Die Katze im Lavendelfeld - Hermien Stellmacher - E-Book

Die Katze im Lavendelfeld E-Book

Hermien Stellmacher

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Beschreibung

Die Foodbloggerin Alice ist von Paris in einen malerischen Ort mitten in der Provence gezogen. Dort hat sie in dem Restaurantbesitzer Georges und der 70-jährigen Nachbarin Jeanine gute Freunde gefunden. Fehlt nur noch ein gemütliches Haus mit Garten für sie und ihre beiden Katzen – dann wäre das Glück (fast) perfekt.

Doch ihr Leben scheint komplett aus den Fugen zu geraten, als eines Tages eine kleine Findelkatze auf gar nicht leisen Pfoten bei ihr einzieht: Alice‘ Katzen suchen das Weite; ihr wird überraschend die Wohnung gekündigt, und bei Jeanine zeigen sich erste Anzeichen von Demenz. Und zu allem Überfluss steht Alice plötzlich auch noch zwischen zwei Männern …

Ein wunderbarer Roman über einen Sommer, der alles verändert. Und über den Mut, loszulassen, um bereit zu sein, für das unverhoffte Glück.

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Seitenzahl: 349

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Hermien Stellmacher

Die Katze im Lavendelfeld

Roman

Insel Verlag

Für Dagmar.Wenn es dich nicht gäbe …

1

Alice parkte im Schatten der Platanen und sah erwartungsvoll durch die Windschutzscheibe. Ob sie heute das große Los zog? Es sei ein einmaliges Schnäppchen, hatte der Makler am Telefon geflötet. »Wie gemacht für Sie beide.« Anschließend hatte er die Vorteile des maison derart besungen, dass sie neugierig geworden war und diesen Termin vereinbart hatte.

Die Worte Grand Bonheur, die man vor vielen Jahren in schwungvollen Lettern auf ein weißes Fassadenband gemalt hatte, waren gerade noch lesbar. Großes Glück sah anders aus. Der gräuliche Bau strahlte eine ungeheure Tristesse aus.

Das verschachtelte Haus schien schon einige Umbauten hinter sich zu haben. Wenigstens waren die Fensterläden in einem warmen Dunkelrot gestrichen, und die Äste des Blauregens hatten das Balkongeländer im ersten Stock fest im Griff.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, den Rest ihres Lebens hinter dieser Natursteinfassade zu verbringen. Kehrte man nach einer Reise gern hierher zurück? Würde man sich geborgen fühlen können? War es auch im Winter warm und hell genug? Würden die Dorfbewohner sie akzeptieren?

Vor dem Lebensmittellädchen gegenüber warteten Einkaufskörbe auf Kundschaft, ein Schild pries frischen Ziegenkäse und Lammfleisch aus der Region an. Die alten Häuser daneben duckten sich dicht an dicht, und auf dem kleinen Platz weiter vorn konnte Alice einen Brunnen erkennen. Bis auf das monotone Zirpen der Grillen regte sich nichts.

Doch nun war sie schon mal hier und würde sich auch den Rest in Ruhe anschauen. Vielleicht versteckte sich das Glück ja bloß.

Dem verbeulten Peugeot in der Einfahrt nach zu urteilen, handelte es sich bei dem Makler nicht um einen typischen Vertreter seines Fachs. Das kam Alice sehr entgegen. Von den geschniegelten Typen, die in Hochglanzlimousinen vorfuhren, hatte sie die Nase längst voll.

»Aah, da sind Sie!« Ein Mann, dessen Anzug schon bessere Tage gesehen hatte, kam auf sie zu. »Jules Dumont, sehr erfreut!« Er schüttelte ihr die Hand. »Ist Madame allein gekommen?«

Alice nickte. »Mein Mann ist leider verhindert.«

»Sehr bedauerlich«, fand Monsieur Dumont, während er mehrfach über seine lilafarbene Krawatte strich. »Aber schön, dass Sie Zeit gefunden haben, sich dieses besondere Objekt anzusehen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Er fuhr sich durch die dunklen, widerspenstig abstehenden Locken, bevor er die Haustür öffnete.

Neugierig trat Alice ein. Dem modrigen Geruch nach zu urteilen stand das Glück schon länger leer, aber im Flur war es angenehm kühl.

»Bis vor einem Jahr lebte Madame Eugenie Richard hier, die Lehrerin der ehemaligen Dorfschule. Sie wiederum hatte es von ihren Eltern geerbt«, plauderte Monsieur Dumont. Auch er hatte die muffige Luft wahrgenommen und riss ein Fenster auf. »Höchst angesehene Mitbürger, seit Menschengedenken mit dem Ort verwurzelt.« Es folgten so viele weitere Details über Herkunft und Verdienste der Familie, dass Alice sich fragte, ob die Sippschaft im Kaufpreis inbegriffen war.

Doch Dumont bekam die Kurve. »Ein herrliches Zuhause für Menschen, die Werte wie Familie und Gemütlichkeit zu schätzen wissen.« Er blieb vor einer geschlossenen Tür stehen, dann drückte er schwungvoll die Klinke. »Der Salon. Voilà!«

Alice betrat ein dämmriges Zimmer voller klobiger Möbel. Der Staub, der vom plötzlichen Luftzug aufgewirbelt worden war, brachte sie zum Niesen. Als sie von ihrem Taschentuch aufblickte, sah sie die Santons, provenzalische Kitschfiguren, die auf allen verfügbaren Ablageflächen zu Grüppchen zusammengestellt waren. Sie war umringt von Pfarrern, Winzern, Bäckern und Marktleuten in historischer Kleidung, Schäfern und Gänsen, Ställen in allen Formen und Farben sowie einer Sammlung von Ziegen, die sich aufrecht stehend an Baumblättern labten.

Aus Sorge, der Wanderzirkus könne jeden Moment zum Leben erwachen, schloss sie rasch die Tür und stellte sich Léons Reaktion auf diesen Schauplatz vor. Wie sie ihn kannte, hätte er mit dem Plunder ein paar groteske Szenen nachgestellt, dann ihre Hand ergriffen und schnellstens das Haus verlassen. Léon hasste dunkle Räume und würde diese dunkle Kammer nicht mal seinen vielen Büchern zumuten.

Aber Léon war nicht da, und Alice überlegte, wie sie sich elegant aus der Affäre ziehen konnte. Am liebsten hätte sie sich einfach davongeschlichen, doch Monsieur Dumont winkte sie bereits in den nächsten Raum. Dank der geöffneten Fenster war die Luft hier immerhin erträglich.

