heillosen Festen? Das Weltbilderbuch porträtiert alte und neue Konfessionen, die traditionell steuerpflichtigen ebenso wie die jüngst erfundenen. Kein einziges Dogma wird hier kritisiert, denn älter als jedes Dogma scheint eine Sehnsucht nach ihm, der die Zeit nichts anhaben kann. Stimmen zum Buch: „Als Zielpublikum würde ich ... weniger die Gruppe der religiös Interessierten, als vielmehr die religiös Distanzierten sehen, jene, die meinen sich auch im 21. Jahrhundert noch über die Religiösen durch Zuschreibungen lustig machen zu müssen. Wer daran Interesse hat, dem sei das Buch empfohlen. “ Tà katoptrizomena: Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik „Vom Glauben sprechen die einen üblicherweise begeistert, die anderen umso abfälliger. Große hingegen meistert es, ein erstaunlich liebevolles, vermutlich auch gewollt widersprüchliches, schillerndes Bild von Menschen zu zeichnen, die an etwas glauben oder – was das gleiche ist – behaupten, an nichts zu glauben.“ lit21 „Einige dieser Porträts sind prominenten Zeitgenossen nachempfunden. Andere gelten den unbekannten Exzentrikern, deren Glaube kaum mehr als einen Bekenner duldet.“ Spitzenbuch „Sie alle wirken zur Lächerlichkeit verdammt, aber man kann nicht anders als sie ernst zu nehmen. Diesen Widerspruch bis zum Schluß zu wahren ist die eigentliche Leistung des Buches.“ leseproben.net „Sich an Großes anspruchsvolle und beißende Texte heranzuwagen, erfordert einiges an Mut, Ausdauer und die unbedingte Bereitschaft, als Leserin oder Leser zu scheitern.“ literaturkritik.de

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Seitenzahl: 417

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Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-95894-184-7

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2021

Korrektor: Ralf Diesel

Satz und Gestaltung: Stefan Berndt, fototypo.de

Titelbild: canva.com

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Inhalt

Vorwort

1. Auf der Suche nach dem Glauben

Der Andersgläubige

Der Ungläubige

Der Gläubige

2. Verkündigung

Das himmlische Kind

Die Priesterin

Der Laie

3. Ergriffenheit

Der ewige Firmling

Der endlich Bekehrte

Die immer wieder einmal neu Geborene

4. Lebenswandel

Der Orthodoxe

Der Häretiker

Der Indifferente

5. Geisterkunde

Die Gotteshäusliche

Die Anbetungstüchtige

Die Innerliche

6. Bekenntnisdrang

Der Wahrheitszeuge

Der Sündenstolze

Die Tugendverschämte

7. In der Gebetsmühle

Der Gottesbeschwörer

Der Fluchtüchtige

Der Hoffnungsstille

8. Fromme Lügen

Der ehrliche Betrüger

Der Selbstbetrüger

Der Schwärmer

9. Bezeugte Tugend

Der Kontemplative

Die Karitative

Der Fanatiker

10. Nährendes Dogma

Der Abergläubische

Der Autodidaktische

Der Agnostische

11. Dienst am Anderen

Der Naturfreund oder: Der Mensch ohne Not

Die Leibeswächterin

Der Heiligsprecher oder: Ein Lebensschützer

12. Sendung

Der Angstkritiker

Die Schöpfungslehrerin

Der Segenspender

13. Priesterschaft

Die Mondäne der Demut

Die Muse der Schmerzen oder: Die spanische Fliege

Die Mittlerin des Glaubens

14. Tieferes Sehnen

Der Reine des Hasses

Die Tochter des Bösen

Der Eichentänzer

15. Neuere Kulte

Der Volksvertreter

Die Kindsanbeter

Der Tierfreundliche

16. Höheres Streben

Die Verschmauste des Jenseits oder: Die Reinheitshäusliche

Die Dingweltfromme

Der Seelchenführer

17. Späte Berufung

Der Glaubensprächtige

Der Haltungsfeste

Der Landfromme oder: Das stolze Schaf

18. In Erwartung des Endes

Der Geistgewisse

Der Glaubensgeschäftige

Der Apokalyptische

Apokryph: Häusliche Andacht

Vorwort

Ob Religion wieder, immer noch oder seit Ewigkeiten an der Zeit ist, weiß ich nicht, ich habe keinen Maßstab hierfür. Ich wüßte deshalb auch nicht zu sagen, ob ich selbst religiös bin oder nicht. Ich werde hier nur von dem reden, was sich als religiös darstellt, sei das nun Glaube oder Glaubensgehabe. Mangel an religiösen oder religionsähnlichen Phänomenen herrscht heute nicht. Zwei große Gruppen zeichnen sich ab:

Da sind zum einen Menschen, die oft weder konfessionelle Erziehung noch Gewohnheiten, jedoch unverkennbar religiöse Impulse haben. Der Sündenstolze, die Leibentrückte, allerlei Missionierungswütige – Figuren, die vor einigen Jahrhunderten ihren Platz auf Märkten, in Klöstern oder bei Hofe behauptet hätten und die heute jedermann in seinem privaten Umgang finden kann. Ganz zu schweigen von jenen Andächtigen oder Fanatischen, Verbitterten oder Berauschten, die in recht profane Wünsche und Taten eine spirituelle Inbrunst gießen.

Zum anderen jedoch, im öffentlichen Raum weit ausgreifend, dabei seelisch eher eng gebaut, die nach Selbstauskunft spirituell Instruierten, Informierten, Interessierten, jene Neureichen des Glaubens, deren alles profanierender Neugier nicht der winzigste Kult entgeht. Aus ihnen rekrutiert sich das unüberschaubare Volk der soeben Belehrten und sogleich Bekennenden, vor allem aber Belehrenden, kurz: der Glaubensrenommisten. Ihr Glaube ist ihnen ein Besitztum, das sich vorzeigen läßt. Mag sogar sein, daß heute dieser Typus dominiert, von dem La Bruyère vor mehr als drei Jahrhunderten schrieb: „Es gibt Menschen, die nur darauf warten, daß alle andern sich für gottlose Freidenker erklären, um selber fromm und gläubig zu werden: Freigeisterei wäre dann die Meinung der Menge, und sie könnten ohne Mühe davon abrücken. Gerade bei einem Gegenstand voller Ernst und Tiefe suchen sie aufzufallen …“

In den nachfolgenden Porträts habe ich versucht, der einen wie der anderen Gruppe gerecht zu werden. Daher wird man zuweilen Typen, zuweilen Personen porträtiert finden und häufig beides zugleich.

Berlin, im Sommer 2021

J. G.

1. Auf der Suche nach dem Glauben

Der Andersgläubige

Wir alle glauben dieses oder jenes, kämen deshalb jedoch nicht auf die Idee, uns selbst Gläubige zu nennen. Andere heften uns diesen Titel an. Diese anderen glauben entweder an etwas anderes als wir oder angeblich an gar nichts. Die ersteren nennen uns Andersgläubige (auch: Ungläubige), die letzteren schlicht Gläubige (aber auch: → Abergläubische, Zurückgebliebene, Verwirrte, Heuchler, Betrüger). Von unserer eigenen Gläubigkeit erfahren wir überhaupt erst durch Andersgläubige oder durch Ungläubige. Die Andersgläubigen schärfen unseren Sinn für das eigentümliche Sosein unseres Glaubens, die Ungläubigen erwecken in uns ein Gefühl für das gefährdete Dasein dieses Glaubens, der offensichtlich nicht alle Welt erfüllt. Alles, was wir – ob Gläubige oder Ungläubige – vom Glauben wissen, wissen wir durch Andersgläubige. Ohne die Begegnung mit Andersgläubigen wüßten wir gar nicht, daß es ein Glaube ist, was wir bis dahin für ein Wissen hielten, oder daß es, weil er echtem Wissen standhalten will, der rechte Glaube sein muß.

