Was bleibt, wenn alles verschwindet - Hermien Stellmacher - E-Book

Was bleibt, wenn alles verschwindet E-Book

Hermien Stellmacher

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Beschreibung

Beste Freundinnen seit über dreißig Jahren: Ruth und Susanne haben alles miteinander geteilt, doch nun wird ihre Freundschaft nicht mehr dieselbe sein. Susanne zeigt erste Anzeichen einer Demenz, die Gedächtnislücken und Aussetzer häufen sich, und sie spürt, dass ihr Leben ihr immer mehr entgleitet. Während Ruth, unterstützt von ihrem Mann und Freunden, alle Hebel in Bewegung setzt, damit es ihrer Freundin auch in Zukunft an nichts fehlen wird, quält die noch eine ganz andere Sorge: Es ist höchste Zeit, Ruth ein gut gehütetes Geheimnis zu offenbaren, das ihrer beider Leben seit langem schicksalhaft miteinander verknüpft. Doch dieses Geständnis könnte die Freundschaft für immer zerstören …

Ein berührender Roman über die Kraft der Freundschaft und zwei starke Frauen, die dem Schicksal mutig die Stirn bieten.

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Seitenzahl: 428

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Titel

Hermien Stellmacher

Was bleibt, wenn alles verschwindet

Roman

Insel Verlag

Was bleibt, wenn alles verschwindet

Widmung

Für Rie van Lochem, Gers Maandag und Betty Goldhoorn, die mir bereits als kleinem Mädchen zeigten, wie wertvoll gute Freundinnen sind.

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

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37.

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39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

Danksagung

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Prolog

Es dämmert bereits, aber der Nebel hat sich gelichtet. Froh, den wöchentlichen Termin hinter mich gebracht zu haben, biege ich auf die Landstraße ein und gebe Gas. Jetzt nichts wie nach Hause.

Ich habe die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als ich den hellen Fleck am Rand des Stoppelfeldes registriere. Langsam fahre ich an die Stelle heran.

Der Sportwagen ist frontal gegen einen Baum gekracht, die Motorhaube zusammengedrückt. Als ich auf Höhe der Fahrerseite anhalte und dich auf dem Sitz hängen sehe, traue ich meinen Augen nicht. Doch der halb von deinen Locken verdeckte Ohrstecker und dein auffälliger Ring an der linken Hand widerlegen jeden Zweifel.

Du bist es.

Wahrscheinlich ist dir nie bewusst gewesen, dass es mich gibt. Ich hingegen habe deinen Werdegang genau verfolgt. Ich wollte dich nicht aus den Augen verlieren, denn ich war noch nicht fertig mit dir.

Im Lauf der Jahre habe ich die unterschiedlichsten Möglichkeiten durchgespielt, was ich tun würde, sollten unsere Wege sich kreuzen. Diese Variante war nicht dabei.

Bilder aus der Vergangenheit fallen über mich her, Stimmen, Geräusche. Zitternd umklammere ich das Lenkrad und versuche, meine Atmung zu kontrollieren, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann lege ich den ersten Gang ein und trete das Gaspedal durch.

Es ist bereits nach Mitternacht, als ich die Telefonzelle betrete und den Unfall melde. Auch wenn man wohl nichts mehr für dich tun kann.

1.

»Du machst es diesmal echt spannend.« Ruth spähte aus dem Beifahrerfenster in den dichten Tannenwald, der sich zu beiden Seiten der Straße erstreckte. »Lass mich raten: Sind wir auf dem Weg zur Einöde Am Ende der Welt? Oder heißt der Ort Nichts?«

Susanne fuhr lachend in die nächste Kurve. »Einöde könnte stimmen, aber namenstechnisch bist du weit entfernt.«

Gleich zu Beginn ihrer Freundschaft hatten sie eine gemeinsame Vorliebe für kuriose Orts- und Hotelnamen entdeckt. Je ausgefallener die Bezeichnung, desto größer ihre Neugierde, ob der Platz ihren Fantasien entsprach.

Die Entdeckung des fränkischen Dorfes Laibarös war der Startschuss für diese Reisen gewesen. Ein Name, den Susanne sofort mit einer hartnäckigen Lungenkrankheit in Verbindung gebracht hatte, während Ruth der Meinung gewesen war, es handele sich dabei um den mittelalterlichen Begriff für depressive Stimmungen.

Auch wenn keines von beidem zugetroffen hatte, war der Name nach einem schönen Wanderwochenende als Redewendung in ihren Wortschatz eingegangen.

Die Ausflüge waren zu einer festen Tradition geworden. Jedes Jahr unternahmen sie eine Kurzreise dieser Art, wobei mal die eine, mal die andere für Ziel und Planung zuständig war. Dieses Mal war Susanne an der Reihe, und sie liebte es, ihre Freundin auf die Folter zu spannen.

»Wie wäre es mit Fuchs und Hase?«, bohrte Ruth weiter. »Als Anspielung auf das, was man sich hier allabendlich wünscht?«

»Sehr kreativ, aber nein, ich muss dich enttäuschen.«

Bei der nächsten Serpentine kamen Susanne plötzlich Zweifel. Würden sie sich in dem von ihr ausgewählten Gasthof wohlfühlen? Sie hatten im Lauf der Jahre durchaus den einen oder anderen Flop erlebt. Das Hotel Zum letzten Kapitänsteller war eine Katastrophe gewesen, und im Gasthof von Löffelstelzen hatte Ruth gar befürchtet, laibarös zu werden. Am nächsten Tag waren sie gleich weitergefahren.

Als könnte Ruth ihre Unsicherheit spüren, strich sie ihr über die Schulter. »Was immer du ausgesucht hast, meine Liebe, ich bin mir sicher, dass wir ein paar schöne Tage miteinander verbringen werden.« Sie linste durch die Windschutzscheibe. »Schau. Die Sonne kommt sogar heraus. Und da vorn bewegt sich etwas. Menschen!«

»Damit wären wir auch am Ziel.« Susanne steuerte den Wagen auf einen leeren Stellplatz. »Bitte sehr!«

Gasthof zum Teufel – Essen wie bei Mutti stand in schwungvollen Lettern auf der weißen Fassade.

Ruth lachte. »Wow, ein irrer Name! Kompliment!«

»Nicht unbedingt eine Empfehlung, wenn ich an die Kochkünste meiner Mutter denke, aber dieser Kombi konnte ich nicht widerstehen«, sagte Susanne. »Außerdem ist es lange her, dass wir im Schwarzwald waren.«

»Da wäre ich auch schwach geworden.« Ruth öffnete die Beifahrertür und schwang ihre langen Beine hinaus. »Hoffen wir mal, dass diese Mutti gut kocht. Ich sterbe vor Hunger.«

Das Haus machte einen ordentlichen Eindruck. Eine weißgestrichene Fassade mit vielen Holzfenstern, dazu jede Menge Blumenkästen mit bunten Petunien, die dank der milden Oktoberwitterung noch üppig blühten. Doch kaum hatten sie den Empfang betreten, fühlten sie sich schlagartig in die sechziger Jahre zurückversetzt. Wände und Decken waren mit dunklem Holz getäfelt, die Böden olivgrün gefliest, und die Dekoration machte sie mit Hilfe von künstlichen Pilzarrangements nachdrücklich auf die Jahreszeit aufmerksam. An der Wand hing ein Wimpel mit der russischen Flagge.

