Nur ein einziger Tanz - Hermien Stellmacher - E-Book

Nur ein einziger Tanz E-Book

Hermien Stellmacher

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Beschreibung

Ein rätselhafter Brief wirbelt das Leben von Rike Kehrmann durcheinander. Ein Unbekannter schreibt, er habe jahrelang nach ihrer verstorbenen Mutter gesucht, denn sie sei die Liebe seines Lebens gewesen.

In der Hoffnung, mehr zu erfahren, fährt Rike nach Amsterdam, in die Stadt ihrer Kindheit – und lernt dort nicht nur Hendrik Rhee und seine fidele Senioren-WG kennen. Es wird auch eine Reise in ihre eigene Vergangenheit, und sie bleibt nicht ohne Folgen für Rike zukünftiges Leben ...

Ein Roman über die Macht der Erinnerung – und die Enthüllung einer neuen Wahrheit.

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Seitenzahl: 324

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Cover

Titel

Hermien Stellmacher

Nur ein einziger Tanz

Roman

Insel

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4980.

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: 1 zu 1; FinePic ®, München

eISBN 978-3-458-77654-3

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Truus Rijpma, die mit ihrem Brief diese Geschichte ins Rollen brachte, und für Atie, die nach 50 Jahren unverhofft in mein Leben zurückkehrte.

Motto

»Man weiß nie – wie soll ich es ausdrücken? –,

welche unserer Handlungen, welche unserer Unterlassungen

lebenslange Folgen haben werden.«

E. ‌M. Forster, Engel und Narren

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

1.

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Nachwort

Informationen zum Buch

Nur ein einziger Tanz

1.

Obwohl Familie Turner eine Menge Widerlinge in ihren Reihen hatte, und ihr Geschäftsgebaren der Mafia in nichts nachstand, waren die Charaktere Rike im Lauf der Kapitel ans Herz gewachsen. Doch nun war die Zeit gekommen, sich von ihnen zu verabschieden. Sie überflog das Begleitschreiben ein letztes Mal, wünschte der Sippschaft viele deutsche Leserinnen und Leser und drückte auf »Senden«. Mit dem typischen Klick verschwand die Mail samt Übersetzung in Richtung Verlag. So befriedigend es war, die Arbeit endlich vom Tisch zu haben, das vertraute Gefühl der Erleichterung wollte sich heute nicht einstellen. Stattdessen erschien ihr all die Freizeit wie ein bedrohliches, schwarzes Loch. Allzeit bereit, sie zu verschlingen.

Sie griff nach dem Bild ihrer Mutter, das in einem Holzrahmen an der Schreibtischlampe lehnte.

Ich bin dir nah in weiter Ferne

Und überfliege jeden Raum.

Es war der Wunsch ihrer Mutter gewesen, dass diese Zeilen über ihrer Todesanzeige stehen sollten. Und noch ein Jahr nach dem Todestag spendeten sie Rike Trost.

»Das Buch hätte dir gefallen, Mami«, sagte sie leise. »Sehr spannend und voller schräger Typen.« Das Foto war vor Jahren an einem strahlenden Herbsttag entstanden, als sie zu dritt mit ihrer Freundin Edina einen Ausflug unternommen hatten. Mit einem Mal hörte sie das Lachen der beiden Frauen, die sich nahegestanden hatten, und wünschte, sie könnte jetzt mit ihnen in einem Café sitzen.

Sie stellte das Foto an seinen Platz zurück und warf einen Blick zum Fenster hinaus. Der böige Wind gab sich alle Mühe, die Wolken zu vertreiben. Aber kaum hatte die Sonne ihre Chance ergriffen, ging ihr die Puste aus, und der Himmel war wieder verhangen.