Aber auch umgekehrt: Die Gläubigen blieben in dieser Welt verborgen, wenn es keine Andersgläubigen gäbe. Die Andersgläubigen sind ebenso wie die Gläubigen jene Menschen, die sich eine Welt ohne Glauben nicht vorstellen können. Was sie sich vorstellen können, ist eine Welt, die von ihrem Glauben noch nicht erfahren hat. ‚Welt‘ nennt der Gläubige ja alle Wirklichkeit, der es an etwas mangelt. Woran es aber mangelt, erfährt er erst durch den Andersgläubigen, den mit dem falschen Glauben. Der Anblick des anderen Glaubens macht dem Gläubigen bewußt, daß die Welt an sich nicht erkennen läßt, durch welchen Glauben sie zu vervollständigen wäre. Zwar fehlt ihr etwas, doch was das sei, weiß der Gläubige erst, seit er dem Andersgläubigen begegnet ist. Der Andersgläubige – das ist einer, der dieselbe Welt bewohnt mit all ihren Mängeln, der aber zu einem fremdartigen Heil seine Zuflucht nahm. Dem Gläubigen ist beim Anblick solchen fremdartigen Glaubens in einer ansonsten vertrauten Welt nie ganz klar, ob ihm da ein Glaube oder ein Unglaube begegnete. Gewißheit erlangt er darüber, daß er selbst gläubig wie auch rechtgläubig ist. Ein rechter Glaube darf ja ohnehin nur einer heißen, dessen Gegenteil sowohl der Irr- als auch der Unglaube ist; zur Gewißheit des rechten Glaubens verhilft die Begegnung mit dem Andersgläubigen.

Wie begegnet der Gläubige dem Andersgläubigen? Indem er seinen bisherigen Platz in der Welt verläßt, beispielsweise durch Expansion oder Exil. Beteiligt sich der Gläubige an einer Expansion, dann begegnet er bald Menschen, die einen anderen Glauben in sich haben, begibt er sich in ein Exil, so entdeckt er den anderen Glauben in sich selbst. Im ersteren Fall wird er dazu neigen, den Glauben der anderen als Unglauben zu bezeichnen, im letzteren Fall ringt er darum, seine im Exilland entdeckte Andersgläubigkeit der andersgläubigen Umwelt als Nicht-Glauben begreiflich und somit erträglich zu machen. Nicht die Anmaßung befremdlicher Glaubensformeln, sondern die Autonomie ererbter Lebensgewißheiten will der Andersgläubige bezeugen. Daß er selber gar nicht – landestypisch – glaube und den anderen Menschen keineswegs durch den Inhalt, sondern bloß durch die Macht seines Glaubens beikommen wolle, dies wiederum ist die Anklage, unter welche sich der Glaubensexpansive im unterworfenen Land gestellt sieht.

Aus all dem wird deutlich, daß Andersgläubigkeit den ersten und zugleich befremdlichsten Anblick des Glaubens verschafft. Sie bleibt eine Wahrnehmung, die nicht zu einem Wissen erhoben werden kann, ein primitives Faktum, das durch keinen Begriff abzuschwächen, geschweige als solches abzuwenden ist. Die Begegnung mit der Andersgläubigkeit zwingt in die Alternative von stiller Gewißheit oder dröhnender Gewalttat. Selten findet sich beides im selben Menschen, oft jedoch in derselben Kultur, wenn sie unter dem Himmel eines bestimmten Glaubens, unter einem Himmel von beschränktem Raum steht. Solche Beschränktheit macht es erst möglich, über Himmelsbeschaffenheit, Himmelszustände und Himmelsbewohnerschaft verschiedenen Meinens, verschiedenen Glaubens zu sein.

Bei alledem ist Andersgläubigkeit nichts weniger als die bloße Kehrseite einer Gläubigkeit, welcher der Gläubige in oder außer sich selbst begegnen kann. In einer von Ungläubigen übervölkerten Welt ist die Andersgläubigkeit vielmehr das Schema, nach dem ihres Unglaubens Überdrüssige den Glauben suchen. Das könnte zunächst erstaunen, denn vermissen solche Unglaubensüberdrüssigen nicht den Glauben überhaupt, also irgendeinen? Und müßten sie dann nicht ein prinzipielles Wissen von dem haben, was der Glaube sei, ein Wissen, das sie mit jeglichem speziellen Glauben, also dem Widerpart eines anderen speziellen Glaubens, unzufrieden machen müßte? Doch die des Unglaubens Überdrüssigen haben nur ein vages Wissen, keine konkrete Wahrnehmung von ihrer Ungläubigkeit. Was sie vom Glauben zuerst wahrnehmen, ist dasjenige, was auch anders geglaubt werden könnte – irgendein Großes, Mächtiges, Unsichtbares, Unnennbares. Die Vielfalt der Andersgläubigkeiten ist es, was den Ungläubigen bei der Suche nach dem Glauben zuerst und zumeist begegnet und was auch ihr einziger Grund dafür war, sich aus freien Stücken auf diese Suche zu begeben. Wo der Ungläubige nur dem Gläubigen, dem Gläubigen ‚an sich‘ begegnete, wäre er sofort auf die Entscheidung zurückgeworfen, diesen Glauben anzunehmen wie ein ihm bislang unbekanntes Wissen oder sich auf das ihm bislang bekannte Unwissen zurückzuziehen. In beiden Fällen entginge ihm die Erfahrung, was ein Glaube sei. Die aber will er machen, vor aller Entscheidung für den einen oder anderen Glauben. Deshalb sind ihm die Andersgläubigen und der Umgang mit ihnen die eigentliche Erfahrung, ja Urerfahrung des Glaubens. Da es dem anspruchsvolleren Ungläubigen nicht um die Erweiterung seines Wissens durch irgendein höheres und dadurch spezielleres Wissen mittels eines Glaubens geht, sondern um den Glauben und sein Wissen an sich, kann er sich mit dem Lobpreis der Glaubensvielfalt, der vielfältig aufgesplitterten Weisheit unter den gläubigen Völkern, gar nicht genugtun. Alles, was auch anders geglaubt werden kann, fasziniert ihn, genau dasjenige also, was an den Religionen nicht religiös ist, sondern seelisch, sozial, national, epochal spezifisch.

Der Ungläubig-Glaubensbedürftige ist bestrebt, seine Urfaszination durch den Glauben festzuhalten. Sie ergab sich daraus, daß ihm der Glaube zuerst als Andersgläubigkeit begegnete. Deren Möglichkeiten sind offenkundig unbegrenzt. So schwärmt der Ungläubig-Glaubensfaszinierte von der Synthese aller Religionen, von der weltweit zu sammelnden Weisheit der Völker, für deren Vereinigung er gern das Medium wäre, das Lebenswasser. Eine reine, transparente Flüssigkeit, die aus verfestigten Dogmen die ursprüngliche, das heißt für ihn: die undogmatisierte, pure Glaubenssubstanz zieht und mischt. Wenn man ihn daran erinnert, daß die Vorfahren von seinesgleichen vor nicht allzu langer Zeit durch die Vorfahren der Recht- wie der Andersgläubigen schwere Verfolgung, Verleumdung, ja Vernichtung erlitten, dann spricht er von mangelnder Durchmischung, unvollständiger Begegnung, vielleicht auch unvollkommenem Wissen voneinander. So konnten diese Gläubigen von einst nicht verstehen, daß jene Ungläubigen von einst nur einen anderen Glauben pflegten, einen freilich wenig ausgeprägten, zu Riten und Symbolen gekommenen. Eine Schwäche, der abzuhelfen die Ungläubigen von heute allen Grund und alle Pflicht hätten! Aber auch alles Recht, denn habe man ihnen – ob in sträflich duldsamen, ob in scheußlich dogmatischen Systemen – nicht allzu lange die Schätze des Glaubens vorenthalten? Wenn die Ungläubigen von heute nur eifrig daran arbeiteten, sich jene Schätze des Glaubens von einst und jetzt anzueignen, dann würden sie durch die Gläubigen von heute reich beschenkt, in ihrer Duldung als Andersgläubige nämlich. Und sind wir, so der letzte und ewige Seufzer der Glaubenssüchtig-Ungläubigen, nicht alle Andersgläubige, die einen wie die anderen?