»Da dürfen wir auf die Gestaltung der Zimmer gespannt sein«, murmelte Susanne, während sie die Glocke am Empfang drückte. »Hoffentlich wurden die Matratzen zwischenzeitlich ausgetauscht.«

Ein Mann, bei dem es sich laut Namensschild um den Geschäftsführer Igor Makarow handelte, erschien an der Rezeption. »Guten Tag. Sind die Damen allein?«

»Die Damen sind zu zweit«, sagte Susanne. »Und haben ein Doppelzimmer auf den Namen Bender gebucht.«

»Sehr wohl.« Nach einem Blick auf den Reservierungsplan nickte Herr Makarow bestätigend. »Wir haben das schöne Zimmer 108 für Sie reserviert. Möchten die Damen vielleicht unsere Halbpension buchen? Auch an diesem Wochenende haben wir ein hervorragendes Menü für die Hausgäste vorbereitet.«

»Warum nicht«, sagte Ruth. »Ab wann wird das Essen serviert?«

»Sie sind ab 18 Uhr in unserem Restaurant willkommen.« Der Geschäftsführer legte den Zimmerschlüssel auf den Tresen. »Der Weg zu Ihrem Zimmer ist ganz einfach.« Er öffnete eine Tür. »Zuerst folgen Sie diesem roten Läufer bis zum Ende des Flurs, dann die drei Stufen hinauf, durch die grüne Tür. Nun gleich rechts, bis Sie vor einem Bergpanorama stehen. Dort nehmen Sie die Treppe in den ersten Stock, wo Sie sich immer rechts halten.« Er lächelte. »Ich hoffe, Sie fühlen sich bei uns wohl.«

Die Korridore hatten sich infolge mehrerer Um- und Anbaumaßnahmen, deren Zeiträume gut an den Tapetenmustern abzulesen waren, in ein ausgefallenes Labyrinth verwandelt, doch sie erreichten ihr Ziel: ein muffig riechendes Zimmer mit dunklem Holz, grauem Bodenfilz und Herbstdekorationen auf jeder verfügbaren Stellfläche.

»Wir finden niemals zurück.« Susanne riss ein Fenster auf und ließ sich auf die linke Betthälfte fallen. »Wir hätten Brotkrumen streuen sollen.«

Ruth setzte sich auf die andere Seite und schlug die Zimmermappe mit den Informationen auf, die neben dem Telefon lag. »Keine Bange, wir brauchen nur die 5 zu wählen, dann wird uns laut Angabe bei allen Problemen geholfen.« Sie ließ sich ebenfalls auf den Rücken rollen. »Ob die auch Schulaufgaben korrigieren?«

»Oder meine … meine Dings machen?« Susanne setzte sich auf und rieb sich die Stirn. »Himmel! Wie nennt man denn diese Papiere, die man jedes Jahr ausfüllen muss?«

Ruth hob fragend die Brauen. »Formulare?«

»Ja, aber eine ganz schreckliche Sorte!«

»Die Steuererklärung?«

»Genau. Vielleicht können sie die auch ausfüllen.«

»Ich würde lieber mit einer anderen Aufgabe beginnen: der erfolgreichen Bekämpfung von Hunger und Durst!«

Zehn Minuten später hatten sie den Korridor-Wirrwarr erneut gemeistert und öffneten eine Tür mit der Aufschrift Gaststube. Als sie auf einen unbesetzten Tisch am Fenster zusteuerten, stellte sich ihnen eine korpulente Frau in den Weg. »Menü? Halbpension?«

Kaum hatten sie dies bestätigt, zeigte die Bedienung auf einen Nebenraum. »Da!« Dann kreuzte sie die Arme mit einem grimmigen Blick vor der Brust. Bereit, die leeren Tische notfalls mit Gewalt zu verteidigen.

»Wenn das Mutti ist, möchte ich den Teufel nicht kennenlernen«, sagte Ruth, während sie auf die geöffneten Flügeltüren zugingen. Wenige Stufen führten hinunter in einen Raum mit überklebtem Parkettboden, dessen Fischgrätmuster unter dem braunen Kunststoff gut erkennbar war. Zwei große Lüsterlampen verbreiteten kaltes Licht.

»Hoffentlich war die Sache mit der Halbpension kein Fehler«, sagte Susanne, während sie sich im Raum umsah. »So etwas ist mir seit meinen DDR-Reisen vor der Wende nicht mehr untergekommen.« Sie deutete auf die weißen und goldenen Stoffbahnen, die kunstvoll an Wänden und Fenstern drapiert waren. »Hier fehlen nur noch die Portraits von alten Funktionären.«

»Hier fehlen noch ganz andere Dinge«, sagte Ruth leise. An sechs der Tische saßen Paare im geschätzten Alter zwischen 30 und 80, die wahlweise auf das Display ihres Smartphones oder auf die Tischdecke starrten. »Keiner dieser Menschen hat ein Getränk oder ein Essen vor sich stehen.«

Kaum hatten sie Platz genommen, kam Geschäftsführer Makarow mit federnden Schritten auf sie zu. »Ich sehe, Sie haben den Weg gefunden. Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«

»Wenn Sie uns zwei Bier bringen könnten, wäre das wunderbar. Wir sind kurz vor dem Verdursten.« Susanne lächelte ihm aufmunternd zu.

»Zwei Bier. Kommen in einer Sekunde!«, versprach Herr Makarow. Er grüßte vage in die Runde, dann verschwand er so schnell, wie er gekommen war.

»Mal sehen, was uns sonst noch erwartet.« Ruth öffnete die einfach gestaltete Menükarte, die auf dem Tisch stand. »Wir beginnen mit einer klaren Gemüsesuppe, dann kommt eine Salat Variation. In zwei Worten.«

»Solange der Deutschlehrerin solche Dinge auffallen, ist der Hungertod noch fern.«

»Das Verdursten ist akuter.« Ruth warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wie lange Sekunden hier wohl dauern?«

»Eine Ewigkeit«, sagte der Mann am Nebentisch. »Wir warten schon seit einer halben Stunde. So lange braucht kein Pils.«

Susanne schüttelte den Kopf. »Ist das hier immer so?«

»Gestern ging es etwas flotter«, sagte seine Frau.

Ruth seufzte. »Anschließend gibt es Rindfleisch mit Meerrettichsoße und Butterkartoffeln, Zanderfilet mit Salzkartoffeln oder einen Gemüseteller mit Rösti.« Sie sah Susanne über den Rand ihrer Lesebrille an. »Höre ich da etwa Begeisterungsschreie?«

Die Frau am Tisch hinter ihnen kicherte. »Die Salzkartoffeln gestern machten ihrem Namen alle Ehre!«

Susanne schob ihren Stuhl zurück. »Sollen wir das Essen nicht lieber abblasen? Ich hasse Meerrettichsoße. Mir ist viel mehr nach einem …«

In diesem Moment kam Herr Makarow mit zwei Gläsern Wein hereingetänzelt. »So, da wären wir schon!« Schwungvoll servierte er die Getränke am letzten Tisch. Die Glücklichen nahmen einen tiefen Schluck.

»Haben Sie sich schon für einen der Hauptgänge entschieden?« Der Reihe nach nahm Makarow die Bestellungen auf.

»Denken Sie an unser Bier?«, fragte Ruth.

»Ich denke an nichts anderes«, sagte der Geschäftsführer. »Es kommt sofort!«

Kaum hatte Makarow den Raum verlassen, schlurfte eine Bedienung mit einer Suppenterrine herein, die sie wortlos auf den Tisch neben ihnen stellte.

»Bringen Sie uns bitte auch Teller?«, fragte die Frau.

»Und die bestellten Getränke«, fügte ihr Mann hinzu. »Ein großes Pils und eine Weißweinschorle.« Doch die Kellnerin verschwand, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

»Jetzt ist aber gut«, sagte Susanne, nachdem weitere Zeit vergangen war. »Ich erkundige mich mal, was es hier mit den Begriffen sofort und Sekunde auf sich hat.«

In der Gaststube waren mittlerweile alle Tische besetzt, doch auch hier hatten die wenigsten ein Getränk vor sich stehen. Statt sich um das Wohl der Leute zu kümmern, drängten die Bedienungen sich um die Registrierkasse, wo Herr Makarow etwas in einer Sprache erklärte, die russisch klang. Der Mimik seiner Angestellten nach zu urteilen ohne Erfolg.

Sehnsüchtig betrachtete Susanne die zwei halbgezapften Biere auf dem Schanktisch. Als ihr Satz »Könnte sich mal jemand um unsere Getränke kümmern?« wirkungslos verpufft war, beschloss sie, die Sache selber in die Hand zu nehmen. Sie schlich sich hinter die Theke und zapfte die Krüge voll, während die Angestellten mit Makarow diskutierten. Noch ein drittes Glas für den durstigen Tischnachbarn, dann schnappte sie sich eine Speisekarte und verschwand unbemerkt.