»Das Schlaf-zimmer …« Der Makler zwinkerte ihr verheißungsvoll zu. »Was glauben Sie, wie erfrischt Sie hier aus süßen Träumen erwachen werden.« Er zeigte auf ein Gemälde über dem spartanisch schmalen Bett, auf dem Posaune blasende Engel zu sehen waren. »Mit diesen himmlischen Gestalten kann es gar nicht anders sein!«

Fasziniert betrachtete Alice das Bild, das die Handschrift eines mäßig begabten Hobbykünstlers trug. Die Engel hatten unnatürlich lange Hälse und einer war mit so dicken Wangen ausgestattet, dass Alice eine akute Mumpsinfektion vermutete.

Ihr eigenes Bett würde gerade so in das Zimmer passen, und Alice malte sich aus, wie sie jedes Mal mühsam übereinandersteigen müssten. Doch sie lächelte tapfer. »Wirklich sehr … hübsch. Ich befürchte nur, wir haben andere Vorstellungen von unserem zukünftigen Haus und …«

»Urteilen Sie nicht, bevor Sie die Küche gesehen haben«, unterbrach sie Monsieur Dumont. »Sie ist phä-no-me-nal!«

Obwohl ihr Bedarf an Besonderheiten längst gedeckt war, brachte Alice es nicht übers Herz, ihm diese Bitte abzuschlagen. Die Küche noch, dann war es Zeit, sich zu verabschieden. Dies war kein Haus, in dem man alt werden konnte. Hinter diesen Mauern vergreiste man bereits nach Stunden.

Monsieur Dumont tänzelte zum Ende des Flures, wo wenige Stufen in einen langgestreckten Raum an der Rückseite des Hauses hinunterführten. Euphorisch breitete er die Arme aus. »Ist dies nicht ein faszinierendes Farbenspiel?«

Die gerundete Decke, die an ein Kellergewölbe erinnerte, war durchaus interessant und Farbenspiel im Prinzip richtig. Doch treffender waren Begriffe wie grell, grauenvoll und geschmacklos. Wer um Himmels willen war auf die Idee gekommen, Schränke mit lila, hellroten und schreiend orangefarbenen Türen in eine Küche mit altrosa Bodenfliesen zu stellen? War die gute Eugenie blind gewesen? Doch angesichts des strahlenden Monsieur Dumont behielt Alice ihre Meinung für sich.

»Ich schreibe in meiner Freizeit ja gern das eine oder andere Gedicht. Nicht, dass ich ein Meister auf diesem Gebiet wäre, aber diese Zeilen kamen mir spontan in den Sinn, als ich den Raum zum ersten Mal betrat.« Er zog einen kleinen Zettel aus der Tasche seines Sakkos und räusperte sich. »Wenn Sie erlauben?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, las er mit feierlicher Stimme:

»In dieser Küche möcht' man singen, denn alle Speisen stets gelingen.

Hier kocht die Frau in Saus und Braus und erntet dafür viel Applaus.

Stimmt's, Madame Laurent? Auch ihr Herz schlägt hier höher, oder?«

Alice, die sich zusammenreißen musste, nicht laut loszulachen, erinnerte sich an die Annonce, auf die sie sich gemeldet hatte. Darin war die Rede gewesen von einem maison moderne und restaurée avec goût. Doch weder war das Haus modern noch konnte sie irgendwo Geschmack entdecken.

»Monsieur, Sie sind ein begabter Poet, und ich bin mir sicher, dass Sie bald jemanden finden, dessen Herz für dieses Haus höherschlägt«, sagte sie behutsam. »Doch ich fürchte … wir sind es nicht. Und wie Sie wissen, suchen wir etwas mit Garten.«

»Nun ja … Hier wäre die wertvolle Figurensammlung inklusive.«

»Die hat einen ganz besonderen Reiz.« Alice biss sich auf die Lippen. »Sie ersetzt uns aber nicht die Möglichkeit, Gemüse anzubauen.«

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis der Makler sich geschlagen gab. Er schien persönlich betroffen, dass er Alice weder mit dem veralteten Badezimmer noch mit dem feuchten Keller oder dem gruselig dunklen Gästezimmer umstimmen konnte. »Ob ich Ihnen in Zukunft wohl noch weitere Offerten machen dürfte?« Bekümmert zwirbelte er seinen eleganten Schnurrbart.

Alice, die es nicht übers Herz brachte, ihm einen weiteren Korb zu geben, nickte. »Sie haben ja meine Handynummer.«

Sie fuhr durch Weinberge und Olivenhaine zum Col d'Ey. Oben angekommen, warf sie einen Blick zurück auf die Ebene um Sainte Jalle, die sich wie ein grün gemustertes Mosaik bis zu den Hügeln am Horizont hinzog. Die Sonne strahlte, der Himmel war klar. Alles schien zum Greifen nah, als blickte man durch eine Lupe – und es war windstill nach Tagen, an denen der Mistral das Sagen gehabt hatte. Dieser unbarmherzige Wind, der an Bäumen, Fensterläden und Nerven zerrte und so plötzlich verschwand, wie er gekommen war. War er schuld daran, dass sie sich hatte überreden lassen, ein Haus zu besichtigen, das so weit von Beaulieu, von ihren Freunden und Lieblingsplätzen entfernt lag? Von ihrem wirklichen Glück?

Die Abfahrt bestand aus engen Serpentinen. Zur linken Seite ragten schroffe, von Kiefern gesäumte Felswände auf, rechts von der Straße klaffte eine tiefe Schlucht. Doch mit jedem Meter, den sie an Höhe verlor, wurde der Blick weiter, unterbrachen Laubbäume das dunkle Nadelgrün und streuten blühende Ginsterbüsche gelbe Tupfen in die Landschaft.

Als das Ouvèze-Tal in Sicht kam, parkte Alice das Auto und vertrat sich die Beine. Eine sanfte Brise strich durch die Blätter der Olivenbäume und ließ sie silbern aufblitzen, Bauernhöfe lagen verstreut in der weiten Ebene zwischen Aprikosenbäumen und Linden, am Hang vis-à-vis erstreckte sich ein Flickenteppich aus Weinbergen, Lavendelfeldern und blühenden Sträuchern. Links war die typische Silhouette des St.-Michel-Massivs zu sehen, die mit ihren Zacken an die Gebisshälfte eines Riesen erinnerte. Und rechts, weit zurückversetzt, der Mont Ventoux, einer der heiligen Berge dieser Erde, mit seiner weißen Kuppe aus Kalkgestein. Ein Panorama, das sie seit ihrem ersten Aufenthalt in Beaulieu über alles liebte.