Der Ungläubige

Im Normalfall ist der Ungläubige sich selber unbekannt; nur der gereizte oder gelangweilte Ungläubige wird sich Freigeist, Gottesleugner, Naturanbeter, Erdbewahrer, Menschenfreund usw. nennen. Die Schuld an solcher Maskerade, in der sich ein Glaubensloser gläubig oder ein Gläubiger glaubenslos gibt, tragen Gläubige und Ungläubige zu gleichen Teilen: Man verklagt und will zugleich verklagt werden, um dadurch des eigenen Glaubens oder Unglaubens versichert zu sein. Vielleicht ist Unglaube auch ein verbales Blitzen aus dem Kurzschluß zweier Glaubensströme: der eine Eiferer bezeichnet den anderen als Ungläubigen. In manchen Religionen heißen die Andersgläubigen schlichtweg Ungläubige; Glaubensanwärter fragen hier die Glaubenswärter, ob man die Ungläubigen bestehlen, betrügen, ermorden dürfe, was darauf schließen läßt, daß sich solche Gewissenhaften des Verbrechens gar keinen reinen Unglauben, sondern nur einen durch Menschenwillkür verunreinigten Glauben denken können. Vielleicht ist der Ungläubige als selbständiges Wesen überhaupt nur ein Schreckensbild, das Priester malen, weil es sich kein Gläubiger vorstellen kann. Im Kosmos des Glaubens gibt es stets eine Bedürftigkeit an Dingen über oder außer dieser Welt; den Ungläubigen charakterisiert nun gerade eine empörende Unbedürftigkeit daran. Seiner Welt und ihm selbst scheint nichts zu fehlen. Für ihn muß der Glaube daher entweder eine Heuchelei, ein entbehrlicher Überbau der Welt, oder eine Schwäche, ein schädlicher Eingriff in die Welt sein. Sich diese Denkweise des Ungläubigen auch nur vorzustellen, hieße für den Gläubigen wahrscheinlich schon, vom Glauben abzufallen. Der Ungläubige (Glaubenslose, Glaubensfreie) setzt zwischen Welt und Sinn ein Gleichheitszeichen, wo der Gläubige ein ‚größer‘ oder ‚kleiner‘ sieht. Die gläubige Annäherung an den Ungläubigen kann daher, umgekehrt, nur Kampf gegen ein vom falschen Glauben feist oder mager gemachtes Leben sein. Demgemäß geißelt glaubensgesunde Polemik einen gottvergessenen Wohlstand oder einen selbstsüchtigen Asketismus. Der Reiche ist der Ungläubige, den das Volk beneidet und die Priester umwerben, denn er ist nur an falscher Speise fett geworden (sie käme besser den Armen oder der Kirche zugute), ein wenig Diät machte ihm Appetit auf das Heilsgut. Bei den Gläubigen erweckt der woran auch immer reiche Glaubenslose eine Lust, ihn zu demütigen; er soll herunter von seiner Höhe, die sich mit jener nicht messen kann, zu der das Heilsgut verhilft. Ganz anders der Genügsame, der sich selbst demütigt, um klein und rein und frei für den wahren Glauben zu werden, der dabei aber scharfäugig für die Schwächen des herrschenden Glaubens wurde. Dem Volke unverständlich oder unbekannt, dem Priester verhaßt ist er wegen seiner Verschlossenheit, gegen die Gaben nicht nur der Welt, sondern auch aller Überwelt-Angebote. Anstelle des Besitzerstolzes trifft man hier einen heftigen Geistesstolz, der nur durch Erinnerung an die Leibesbasis des Lebens zu brechen scheint: Normalerweise landet so einer als Gottesleugner auf Streckbank und Scheiterhaufen. Mit Recht wittert der wahre Glaube in ihm den Ungläubigen, zumindest Andersgläubigen, also den, der zu nichts mehr zu bekehren ist, schon weil er allzu leicht sein ständig enttäuschtes Suchen nach dem wahren, seelenfüllenden Glauben für diesen selbst halten wird. Als Wahrheitssucher und Reinheitsstreber würde er nichts lieber abwerfen als seinen Unglauben, das einzige, was ihn noch in dieser Welt hält.

Niemand bekennt sich ohne Not oder ohne Langeweile als Ungläubigen. Unglaube ist entweder ein Wort aus dem Vokabular der Andersgläubigkeit und wird dann dem also Bezeichneten als Ketzerkrone auf die Stirne gedrückt, wo die Füße schon von Holzscheiten umschlossen sind, oder die Andersgläubigkeit selbst wird einbekannt, dann ist dies die Rede des praktizierten Unglaubens. Die aufdringlich einbekannte Toleranz gegenüber den Religionen – den Religionen der anderen, also jenen, die zu arrogant oder zu schwach sind, um den Toleranzbekenner zu lynchen – und die Forderung nach Toleranz aller Religionen untereinander ertönen als Rede des Ungläubigen. Dem wird durch solchen Wortwind seinerseits ganz taumelig, ganz feierlich, ganz glaubensgläubig. Frivolität und Asketismus bilden je den oberen und den unteren Rand einer Kultur, worin der Glaube das Gewöhnliche ist, die Normalität; anders als in jenen Kulturen, die einen gewöhnlich gewordenen, gewohnheitsmäßigen Glauben zeigen. Hier wurde auch der Unglaube gewöhnlich. Er bringt es weder mehr zum gutmütigen Spott noch zum Titel einer Anklageschrift; man lebt und schreibt sich so gemächlich wie gewöhnlich in ihm fort.

Der Gläubige

Der gläubige Mensch ist das bestverborgene Wesen von der Welt, zumindest, solange er von seinem Glauben schweigt. Er kann fromme Werke tun, kann beten oder hoffen, ohne daß er deswegen fromm erschiene. In manchem von dem, was er tut, findet die Welt höchstens eine moralische Eigenart, in anderem eine seelische Fehlbildung. Der Gläubige erscheint da etwa als ein ganz Guter oder Dummer oder Kranker oder Hochmütiger oder Demütiger oder Eigensinniger, ohne daß schon etwas von seinem Glauben sichtbar wäre. Woher weiß die Welt überhaupt, ob einer glaubt? Indem er von den sichtbaren Dingen sagt, daß sie nicht wirklich seien und von den unsichtbaren, daß allein sie wirklich seien. Indem er im Sein der Welt den Sinn vermißt und zugleich einem Sinn das Sein zubilligt, wo der Ungläubige nichts vermißt. Vom Glauben erfährt die Welt durch ein gewisses Schauen und Sprechen des Gläubigen: Er schaut nach oben, wo die Leute von Welt nichts sehen, und sagt, daß dort etwas sei, er schaut auf die Welt, in der die Leute leben, und sagt, daß dort nichts sei, jedenfalls nichts, was einen eigenen Sinn verriete. So wirkt der Gläubige abwechselnd wie ein Sehender und wie ein Blinder, wie ein Vielsinniger und wie ein Sinnenstumpfer. Was der Gläubige sieht und wovon er, mal schüchtern, mal frohlockend spricht, das Heilsgut, wäre für die Un- und Andersgläubigen gar nicht oder doch schwer zu erkennen, wenn es nicht die merkwürdigen Sicht- und Sprechweisen des Gläubigen gäbe. Glauben, genauer: richtig glauben, lernt man durch Verfolgung und in der Verborgenheit. Der meist andersgläubige Verfolger zwingt den Gläubigen zum Bekennen oder Verschweigen seines Glaubens. In beiden Fällen wird er dadurch erst für alle Welt erkennbar, wenn auch nicht gleich erkannt. Trotz oder Nötigung machen den Glauben seinen Verfolgern und unbeteiligten Zeugen erkennbar, Verbergen und Verschweigen für ihn selbst. Kein Glaube überlebt ohne eine gewisse Verborgenheit vor der Welt, von der er sich ja in seinen Annahmen über sie so sehr unterscheidet. Aber kein Glaube überlebt auch ohne jene Verborgenheit vor sich selbst, die verhindert, daß er sich’s in den Seelen der Gläubigen als eine Gewißheit, gar ein Wissen allzu gemütlich mache. In den Augen der Ungläubigen mag der (wahre) Glaube ein angemaßtes, aber falsches Wissen sein, was den Gläubigen wieder zur Meinung verführen könnte, ein wahres Wissen zu besitzen vor den Unwissenden und den Irrgläubigen ringsum. Damit jedoch darf sich der Gläubige niemals zufriedengeben. Wenn der Glaube dasselbe sagte wie das Wissen, wäre er ein Ding von Welt und würde nicht über sie hinausweisen, er hätte dann auch keine höhere, außerweltliche Macht nötig, um in die Welt hineinzukommen. Die Scheu des Gläubigen, seinen Glauben wie eine Gewißheit zu behandeln, die einem durch Erfahrung und Nachdenken zugewachsen ist, wird ihn manchen Leuten als Zweifler, anderen als Vernunftverächter erscheinen lassen. Als freimütig ausgeplauderte Gewißheit wie als gutgehütetes Geheimnis bleibt der Glaube gleichermaßen unerkannt. Wo äußere Verfolgung und innere Anfechtung ausbleiben, da verliert der Glaube sogar seinen Charakter als Geheimnis oder Gewißheit und wird zur Gewohnheit. In den Riten der Frömmigkeit unterscheidet sich der Glaube kaum mehr vom Leben des Gläubigen, ist er nicht einmal eitles, angemaßtes Wissen, sondern schlichte, unbemerkte Praxis. Glaubensgehalt und Glaubensleben werden eines, der Glaube als ein Ding, das einen Sinn der Welt oder das Sein einer Überwelt verheißt, bleibt unsichtbar. Niemand erfährt von ihm, die Religion verfault bei allerlebendigstem Leibe. Es ist kein Zufall, daß die meisten Ungläubigen, die nach Gläubigkeit fahnden, in den Gläubigen lebendige Leichname erblicken: Die leben ihren Glauben, unterscheiden sich nicht von ihm, scheinen in ihrem so überaus gewöhnlichen Leben aber gänzlich auf den Glauben angewiesen. Ein derart gewöhnliches Leben führt jedoch auch der Ungläubige schon, und er fragt sich, ob er sich zum Leben unvermögend machen solle, um vermöge des Glaubens sein gewohntes Leben führen zu können. Wenn es diese Frage ist, die sich ihm nicht erst angesichts der Gläubigen stellt, sondern die zu ihnen hintreibt, ist er dem Wesentlichen des Glaubens so nahe wie nie, denn der echte Glaube reißt ein Loch in die Welt, um es mit etwas zu füllen, das nicht von Welt sein soll. Der Ungläubige, der den Glauben dadurch erwerben wollte, daß er sich an den Gläubigen hält, ginge immer leer aus, denn man kann den Glauben nicht von einem erwerben, der durch den Glauben lebt. Es wäre, als wollte man ihm das Leben nehmen, um von einem Toten den Glauben fest und rein zu empfangen.