Ihre Leidensgenossen, die ihre Suppe mittlerweile direkt aus der Terrine löffelten, bedankten sich herzlich für das Getränk. »Und wir bilden uns in der Zwischenzeit«, sagte Susanne zu Ruth, die ihr Glas in zwei Zügen geleert hatte. »Schau, zu allen Gerichten gibt es ein Foto und eine Beschreibung in Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch. Wir sehen uns jetzt einfach satt und lernen nebenbei noch ein paar Vokabeln.«

»Du hast nicht zufällig eines deiner Sudokuhefte in der Tasche?«

Susanne schüttelte den Kopf. »Leider. Aber das hier lenkt uns auch gut ab.«

Während sie sich durch Speisen und Getränke blätterten, versuchten andere Gäste die Durststrecke mit dem Lesen der Tageszeitung zu überbrücken, eine der Wartenden legte eine Patience. Bis wieder eine Bedienung mit einer dampfenden Terrine hereinkam. Sofort rissen alle die Arme hoch – was der Frau einen solchen Schreck einjagte, dass sie samt Suppe davonlief.

Dieser Vorfall lockerte die Stimmung erheblich auf. Auch diejenigen, die sich bislang ihrem Schicksal missmutig ergeben hatten, begannen eine Unterhaltung mit ihren Nachbarn. Richtig ausgelassen wurde die Stimmung, als eine Kellnerin mit zwei Salaten erschien. Das hungrige Paar am ersten Tisch riss ihr die Teller förmlich aus der Hand und begann augenblicklich zu essen. »Was man hat, das hat man«, kommentierte die Frau mit vollem Mund.

»Wenn das so weitergeht, sind wir alle bald in Teufels Küche und essen direkt aus den Töpfen«, sagte Ruth. »Haben wir noch etwas Essbares im Auto?«

»Nur ein Stück Käse und ein paar Äpfel.«

»Wir könnten Landjäger beisteuern«, sagte die Frau am Nachbartisch.

»Wie wäre es, wenn wir Pizza bestellen?« Einer der Männer hielt sein Smartphone hoch. »Das entlastet die Bedienung, und wir werden alle satt.«

Die Vorbereitungen zur Rebellion wurden jäh unterbrochen, als Herr Makarow ein großes Tablett mit Getränken hereintrug und sich wortreich entschuldigte. Es habe Probleme gegeben, doch nun werde das Essen bald fortgesetzt werden. Sofort, wie er mehrmals betonte.

»Ich möchte nicht wissen, wann wir heute ins Bett kommen«, sagte eine alte Dame. »Aber wir sollten es uns hier gemütlich machen. Was meinen Sie? Schieben wir die Tische zu einer langen Tafel zusammen?«

Zurück im Zimmer stellte Susanne die kitschigsten Dekostücke auf den Schrank, während Ruth die beiden Sessel so zusammenschob, dass sie zur Balkontür hinausschauen konnten. Die Sonne war bereits untergegangen, das warme Abendlicht erzeugte eine angenehme Atmosphäre im Raum.

»Wer hätte gedacht, dass wir noch so einen Spaß haben würden«, sagte Susanne. »Und Muttis Kochkünste konnten sich durchaus sehen lassen. Dieses Schokoladenzeugs war echt lecker. Jetzt noch einen Absacker, und die Welt ist mein Freund.«

»Kommt sofort. Außerdem habe ich noch eine Überraschung für dich.« Ruth langte in ihre Reisetasche und förderte ein Päckchen mit roter Schleife zutage. »Erinnerst du dich noch an unsere erste gemeinsame Konferenz?«

»Natürlich! Jetzt mach es nicht so spannend.«

»Erst erzählen.« Ruth entkorkte den mitgebrachten Bordeaux und schenkte den Wein in die Zahnputzgläser.

»Das war … 1987. Es war deine erste Stelle, und du kamst mir im Lehrerzimmer etwas verloren vor«, begann Susanne. »Ich hingegen war froh, dass ich endlich mal wieder aus dem Hause kam. Obwohl ich nervös war, weil ich nicht wusste, wie es mit Paulchen bei der Tagesmutter klappen würde. Als ich gesehen habe, dass du den Liebhaber von Duras in der Tasche hast, habe ich dich gefragt, wie du das Buch findest, und dir im Lauf des Gesprächs den leeren Platz neben mir angeboten.« Sie musterte Ruth mit einem Augenzwinkern. »Damals waren deine Haare allerdings um einiges länger und noch nicht silbern.«

»Test bestanden.« Ruth überreichte ihr das Geschenk.

»Ein Buch … Jetzt bin ich gespannt.« Vorsichtig löste Susanne das rote Geschenkpapier mit weißen Punkten. »Hoffentlich kenne ich es nicht.«

»Der Inhalt sollte dir bekannt sein.«

Susanne starrte ergriffen auf das Cover. Es zeigte ein Bild von ihnen beiden. Die Arme um die Schultern gelegt winkten sie lachend in die Kamera. Was wäre das Leben ohne Dich? lautete der Titel. Darunter, etwas kleiner, 33 Jahre Susanne und Ruth.

»Du bist verrückt …« Susanne spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

Die erste Doppelseite mit der Überschrift – 1987, wie alles anfing – zeigte ein Foto von ihnen an ihrem angestammten Platz im Lehrerzimmer. Daneben war der Umschlag des Duras-Romans abgebildet. Es folgten Schnappschüsse von einem Essen im Biergarten, von Susanne in einem See und ein Bild von Ruth mit dem kleinen Paul im Sandkasten. Viele Aufnahmen hatte Ruth mit einem kurzen Kommentar versehen.

Auf der rechten Seite entdeckte Susanne ein Foto des Sängers Ben E. King, der in jenem Jahr mit Stand By Me große Erfolge gefeiert hatte. Zu ihrem Lied war es in der Zeit avanciert, als klargeworden war, dass Ruths sehnlicher Kinderwunsch trotz aller Versuche nicht in Erfüllung gehen würde. Eine schwere Phase, in der sie ihre Freundin nach Kräften unterstützt und getröstet hatte.

»Du bist komplett verrückt«, wiederholte sie, während sie sich beim Weiterblättern über die Augen wischte. »Das war doch sicher schrecklich viel Arbeit!« Sie stand auf und schloss ihre Freundin fest in die Arme. »Ich danke dir. Es ist wunderschön.«

Ruth erwiderte ihre Umarmung. »Wenn man im Leben das Glück hat, einer so tollen Frau wie dir zu begegnen, kann man ihr schon mal ein Buch gestalten«, sagte sie leise. »Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass es dich gibt.«

»Das geht mir nicht anders.« Susanne reichte Ruth ein Glas, und sie stießen feierlich an. »Auf unsere Freundschaft!«

Susanne rückte die Sessel näher zusammen, dann blätterten sie erzählend durch die Seiten. Es war eine Reise, die quer durch die unterschiedlichsten Lebensumstände führte. Durch Alltag, Momente unbändigen Glücks, aber auch der Verzweiflung und tiefer Trauer.

»Kannst du mir mal sagen, warum du mich nie davon abgehalten hast, dieses schreckliche Teil in der Öffentlichkeit zu tragen?« Susanne tippte auf ein Foto, auf dem sie eine Jacke mit riesigen Schulterpolstern trug.

»Das hatte man damals so.« Ruth zeigte auf ein Bild, das sie in einem ähnlichen Kleidungsstück zeigte.

»Bei deiner Länge ist das was ganz anderes«, brummte Susanne. »Ich sehe aus wie ein buntes Quadrat auf zwei Beinen.«

»Aber ein hübsches Quadrat.« Ruth knuffte sie in die Seite. »Das gehört alles zu unserer Vergangenheit. Dazu muss man stehen.« Sie schenkte gerade nach, als ihr Handy klingelte. »Gustav. Ich gehe mal kurz ran.«

Der Empfang im Zimmer war eher schlecht, so stellte Ruth sich auf den Balkon, um den Anruf ihres Mannes entgegenzunehmen. Susanne schlug das Jahr 1992 auf: Pauls Einschulung. Zärtlich betrachtete sie die Aufnahme, auf der er mit einer riesigen Schultüte zu sehen war. Schon verrückt, mittlerweile war er selber Vater von zwei Kindern. Aber die Sommersprossen hatte er noch immer. Auf einem anderen Foto saß er mit Ruth in der Eisdiele, wo die beiden sich einen Bananasplit teilten. Sie hatten sich vom ersten Moment an geliebt, und der Kleine hatte Ruth mit seiner unbekümmerten Art in einigen schwierigen Phasen aufgeheitert.