In der Hoffnung auf bessere Aussichten rief Rike eine Wetterseite auf. Da der September ähnlich trüb zu Ende gehen würde, warf sie einen Blick auf die Europakarte und gab sich Urlaubsfantasien hin, träumte von bunten Märkten in Frankreich und von den rauen Küsten Englands. Doch mit wem sollte sie verreisen? Sich allein auf den Weg zu machen, war im Augenblick keine Option, und die in Betracht kommenden Freunde hatten entweder anderweitige Verpflichtungen oder waren nicht da.

Da es sie auch nicht nach Hause zog, begann Rike den Schreibtisch aufzuräumen, legte die Recherchelektüre auf einen separaten Stapel und leerte den Papierkorb. Als das erledigt war, sah sie sich in dem kleinen Raum um. Die Grünlilien, die ihr die Vormieterin des Büros vermacht hatte, waren zwar anspruchslos, doch jetzt kurz vor dem Verdursten. Sie hatte mal gelesen, dass diese die Luft reinigten, und während sie jede einzelne goss und die welken Blätter entfernte, fragte sie sich, ob es auch Züchtungen gab, die sich positiv auf die Stimmung auswirkten. Doch wie sie die Sache einschätzte, würde sie das selber in die Hand nehmen müssen. Daher schloss sie den Laptop und verstaute ihn im Rucksack. Sie würde sich eben mit angenehmen Sachen beschäftigen und Dinge unternehmen, zu denen sie seit Wochen nicht gekommen war. Wobei ihr nicht einfallen wollte, was das sein könnte.

Sie hatte die Haustür der Bürogemeinschaft fast erreicht, als jemand ihren Namen rief. Ihr Kollege Jonathan stand im Flur und winkte. »Und? Abgabetermin geschafft?«

»Ja! Endlich ist Schluss mit dem organisierten Verbrechen.«

Er streckte einen Daumen nach oben. »Bevor du dich dem süßen Nichtstun zuwendest, hätte ich eine Bitte. Du hast doch in Amsterdam gelebt und sprichst die Sprache, oder?« Als Rike nickte, fuhr er fort. »Ich habe einen befreundeten Journalisten in der Leitung, der geglaubt hat, einen Artikel über die niederländische Küche selber übersetzen zu können.«

»Aber bei einigen Begriffen nicht weiterkommt?«

»So in etwa. Könntest du ihm ein paar Fragen beantworten?« Als sie nickte, zeigte er auf einen Sessel am Fenster und drückte ihr sein Telefon in die Hand. »Ich hole dir einen Kaffee.«

Rike nahm Platz und meldete sich.

»Norbert Langer.« Eine angenehme Stimme. »Sind Sie die rettende Niederländerin, von der Jonathan sprach?«

»Nicht ganz. Ich habe einen deutschen Vater und somit von Geburt an die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber ich bin in Amsterdam aufgewachsen. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Ich bin immer davon ausgegangen, dass man sich in den Niederlanden hauptsächlich von Pommes und anderen frittierten Leckerbissen ernährt. Abgesehen natürlich von der hervorragenden indonesischen Küche. Doch nun werde ich mit Begriffen wie Hutspot, Rookworst und braune Bohnensuppe konfrontiert und stehe da wie der Ochs vorm Berg.«

Rike lachte. »Das sind die wahren Basics dieses Landes. Der Niederländer ist grundsolide und legt keinen Wert auf Schnickschnack.« Sie warf Jonathan, der ihr einen Kaffee hinstellte, einen dankbaren Blick zu. »Außerdem ist er sehr sparsam, da ist Hausmannskost nicht fern. Hutspot ist da ein gutes Beispiel: eine Mischung aus gestampften Kartoffeln, Möhren und Zwiebeln, zu der Rinderbraten mit Soße serviert wird. Das U spricht man übrigens als Ö aus und das O ganz kurz. Kein kulinarisches Highlight, aber ich kenne Leute, die für dieses Gericht alles stehen und liegen lassen.«

Ich bin dir nah in weiter Ferne

Und überfliege jeden Raum.