2. Verkündigung

Das himmlische Kind

Die Frage, wie das Heilige in die Welt kommt, wäre eine Frage an das Heilige selbst, an den Schöpfer, Erhalter, Verwalter der Welt wie des Heiligen; diese Frage ist immer schon in den Heiligen Büchern beantwortet. Die Worte, die sie enthalten, machen die Natur des Heiligen erst vorstellbar, auch seine geschlechtliche Natur: das Heilige ist sächlich und ohne allen Gegensatz wie zwischen Untergebenen, es ist Chefsache. Nicht umsonst hat man die Entstehung der Welt mit der Tat eines spielenden Kindes verglichen. Auch wenn die Worte, die vom Wesen der Welt und von ihrer Erlösung durchs Heilige sprechen, mal mit männlichem Befehlston, mal in weiblichem Klagesang vorgetragen werden – ihr Quell muß jenseits des Geschlechts sein, kein Chef, sondern ein Chefele, ein Kind … ein Himmelskind.

Es versteht sich, daß eine Gottheit, die in der Welt nicht sichtbar ist, jenseits der Gegensätze steht, die das Sichtbare durchwalten. Warum soll dies aber auch für den Quell des göttlichen WORTES zutreffen? Warum paßt ein Gotteswort am ehesten zu einem Kindermund? Bei hinreichender Böswilligkeit ließe sich vermuten, daß die Verkündigung vor allem die Schöpfung nachahme, also auch deren vermutete Natur zu kopieren trachte. Die Verkünder des göttlichen Wortes in der Welt wären somit fast gezwungen, den überweltlichen, vormoralischen Charakter der Schöpfungsmacht auch der Verkündigungsmacht zuzuschreiben. Wie sollten sie ihn da nicht im unschuldigen Plappern eines Kindes finden? Die Verkünder – oft Männer in Frauenkleidern – kämen leicht in den Ruf, die welttypischen Polaritäten zugunsten einer weltfernen Neutralität zu verwischen, nicht zuletzt in einem Heiligen Wort, das angeblich gebiete, wie die Kinder zu werden. Tatsächlich ist diese böswillige Herleitung des Heiligen aus einem Geist der Kinderei verlockend plausibel, weil ja alles, was von der Verkündungsinstanz zu sehen ist, nur immer die Verkünder sind. Für den kindlich-sächlichen Ursprung der Welt wie des Wortes, das sie erlösen soll, zeugt aber viel eher eine andere Beobachtung, die man an wirklichen Kindern wie an unheiligen Verkündern machen kann. Es ist die egozentrische Selbstvergessenheit, ja Rücksichtslosigkeit in beider Sprechen. Das Kind und der Verkünder eines Unheiligen sind, wenn sie sprechen, in ihren Gedanken nie bei den Gedanken jener, die ihr Wort vernehmen. Sie sind, ob aus Unschuld oder Bosheit, ganz bei sich, ganz in sich, die Worte fallen aus dieser Versunkenheit in sich selbst zurück und bleiben geborgen im Gestammel. Die ambitionslose Kindlichkeit wie das ehrgeizigste Übelwollen kennen nicht die Furcht, sich durchs Wort zu erschöpfen. Ob die Welt nun das Werk eines spielenden Kindes oder eines tatkräftigen Ungeheuers sei, sie gibt darin doch jeweils genau das Vorbild des Heiligen Wortes, dessen Entäußerung seinen obersten Verkünder nicht entleert oder geschwächt zurückläßt.

Es ist wahr, daß niemand in der Welt, der solch eine selbstvergessene Verkündigung gehört hat, gewiß sein kann, daß sie auch ihn meinte. Das Heilige begibt sich nicht ins Gespräch; daher die Notwendigkeit des Gebets, einer Rückfrage oder Gegenrede. Die Anbetung eines Kindes überall auf der Welt zeugt von einer Gewißheit darüber, wo der Verkündigungsquell des Heiligen Wortes zu finden sei. Aber auch das Gebaren aller, die sich selbst als Verkündigungsquellen fühlen, zeugt davon. Ein jeder führt sich hier auf als (s)ein eigener Chef: allmächtig, doch ohne jede Verantwortung, ein anlaßlos plapperndes, anlaßlos verstummendes Himmelskind. Die heiligen Irren kichern oft, ein kindisches Kichern, nicht so sehr über den Inhalt ihrer Verkündigungen, sondern über die Tatsache, mit ihnen allein zu sein als je einzige Zuhörer und Unterredner. Das leicht irre, infantile Grinsen des Himmelskindes, das als Verkünder noch ungehörter Wortheiligtümer unter Menschen wandelt, ist berechtigt. Das Kind hat mit dem Gefühl zu kämpfen, an Überfülle der Antworten zu tragen in einer Welt, die noch gar nicht recht nach ihnen zu fragen weiß. Das himmlische Kind, wie zuvor das Schöpfungswesen, muß also nicht nur für Erlösung sorgen, sondern auch für Erlösungsbedürftigkeit. Aus dem Wissen um die Erlösungsunwissenheit der Kreaturen sprießt das Heilige Grinsen. Es lacht den Weltkindern von jedem Plakat entgegen, das die Ankunft des Befreiers von bislang namenlosen Leiden verkündet.