Die Balkontür schwang auf, und Ruth schaute herein. »Kurze Frage: Gustav hat drei Karten für den Liederkreis von Schumann bekommen. Ich weiß, dass klassischer Liedgesang nicht dein Ding ist, aber willst du nicht doch mal mitkommen? Diese Stücke sind so berührend.«

Susanne schüttelte energisch den Kopf. »Perlen vor die Säue. Nehmt lieber einen echten Fan mit.«

Doch die Erwähnung des Liederzyklus riss für den Bruchteil einer Sekunde in ihrem tiefsten Inneren eine Tür auf, sodass ein paar Zeilen hindurchschlüpfen und sich in ihrem Kopf breitmachen konnten, bevor es ihr gelang, sie wieder fest ins Schloss zu drücken.

Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst,

dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst!

Gereizt rieb sie sich die Arme und blätterte zur ersten Doppelseite zurück.

Stand By Me. Mit Macht konzentrierte sie sich auf die Melodie und den Text, damit die andere Weise verschwand.

So darlin’, darlin’, stand by me, oh stand by me

If the sky that we look upon

Should tumble and fall …

Es funktionierte. Bis Ruth mit dem Telefonat fertig war, hatte Ben King Schumann mundtot gemacht.

»Seit wann hat Gustav Zeit für Konzerte?«, fragte sie, als Ruth wieder neben ihr saß. »Sonst jagt ein Architekturwettbewerb den nächsten und er kommt kaum zum Schlafen?«

»Das hatte begonnen, als er eine richtige Brille brauchte. Früher war er für so etwas viel zu eitel, du kennst ihn ja. Da hat im Notfall eine Fertigbrille herhalten müssen. Warte. Ich habe ihn mit mehreren Modellen fotografiert, damit ihm die Entscheidung leichter fällt.« Ruth wischte über das Display ihres Handys, bis sie die Bilder gefunden hatte. »Welches Modell, glaubst du, hat er sich ausgesucht?«

Susanne sah sich die Aufnahmen an. »Ich tippe auf das dunkelrote Gestell.«

»Hundert Punkte. Zudem hatte er nach dieser Anschaffung erfahren, dass ein Studienfreund nach kurzer Krankheit gestorben ist. Das hat ihn ins Grübeln gebracht. Seitdem delegiert er mehr im Büro. Neuerdings hat er sogar einen Zettel am Rückspiegel mit den Worten: Ich bin über 60, und meine Zeit ist begrenzt.«

Susanne lachte. »Da tut sich ja einiges!«

»Allerdings. Und seit ihm das bewusst geworden ist, frönt er auch anderen Leidenschaften wieder. Zum Beispiel Schumann.«

»Ich denke manchmal daran, wie es wohl wäre, wenn Martin sich das mehr zu Herzen genommen hätte. Im wahrsten Sinne des Wortes«, sagte Susanne. »Ob es anders gelaufen wäre, wenn er einen Schuss vor den Bug bekommen hätte?«

Ruth schlug das Erinnerungsbuch bei der Jahreszahl 2003 auf. Dort waren Schnappschüsse von einem letzten gemeinsamen Wanderwochenende in den Bergen. Beide Paare beim Brotzeitmachen vor einer Hütte in der Sonne. Martin prostete der Kamera zu.

»Das waren wunderschöne Tage. Und zwei Monate später war es aus und vorbei.« Sanft strich sie mit dem Zeigefinger über sein Gesicht.

Ruth legte ihren Arm um Susannes Schultern. »Vermisst du ihn oft?«

»Manchmal rede ich mit ihm. Erzähle ihm, wie es Paul, Sandra und den Kindern geht. Dann überlege ich, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn er noch da wäre.«

»Würde sich das sehr von deinem jetzigen unterscheiden?«

»Ich wäre sicher mehr auf Achse. Du weißt ja, wie gern er gereist ist und wie viele Pläne er noch hatte. Aber im Großen und Ganzen ist es gut, wie es ist. Ändern kann ich es ohnehin nicht.«

Ein Klingelton zeigte ihr an, dass eine WhatsApp-Nachricht eingegangen war. »Schau. Als hätten sie gehört, dass ich von ihnen spreche.« Sie zeigte Ruth das Bild von den planschenden Enkelkindern in der Badewanne. Liebe Grüße, auch an Ruth!

»Ach, wie süß. Ich muss diese Rasselbande bald mal wieder besuchen«, seufzte Ruth. »Sie verändern sich in dem Alter so rasend schnell.«

»Du kannst nächste Woche gern vorbeikommen«, sagte Susanne. »Sandra muss sich um ihre frischoperierte Mutter kümmern, und ich bin als Köchin und Dompteuse angestellt, bis Paul von der Arbeit kommt.«

»Hör mir auf mit nächster Woche«, sagte Ruth. »Schon der Gedanke daran erschlägt mich. Vielleicht sollten wir hier auf dem Telefon doch mal die 5 wählen. Wer weiß, was uns entgeht.«

»Mittlerweile bin ich skeptisch. Mag sein, dass der Wille vorhanden ist. Aber nach den heutigen Erfahrungen glaube ich nicht, dass die Hilfe rechtzeitig eintrifft. Lass uns lieber schlafen gehen.«

Nachdem sie noch eine Weile im Bett gelesen hatten, begann Ruth zu gähnen. »Kann ich das Licht ausmachen?«

»Gern. Übrigens, nächste Woche bin ich bei Paul zum Babysitten. Nur dass du Bescheid weißt.«

»Das hast du schon erzählt.«

»Ach so.« Leise summte Susanne Stand By Me. Die Melodie hatte sich in Endlosschleife in ihrem Kopf breitgemacht.

No I won’t be afraid, no I won’t be afraid,

Just as long as you stand, stand by me

Plötzlich überfiel sie eine tiefe Niedergeschlagenheit. Sie tastete mit der linken Hand nach Ruth, die sie fest umschloss. »Solange du bei mir bist, brauche ich mich vor nichts zu fürchten, oder?«

»Nein. Ich werde immer für dich da sein.«

»Egal, was passiert?«

»Egal, was kommt. Versprochen.« Ruth strich ihr zärtlich über die Finger. »Und jetzt schlaf gut.«

2.

Der Wochenauftakt ließ zu wünschen übrig: Es regnete in Strömen, und Ruth hatte schlecht geschlafen. Müde schloss sie die Tür zum Lehrerzimmer auf. Der Bereich der Pädagogen war dreigeteilt: das eigentliche Lehrerzimmer, die Kaffeeküche mit Bistro-Tischen und Kopierer sowie eine Bibliothek, die neben Büchern der jeweiligen Fachgebiete auch einige PCs beherbergte. Ruth stellte die Tasche auf ihren Platz und grüßte in die Runde.

Die Tische waren in Hufeisenform aufgestellt, die unten eine Lücke aufwies. In der Mitte stand eine weitere Reihe, sodass es von oben betrachtet wie ein riesiges W aussehen musste. Das W von Widerstand ist zwecklos. Oder der erste Buchstabe des Satzes Wir schaffen das!. Ein Motto, das ihnen noch jeder Direktor entgegengerufen hatte, wenn Krankheits- und Schwangerschaftsvertretungen sich häuften. Wobei das Kollegium die Zusatzarbeit zu stemmen hatte, nicht er. Seit ihrem ersten Tag saß Ruth am oberen rechten Ende dieses W, gleich an der Tür. Strategisch gesehen ein hervorragender Platz: Man war schnell bei seinem Stuhl, und noch viel wichtiger: ratzfatz wieder draußen.

Erleichtert, dass der Vertretungsplan keine Zusatzstunden für sie bereithielt, ging Ruth zur Kaffeemaschine. Während ihre Tasse sich füllte, betrachtete sie die Wartenden vor dem Kopierer. Mathe-Olaf vollzog einen Balztanz mit der langbeinigen Referendarin; Thea erzählte Horrorstorys über ihre Schwiegermutter und Harald zog über die Schüler einer ihm verhassten Klasse her. Nur Isa hielt schweigend ihren signalroten Aktenordner vor den Babybauch, als wollte sie das Ungeborene vor dem Geschwätz schützen.