Nie hätten Léon und sie sich träumen lassen, dass sie so lange brauchen würden, um ein geeignetes Haus zu finden. Das Angebot war zwar groß, aber sie hatten von Beginn an vereinbart, dass das Haus ihrer Träume nur ein Mindestmaß an Renovierungsarbeiten mit sich bringen durfte. Zu oft hatten sie bei Freunden erlebt, dass Umbauten sich über Jahre hinzogen, weil die Handwerker mal erschienen, dann wieder zu einer anderen Baustelle abwanderten. Nein, sie wollten die Zeit von Anfang an genießen, in einem Haus, in dem sie sich wohl und geborgen fühlen konnten.

Alice erinnerte sich daran, wie sie mit Léon vor geraumer Zeit am Tor eines alten Hotels am Rand von Beaulieu gestanden hatte und sie sich ausgemalt hatten, wie es wohl wäre, dort zu leben.

»Das wäre aber viel zu groß für uns beide gewesen«, sagte Alice zu einer grünen Eidechse, die auf einem Stein in der Sonne vor sich hin döste. »Schließlich haben wir keine Großfamilie. Aber für dunkle Häuser mit winzigen Zimmerchen ist das Leben zu kurz.«

Sie würden nicht aufgeben und weitersuchen. Schließlich starben Menschen von heute auf morgen oder zogen um. So wurde immer wieder etwas frei. Und bis es so weit war, gab es ja eine Wohnung.

In Beaulieu waren die ersten Markthändler dabei, ihre Ware einzupacken. Schlagerfetzen wehten von einem Café durch das offene Autofenster, Leute gingen mit vollgepackten Taschen über die Straße. Immer wieder staute sich der Verkehr.

Im Schritttempo fuhr Alice die lange Platanenallee entlang, bis sie in die Altstadt abbog. Direkt vor der Wohnung wurde ein Parkplatz frei, und sie konnte das Auto im Schatten der Kirche abstellen.

Ihre Katzen erwarteten sie bereits sehnsüchtig. Zazou harrte mit düsterer Miene auf den Stufen vor der Haustür aus. Colette saß, wohl wissend, wie hübsch sie war, am Rand des kleinen Brunnens und forderte lautstark, man möge bitte den Wasserknopf drücken, damit sie trinken könne. Ein Tick, der sie zu einem vielfotografierten Motiv bei Touristen gemacht hatte. Während Alice ihr den Gefallen tat, öffnete sich die Tür des Notarbüros im Erdgeschoss. Alain Bardou zeigte sich erfreut, sie zu sehen. »Das war ein langer Ausflug, oder? Deine Katzen haben dich schon sehr vermisst.«

»Ich habe mal wieder ein Haus besichtigt. Du glaubst nicht, was so alles auf dem Markt ist.«

»War es so schlimm?«

»Angekündigt war ein stilvoll renoviertes Haus. Doch stattdessen bin ich in einem tristen Bau gelandet, der an Geschmacksverirrungen kaum zu überbieten war. Was zeigt, dass auch ein vielversprechender Name nicht immer etwas wettmachen kann. Das Große Glück war jedenfalls mausetot, und ich hatte Angst, vorzeitig zu vergreisen, wenn ich mich noch länger dort aufgehalten hätte. Und von einem Garten keine Spur!«

»Ich bin mir sicher, du hättest selbst dann nichts von deiner Schönheit eingebüßt«, sagte Alain charmant. »Aber vielleicht darf ich dich zum Trost zum Essen einladen? In Vaison-la-Romaine hat ein neues Restaurant eröffnet. Großartige Küche und kein bisschen angestaubt! Das könnte auch für deinen Blog interessant sein.«

»Gern!« Sie zeigte auf Zazou, der ihr nun laut jaulend um die Beine strich. Léon hatte den Kater nach den exzentrischen Jazz-Anhängern der 1940er Jahre in Paris benannt und bedauerte sehr, dass das Tier stets das Weite suchte, sobald es Jazz-Töne hörte. »Vorher muss ich aber diese beiden vor dem Hungertod retten.«

»Würde es dir übermorgen passen?«

»Warum nicht?«

»Perfekt! Ich hole dich gegen sechs ab!« Alain sperrte die Tür seiner Kanzlei zu und ging beschwingt davon. Bevor er hinter der Kirche verschwand, blieb er stehen und winkte. Alice hob ebenfalls die Hand. »Nimm dir mal ein Vorbild an Monsieur Bardou«, sagte sie zu Colette, die krakeelend an der Haustür kratzte. »Der wartet sogar zwei Tage, bis er mit mir etwas fressen gehen darf.«

Kaum war die Tür offen, schossen die Katzen die lange Treppe in den ersten Stock hinauf, wo Alice ihnen die Näpfe füllte. Dann ging sie durch die langgezogene Wohnküche zum großen Balkon und schob die gläserne Schiebetür zur Seite. Sie mochte diese Wohnung, die sich über den ersten und zweiten Stock erstreckte, und war nach dem heutigen Reinfall wieder einmal froh, dass sie sich bei der Haussuche Zeit lassen konnten.

Sie trat auf die warmen Terrakottafliesen hinaus. Die alten Häuser ringsherum standen verschachtelt in den engen Gassen. Nach all den Jahren stieß sie beim Umhergehen immer noch auf versteckte Durchgänge, die sie nicht kannte. Kletterrosen in den verschiedensten Farben rankten an verfallenen Wänden empor, und hinter so mancher Mauer versteckte sich ein kleiner Garten.

Die Katzen des Ortes hatten bei ihren Spaziergängen leichtes Spiel. Sie flanierten über die halbrunden Ziegel, als hätte man die Dächer nur zu diesem Zweck errichtet. Zielsicher fanden sie Übergänge zwischen den Häusern und beobachteten das Treiben der Zweibeiner auf den Straßen von Schornsteinen und Mäuerchen aus. Auch Colette und Zazou, die ihre Mahlzeit beendet hatten, sprangen geschickt auf die steinerne Brüstung. Für einen Moment waren sie verschwunden, dann tauchten sie auf dem Garagendach unterhalb des Balkons wieder auf, wo sie sich niederließen und zufrieden die Schnauzen putzten. Es war Alice bisher nicht gelungen, herauszufinden, wie sie dorthin kamen, aber es war ihr recht, dass sie ohne Katzenklappe, ungehindert umherstreifen konnten.

Alice ging hinein. Bücher und Zeitungen stapelten sich auf dem Esstisch und neben dem Sofa, ihr kleiner Schreibtisch war mit Ausdrucken und Briefen übersät. Höchste Zeit, mal aufzuräumen.