Sofort hatte Rike das glückliche Lächeln ihrer Mutter vor Augen, als sie sie kurz vor ihrem Tod mit einer kleinen Portion Hutspot überrascht hatte, und sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden.

»Ich glaube nicht, dass ich dieser Gruppe je angehören werde«, lachte Langer, »aber Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.« Rike hörte ihn blättern und überlegte, ob der Mann so attraktiv war wie der Klang seiner Stimme.

»Und dann ist da noch diese ominöse braune Bohnensuppe. Irgendwo habe ich gelesen, dass es sich dabei um Kidneybohnen handelt. Ist das richtig?«

»Auf keinen Fall«, sagte Rike, erleichtert, zu einem neutralen Thema wechseln zu können. »Das sind Bohnen, die hauptsächlich im niederländischen Zeeland angebaut und zu Suppen und Eintöpfen verarbeitet werden. Früher war es wohl ein typisches Arme-Leute-Essen. In Deutschland sind sie mir noch nicht begegnet.«

»Aha. Dann lass ich das einfach so stehen und hoffe, dass das akzeptiert wird. Und zu vielen dieser Gerichte gibt es diese Rookworst. Richtig?«

»O ja!« Jetzt lief Rike das Wasser im Mund zusammen. »Aber sollten Sie Rookworst wörtlich als Rauchwurst übersetzt haben, ist das nicht ganz korrekt. Es handelt sich dabei um eine spezielle geräucherte Ringwurst, die eine Konsistenz wie Fleischwurst hat. Es gibt auch eine grobe Variante.«

»Wer hätte gedacht, dass dieses kleine Land so viele Geheimnisse verbirgt.« Ein leises Lachen. »Darf ich fragen, wie es Sie nach Deutschland verschlagen hat?«

Von heut auf morgen. Knall auf Fall. Plötzlich und unerwartet …

»Mein Vater bekam eine interessante Stelle angeboten, daher zogen wir von Amsterdam in die bayerische Provinz.«

»Du lieber Himmel!«

»Sie bringen es auf den Punkt.«

»Das wird für Sie nicht einfach gewesen sein.«

»Ach, so richtig kann ich mich da gar nicht mehr daran erinnern.« Mit einem letzten Rest Kaffee schluckte sie die Lüge herunter. »War das alles, was Sie wissen wollten?«

»Eine Frage habe ich noch: Serviert man in den Niederlanden zu Grünkohl tatsächlich Silberzwiebeln?«

»Ja, sehr oft. Und wenn ich Ihnen noch länger zuhöre, kriege ich einen Heißhunger.« Doch in Wahrheit verkrampfte sich ihr Magen.

»Oje, das war nicht meine Absicht. Darf ich Sie als Dankeschön vielleicht zu einem Kaffee einladen?«

Rike war unentschlossen, doch der nächste Satz fällte die Entscheidung: »Ich würde gern mehr über Ihre Heimat erfahren.«

Nein.

»Das ist im Augenblick leider schwierig. Zu viel Arbeit auf dem Tisch. Das kennen Sie sicher. Ich wünsche Ihnen aber viel Erfolg mit dem Artikel.«

Schon als Kind hatte Rike sich ihr Gedächtnis wie ein Lagerhaus vorgestellt: ein altes, mehrstöckiges Backsteingebäude, dessen hohe Fensterläden Spuren dunkelroter Farbe aufwiesen. Oben in der Giebelspitze war eine Winde mit einem großen Kranhaken angebracht, mit deren Hilfe auch schwerwiegende Erinnerungen befördert werden konnten. Es fiel ihr nicht leicht, sich hier Zugang zu verschaffen. Umso überraschter war sie, dass die Eingangstür sich nach diesem Telefonat wie von selbst öffnete und sie eintreten konnte. Unsicher tastete sie sich in dem schummrigen Labyrinth von Gängen und Treppen voran und landete in einem Bereich, wo ihr mit jedem Schritt ein anderer Geruch in die Nase zog, ein anderer Geschmack auf die Zunge gelegt wurde. In einigen Räumen hatte sie keine Mühe sie zuzuordnen, in anderen tat sie sich schwer, ihren Ursprung zu benennen.