Das brummende Gerät spuckte ein Blatt nach dem anderen aus. Doch jedes abweichende Geräusch ließ die Wartenden sofort aufhorchen. Alle wussten, wie launisch dieser Apparat war und welche Auswirkungen ein Papierstau auf die vorbereiteten Unterrichtsstunden haben konnte.

Es war Ruth schleierhaft, warum nicht schon zahlreiche Doktorarbeiten zum Thema »Biotop Lehrerzimmer« verfasst worden waren. Sie kannte keinen anderen Ort, an dem sich innerhalb kürzester Zeit so viele Daten zu bizarrem Verhalten zusammentragen und verwerten ließen. Die Recherche ließ sich sogar locker neben dem regulären Job erledigen. Mit anderen Worten: Die fertige Promotion lag quasi auf einem Silbertablett bereit.

Sie ging mit dem dampfenden Kaffee zu ihrem Stuhl zurück. Auch Ingrid, die Susannes Platz geerbt hatte, war inzwischen eingetroffen. »Und? Wie war euer Wochenende?« Sie sah Ruth neugierig an. »Wo seid ihr diesmal gelandet?«

»Der Anfang war filmreif.« Ruth erzählte von der geplatzten Revolution im russischen Schwarzwald und den Wanderungen, die sie unternommen hatten.

Ingrid lachte. »Schön, dass es Susanne so gut geht.«

Ruth nickte nachdenklich. Das stimmte durchaus. Doch etwas beunruhigte sie schon seit Längerem. Jeder vergaß mal ein Wort, aber einen Begriff wie Steuererklärung …

»Meinst du, man könnte sie überreden, mal in die Schule zu kommen?«, fragte Ingrid. »Die Schüler der Anti-Mobbing-AG planen einen Aktionstag und möchten Susanne über die Anfänge der Gruppe interviewen. Sie wüssten gern, ob es einen speziellen Grund gab, warum Susanne sie ins Leben gerufen hatte, und welche Probleme damals im Vordergrund standen. Als ihre Nachfolgerin würde mich das auch interessieren.«

»Schick ihr einfach eine Mail und frage sie«, sagte Ruth. »Wenn es sich machen lässt, kommt sie bestimmt.«

Während sie sich auf den Weg zur ersten Stunde machte, erinnerte sie sich daran, wie ungewohnt das erste Schuljahr ohne Susanne gewesen war. Noch immer ertappte sie sich an manchen Tagen dabei, dass sie sich freute, ihre Freundin gleich im Lehrerzimmer zu treffen, hielt auf der Treppe nach ihr Ausschau. Natürlich gab es auch andere Kollegen, mit denen sie ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, aber mit niemandem war es so, wie es mit Susanne gewesen war.

Mit diesen Gedanken war sie vor dem Klassenzimmer angekommen und scheuchte zwei Nachzügler hinein. Als sie die Tür hinter sich schloss und ihre Tasche auf das Pult stellte, wurde es ruhig im Raum. Die Arbeitswoche hatte begonnen.

Nach der Doppelstunde Kunst war Ruths Müdigkeit verflogen. Die Arbeit an den Clips hatte sowohl den Schülern als auch ihr großen Spaß gemacht und bestätigte erneut, dass sie den richtigen Beruf gewählt hatte. Geschickt kämpfte sie sich durch die ihr entgegenkommenden Schülerströme, die in Richtung Kiosk und Schulhof unterwegs waren.

Auch im Lehrerzimmer wurde die kurze Pause genutzt, um Hunger und Durst zu stillen. Ein spendierter Kuchen wurde freudig geplündert, dem großzügigen Geburtstagskind gratuliert.

»Eine Tasse Kaffee in der einen und ein Stück Kuchen in der anderen Hand – eine ausgeglichene Ernährung, wie ich sie schätze«, sagte Ruth, nachdem sie ihre Kollegin in die Arme geschlossen hatte.

»Da muss ich Ihnen widersprechen«, sagte Hajo Brose, der schulinterne Gesundheitsapostel. »Zucker ist die Geißel der modernen Gesellschaft. Doch auch ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute, Frau Peetz. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen nicht die Hand schüttele. Zu dieser Jahreszeit ist mir das Risiko, einen Schnupfen zu bekommen, zu groß. Aber das dürfte Ihnen ja bekannt sein, nicht wahr?«

O ja, das wussten sie seit Langem. Jedes Jahr ritt Brose auf dieser Nummer herum und wohlweislich ging niemand mehr auf seine Ausführungen ein. Bis auf eine unwissende Referendarin, die ihn in eine leidenschaftliche Diskussion über die Kraft der Homöopathie verwickelte. Ruth wusste, dass diese es später bereuen würde, denn Brose verpasste keine Gelegenheit, über das Für und Wider von Schul- und Alternativmedizin aufzuklären und seinen Standpunkt mit zig kopierten Zeitungsartikeln zu untermauern.

Ruth nippte an ihrem Kaffee und dachte an eine Konferenz zurück, in der Susanne Brose in Angst und Schrecken versetzt hatte. Sie hatte ihm lange die Hand geschüttelt und unter dem Siegel der Verschwiegenheit von einer hochansteckenden Krankheit berichtet, die gerade in ihrer Familie grassierte. Was es genau gewesen war, wusste Ruth nicht mehr. Wohl aber, dass Brose, der sonst zu ausufernden Kommentaren zu den einzelnen Schülerfällen neigte, die Schule an diesem Tag nicht schnell genug verlassen konnte.

Als die meisten Kollegen wieder in ihre Klassen verschwunden waren, setzte Ruth sich in die Bibliothek. Der Raum war leer, bis auf Huber, der verbissen auf die Tastatur einhackte. Statt ihren Gruß zu erwidern, brummte er wilde Verwünschungen Richtung Bildschirm. Ruth überlegte, ob sie ihm zur Besänftigung ein Stück Kuchen hinstellen sollte, doch sie verwarf die Idee. Menschen wie Huber waren unberechenbar. Es kam durchaus vor, dass er sich freundlich benahm. Doch meistens tat er so, als würde die gesamte Last der Menschheit auf seinen Schultern ruhen und nur er etwas arbeiten.

Aus diesem Grund beachtete Ruth ihn nicht weiter. Sie nahm einen Stapel Deutschaufsätze aus der Tasche und begann mit den längst fälligen Korrekturen. Es war jedoch schwer, sich zu konzentrieren, denn Huber redete immer ausfälliger auf den Monitor ein. Bis er mit Schwung eine Taste anschlug und auf den Drucker starrte. Nichts passierte.

»Das gibt es doch nicht!« Er fuhr so schnell hoch, dass sein Stuhl nach hinten umfiel. »Nie funktioniert hier etwas, wenn man in Eile ist!« Wieder schlug er auf die Taste ein. »Nie!«

Ruth dachte an ihre These zur Doktorarbeit. Sie machte sich nichts aus so einem Titel, aber wäre es nicht doch einen Versuch wert? Sie müsste hier nur etwas mehr Zeit verbringen und mitschreiben.

»Ist der Drucker überhaupt eingeschaltet?«

Ihre Frage ließ Huber herumfahren. »Ob der Drucker eingeschaltet ist?«, fauchte er. »Für wie dumm halten Sie mich denn? Dieser Drucker ist immer an! Immer!«

Ruth stand auf und besah sich das Gerät. Dann drückte sie einen Knopf an der Seite. Sekunden später war ein Brummen zu hören, und es dauerte nicht lange, bis mehrere Blätter im Ausgabefach lagen. Ohne Kommentar setzte sie sich wieder an ihren Platz. Huber griff sich die Seiten und rannte wütend zum Kopierer.

»Gern geschehen!«, rief Ruth ihm hinterher. Der Umgang mit Stress war definitiv ein wichtiger Aspekt für die Promotion. Sie öffnete ihren Laptop und googelte das Thema. Dabei stieß sie auf eine umfangreiche Tabelle, anhand derer sie ihren Kollegen der Kategorie der Kämpfer zuordnen konnte: Karrieremenschen, die ständig unter Strom stehen, bei Ärger laut werden können und sehr von sich und ihrer Leistung überzeugt sind. Volle Punktzahl für Huber! Es fielen ihr noch eine ganze Reihe andere Leute ein, die sich ständig unter Druck setzten, um sich und ihrem Vorgesetzten etwas zu beweisen. Auch Susannes Mann war einer gewesen, der nur schwer abschalten konnte und stets darauf bedacht gewesen war, keine Schwächen zu zeigen. Ruth erinnerte sich daran, dass er sogar phasenweise in der Kanzlei übernachtet hatte.