Die Priesterin

Sieht man von den kultischen Verrichtungen ab, die auf Erden von Himmelskind zu Himmelskind verschieden und oft reichlich kompliziert sind, so zeigt sich die Priesterin, die Verkündigerin des Heiligen Wortes, von überwältigender Einfachheit. Nicht zuletzt ist es die Gewißheit, überwältigt zu sein, was ihre Einfachheit rechtfertigt. An irgendeinem Punkt ihres Leibes oder ihrer Seele ist das Heilige Wort in sie gedrungen, hat sich in warmen Strömen überallhin ausgebreitet und zuletzt die Grenzen ihrer irdischen Person überschritten. Die Priesterin – und dies ist die einzige Entscheidung, die sie zu treffen hat – verlangt es nach Selbstauflösung in einer von Seinem Wort erfüllten Welt oder nach Einschluß der Welt in ihre Arme; als Große Mutter oder Heilige Hure, als Allumfassende oder Allzugängliche kann sie ihr Dasein zur höchstmöglichen Einfachheit steigern. Diese Einfachheit, die in ihrer verkündenden Rede die tollsten Widersprüche beieinander wohnen läßt, bezeugt auch ihren Charakter als Medium des Heiligen Wortes. Während dessen oberster Verkünder und seine sichtbaren Nachahmer eine Möglichkeit oder einen Anschein der Gebrochenheit bewahren, wie im selbstbezüglichen Reden oder Lächeln manifest, ist die mediale Verkünderin seelisch heil und ganz, weil ganz und gar aus einem Stoff. Sie ist wie das grinsende Chefele durch nichts zu erschüttern, ist aber imstande, fortwährend zu erschaudern. Die Priesterin fände ein Wort, das nicht aus Fleisch wäre, unbegreiflich; unbegreiflich wäre ihr auch, wenn nicht alles Fleisch im Zeichen SEINES WORTES vereint sein müßte. Schon beim Gedanken daran schaudert sie. Die periodisch über sie hereinbrechenden und durch sie flutenden Wellen des Heiligen Wortes verlangen von ihr nichts als Empfänglichkeit, eine Gabe, die grundverschieden ist von der Selbstvergessenheit des obersten Verkünders und der angespannten Erwartung des untersten Empfängers. Die Priesterin ist niemals angespannt, sie ist allzeit gelöst, was aber nicht hindert, daß sie eifersüchtig über ihre eigene Gelöstheit wacht. Es gilt, sich bereitzuhalten! In diesem Wachen über ihre unverletzte Empfänglichkeit wurzeln die Heilige Jungfernschaft und nicht selten ein beträchtlicher Hochmut: die priesterliche Frau geht unter den Sterblichen einher als eine, die zu Höherem bestimmt ist und oder wenigstens zu einem höheren Sterben. Sie schwärmt dann von der Vereinigung alles Weltlebens im versöhnenden, heilend-heilbringenden Wort, versagt sich deshalb jedem einzelnen, lebendigen Wesen. Indem sie niemandes Zweck – Lebenszweck, Lebensglück! – sein will, sondern immer nur reines Mittel, hat sie sich zum Selbstzweck gemacht und beginnt so der Gottheit zu ähneln. In manchen Weltgegenden betet man sie mehr an als ihr Heiligtum.

Der Laie

Welches Leben der Laie auch sonst führen mag, in Fragen des Glaubens gibt es für ihn nur zwei Zustände: vor der Verkündigung und nach der Verkündigung des Wortes. Deshalb neigt sein Leben, sofern es auf den Glauben gegründet ist – daß es dies nie vollständig sein kann, unterscheidet ihn von der Priesterin! –, entweder zum Übereifer oder zur Trägheit.

Übereifrig wirkt der Laie in seinem Bemühen, das Wort zu hören, das Heilige zu empfangen, und zwar desto heftiger, je weniger er weiß, was da zu hören oder zu empfangen sein werde. Unwissend erregt ist er, wo des Heiligen Wissens voll, gestillt, zumindest gefüllt. Für den Laien kann es kein Zuviel des Heiligen Wissens geben, er erhält, nicht zuletzt ob seiner Ahnungslosigkeit um die eigenen Erwartungen, exakt das ihm Zukommende. Es fällt nichts ab, das sich in schöpferischer Unruhe entladen müßte, es durchdringt ihn aber auch nichts in ganzer Person, so daß er sich in Heiligen Wahnsinn oder doch wenigstens gelegentliche Ekstase steigern müßte. Der Ort im Laien, den das Heilige Wort ausfüllt, ist eine sorgsam umgrenzte Leere. Sie in gänzlicher Ahnungslosigkeit um den möglichen Gehalt dieses Wissens freizuhalten, bilde gerade die echte Gläubigkeit: so versichert’s ihm die Priesterin, so gebärdet sich auch das Heilige Kind, von dem ohnehin nur Überraschungen zu gewärtigen sind. Darum ist der Laie entweder übereifrig oder träge, gespannt oder entspannt, aber niemals zum Beispiel in der leichten, kontinuierlichen Anspannung des Wissens. Denn was zu wissen ist, muß nicht geglaubt werden.

Die Trägheit des Laien nach der Verkündigung stammt nicht bloß aus der Gewißheit, den Glauben zu besitzen, sondern auch aus dem ständigen Gedanken daran, in welcher Not ihr Nicht-Besitz ihn einst sah. Die Priesterin ist es, die den Laien immer wieder an diese peinigende Zeit erinnert und ihm den um seinen Glauben noch unwissenden Gläubigen als Vorbild des wissenden hinstellt. Dieses Erinnern von oben, auf Befehl, ermüdet den Laien. Es erinnert ihn ja ständig daran, daß ihm nun nichts mehr fehlt, daß er sich nichts mehr muß sagen lassen. Man kennt das allzugut, aus Konfessionen wie Nicht-Konfessionen: das heftige Gebaren der Verkünderin und das im Besitz der Verkündigung so belämmert wie unbekümmert dreinschauende Laienvolk. Und doch weiß der Laie, daß er einer Anspannung fähig wäre, die jene der Priesterin ohne weiteres überträfe. Diese Anspannung ist die Aufmerksamkeit des Laien auf das Wort der Verkündigung. Da er nicht mit dem ganzen Leib, der ganzen Seele aufnimmt, was das Himmlische Kind an Heiligen Brocken in die Tiefe der Welt fallen läßt, ist die Aufnahme des Heiligen Wortes bei ihm immer eine Sache des Willens, an den denn auch seine Glaubensvorgesetzten appellieren: dieser Wille darf nicht schwach werden, ruht doch auf ihm das ganze Glaubensleben. Der im Glauben starke Laie speist sein Leben aus der Fixiertheit auf einen Punkt – das glasige Auge, der starre Blick ist es, was dem Ungläubigen als erstes an ihm auffällt. Wie das himmlische Kind in seinen heiligen Reden die absolute Zerstreutheit, so ist der Laie in seinem gläubigen Schauen die absolute Aufmerksamkeit, wie dort (oben) alles Spiel und Zufall scheint, so hier (unten) alles Arbeit und harte Notwendigkeit. Ohne Notwendigkeiten und Nöte kein Glaubensleben, das ist schon vor der ersten Verkündigung offenkundig: Sie trifft den Laien im Zustand der inneren Not, des Mangels, der Erwartung. Die Gemeinschaft jener, deren innerer Not abgeholfen ist durch EIN WORT, hält dann äußere Notwendigkeit zusammen, also Nötigung; des Heiligen Wortes voll, wird man leicht Ziel einer Welt, die dieses neue Leben in seiner Spannungslosigkeit, also Ungeschütztheit wahrnimmt. Die Besitzer des Wortes der Verkündigung wachen übereinander, daß keiner von ihnen schwaches Opfer oder frecher Einzelgänger werde, sie nötigen einander zur Stärke im Glauben. Vielleicht ist, was Verkündigung im Menschen bewirkt, überhaupt dies: Wenden einer inneren Not in eine äußere Nötigung – Rituale, Dogmen, Gewißheiten aus dem Heiligen Wort. Die Monotonie im Leben des Laien, im Glaubensleben, entspricht dessen strikter Zweipoligkeit von Trägheit und Eifer, die wiederum nur die zwei Zustände des Willens zeigen: angespannt und abgeschlafft. Mit dem Heiligen Wort kommuniziert der Laie eben weder in ganzer Person noch durch irgendwelche sinnlichen oder übersinnlichen Begabungen (deren Übermaß macht ihn mitunter zum Ketzer und Verfolgten), sondern einzig durch den Willen, diese engste und einfältigste Potenz des Lebens: Der starke Wille wünscht, der schwache weiß sich genötigt. Wenn der Laie das Mahnwort vernimmt, nicht im Willen schwach zu werden, dann weiß er, daß er ganz und gar des Glaubens ist.