Das galt auch für die Bilder an den Wänden. Manche der Darstellungen waren diffus, unvollständig oder so verwittert, dass sie nur erahnen konnte, was einmal zu sehen gewesen war. Andere zeigten einen Gegenstand, zum Beispiel ein Glas mit roter Limonade, die intensiv nach Himbeeren roch und, wie ihr einfiel, nur bei Oma richtig gut geschmeckt hatte.

Beim Verlassen des Raums wäre sie fast über einen Schlittschuh gestolpert. Ein altmodisches Modell aus Holz, das sie sich als Kind mit breiten Bändern unter die Winterstiefel geschnallt hatte. Während sie nach dem zweiten Teil des Paares Ausschau hielt, sah sie sich als Mädchen, das sich nach Stunden auf dem Eis durchgefroren auf den Heimweg macht. Auch nach der langen Zeit spürte Rike das Prickeln in den fast tauben Händen, erinnerte sich an die Vorfreude auf einen Teller Grünkohleintopf mit Rookworst und Silberzwiebeln, hatte den Duft dieses Gerichts so deutlich in der Nase, als würde es dampfend vor ihr stehen.

Unschlüssig, wie sie weitergehen sollte, betrat sie einen weiteren Korridor. Der Geruch, der hier in der Luft lag, löste Übelkeit aus, und Rike hielt sich die Nase zu. Nicht umsonst machte sie seit Jahren einen Bogen um dieses Land. Als gäbe es da eine Sperre, einen unsichtbaren Elektrozaun, der ihr Schmerzen zufügte, sobald sie ihm zu nahe kam. Schnell fand sie zum Treppenhaus zurück und rannte die Stufen hinunter, bis sie den Eingang erreicht hatte. Dort holte sie tief Luft, drückte die Tür fest ins Schloss – und machte sich auf den Heimweg.

Vor dem türkischen Laden im Nachbarhaus blieb sie stehen. Die hier angebotenen Lebensmittel hatten nichts mit den Speisen ihrer Kindheit gemein, und in der Hoffnung, so auf andere Gedanken kommen zu können, betrat sie das Geschäft. Es funktionierte. Als sie an der Reihe war, bestellte sie sich eine Auswahl an Meze und ein Fladenbrot. Fest davon überzeugt, dass die Gespenster der Vergangenheit bald wieder verschwunden sein würden.

Just als sie den Hausflur betreten hatte, meldete sich ihr Handy. »Na? Abgabetermin geschafft?« Obwohl Edina sich in den USA aufhielt, klang es, als stünde sie neben ihr.

»Alles fertig.«

»Schade, dass wir nach diesem Mammutprojekt nicht zusammen feiern können. Aber das holen wir nach, sobald ich wieder da bin.« Edina zögerte. »Sonst was Neues?«

»Nach wie vor Sendepause.« Rike überlegte, ob sie Edina von ihrer Angst vor den kommenden Wochen erzählen sollte, doch sie ließ es bleiben. Ihre Freundin machte sich schon genug Gedanken und hatte als Unternehmensberaterin rund um die Uhr zu tun.

»Dieser Klerelijer. Du, mein Kollege ruft mich zum Meeting. Ich melde mich bald wieder!« Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

Klerelijer. Rike grinste. Die Russlanddeutsche Edina war als Fünfjährige mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen und mit Rike seit der 8. Klasse befreundet. Schon bald hatten die Mädchen festgestellt, dass es sowohl im Niederländischen als auch im Russischen Begriffe gab, für die im Deutschen kein echtes Pendant existierte. Klerelijer war eines der ersten Wörter, das Eingang in ihre persönliche Liste gefunden hatte. Es war eine Bezeichnung aus dem Amsterdamer Dialekt für jemanden, der sich so widerwärtig benimmt, dass man ihm eine Krankheit – in diesem Fall die Cholera – an den Hals wünschte.