Interessiert las sie weiter. Bei den Souveränen war die Schul-Ausbeute wesentlich geringer, ihr Mann Gustav und Susanne zählten aber zu dieser Gruppe. Sie blieben meist ruhig und behielten den Überblick.

Die Gruppe der Flüchtlinge hingegen war im Lehrerzimmer gut vertreten. Dieser Typus schob alles gern auf die lange Bank, in der Hoffnung, die Sache würde sich irgendwann von selbst erledigen. Auch Susannes Sohn Paul war einer von ihnen.

Sie selbst war wohl eine bunte Mischung: Sie hatte eine perfektionistische Seite, verlor selten den Blick für Prioritäten und konnte in der Regel gut abschalten. Hinzu kam, dass sie ihren Alltag gern im Voraus plante. Dieser Punkt wurde jedoch nirgendwo aufgeführt. Wie auch immer. Anstatt ihre Zeit im Internet zu verplempern, sollte sie lieber diese Arbeiten korrigieren. Sonst würde ihr persönlicher Stresspegel bald ins Unermessliche wachsen …

3.

Susanne war der Verzweiflung nahe. Warum um Himmels willen hatte ihre Schwiegertochter die Küche umgeräumt? Sie kochte gern, aber wenn man für jedes Utensil sämtliche Schubläden durchsuchen musste, konnte einem die Lust vergehen. In der Hoffnung, eine Pfanne zu finden, öffnete Susanne alle Unterschränke und ging einen Schritt zurück. Ah, da hinten standen sie! Jetzt fehlte nur noch ein Topf für die Nudeln.

Als sie endlich alles beisammenhatte, war sie so erschöpft, dass sie sich am liebsten hingelegt hätte. Doch daran war nicht zu denken. In einer halben Stunde kam Marie hungrig aus dem Kindergarten. Ausgerechnet in dieser Woche fiel dort das Mittagessen aus. Sie stellte alles in der richtigen Reihenfolge auf die Anrichte: eine Flasche Öl, eine Zwiebel und ein scharfes Messer, ein Schneidebrett, zwei Dosen geschälte Tomaten und Gewürze. Tomatenmark wäre noch schön.

Sie öffnete den Kühlschrank, doch der Anblick der vielen Lebensmittel überforderte sie – warum musste ihre Schwiegertochter immer solche Unmengen an Vorräten haben? Schnell schloss sie die Tür. Es würde auch ohne gehen.

»Soll ich dir helfen, Omi?« Noah erschien in der Küchentür. »Ich kann ganz toll helfen!« Ihr Enkelsohn, auf dessen T-Shirt ein wildes Sammelsurium von Sägen, Zangen und Schraubenschlüsseln abgebildet war, hielt seinen Akkuschrauber aus Plastik hoch. »Oder soll ich was repieren?« Das Gerät gab ein authentisches Jaulen von sich. Susanne spürte, dass Kopfschmerzen im Anmarsch waren.

»Hier gibt es gerade nichts zu reparieren.« Susanne schälte die Zwiebel und begann, sie kleinzuschneiden.

»Warum?« Wieder gab der Akkuschrauber dieses nervtötende Geräusch von sich.

»Weil hier alles in Ordnung ist. Schau lieber mal nach, ob du an deiner Werkbank etwas arbeiten kannst.«

»Warum?«

»Hast du nicht erzählt, dass dein Bagger kaputt ist?«

Mit einem begeisterten »Ja!« stürzte Noah ins Wohnzimmer zurück, und Susanne hoffte, dass die Instandsetzung viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Sie stellte die Pfanne auf den Herd, gab Öl und Zwiebelstückchen hinein und schaltete den Herd ein.

Warum blies sie diese Kochaktion nicht einfach ab und bestellte Pizza? Sie kannte die Antwort: Weil Fastfood in diesem Haus verpönt war. Und die Kinder wären so aus dem Häuschen, dass sie es ihren Eltern sofort erzählen würden …

Während sie in der Soße rührte, sah Susanne auf den Gehweg hinaus, der an den Reihenhäusern entlangführte. Ein Nachbar, der seinen Hund ausführte, hob grüßend die Hand.

So schön diese Lebensform für Familien mit Kindern sein mochte, Martin und sie hatten sich nie vorstellen können, in einem solchen Schuhkarton zu leben. Auch nach Pauls Geburt waren sie in ihrer großen Altbauwohnung geblieben. Und jetzt, wo sie allein war, kam es erst recht nicht in Frage, woanders hinzuziehen. Sie liebte die hohen Decken, die Sprossenfenster und die Nähe zum Zentrum. Schon der Vergleich ihrer gemütlichen Wohnküche mit diesem engen Raum würde sie von einem Umzug abhalten.

Susanne hatte gerade einen großen Topf mit Wasser gefüllt, als eine Nachricht von ihrem Nachbarn Johann einging: Bleibt es bei unserem Termin morgen um 9? Oder musst Du Kinder hüten?

Nein, klappt, Kinder sind erst am Nachmittag dran, schrieb sie zurück. Hast Du morgen Abend Zeit für einen Film?

Mit Johann, einem pensionierten Journalisten, lebte sie seit Jahren Tür an Tür. Bei seinem Einzug war Susanne über eine der vielen Bücherkisten gestolpert und so unfreiwillig in seinen Armen gelandet. Als sie gesehen hatte, dass dieser Karton voller Bücher von Patricia Highsmith war, hatte sie ihn gefragt, wie er ihre Leiche im Falle eines Falles hätte verschwinden lassen. So hatten sie ihre gemeinsame Liebe für Psychothriller entdeckt.

Sie gingen regelmäßig zusammen ins Kino oder sahen sich Netflix-Serien an. Wollten sie unbedingt wissen, wie eine Geschichte ausging, konnte es durchaus passieren, dass sie bis in die Morgenstunden vor dem großen Bildschirm in Johanns Wohnzimmer saßen. Dafür waren sie schließlich im Ruhestand.

»Fertig!« Noah rannte strahlend auf sie zu. »Alles repiert!«

»Du bist der Größte«, sagte Susanne. Sie wollte sich gerade eine neue Aufgabe für ihn ausdenken, als das Telefon klingelte. Begeistert rannte der Kleine auf den Apparat zu. »Hallo! Hier ist Noah – Martin – Bender«, meldete er sich feierlich. »Wer ist da? Mama? Mama! Hallo! Ja, Oma ist da und macht Sapetti. Mit Soße. Ja. Und wir haben Bagger gespielt. Und Werkbank.« Er lauschte kurz. Dann nickte er und reichte Susanne das Telefon.

Susanne konnte sich schon ausmalen, was nun kam. »Nein, selbstverständlich Vollkornnudeln, Sandra. Natürlich.« Sie schloss die Augen und ließ die Ausführungen ihrer Schwiegertochter über sich ergehen. Wann hatten junge Eltern diesen Bio-Wahn entwickelt? Natürlich war es wichtig, auf gesunde Lebensmittel zu achten. Aber war deshalb alles schädlich, was schmeckte? Die Haustürklingel rettete sie vor weiteren Belehrungen.

»Das wird Marie sein«, sagte sie erleichtert. »Grüß deine Mutter ganz herzlich von mir. Sollte was sein, melde ich mich sofort bei dir.«

Noah war bereits an der Haustür und öffnete sie unter Aufbietung seiner ganzen Kraft. »Marie!« Glücklich umarmte er seine große Schwester.