Als sie ein Bändchen von Léons Bücherstapel in die Hand nahm, flatterte ein Notizblatt zu Boden. Der Text handelte von der gescheiterten Integration von Kindern und Jugendlichen in den Außenbezirken von Paris, einem Thema, das ihm sehr am Herzen lag. Sie überflog die Zeilen, sah ihn beim Schreiben dieses Entwurfs wieder vor sich. Er hatte sein verblichenes Khakihemd getragen und die braunen Beine steckten in dunkelblauen Shorts. Die Schildpattbrille auf der Nase, die kurzen dunklen Haare unter einem alten Strohhut, hatte er mit konzentrierter Miene am Balkontisch vor sich hin geschrieben. Abrupt legte Alice das Blatt zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und schob es in eines der Wandregale.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, um ihre Mails zu checken. Etliche der unwichtigen Nachrichten löschte sie, ohne sie zu lesen, doch bei einer verharrte sie. Auf diese Antwort wartete sie seit Wochen. Sie bewegte den Cursor auf die Betreff-Zeile zu, dann hielt sie inne. War es ihr gelungen, die Redaktion zu überzeugen, oder handelte es sich um eine Standardabsage?

Die Leser ihres Blogs waren von dem neuen Projekt ›Genussberichte. Verführungen der einfachen Art‹ so begeistert gewesen, dass sie deren Empfehlungen gefolgt war und einige Texte an eine große Publikumszeitschrift für Lifestyle geschickt hatte. Jeder Artikel begann mit den Worten: Wenn ich zum letzten Mal ein Essen zubereiten dürfte, dann dieses. Dafür hatte Alice Gespräche mit den unterschiedlichsten Leuten geführt und diese Interviews mit Rezepten, Hintergrundinformationen und stimmungsvollen Fotos abgerundet.

Doch kaum hatte sie die Beiträge weggeschickt, war sie unsicher geworden, waren ihr Wortwahl, Aufbau und Bilder unendlich banal vorgekommen. Als hätte ein Erstklässler sie zusammengestellt, der von der Materie nicht die leiseste Ahnung hatte.

In manch dunkler Stunde hatte sie sich sogar ausgemalt, wie jemand ihre Texte im Lektorat laut vorlesen und ins Lächerliche ziehen würde. Und danach gehofft, nie eine Rückmeldung zu bekommen.

Doch nun war sie da, die Betreff-Zeile ›Ihre Texte‹ gut sichtbar auf dem Monitor. Erneut fuhr sie mit dem Cursor über die Worte.

Die Klingel bewahrte sie vor einer Entscheidung. Kaum hatte Alice den Türöffner gedrückt, stand Josephine mit geröteten Wangen vor ihr. »Bestanden!« Ungestüm umarmte sie Alice. »Ich habe die Feng-Shui-Prüfung bestanden!«

»Herzlichen Glückwunsch!«, rief Alice, nachdem sie ihr Gesicht aus der üppigen Lockenpracht der jungen Frau hatte befreien können. »Das ist ja großartig! Wirst du deine Arbeit als Briefträgerin nun an den Nagel hängen?«

Josephine schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir gar nicht leisten. Aber ich werde versuchen, beides miteinander zu verbinden und die Welt im Kleinen zu verbessern. Du wirst staunen, was ich alles bewirken werde.«

»Ich bin gespannt«, sagte Alice. »Feierst du?«

»Wir beide könnten mal anstoßen«, sagte Josephine. »Patrick erzähle ich erst mal nichts. Er hat es von Anfang an als Schnapsidee abgetan und sich immer wieder aufgeregt, dass ich mich mit solchen Dingen befasse. Ihm wäre es am liebsten, wenn ich bei ihm in die Firma einsteigen würde. Aber möchte ich mein Leben in einem Baustoffhandel fristen? Ganz bestimmt nicht!« Schnaufend warf sie ihre schwarze Mähne über die Schulter. »Manchmal frage ich mich, warum ich noch mit dem Kerl zusammen bin.«

Diese Frage hatte auch Alice sich schon oft gestellt. Patrick war ein hübscher Kerl, dessen Herz aber eher für Betonmischmaschinen als für daoistische Harmonielehren aus China schlug, und daran würde sich in Zukunft wohl nichts ändern. »Mir könntest du aber gern ein paar Ratschläge erteilen.«

Josephine zeigte auf einen runden Läufer. »Mit dem könntest du das Zentrum des Raumes betonen. Das gibt Kraft und Ruhe.« Sie sah sich weiter im Raum um. »Und das Sofa sollte nicht vor dem Fenster, sondern dort an der Wand stehen. Dann fühlst du dich geschützt, hast einen schönen Blick in den Raum, die Tür im Blick, und dein Unterbewusstsein kann zur Ruhe kommen.« Dann ging sie zu Alice' Schreibtisch. »Dagegen ist es nicht günstig, direkt vor einer Wand zu arbeiten. Das führt zu Blockaden, reduziert deine Perspektive und beengt den Geist.«

»Apropos.« Alice zeigte auf den Bildschirm ihres Laptops. »Magst du deine guten Energien auch hier wirken lassen und diese Mail für mich öffnen?«

»An dem Inhalt kann ich nichts mehr ändern. Um was geht es?«

»Die Mail kommt von der Zeitschrift, der ich die Genussberichte angeboten habe«, sagte Alice. »Und zwar ist es nicht irgendeine, sondern eine mit richtig hoher Auflage.«

»Na, wenn sie nicht dumm sind, werden sie zugegriffen haben. Was sonst? Wenn sogar meine Großmutter der Meinung ist, dass die Sache Hand und Fuß hat, will das echt was heißen. Das hat sie meines Wissens zum letzten Mal gesagt, als mein Großvater ihr fünf Ziegen zum Geburtstag geschenkt hat.«

»Na dann …« Alice holte tief Luft und klickte auf die Nachricht. Gemeinsam überflogen sie den Text. Mit jeder Zeile wurde es ihr leichter ums Herz.

… Entschuldigen Sie, dass wir uns jetzt erst bei Ihnen melden … So etwas haben wir schon lange gesucht … Wir sollten bald einmal telefonieren und das weitere Vorgehen besprechen …

»Was habe ich gesagt?«, jubelte Josephine. »Jetzt stoßen wir an. Gleich zwei Gründe auf einmal!«

Nach einem Gläschen Rosé verabschiedete sich Josephine, einen Ausdruck der Mail für ihre Großmutter in der Tasche. »Was glaubst du, wie stolz sie sein wird, dass sie zu deinem Projekt etwas beigetragen hat.« Sie drückte Alice fest. »Habe ich dir nicht von Anfang an gesagt, dass sich alles zum Guten wenden wird?«

Mit dem letzten Schluck im Glas ging Alice auf den Balkon und blickte Josephine nach, die in einer der engen Gassen verschwand. Dann nahm sie ihr Handy und wählte Léons Nummer. Als sie seine Stimme hörte, schloss sie lächelnd die Augen. »Ich bin's, mon amour. Stell dir vor, was heute passiert ist. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll …«

2

Jeanine war gern bei ihren Eltern zu Besuch. Sie tauschte sich aber hauptsächlich mit ihrer Mutter aus. Ihr Vater war schon immer ein schweigsamer Typ gewesen. Nur wenn er betrunken war, brüllte er hemmungslos herum. Dann ging Jeanine ihm aus dem Weg, denn man wusste nie, wie seine Launen sich entwickelten. Doch im Alter hatte sich dieses Verhalten zum Glück gebessert.