3. Ergriffenheit

Der ewige Firmling

Für den ewigen Firmling ist der Glaube nichts Besonderes, er scheint ihm so selbstverständlich wie das Leben. Seine Bekanntschaft mit dem Glauben ist deshalb eigentlich nur eine Erinnerung an diese Selbstverständlichkeit. In sich selbst und um sich herum findet der Firmling ausschließlich geheiligte Tatsachen. Ohne gewisse Sakramente und Symbole, also Dinge, die einer nicht- oder andersgläubigen Welt wunderlich erscheinen, wüßte er gar nicht von seinem Glauben, spürte er aber auch kaum das eigene Leben! Weil Glaube und Leben kaum zu scheiden sind, kann den Firmling nichts in Unruhe versetzen. Sein ganzes Leben ist eine Reihe von Bestätigungen seiner Rechte und Pflichten im Glauben. So schreitet er von Gewißheit zu Gewißheit. Er kennt darum auch keinen scharfen Unterschied zwischen Glauben und Wissen: das Leben im Glauben ist ihm eine beständige Bekräftigung dessen, was man immer schon weiß oder doch wissen könnte. Zwischen Taufe, Firmung, letzter Ölung ist da kein Unterschied – immer ist das Heilige Wissen des Glaubens schon in sicherer Verwahrung, noch ehe man in ihm zu leben beginnt. Man könnte einen solchen Konformisten so auch den ewigen Täufling oder den ein für allemal Gefirmten nennen: alles, was er vom Leben zu erwarten hat, sind aufgefrischte Gewißheiten. Keine Überraschung droht. Zweifel und Verzweiflung lernt er nicht kennen, denn weder muß er jemals besondere Kraft zum Glauben aufbringen, noch werden ihm die Dogmen seines Glaubens irgendwie verdächtig, etwa als ein unvollständiges, ungesichertes oder unbeweisbares Wissen. Der ewige Firmling – das ist der Gläubige, wie er sein sollte, der Gläubige, der fast nichts von sich weiß. Er lebt in den Geborgenheiten von unvordenklicher Überlieferung und unveränderlicher Umgebung, sein eigener Wille unterscheidet sich nicht vom Wollen jener. Nichts überwältigt, nichts entmutigt ihn: er fühlt sich nie zu alt, nie zu schwach für den Glauben, er hat darauf vertrauen gelernt, daß zur rechten Zeit immer etwas Firmendes bereitstehe. Solange der ewige Firmling bei Kräften ist, erwartet er das ihm unterderhand Bekannte. Sein Glaube wächst und gedeiht mit dem Leben, ohne mit dem Leben zu welken. So wie er bei der Firmung sein bisheriges Leben in den Glauben gebettet fand, so kann er darauf vertrauen, daß andere sein vollendetes Leben in einen Glauben betten werden. Sein Glaube kennt nur Wachstum und Gedeihen; wird sein Leben welk, ölt ihn eine fremde Hand mit dem Glauben ein. Darauf vertraut er.

Der endlich Bekehrte

Eine Bekehrung ereilt jene, deren Wille nie mit dem Willen ihrer Umwelt harmonierte, die aber solche Harmonie als großes und einziges Glück erträumen. Der Bekehrte ist der Mensch, der das Glück der Harmonie, der Einheit, der Beinahe-Bewußtlosigkeit zu spüren meint. Eine Bewußtlosigkeit, derer man sich bewußt sein könnte, müßte freilich ebenso viel Besorgnis erregen wie eine Gesundheit, die man spüren will. Der Bekehrte ist und bleibt in einem fragilen Gleichgewicht, das er sich nur durch die ständige Angriffslust erhält, mit der er aus seinen Zweifeln die leibhaftigen Feinde des Glaubens werden läßt. Bevor der endlich Bekehrte als Verfolger des falschen Glaubens agiert, lebte er selbst in ihm. Man wird nie vom Unglauben, sondern stets nur von einem anderen Glauben her zum (rechten) Glauben gebracht, mag der verlassene Glaube hernach auch ‚Unglaube‘ getauft werden. In der Bekehrung wendet ein starker Wille seine Richtung. Da ein starker Wille nur Menschen zu eigen ist, die sich aus dem umgebenden Leben herausgelöst und oft genug auch mit dem eigenen entzweit haben, kann der Eingang ins fromme, allversöhnende Leben nicht schlicht als Erinnerung an den spirituellen Gehalt alles Lebens gelingen, sondern einzig als Überwältigung durch einen fremden Willen. Die Macht, die bekehrt, erscheint nicht als das fromme Leben, sondern als der stärkere Wille. Erschütterungen, ja Krämpfe gehen seinem Sieg voraus, häufig auch die Ohnmacht. Wenn der Bekehrte aus ihr erwacht, findet er, daß sein Wille eine andere Richtung genommen hat: Er ist jetzt Teil jenes Willens geworden. Nichts beunruhigt den Bekehrten deshalb stärker als die Möglichkeit eines individuellen, vom geheiligten Gesamtwillen abgespaltenen Daseins. Es ist sein früheres, eigenes Leben, das er darin wiedererkennt. Er würde lieber sein Leben lassen, als in jenes alte Leben zurückkehren, das ihm nun ein Sein ohne Sinn scheint. Der Bekehrte will, daß alles Sein sich einem Sinn unterwerfe, der aus sich Bestand hat. Deshalb kennt er in Welt und Leben immer nur zwei Zustände: das Leben vor und nach der Bekehrung, das Profane und das Sakrale, das Irdische und das Überirdische, das Sein im Sinn und das Sein außerhalb des Sinns. Symbole, Rituale, überhaupt äußerlichen Anhalt für das Sein des Sinns – für die Macht des Glaubens – schätzt er gering; er fühlt sich darauf nicht angewiesen, er fühlt sich ja des Sinns, des Glaubens, des Heiligen voll. Daher seine stete Gefährdung, als → Häretiker zu enden, daher aber auch seine fanatische Verfolgung aller Häretiker, jener Menschen nämlich, denen man nicht ansieht, welchen Sinn sie in sich tragen, weil sie öffentliche Bekenntnisse zum rechten Glauben als profan verwerfen. Der endlich Bekehrte hat erfahren, was ein Leben ohne Sinn ist, mit Schaudern erinnert er sich daran! Diese Erinnerung daran, daß man auch ohne Glauben sein könne, läßt ihn nicht mehr los. Die Einheit alles Lebens, von der er häufig schwärmt, ist ihm zuletzt doch bloß die Einheit seiner Kirche, die zu erfahren er auf die Existenz von Ketzern, Andersgläubigen, Fremdfühlenden geradezu angewiesen ist. Als Dasein in Wüsteneien des Sinns erfüllt ihr Anblick ihn mit zelotischer Raserei, eben jener Raserei, die ihn einst selbst in die Wüste trieb, um dort entweder das Leben oder den Hochmut eines Willens einzubüßen, der auf keinen Widerstand traf. Der Bekehrte kann nicht anders: Er muß bekehren. Deshalb ist einer Welt, die von Bekehrten regiert wird, die Zwangsbekehrung inhärent. Wer einmal die Übermacht des Glaubens über seinen Willen erfuhr und ihr sein ganzes Leben zu verdanken meint, muß andere bekehren, und da er, des Glaubens innerlich voll und aller äußerlichen Bekennerschaft spottend, überall Glaubenslosigkeit vermuten muß, wird er Sinn und Sein, Glauben und Leben in einer Hand vereint sehen wollen, die beides spendet. Gewohnt, als rechte Hand des rechten Glaubens zu handeln, kann er in den gewaltsamen Bekehrungen nichts anderes sehen als eine demutsvolle Reminiszenz seiner eigenen Bekehrung: So wie er den zum rechten Glauben Bekehrten das Leben schenkt, so fühlte er einst auch sich selbst beschenkt, mit einem Leben durch den rechten Glauben.