»Hallo Susanne!« Die junge Frau, die Marie begleitete, machte ganz den Eindruck, als würden sie sich kennen. Doch Susanne konnte sich nicht erinnern, ihr jemals begegnet zu sein. »Was gibt es denn heute Leckeres bei euch?«

Ja, was gab es denn? Sie hatte sich doch die ganze Zeit damit beschäftigt! Susanne holte tief Luft. »Tomatensoße«, sagte sie erleichtert, als ihr der Duft in die Nase drang. »Nudeln mit Tomatensoße.«

»Das geht immer.« Die Frau zwinkerte ihr zu. »Sag Sandra bitte liebe Grüße von mir. Sie soll sich bloß keinen Kopf machen wegen der Fahrerei. Das stemmen wir ganz gut.« Dann langte sie in ihre Umhängetasche und drückte Susanne ein Schreiben in die Hand. »Könntest du das Paul bitte geben? Es ist sehr wichtig.«

Susanne las das Post-it: Für Paul, wichtig, liebe Grüße, Geli. »Ich hänge es gleich an die Pinnwand«, versprach Susanne. »Herzlichen Dank für deine Unterstützung … Geli.«

»Gern!« Geli winkte ihr im Weggehen zu. »Bis morgen!«

Bevor sie in die Küche zurückging, überflog sie den Brief vom Kindergarten. Wegen einer Personalfortbildung blieb der Kindergarten am Mittwoch in der kommenden Woche geschlossen. Dann wären also beide Kinder daheim. Susanne hoffte inniglich, dass Sandra bis dahin wieder zu Hause sein konnte.

Wie durch ein Wunder kannte Marie sich in der neu geordneten Küche bestens aus, und so dauerte es nicht lange und sie saßen bei Tisch. Susanne verteilte die Nudeln auf die Teller, gab Soße und geriebenen Käse dazu. »Guten Appetit!«

»Wir waren heute im Wald und haben dort Zapfenwerfen und Verstecken gespielt. Und ganz viele Blätter gesammelt«, erzählte Marie, während sie ihr Essen mit der Gabel durcheinandermischte.

»Warum?«, wollte Noah wissen.

»Weil wir morgen Bilder damit machen.«

»Warum?« Noahs Löffel verharrte in der Luft. Er sah seine Schwester mit offenem Mund an.

»Weil Bilder schön sind«, sagte Susanne. Sie zeigte auf seinen Teller. »Hier spielt die Musik!«

»Warum?«

»Ich könnte dir eins schenken.« Marie betrachtete Susanne durch ihre langen Wimpern. »Wenn es Nachtisch gibt …«

»Aus dir wird mal eine gute Geschäftsfrau«, sagte Susanne. »Das erste Bild gehört mir schon, denn es gibt heute Nachtisch.«

»Juhuuu!« Beide Kinder schrien begeistert los, die Nudeln von Noahs Löffel flogen durch die Luft.

»Und was gibt es?«, wollte Marie wissen.

Susanne machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Etwas ganz Besonderes: Es gibt Muppelpuff mit Knubbelgnö …«

Die Kinder schrien vor Lachen. »Das gibt es gar nicht!«, rief Marie. »Das hast du dir ausgedacht!«

»Und ob es das gibt«, sagte Susanne. »Aber zuerst wird aufgegessen.« Es war wirklich interessant: Diese Kinder wuchsen mit vielen Privilegien auf. Die Familie hatte zwei Autos, fuhr mehrmals im Jahr in Urlaub, Marie und Noah lernten Skifahren und wurden gefördert, wo immer es möglich und nötig war. Zuwendungen, von denen sie früher nur hatte träumen können. Doch ein Nachtisch war dank der vielen Verbote zu etwas Unerreichbarem geworden.

Wenn Sandra Pech hatte, gingen ihre Gesetze komplett nach hinten los, und die Kinder würden sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Süßkram vollstopfen. Das war aber nicht ihre Baustelle. Sie brach nur hin und wieder die Regeln. Dafür waren Omas schließlich da.

Susanne staunte, wie schnell die Quarkcreme mit Früchten weggeputzt war. »Muppelpuff mit Knubbelgnö ist sooo lecker!« Marie strahlte über das ganze Gesicht.

»Ja! Muffelfö ist lecker«, bestätigte Noah, der sich die Finger ableckte.

»Was habt ihr denn heute im Kindergarten gemacht?«, fragte Susanne, während sie das Geschirr zusammenstellte.

Marie sah sie mit großen Augen an. »Das habe ich doch schon erzählt. Wir waren im Wald! Und haben Blätter gesammelt!«

Susanne holte tief Luft. »Stimmt. Tut mir leid. Heute ist es etwas neblig bei Oma im Kopf. Nebel kennst du ja, oder?« Marie nickte. Es war ihr aber anzusehen, dass ihr die Sache nicht geheuer war.

»An solchen Tagen ist Oma müde. Dann vergisst sie schon mal das eine oder andere.«

»Ich bin auch müde«, sagte Marie. »Aber nur ein ganz kleines bisschen. Wollen wir kuscheln und vorlesen?«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Susanne. »Geht schon mal nach oben. Sobald ich die Sachen in die Spülmaschine gestellt habe, komme ich nach.«

Als sie in das Spielzimmer kam, lagen Marie und Noah bereits unter einer großen Decke inmitten von unzähligen Kissen und Kuscheltieren. »Du musst zwischen uns liegen«, bestimmte Marie.

Susanne schlüpfte aus ihren Schuhen und kroch ebenfalls unter den Baldachin, der von der Decke hing. »Gibt es eine bestimmte Geschichte, die ihr gern hören wollt?« Noch während sie die Frage aussprach, kannte sie die Antwort: »Alle!«

»Dann beginnen wir ganz vorn. Moritz hatte bald Geburtstag. Aber nur einen Geburtstagswunsch. Er wünschte sich eine Katze. Am liebsten eine mit schwarzem Fell und weißen Pfoten.« Die Erzählung plätscherte dahin, und es dauerte nicht lange, bis die beiden, die sich an sie geschmiegt hatten, eingeschlafen waren. Susanne las noch ein paar letzte Zeilen, wobei sie immer langsamer wurde. Dann legte sie den Schmöker zur Seite und schloss ebenfalls die Augen.

Es war ihr wichtig, dass die beiden eine Liebe zu Büchern entwickelten. Sie selber hatte als Kind viel gelesen und war dabei stets tatkräftig von ihren Eltern unterstützt worden. Obwohl Martin und sie Regale voller Lesestoff gehabt hatten, war es ihnen nie gelungen, Paul dafür zu interessieren. Auch Sandra konnte man nicht als Leseratte bezeichnen. Daher hatte sie es sich zum Ziel gesetzt, ihre Enkel schon früh mit Geschichten zu versorgen, die ihr Interesse weckten.

Sie selber behauptete gern, dass Bücher ihr schon das Leben gerettet hatten. Das erste Mal, als das vertraute Familienleben nach und nach in sich zusammengefallen war, ein zweites Mal, als ihre vielversprechenden Zukunftspläne gescheitert waren. Zum Glück wies nichts darauf hin, dass es ihren Enkelkindern auch so gehen könnte, aber solche Dinge geschahen aus heiterem Himmel.

Sie drehte den Kopf zur Seite. Maries Haar duftete nach Blumen und Äpfeln. Die warmen Kinderkörper ließen sie spüren, wie viel Glück sie im Leben hatte. Wäre da nur nicht dieses Vergessen.

Im letzten Jahr waren die Blackouts Ausnahmen gewesen, doch seit einiger Zeit nahm die Nebelwolke unerbittlich Kurs auf sie. An guten Tagen schaffte sie es, ihr auszuweichen, sich zu verstecken, aber Anspannung und Angst, die Kontrolle zu verlieren, erschöpften sie immer mehr. Und genau das machte den Nebel dichter.

Susanne dachte an ihre Mutter, an die Zeit, als sie akzeptieren mussten, dass … Nein. Bei ihrer Mutter war es ganz anders gewesen. Drastischer. Was ihr selbst passierte, das geschah auch anderen in ihrem Alter.

Mit Macht versuchte sie, sich auf die schönen Dinge zu konzentrieren, die nachher noch bevorstanden. Sie war mit den Frauen ihrer Yogagruppe zum Essen verabredet. Schau, das wusste sie noch genau! Die Kleinen hatten sie einfach etwas ermüdet. Sie war es nicht mehr gewohnt, den ganzen Tag mit Kindern zu verbringen.

Sie zog ihre Lieblinge fest an sich und wünschte sich, für immer unter dieser Decke liegen bleiben zu können. Hier wäre sie vor allen Problemen sicher.

4.

Das Essen mit den Yoga-Frauen war genau das Richtige gewesen. An den Kursabenden gab es nur wenig Gelegenheit, sich zu unterhalten. Doch das hatten sie ausgiebig nachgeholt und sich vorgenommen, sich bald wieder zu treffen.