»Na, gibt's was Neues?« Jeanine setzte sich. »Ich wollte gestern schon vorbeischauen, aber jedes Mal, wenn ich losgehen wollte, kam etwas dazwischen. Und dann kam Alice mit einem neuen Heftchen vorbei. Eigentlich wollte ich nur einen klitzekleinen Blick in die Geschichte werfen, doch bevor ich mich versah, war es zu spät.«

Sie nahm den Groschenroman aus ihrem Korb und schlug ihn auf. »Diesmal geht es um Dr. Laval und eine Krankenschwester. An sich alles schön und spannend, aber man fragt sich schon, wie manche Leute so ticken. Diese Schwester wirft sich dem Arzt an den Hals, verlässt ihren Verlobten, und es kommt, wie es kommen muss: Kaum ist sie von ihm schwanger, lässt Laval sie fallen wie eine heiße …«

Himmel, wie sagte man noch mal? Wie eine heiße … Aprikose? Nein. Apfel? Auch nicht richtig. »Egal. Jedenfalls lässt er sie fallen, obwohl sie ihren Verlobten seinetwegen in die Wüste geschickt hat. Am Ende kehrt er natürlich zu seiner Frau zurück, und sie sitzt allein mit seinem Kind da. Ganz schön dämlich, die Kleine.« Sie legte das Heft neben sich. »Ich kann es dir ja mal dalassen.«

Mit einem Papiertaschentuch wischte sie den Staub von den Blumen und der aufgeschlagenen Bibel, bis die Glasuren wieder glänzten. »Habt ihr was von dem schlimmen Mistral mitbekommen? Es war furchtbar. Er hat den Dreck bis in die kleinsten Ritzen gewirbelt.«

Sie betrachtete die ovalen Schwarzweißportraits auf dem hellen Marmorstein. Wie immer lächelte ihre Mutter, ihr Vater starrte mit ernstem Gesichtsausdruck in die Ferne. Jeanine folgte seinem Blick zum Mont Ventoux, der mit seiner unverwechselbaren Silhouette die Landschaft beherrschte. Auch sie würde eines Tages hier liegen, und die Aussicht, dass dieser Berg, der sie schon ihr ganzes Leben begleitete, auch darüber hinaus auf sie hinuntersehen würde, gefiel ihr.

Diejenige, die unter dem Stein nebenan bestattet worden war, hatte dieses Panorama nicht verdient. Ausgerechnet Juliette Morel lag neben Maman. Die Frauen hatten sich seit frühester Kindheit gehasst, und es war nicht gerecht, dass diese Schlampe, wie ihre sonst so korrekte Mutter Juliette genannt hatte, zwei Jahre nach ihrem Tod direkt neben ihr zur letzten Ruhe gebettet worden war. Das hätte man anders regeln können. Doch so wie Jeanines Vater nicht mehr trinken und fluchen konnte, so schwieg auch Juliettes Lästermaul nun zum Glück für immer.

Jeanine hatte es ihrem Großvater zu verdanken, dass sie sich bei den Toten so wohl fühlte. Schon als kleines Mädchen hatte sie ihren Pépère regelmäßig auf den Friedhof begleitet. Er war der Hausmeister der Verstorbenen gewesen. Er pflegte die Kieswege, leerte die Papierkörbe, säuberte die Gießkannen und sorgte dafür, dass alles seine Ordnung hatte. Während er seinen Pflichten nachging, hatte er der kleinen Jeanine das Rechnen beigebracht.

»Schau, ma petite, hier liegt der alte Bernard. Geboren 1867, gestorben 1921. Weißt du, wie alt er geworden ist?«

»Vierundfünfzig!«

»Und Madame Butard? Sie lebte von 1835 bis 1919.«

»Vierundachtzig!«

»Sehr gut! Und dort liegt ihr Sohn Louis. Er war von 1855 bis 1897 unter uns. Wie alt ist er geworden, und wie alt war seine Mutter, als er geboren wurde?«

»Er ist … zweiundvierzig geworden, und seine Maman war bei der Geburt zwanzig.«

»Bravo! In der Schule wirst du alle in die Tasche stecken!«

Waren die meisten Toten für sie als Kind nur Bestandteil dieser Übungen gewesen, kannte sie mittlerweile fast jeden Neuzugang. Regelmäßig ging sie zu den Beerdigungen ihrer alten Weggefährten. Man traf sich vor der Kirche, tauschte sich aus und betete für das Heil ihrer Seelen. Jeanine glaubte weder an den Himmel noch an die Hölle, aber man war zusammen groß geworden, hatte gemeinsam die Schulbank gedrückt und in vielen Fällen Freud und Leid miteinander geteilt.

Im Unterricht hatten sie voneinander abgeschrieben und sich mit Ausreden aus der Patsche geholfen. Später war Jeanine in so manchen verliebt gewesen, man hatte sich geküsst und einander ewige Liebe versprochen. Viele hatten Kinder bekommen, für die sie Babysitter gewesen war. In guten Zeiten hatten sie Rezepte ausgetauscht, in schlech!ten war man mit Ratschlägen füreinander da gewesen und hatte Tränen getrocknet. Da war es nur logisch, sie auch auf den letzten Metern zu begleiten und ihnen eine gute Reise zu wünschen.

Schlimmer war es, wenn jemand verschwand, ohne dass man wusste, was aus ihm geworden war. In Jeanines Leben gab es einen solchen Fall und der wog schwer.

»Ich muss wieder los.« Jeanine stand auf und klopfte sich ein welkes Blatt vom Rock. »Ich habe versprochen, nochmal bei …« Verdammt, wieder so eine Lücke. Jeanine erfreute sich mit ihren achtundsiebzig Jahren bester Gesundheit, aber diese verflixten Aussetzer machten sie fertig. Dabei funktionierte ihr Gehirn ansonsten tadellos. Oder?

Marguerite Bressier-Baron, 1916-1999. Das waren dreiundachtzig Jahre bis zu ihrem Tod. Und Paul Bressier, 1912-1994, war zweiundachtzig geworden. Richtig. Erleichtert strich sie mit der Hand über die eingravierten Namenszüge der Eltern. Manchmal war es, als hätte sie eine beschlagene Scheibe im Kopf. Dann entfielen ihr Wörter und Zusammenhänge, wusste sie nicht mehr, was sie gerade suchte oder bei wem sie hatte vorbeischauen wollen. Das geschah ganz plötzlich, und egal, wie sehr sie über dieses Glas wischte, für eine Weile blieb es trüb.