Die immer wieder einmal neu Geborene

Wenn die immer wieder einmal neu Geborene (sie selbst über sich: die Wiedergeborene) wieder einmal einen Glauben annimmt, dann geschieht dies nicht unterm Eindruck von Traditionsmacht oder Lebenskrise, sondern eher aus intellektuellem Übermut. Die Wiedergeborene steht allen Bekenntnissen frei gegenüber, unermüdlich forscht sie nach deren – bislang – verborgenen Wahrheiten. Den Glauben daran, daß das Verborgene mit dem Wahren, Guten, Heiligen, Heilenden gleichzusetzen sei, hat sie mit dem ewigen Firmling gemeinsam, die Form aber, mit der sie sich in ihrem jeweils neuen Glauben zeigt, ist die einer endgültigen Bekehrtheit. Während es beim ursprünglichen Bekehrten immer nur ein Ereignis im Leben ist, das aus Schwarz ein Weiß, aus einem Ja ein Nein werden läßt, wirkt das Leben der Wiedergeborenen wie eine endlose Kette von Verwandlungen. Sie gehen nie auf Überwältigung durch einen starken fremden Willen zurück – auch wenn die Wiedergeborene es gern so erzählt! –, sondern auf die Unbefangenheit, mit der die Wiedergeborene ihr je vergangenes Leben zum überwundenen erklärt. Die Ironie, mit der sie von ihren früheren Gläubigkeiten spricht, ähnelt der Ironie, mit der eine Ehefrau ihrer Jungmädchenzeit gedenkt, eine Ironie, mit der sie überhaupt alles jüngferliche Gehabe von Glauben und Vertrauen bedenkt. Doch steigert sie sich niemals bis zum Sarkasmus. Nach Überzeugung der Wiedergeborenen geht nämlich kein früherer Sinn jemals verloren; daß sie immer noch glauben kann so wie einst, gilt ihr als Beweis für die Glaubensfundiertheit des Lebens. Das Leben, das sicher im Glauben fußen will, muß ihn sich aber selbst suchen, was bedeutet, daß alle Glaubensrichtungen zu sichten und eine nach der anderen zu leben sind. Die Wiedergeborene, die einige Züge des → Firmlings und des → Bekehrten zu vereinen scheint, ist eine weniger komplexe Erscheinung als jene; sie ist es durch eben diesen Glauben daran, jedesmal wissen zu können, welcher Glauben ihrem Leben frommt. Im Wissen und in der Wissenschaft vom Glauben wird der Wiedergeborenen alles vergleichbar, sei es auch nicht im Glauben. Die Wiedergeborene vertraut gleichermaßen auf ihre Vernunft und ihre Lebensstärke. Letztere garantiert ihr, daß über keinem einzelnen Glauben der Zusammenhang ihres Daseins verlorengehe, erstere, daß sich in jedem Glauben das Lebensdienliche finden lasse. Es ist darum kein Widerspruch, daß die Wiedergeborene mit wissenschaftlicher Akribie die Konfessionen sichtet und das je für tauglich Befundene mit schwärmerischer Begeisterung mitteilt. Nichts jedoch vergißt sich schneller als eben jene Begeisterung, was wiederum ihrer wissenschaftlichen Neugier neue Felder eröffnet und zugleich die herrlich undogmatische Kraft ihres Lebens bezeugt. Anders als der endgültig, aber nicht eigenmächtig Bekehrte zieht die Wiedergeborene einzig aus sich selbst, unter Anleitung zuverlässiger Ratgeber und Lehrgänge, den Sinn, der ihrem Leben als Glaube anzuheften ist. Ihre Lebensphasen, findet sie manchmal, ähneln den Epochen des Glaubens, ihre Privatschicksale dem Auf und Ab, dem Vorherrschen und Untergehen gewisser Weltreligionen. In ihrem Vertrauen darauf, daß keine spirituelle Geburt die letzte und kein leibhaftiger Tod das Ende bedeute, gleicht sie dem ewigen Firmling. Doch ist sie mit einem lebhafteren Gedächtnis begabt als dieser. Man muß sie nur einmal nach ihrem früheren Leben, ihrem abgelegten Glauben fragen, schon wird sie mit hellster Anteilnahme an diesen Präexistenzen berichten, daß es unerhört WICHTIGE ERFAHRUNGEN für sie waren, Erfahrungen, die sie keinesfalls missen möchte, Erfahrungen, mit einem Wort, ohne die sie nicht wäre, was sie jetzt ist. Was aber ist sie jetzt? Jetzt und immerdar: begeistert. Ihre Begeisterungen erzählen noch bis in ihr hohes Alter davon, wie sie gerade erst zur Welt und zur Besinnung kam, wie lange, unter welchen Formen und Flügelkleidern sie darin schon lebte und schwebte. Wenn sie’s doch nur aller Welt mitteilen könnte! Doch die Welt wird alt und immer älter, es ist Zeit, sich zu neuer Verpuppung zurückzuziehen; die Handbücher der Religionsgeschichte aufzuschlagen und das frühere, das kommende Leben in erstorbenen Kulten zu entdecken.

4. Lebenswandel

Der Orthodoxe

Wenn man im rechten Glauben leben will, ist es am besten, in ihm geboren zu sein oder ihn wenigstens fix und fertig vorzufinden. Alles Suchen nach dem rechten Glauben, etwa durch eifriges Studium heiliger Texte oder aufwendige Reisen zu heiligen Stätten oder zu Propheten der Erlösung, ist der frommen Gelassenheit abträglich, die das Dasein eines Orthodoxen erfordert. Die Wohltemperiertheit, die sein Glaube erfordert, verträgt sich einfach nicht mit jener Hitzigkeit, die den Heilssucher treibt; eine Unruhe, die nur die Richtung wechseln, nie aber an Heftigkeit einbüßen kann. Der Rechtgläubige findet den Glauben als vollendetes System vor, und zwar als Denk- wie als Daseinssystem, zum Glaubenserwerb wird ihm nicht die kleinste Leistung abverlangt. Weder hat er den Glauben gesucht, noch dieser ihn gefunden, er lebte schon immer darin, wird nur durch Ältere und Weisere zuweilen daran erinnert. Bei alledem ist der Orthodoxe, was die Stellung seines Glaubens im Leben des Menschen anbetrifft, keineswegs naiv und ohne Ahnung davon, was das Eigentliche, das Rechte seines Glaubens ausmache. Seinen Glauben sieht er stets in einer Mitte zwischen Extremen, freilich nicht zwischen Extremen des Glaubens, sondern zwischen einer extremen Gläubigkeit und einem indifferenten Leben, zwischen Irrglauben und Unglauben. Die Verwalter seines Glaubens sind es gewohnt, das eine dieser Übel als Bedingung fürs andere zu deuten, der Orthodoxe glaubt das unbesehen. Er darf das, weil seine orthodoxe Mitte ihm nicht Ergebnis gedankenschweren Ringens zwischen zwei spirituellen Extremen, sondern eher Voraussetzung für ein Leben in gedämpfter Zuversicht ist. Schwindel machen diesem Leben namentlich die Abgründe des Hochmuts, die er zur Linken wie zur Rechten klaffen sieht und die ihn, vielleicht anders als von Vordenkern und Vorbetern der Orthodoxie gewollt, als Polster der Bequemlichkeiten locken. Bequemlichkeit in der Skepsis des stets unreinen Lebens, Bequemlichkeit in der Simplizität eines reinen Fanatismus! Dem Orthodoxen schwant, daß in Fanatismus wie Indifferenz je eine Einfachheit liegt, die trotz aller Gefährdung (hauptsächlich durch eine inquisitorische Orthodoxie) eine schier unglaubliche Ruhe verheißt. Hochmut nennt der Orthodoxe den Glauben ans Leben oder an ein Leben allein aus dem Glauben – ohne Symbole, Rituale, Werke, Theologie –, hochmütig findet er auch die Ermunterung, im Buch des Lebens zu lesen oder das ganze Leben allein auf ein Buch zu gründen. Nicht, daß der Orthodoxe die geringsten Zweifel an der Heiligkeit eines gewissen Buches hätte, auf das sich auch manche → Häretiker berufen. Er selbst jedoch läßt lesen, Belesenere nämlich und vor allem Ältere, die ihm davon künden können, wie das Buch ins Leben kam und fortan alles Leben bestimmen konnte. Für den Orthodoxen sind Buch und Leben, heiliger Text und fromme Handlung immer zwei Dinge, die erst eine Kirche oder ein Kirchenstaat oder ein Gottesvolk zur Deckung bringen kann; jede Leugnung dieser Zweifältigkeit, von deren Schmerz seine Dreieinigkeit erlöst, nennt er blasphemisch.