Als sie auf die Straße traten, umarmte Susanne die anderen zum Abschied und machte sich beschwingt auf den Weg. Jetzt schnell nach Hause, noch ein paar Seiten lesen und dann ins Bett.

Leichter Nieselregen setzte ein, und sie war froh, als das Schild zur Tiefgarage in Sicht kam. Sie hasste solche Parkplätze, aber Paul war auch an diesem Abend später nach Hause gekommen, und sie hatte keine Zeit gehabt, vorher nach Hause und von dort mit dem Bus in die Stadt zu fahren.

Am Kassenautomaten öffnete sie ihre Handtasche und langte in das Fach, in dem sie ihre Parkkarten aufbewahrte. Ein Griff ins Leere. Verdammt. Sie hielt die Tasche ins Licht, damit sie hineinschauen konnte. Doch sooft sie die Fächer auch durchsuchte, sie wurde nicht fündig. Hatte sie das Ticket im Auto liegen lassen?

Sie stieg die Stufen zum ersten Parkdeck hinunter. Die schwere Tür fiel hinter ihr ins Schloss, Neonröhren malten flackernd bizarre Schatten an die Wände. Nicht umsonst bedienten Thriller sich gern dieser Bilder. Obwohl Susanne um diesen Effekt wusste, konnte sie die Beklemmung, die sich an diesen Orten einstellte, nie ganz abschütteln.

Ein Auto fuhr auf sie zu. Für einen Augenblick wurde sie von den grellen Scheinwerfern erfasst und fühlte sich unendlich wehrlos. Als der Wagen zur Schranke abgebogen war, ging sie weiter. Ganz hinten links hatte sie noch einen Platz ergattert, das wusste sie genau. Doch dort stand ihr Auto nicht. Hatte sie sich in der Reihe geirrt? Auch im nächsten Block wurde sie nicht fündig.

Sie lehnte sich an eine verschrammte Säule und kämpfte gegen die aufkeimende Panik. Sie konnte sich daran erinnern, dass sie mehrere Runden hatte drehen müssen. War sie dabei zum nächsten Deck gefahren?

Über das Treppenhaus stieg sie eine weitere Ebene hinunter. Jetzt konzentrier dich, mahnte sie sich. Autos lösen sich nicht in Rauch auf! Angespannt schritt sie an den nächsten Reihen entlang. Sie hörte, wie Türen zugeschlagen, Motoren gestartet wurden. Immer wieder wurde sie von entgegenkommenden Fahrzeugen geblendet. Viele dunkle Autos, doch ihres war nicht dabei.

Plötzlich fiel ihr Gustavs Trick ein: auf den Schlüsselknopf drücken. In der Regel war der Abstand angeblich gering genug, dass das betreffende Auto reagierte. Doch nirgendwo leuchteten Lichter auf oder konnte sie hören, wie sich ein Schloss entriegelte.

Mutlos ging sie weiter, sah immer wieder auf ihre Schuhe hinunter. Links, rechts, einatmen, ausatmen. Sie war einfach müde, mehr nicht. Gleich würde sie vor ihrem Auto stehen und darüber lachen, dass sie es nicht hatte finden können.

Wieder hielt sie inne. Hatte sie den Wagen überhaupt hier geparkt? Manchmal fuhr sie ja auch zum Rathausplatz. Hoffnungsvoll verließ sie das Gebäude und bog in die Fußgängerzone ein. Der Regen war stärker geworden, und es blies ein kalter Wind. Susanne schlug den Kragen ihres Mantels hoch und ging schneller, verärgert darüber, dass sie keinen Regenschirm mitgenommen hatte.

Im Programmkino war die Vorstellung gerade zu Ende, und bevor Susanne sich’s versah, befand sie sich inmitten eines dichten Menschenstroms, der sie mit sich zog. Sie versuchte, sich zu orientieren, hielt nach einem bekannten Gesicht Ausschau – vergeblich.

Als es ihr endlich gelungen war, dem Strom zu entkommen, bog sie in die nächstbeste Nebenstraße ab. Das Kopfsteinpflaster glänzte im Schein der Straßenbeleuchtung, jeder hatte es eilig, weiterzukommen. Wo wollte sie eigentlich hin? Zum Rathausplatz. Richtig. Nicht vergessen. Rathausplatz. Warum hatte sie nur keinen Schirm dabei?

Aus den Kneipen drangen Musikfetzen, eine Frau schrie jemanden an. Als sie an einem chinesischen Imbiss vorbeiging, wehte ihr der Duft von gebratenen Nudeln in die Nase. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Hatte sie überhaupt schon zu Abend gegessen?

Die Straße zog sich endlos hin, und mit jedem Schritt fühlte Susanne sich verlorener. Sollte sie Ruth anrufen? Nein. Ihre Freundin hatte genug um die Ohren und würde sich nur unnötig Sorgen machen. Und Fragen stellen. Sie wollte jetzt keine Fragen beantworten. Sie wollte nach Hause. Und ins Bett. Mit einem Mal vermisste sie Martin so schmerzlich wie schon lange nicht mehr. Hatte sie es noch weit? Wo war sie überhaupt?

Sie sah sich nach einem Straßenschild um, versuchte sich zu orientieren, doch durch den Regen sah sie alles unscharf, ihre Angst wuchs. Verdammt. Ich habe nicht mal einen Schirm dabei. Sie ging schneller, kam ins Rutschen und spürte, wie der Boden zu wanken begann, näher kam.

Zwei Arme umfingen sie, ein Rasierwasser, das sie an Martin erinnerte. Eine sonore Stimme an ihrem Ohr: »Fehlt Ihnen etwas?«

Ein Schirm, wollte sie sagen. Mein Auto. Doch anstatt Worte kamen nur Tränen. Sie war am Ende ihrer Kraft.

Jetzt sah sie ihn vor sich stehen. Ein Mann mit ernsten Augen und einem Bart. Schützend hielt er seinen Schirm über sie, redete besorgt auf sie ein. »Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«

Susanne nickte. »Das wäre schön.« Sie öffnete ihr Portmonee. Geld genug für die Heimfahrt. Etwas anderes fehlte, aber sie wusste nicht mehr, was.

»Das ist wirklich ein Sauwetter«, sagte der Mann, während er sein Handy hervorzog und eine Nummer wählte. »Aber gleich sind Sie im Trocknen.« Und tatsächlich: Kurz darauf hielt ein Wagen. Der Fahrer half ihr beim Einsteigen. »Kommen Sie gut nach Hause«, sagte der Mann mit dem Schirm.

5.

Zuerst konnte sie das schrille Geräusch nicht einordnen. Es verstummte gleich wieder, doch dann war es wieder da. Länger, fordernder. Sie griff neben sich. Nein, der Wecker war es nicht. Susanne setzte sich auf. Die Klingel. Wer in Gottes Namen stand so früh vor der Tür?

Sie stolperte aus dem Bett, zog im Gehen ihren Bademantel über und strich sich durch das Haar. An der Wohnungstür drückte sie auf den Öffner. Sofort klopfte es.

»Johann!« Sie ließ ihren Nachbarn herein. »Ist was passiert?«

»Es ist Dienstag, neun Uhr.«

»Ja, und?«

»Seit einigen Wochen ist das die Zeit, zu der wir schwimmen gehen.« Er musterte sie. »Bist du etwa krank?«

Susanne ging in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Nein. Nur hundemüde.«

Johann setzte sich ihr gegenüber. »Vielleicht brütest du was aus. Einige meiner Bekannten liegen mit einem hartnäckigen Infekt im Bett.« Er nahm einen Zettel vom Tisch und las. »Auto suchen? Ist es gestohlen worden?«

Susanne starrte auf die Großbuchstaben, die sie anscheinend vor dem Zubettgehen geschrieben hatte. »Nein, da war was anderes …«

»Weißt du was? Wir beerdigen den heutigen Schwimmtermin, und du kommst nach dem Duschen zu mir zum Frühstück.« Johann sah sie eindringlich an. »Dann klären wir das. Einverstanden?«

Susanne zwang sich zu einem Lächeln. »Ist gut. Gib mir eine Viertelstunde, dann bin ich da.«