»Vielleicht sollte ich erst mal einen Spaziergang machen.« Bewegung tat ihr immer gut, und mit etwas Glück fiel ihr dabei wieder ein, wer sie noch erwartete. »Bis bald, ihr Lieben!«

Ohne weiteren Freunden und Verwandten einen Besuch abzustatten, verließ Jeanine den Friedhof. Sie hatte das Ortsschild von Beaulieu bereits hinter sich gelassen, als ihr Gedächtnis sich zurückmeldete. »Kartoffel«, sagte sie laut. »Er hat sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.« Na bitte, es war alles in bester Ordnung. Erleichtert betrat sie einen unbefestigten Weg, der zu einem Lavendelfeld hinaufführte, das seit je der Familie gehörte.

Oben angekommen, setzte sie sich auf den großen Findling am Rande des Grundstücks. Sie liebte den Anblick der langen, kugligen Pflanzenreihen, die nur von schmalen, steinigen Streifen unterbrochen wurden, die Wellenbewegung der langen Ähren, deren zarte Knospen bereits einen blau-violetten Schimmer hatten.

Entscheidend für den Zeitpunkt der Blüte war der Frühling. Je früher es warm wurde, desto eher konnte man mit dem betörenden Duft rechnen. Und so, wie es aussah, würde es nicht mehr lange dauern, bis die Ebene sich in einen wohlriechenden Blütenteppich verwandeln würde. Jeanine schloss die Augen und holte tief Luft. Bildete sie es sich ein, oder konnte man das Aroma bereits erahnen?

Als sie ihren Blick erneut auf das Feld richtete, stutzte sie. Ließen ihre Augen sie nun auch schon im Stich? Langsam stand sie auf und ging zwischen zwei Pflanzenreihen in das Feld hinein. Nach einigen Metern blieb sie stehen. Gerade hatte sich etwas bewegt. Etwas, das keine Ähnlichkeit mit den langen Halmen hatte.

Im nächsten Augenblick sah sie es wieder. Es war rot, weiß und schwarz gescheckt und saß geduckt hinter einem Lavendelbusch. Jeanine ging in die Hocke und beobachtete das Kätzchen.

»Wo kommst du denn her?«, fragte sie leise. »Bist du ausgebüxt?«

Die Katze wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Mehrmals blickte sie um sich, als ob sie eine Flucht in Erwägung zog. Doch dann siegte die Neugier, und sie kam mit kleinen Schritten auf Jeanine zu.

»Du bist ja eine richtige Schönheit.« Jeanine hielt dem Tier die Hand hin. Neugierig schnüffelte es an ihren Fingern. Es war ganz mager. Die runden, verklebten Augen waren schwarz umrandet, der Bereich um Nase, Schnauze und Brust sowie die Tatzen waren weiß. Das restliche Fell bestand aus unregelmäßig verteilten Partien in Rot und Schwarz.

»Hat man dich ausgesetzt?« Die Antwort war ein lautes Schreien. »Aha. Hunger hast du auch. Dann komm mal mit.« Sie strich dem Zwerg vorsichtig über das Fell, setzte ihn in ihren Korb und stand auf. »Dagegen können wir was unternehmen.«

3

Wenn Georges vom Kochen sprach, ging es nicht um Rezepte, sondern darum, welche Gefühle eine Zutat beim Gast hervorrufen und wie er diese Empfindungen steigern konnte: vom Anblick des Tellers zum Duft, der ihm in die Nase steigt, bis zu dem Moment, in dem die Aromen gemeinsam auf der Zunge zur Geltung kommen.

Aus diesem Grund liebte er das Chicorée-Rezept, bei dem die Knospe einmal längs geteilt und mit einer Prise Zucker in Olivenöl angebraten und karamellisiert wurde. Anschließend schob er das Gemüse zum Weitergaren in den Ofen und servierte es mit Ziegenfrischkäse, rohem Schinken und frischen Cranberrys. Ein köstliches Zusammentreffen der Geschmacksrichtungen bitter, süß, salzig und sauer.

Auf solche Emotionen kam es ihm an, und er hatte es sich zum Ziel gesetzt, nie mit der erstbesten Lösung zufrieden zu sein. Schließlich schlief die Konkurrenz nicht. Und seit er erfahren hatte, dass ein Restaurantkritiker in der Gegend unterwegs war, war es umso wichtiger, sich von der breiten Masse abzuheben. Seine Küche sollte etwas anderes bieten. Etwas Ursprüngliches, Regionales, das ohne Schnickschnack daherkam. Doch das war leichter gesagt als getan.

Mit einem Knall schloss Georges das dicke Kochbuch und nahm sich den Ordner mit seiner persönlichen Rezeptsammlung vor: gratinierter Ziegenkäse mit Honig und Feigen, gefüllte Artischocken, verschiedene Quiches. Alles Vorspeisen, an denen es nichts auszusetzen gab. Doch sie kamen überall auf den Tisch, als hinge das Leben der Köche davon ab. Es musste doch möglich sein, eine Speisekarte der anderen Art zusammenzustellen! Eine, bei der auch ein Kritiker nicht sofort die Augen rollte.

Er nahm sich die Nachspeisen vor: Crème brûlée, Mousse au chocolat, Crêpes aller Art … Das Pflaumensorbet mit Zimt würde seinen Ansprüchen genügen, aber wo sollte er um diese Jahreszeit frische Pflaumen bekommen? Himmel nochmal! Dies war seine große Chance, er musste sie nutzen.

Die Tür des Lokals ging auf, und ein Radfahrer in voller Montur kam herein. »Können wir für heute Abend oder morgen Mittag einen Tisch für vier Personen reservieren?«

»Mittags haben wir geschlossen, und die Tische draußen sind bereits alle vergeben.« Georges schlug den Kalender auf. »Aber ich könnte Ihnen diese Plätze anbieten.« Er zeigte auf einen gedeckten, runden Tisch im Eingangsbereich. »Bei diesem Wetter klappen wir die Türen zur Seite, dann sitzen Sie praktisch im Freien.« Der Mann nickte zufrieden, und Georges notierte die Buchung für halb acht.

Er begleitete den Gast hinaus und rückte einige der schmiedeeisernen Stühle zurecht. Mit diesem Lokal hatte er großes Glück gehabt. Auch innen war es gemütlich, aber das Besondere war die Terrasse unter den mittelalterlichen Arkaden. Hier konnte man, geschützt vor Regen und Sonne, in einem schönen Ambiente speisen.