Seine Glaubensgelehrten haben dem Orthodoxen versichert und bewiesen, daß und wie Heiliger Text und Heiliges Tun im Heiligen Buch verknüpft sind: Die Geschichte des geschaffenen Lebens führte zum Heiligen Buch, das wiederum jene deutete als vollendete und durchs Buch selbst überwundene Vergangenheit in einem unheiligen Leben; weiterhin vermag die orthodoxe Lehre zu zeigen, wie das Leben der Zukunft, das Leben bis zum Ende der Zeit überhaupt, buchgemäß zu gestalten sei. Das Buch, die Verkündigung, der Heilige Text teilt die Weltgeschichte in zwei Hälften. Den Orthodoxen versetzt das aber nicht in die freudige Exaltation einer ständig aktualisierten Bekehrung, in unruhevollen Eifer, das durchs Heilige Wort neugewonnene Leben sekündlich zu bewähren. Das Heilige Wort bestärkt ihn vielmehr in der ruhigen Gewißheit, in dieses neue, rechte, heile Leben vor Urzeiten hineingeboren zu sein, schon seit Urzeiten zur Menschheit ‚nach der Verkündigung‘ zu gehören, also in der richtigen Hälfte der Geschichte zu leben. Nichts ist ihm unbegreiflicher als die Menschheit vor der Erneuerung durchs verkünderische Buch. Und doch darf sie ihm nicht das Dunkel vor seiner heiligen Helligkeit sein, sondern nur der ahnungslose gegen den wissenden, der zufällige und lokale gegen den allzugänglichen Glauben. Mit der Orthodoxie kam ja nicht der Glaube an sich, sondern dessen rechtes Bekenntnis in die Welt! Wo es Rechtgläubige gibt, da muß es auch Altgläubige geben, Beschränkte, gegen die Gnade eines erlösenden Wortes oder eines erhellenden Buches Verstockte, in ihrer Verstocktheit Selbstgerechte, die ihre Gerechtigkeit eine Bescheidenheit nennen gegen den Hochmut unverdienten Gnadenerweises. Der Rechtgläubige denkt genau umgekehrt: Die Beschränktheit der Altgläubigen ist ihm Beweis ihres Hochmuts. Er weiß aber auch, aus seinem Buch, daß die Beschränkten das Fundament sind, auf dem die durchs Gnadenwort Befreiten schreiten, stampfen, springen dürfen – keine Erneuerung des Glaubens ohne eine altgläubige Vergangenheit! Wenn der Orthodoxe auf dieser Vergangenheit eher herumtrampelt als emporschreitet, dann doch mehr aus Vergeßlichkeit als aus Fanatismus. Überhaupt ist die Grundlage seines Glaubens etwas, das er eher als Zufall, Geschichte, ursprüngliche Laune des Heiligen begreifen möchte denn als täglich gefühlte Notwendigkeit frommen Gedenkens: Dem Rechtgläubigen ist der Altgläubige eine einzige Peinlichkeit. Wenn der Rechtgläubige ihn sich aus den Augen geschafft hat, dann kann er ihm am wenigsten verzeihen, daß er ihn nicht aus seinem Gedächtnis schaffen konnte – er schämt sich der Grundlage seines Glaubens um so mehr, je besser er sie in sich verwahrt hält als bloße Historie, reines Buchwissen.

Eine wahre Erholung ist dem Orthodoxen dagegen das Verhalten, das er gegen Häretiker seines eigenen Glaubens sowie gegen die weltweit wimmelnde Indifferenz üben darf. In den streng geregelten Exaltationen von Verfolgerzorn und Bekehrerwut, von Inquisition und Mission kann der Orthodoxe jene spirituelle Bequemlichkeit genießen, die er Irrgläubigen und Ungläubigen gleichermaßen vorwirft. Wenn er die Fanatiker des Irrglaubens als auch die Indifferenten des Rechtglaubens heimsucht, erscheint der Orthodoxe selbst fanatisch und zugleich indifferent. Sein Fanatismus ist kalt: aus dem lebenslang befestigten Wissen, im rechten Glauben zu sein, zerstört er, als Inquisitor, Folterer, Henker, das falschgegründete Leben, das Leben aus einer irrigen Gläubigkeit, einem vermeintlichen Wissen. Dieses Leben bedeutet eben nichts, das von innen her zu erfahren wäre, es ist ein abgeleitetes Phänomen, ein bloßer Lichtreflex auf einem Meer des Irrtums. Die Sonne des wahren Glaubens scheint auch aufs falsche Leben, und weil der Orthodoxe sich seit je von oben gewärmt weiß, kann er so kalt gegen den falschen Glaubensbruder, den Heterodoxen sein: der hat sein Leben offenbar woanders her, man muß für einen, dem das göttliche Licht nicht das irdische Leben bedeutet, keine Verantwortung und kein Mitleid fühlen. Der Orthodoxe vernichtet das heterodoxe Leben nach jahrhundertelang bewährtem Regelwerk, ohne Staunen oder Erschrecken – wie sehr erstaunt und erschrickt er aber über den → Indifferenten, den weder Eitelkeit noch Bedürfnis aus göttlichem Licht zu vertreiben scheinen! Der Indifferente ist der Mensch, der jedem Glauben offenzustehen scheint, dem rechten wie dem irrigen, weil er ihn gar nicht zum Leben braucht. Was den Rechtgläubigen zur Missionierung des Indifferenten treibt, ist die Sorge, daß jener ohne Besehen ein heterodoxes Bekenntnis annehmen könnte, so daß auch die Orthodoxie nichts als beliebiges Blendwerk auf der dunklen, unreflektierten Selbstsicherheit der Indifferenz wäre. Sein eigener Eifer, seine eigene Angst ist es, was dem Orthodoxen bei der Missionierung des Indifferenten fühlbar wird; das steigt in ihm auf als eine Hitze, von der er nicht weiß, ob es Scham oder Zorn sei. Scham, die sich über ihren Anlaß nicht im klaren ist; Zorn, der nicht weiß, wohin mit sich – der Orthodoxe verfällt in eine Raserei, die ihn reif werden läßt für eine zweite Offenbarung, eine gnadengewirkte Bekräftigung seines Glaubens. Erst jetzt darf er von sich sagen, daß er ganz und gar blind glaubt, ja blindwütig. Er mag nicht länger sehen, was er da missioniert, er verdreht die Augen und kommt über die Indifferenten als rotäugiger Irrer, sein Blick geht himmelwärts, während seine Hände taufen mit Wasser oder mit Blut.

Der Häretiker

Wer den Glauben erneuern will, indem er zum Beispiel den echten, alten, leider verschütteten Glauben freilegt, auf dessen Grab es sich eine Orthodoxie bequem gemacht habe, der wird am Ende zum Häretiker. Die Lebenstragik des Häretikers ist es, daß sein urtümlicher und reformierter Glaube nur so lange als ein Glaube erkennbar ist, wie es Orthodoxe gibt. Er bleibt darum sein Leben lang an die Orthodoxie gefesselt. Der Grund seines Lebensendes ist sie ohnehin meist. Diese Bindung des Häretikers – des Heterodoxen – an den Orthodoxen gleicht der Abhängigkeit des Rechtgläubigen vom Altgläubigen. Während der Rechtgläubige jedoch die Grundlage seines eigenen Glaubens im alten mit aller Macht vergessen (machen) möchte, hält der Häretiker die Erinnerung an seinen Ursprung in der orthodoxen Verfälschung gegenwärtig. Sein Leben wie sein Glaube sind dadurch einfacher als jene des Orthodoxen, denn er glaubt und lebt durch die Eindeutigkeit eines NEIN. Das Falsche, das er lebenslänglich vor Augen hat, ist ihm Richtschnur seines Glaubens und Handelns. Wenn der Häretiker seelisch schlichter erscheint als der Orthodoxe, der sich ja stets in der Mitte zu vermeidender Extreme dünkt, so muß doch darum sein Blick auf die Welt nicht schlicht sein. Und auch das Wissen von der Welt, das in der Häresie entsteht, ist zumeist komplexer als das von der Orthodoxie verwaltete. Die Häresie entsteht ja durch etwas, das die Orthodoxie gern Indifferenz oder gar hochmütige Müßiggängerei nennt, einen unbefangenen, großäugigen Blick für das Weltdasein. Das volle, widerspruchsreiche Dasein ist dem werdenden Häretiker nichts weiter als eine Kompliziertheit, die nach Vereinfachung verlangt. Er findet sie in einem ursprünglichen, ‚unverfälschten‘, heiligen Text, den er erst in aller Stille, dann vor wachsendem Publikum auslegt. Der heilige Text des Häretikers kann das Buch der Natur ebensogut wie das Vermächtnis eines halbirren Einsiedlers sein, ein Schlüssel fürs Großeganze ebenso wie ein Schlupfloch zu einer unerhörten Einfachheit. Dieser Text ist weder durch Rücksichten der Tradition noch Eitelkeiten des Wissens verfälscht, er ist von gleichfalls weltempfindlichen Leuten geschrieben und rät in der Regel zu einer Abwendung von der Weltwirklichkeit, zur Indifferenz gegen sie insgesamt. Der Heilige Text des Häretikers enthält, eben weil sein Verfasser recht weltwissend war, wenig Wissen von der Welt, er verkündet fast nur Urteile über die Welt und gibt Regeln, in ihr zu bestehen, meist: bis zu ihrem nahen Ende. Der Häretiker schließt sich ein in diesen Urteilen und Regeln, läßt der Welt das Ihre, verführt so meist die in der Welt Kundigen und Bewanderten, die Welt-Wissenden, deren Wissen er nie bestreitet. Dem Häretiker ist kein Weltwesen heiliger als ein anderes, alle Welt ist ihm eines, Natur, wissenschaftlich erforschbar. Zu glauben bleibt hier nur, daß ein Hochheiliges dereinst Gnade gegen diese Natur walten läßt.