Ein lautes Vespa-Knattern kündigte seine langjährige Bedienung und Küchenhilfe an. Marie parkte ihren Motorroller und schlurfte über die Straße. Sie zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette, bevor sie den Stummel elegant in den Gully schnippte. Mit der Turmfrisur, den tätowierten Armen und den stark geschminkten Augen sah sie ihrem Idol Amy Winehouse zum Verwechseln ähnlich.

Marie blieb vor ihm stehen und musterte ihn. »O-o, Monsieur weiß immer noch nicht, was er auf die Speisekarte setzen soll …«

»Nein. Und genau das macht Monsieur wahnsinnig! Daher bleibt vorerst alles, wie es ist.«

»Warum bittest du Jeanine oder Alice nicht um Rat?«

»Was wissen die schon von Speisekarten?«, schnauzte Georges.

»He, das war nur ein Vorschlag! Aber wenn du glaubst, deine miese Laune an mir auslassen zu können, bin ich gleich wieder verschwunden. Erst gestern habe ich ein interessantes Stellenangebot bekommen.«

Es war wie ein einstudierter Tanz: Marie drohte mehrmals im Monat mit Kündigung, worauf Georges sich entschuldigte. Ohne Marie wäre er aufgeschmissen. »Es war nicht so gemeint, du kennst mich ja. Aber die Aussicht, dass dieser Kritiker uns in der Luft zerreißen könnte, raubt mir den Schlaf.«

»Ich mache mich mal an die Arbeit. Wann kommt Pascal?«

Georges wollte sie schon fragen, ob sie sich an einen einzigen Tag erinnern konnte, an dem seine Küchenkraft nicht gegen vier gekommen war, aber er riss sich zusammen. »Wie immer, chérie!« Mit einem tiefen Seufzer nahm er sich das nächste Kochbuch vor.

Er wollte die Segel schon streichen, als Alice hereinstürmte. Sie schob die dicken Wälzer zur Seite und legte ihm einen Ausdruck auf den Tisch. »Lies!«

Mit jeder Zeile wurde Georges' Grinsen breiter. »Das ist ja großartig!«

»Allerdings!« Alice tippte auf das Blatt. »Als Nächstes mache ich etwas über dich. Das ist eine großartige Werbung. Ein Interview mit dem Mann, der den bisherigen Beruf für seine Leidenschaft an den Nagel gehängt hat.« Sie breitete ihre Arme aus. »Man geht zu Georges Fabre, wenn einem der Sinn nach einem kreativen Gericht steht. Oder nach Hausmannskost, wie sie einem die Großmutter als Kind zubereitet hat, wenn man Trost bedurfte. Denn Fabre geht nicht mit den Strömungen der Modeköche, beim Kochen folgt er seinem Gefühl. Aus diesem Grund hat der Mann das kleine Restaurant, das sich unter den alten Arkaden von Beaulieu versteckt, auf den Namen ›Mit Herz und Seele‹ getauft.« Sie strahlte ihn an. »Überleg schon mal, welches Gericht du in den Vordergrund stellen möchtest.«

»Das ist die Idee«, sagte Georges langsam. »Warum bin ich da nicht gleich draufgekommen?«

Nun war es an Alice, fragend zu schauen. »Auf was?«

Georges stand auf und umarmte sie. »Ich setze eine Auswahl dieser Genussberichte auf die Karte! Das ist genau, was ich suche. Authentische Speisen aus der Gegend, abgerundet mit deinen Interviews und Fotos. So erfahren die Gäste, was hier warum auf die Teller kommt!«

In diesem Moment kam Marie aus der Küche. »Kannst du mir verraten, wo hast du die Salz ‌… Was ist denn hier los? Hat man dir den Michelin-Stern für verzweifelte Köche verliehen?«

»Nein, chérie. Wir haben die Lösung!« Er bezog Marie in die Umarmung mit ein. »Wir setzen eine Auswahl der Speisen auf die Karte, die Alice in ihren Genussberichten besprochen hat.«

»Klingt gut. Ist aber kein Grund, meine Frisur zu ruinieren.« Marie richtete das buntgemusterte Haarband. »Ich habe ja gleich gesagt, du sollst sie um Rat fragen. Aber Monsieur wollte das Problem alleine knacken.«

»Es kommt noch besser.« Alice reichte ihr die ausgedruckte Mail. »Sie werden veröffentlicht.«

Marie pfiff anerkennend durch die Zähne. »Wenn ich meiner Tante erzähle, dass man den Artikel über ihre Terrine bald in einer Zeitschrift nachlesen kann, stellt sie sich vor Freude nackt auf den Ventoux!« Sie drückte Georges den Brief in die Hand. »Aber vorher wüsste ich gern, wo du die Salzbutter versteckt hast.«

»Ich komme mit zu Jeanine«, sagte Georges, während er die Kochbücher zur Seite räumte. »Ich brauche Kräuter aus ihrem Garten.« Auf dem Weg zu ihrer alten Freundin überschlugen sich ihre Ideen.

»Diese Terrine von Maries Tante eignet sich prima fürs Menü«, sagte Alice. »Und den Leuten, die lieber Fisch nehmen, bietest du die Lachspastete von Chantal an.«

»Das wird großartig«, sagte Georges. »Von wem war noch mal das Rezept von der Poularde mit Aïoli?«

»Von einer Freundin von Jeanine.« Alice überlegte. »Christiane? Vinciane? Egal. Und für Vegetarier machst du diesen köstlichen Paprika-Brot-Auflauf mit Oliven.«

Sie waren in einer schmalen Gasse im Ortskern angekommen. Sie wurde von einfachen Mauern gesäumt, deren Grau nur von wuchernden Kletterrosen und Clematisblüten unterbrochen wurde. In den Löchern zwischen den großen Steinen nisteten schnatternde Spatzen.

Georges drückte die Klinke einer verwitterten Holztür, die vor vielen Jahren einmal blau gewesen war. Sie öffnete sich quietschend und gab den Blick auf einen Garten frei, der einem Märchenbuch entsprungen sein könnte. Wann immer er diese versteckte Idylle betrat, war er glücklich. Schon als Kind hatte dieser Ort ihm Zuflucht geboten. Hier war er in den Sommerferien vor seiner übermächtigen Familie in Sicherheit gewesen. Auch später hatte er an diesem Flecken Erde zur Ruhe kommen können. Egal, ob er dabei in den Beeten gewühlt oder einfach nur dagesessen und den Pflanzen beim Wachsen zugeschaut hatte, bei Jeanine war er willkommen gewesen.

Bohnen und Tomaten rankten an langen Stangen empor, die Stiele des Mangolds blitzten in Gelb- und Rottönen zwischen den stachligen Zucchinipflanzen, die bereits erste Früchte trugen. Überall standen wuchtige Töpfe mit blühenden Oleanderbüschen, und an einem Holzgestell kletterte ein duftender Jasmin hinauf. Üppig wuchernde Kräuterbüsche und Rosen rundeten die Idylle ab.

Sie gingen über das Feldsteinpflaster zum Haus, als plötzlich etwas aus dem Rosmarinstrauch auf sie zusprang und blitzschnell an Alice' Leinenhose hinaufkletterte.

Erschrocken schrie sie auf. »Mon dieu! Seit wann hat Jeanine eine Katze?«

»Und noch dazu so eine hübsche!« Georges kraulte das Tier hinter den großen Ohren. »Werden die nicht als Glückskatze bezeichnet, wenn das Fell rot, schwarz und weiß gescheckt ist?«

»Fragen wir gleich mal, wo sie die herhat.« Alice stieg die ausgetretenen Stufen der Steintreppe hinauf und schob den Fliegenvorhang zur Seite. »Jeanine? Wo bist du?«

»In der Küche!«, kam es von innen.

Im Gänsemarsch gingen sie durch den engen Flur, vorbei an den alten Möbeln, die seit Menschengedenken ihren Platz in diesem Haus hatten. Von den Wänden verfolgten ernst dreinblickende Verwandte ihren Weg zum jüngsten Spross der Familie. Der Geruch von Aprikosen wurde mit jedem Schritt intensiver.

Jeanine stand mit verschränkten Armen am Spülbecken. »Gleich beide auf einmal«, sagte sie. »Gibt es was zu feiern?«

»So wie es aussieht, die erste Aprikosenmarmelade des Jahres.« Blitzschnell tauchte Georges seinen Zeigefinger in den Inhalt einer kleinen Schale und leckte ihn ab. »Köstlich!«

»Georges Fabre!« Lachend schlug Jeanine mit dem Geschirrtuch nach ihm. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass sich das nicht gehört!«

»Oft, meine Liebe. Sehr oft.« Er nahm Jeanine in die Arme und küsste sie zur Begrüßung auf beide Wangen. Dann deutete er auf eine verblasste Kinderzeichnung, die mit Klebestreifen an der Kühlschranktür befestigt war. Sie zeigte eine Figur, die Schürze und Kochmütze trug und einen riesigen Löffel in der Hand hielt. »Genauso oft, wie ich dich schon gebeten habe, endlich diese Zeichnung zu entsorgen.«

»Das Bild hast du mir geschenkt, als du acht warst, und das bleibt dort hängen, bis ich zu meiner Verwandtschaft ziehe, du frecher Kerl!«

»Seit wann hast du eine Katze?« Alice hob das Tier hoch, das ihr laut maunzend um die Füße strich. »Sie hat mich zu Tode erschreckt.«

»Mir frisst sie die Ohren vom Kopf.« Jeanine zeigte auf die leeren Thunfischdosen auf der Anrichte. »Aber wo sie herkommt, weiß ich nicht mehr.« Sie setzte sich an den großen Küchentisch. »Es war heute so viel los …«

»Du meinst, sie frisst dir die Haare vom Kopf.« Alice setzte sich neben sie. »Überlege mal: Wo bist du überall gewesen? Beim Einkaufen? Bei deinen Eltern? Hast du sonst jemanden besucht? Oder stand sie vielleicht einfach am Tor?«

Jeanine dachte eine Weile nach, dann erhellte sich ihr Gesicht. »Ich habe sie im Lavendelfeld entdeckt. Ich wollte nachsehen, wie weit die Pflanzen sind, und da habe ich sie gefunden.«

»Wenn du sie gefunden hast, könntest du sie Trouvé nennen«, sagte Georges. »Das klingt nett und trifft den Nagel auf den Kopf.« Er füllte den kleinen Teller, der vor dem Kühlschrank stand.

Während die Katze sich begeistert über die nächste Fischmahlzeit hermachte, las Alice Jeanine die Mail vor. Die alte Frau sah sie fragend an. »Welche Texte? Und was für eine Zeitschrift?«

Alice versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch in ihrem Kopf schrillten die Alarmglocken. Diese Gedächtnislücken häuften sich in letzter Zeit. »Es war doch deine Idee, diese Interviews zu führen. Weißt du noch? Wenn ich zum letzten Mal ein Essen zubereiten dürfte …«

»… dann dieses!« Jeanine war wieder ganz da. »Das wird richtig gedruckt? Und jeder kann es dann kaufen?«

»Nicht nur das«, sagte Georges. »Ich werde eine Auswahl der Rezepte im Restaurant auf die Karte setzen. Wie wäre es, wenn du mit deinen Freundinnen bald zum Essen kommst? Ich lade euch alle ein.«

»Dann musst du unbedingt die Lachspastete machen.« Jeanine strahlte. »Sonst ist Chantal vielleicht traurig. Und meinen lauwarmen Gemüsesalat mit Seeteufel.« Plötzlich verlor sich ihr Blick in der Ferne. »Den hat Jacques so gern gegessen …«

Nachdem Georges die benötigten Kräuter im Garten gesammelt hatte, traten sie den Heimweg an. Jeder mit einem Glas Aprikosenmarmelade in der Tasche.

»Ich möchte keineswegs die Pferde scheu machen, aber diese Aussetzer von Jeanine machen mir große Sorgen«, sagte Alice. »Am Anfang habe ich mir nichts dabei gedacht, aber seit Wochen häufen sie sich. Und hat sie dir jemals von diesem Jacques erzählt?«

»Noch nie. Vielleicht ein alter Freund? Verheiratet war sie ja nicht.« Er legte Alice einen Arm um die Schulter. »Vergiss nicht, dass sie im Herbst neunundsiebzig wird. Später ist ihr ja alles wieder eingefallen. Mach dir keine Sorgen. Dafür hat sie jetzt eine Glückskatze. Die wird schon dafür sorgen, dass alles im Lot bleibt.«

*

Alice hoffte, dass Georges' Prophezeiung sich bewahrheiten würde. Schon der Gedanke, ihre liebe Freundin könnte irgendwann völlig in eine Welt des Vergessens wegdämmern, ließ sie erschaudern. Und das Schlimme: Wenn es so wäre, würden sie nichts dagegen unternehmen können.

Sie sah nach, was der Kühlschrank zu bieten hatte. Mit einem Salat aus Tomaten, Artischocken und Oliven ging sie auf den großen Balkon und aß mit Genuss. Anschließend überflog sie die Mail der Redaktion ein weiteres Mal.

Sowohl Idee als auch Umsetzung finden in der Redaktion großen Anklang, und wir möchten mit der Reihe im Laufe des Sommers starten … Könnten Sie uns eine Übersicht über weitere Texte, die bereits vorhanden sind, schicken? Dann könnten wir besser planen.