Mit einem Seufzer nahm Rike die Treppe in Angriff. Seit mehr als einem Monat wurde sie den Eindruck nicht los, dass sie täglich länger und steiler wurde. Als sie den ersten Absatz erreicht hatte, erklang aus dem zweiten Stock ein Streit zwischen Tochter und Mutter, der mit einem lauten Du kannst mich mal! beendet wurde. Es folgte ein Stakkato von hochhackigen Schuhen auf Holz, bevor die fünfzehnjährige Laila grußlos vorbeiwirbelte und die Haustür ins Schloss warf.

Im dritten Stock angekommen, öffnete sich eine Wohnungstür, und Frau Steiner spähte ins Treppenhaus. »Guten Tag, Frau Kehrmann. Wie geht es dem lieben Edgar? Gefällt es ihm in Frankreich?«

Rike betrachtete die Nachbarin, deren grellrot geschminkte Lippen sich zu einem falschen Lächeln verzogen hatten. Was, um Himmels willen, sollte sie sagen? Sie musste sich zusammenreißen, nicht wortlos weiterzugehen.

»Es geht ihm gut. Obwohl es ihn natürlich anstrengt, den ganzen Tag auf Französisch zu unterrichten.«

»Das glaube ich gern. Aber er kann sich glücklich schätzen, eine so verständnisvolle Partnerin wie Sie zu haben. Grüßen Sie ihn bitte von mir.« Dann schloss sich die Tür so leise, wie sie sie geöffnet hatte.

Missmutig erklomm Rike die letzten Stufen und sperrte die eigene Tür auf. Sofort legte sich die in der Wohnung herrschende Stille wie Blei auf ihre Schultern. Seltsam, was man alles vermisste, wenn der andere nicht da war. Keiner fragte, wie der Tag gewesen sei; auch der Klang der eigenen Stimme fehlte, denn es gab niemanden, dem man etwas hätte erzählen können. Es rauschte keine Dusche, und das Radio stand stumm im Regal. Nur die eigenen Schritte waren zu vernehmen. Schritte, die lauter hallten als sonst.

In der Küche stellte sie Tasche und Einkäufe auf den Tisch. Worte des Nachbarn drangen gedämpft durch die Wand, verwandelten sich unverhofft in Edgars Stimme. Rike dreht sich um, sieht ihn wieder in der Tür stehen, hört sein zaghaftes Räuspern, dass sie vom Tomatenschneiden aufsehen lässt. »Ist was?«

»Ich möchte … mit dir über etwas sprechen.« Er reibt sich die Arme, als würde er frieren. »Ich … wollte dir sagen, dass ich mal eine Weile von hier verschwinden möchte. Ich brauche dringend eine … eine Auszeit.« Als wäre er erleichtert, diese Worte ausgesprochen zu haben, streckt er sich. »Ich möchte einfach mal Pause machen von unserer Beziehung, verstehst du? Und wie es der Zufall will, kann ich im Appartement eines Kollegen unterkommen, der eine Weile im Burgund unterrichtet.«

»Aber warum denn?« Es ist ihr nicht möglich, den Sinn seiner Worte zu fassen.

»Schau, wir hängen doch völlig fest in unserem Trott. Ein bisschen Abstand wird uns guttun.« Und während Edgar die Vorteile seiner Idee aufzählt, steht sie wie betäubt vor der Anrichte, spürt, wie sich ihr Magen zusammenzieht, und ertappt sich dabei, dass sie wider Willen nickt. Obwohl sie gar nichts versteht, alles so überraschend über sie hereinbricht und ihr die Worte fehlen.

Doch Edgar scheint diese Bestätigung zu genügen. Mit einem Mal wirkt er selbstsicher, redet schneller, kommt auf sie zu und schließt sie für einen Augenblick in die Arme. »Ich weiß, dass es etwas plötzlich kommt, aber ich glaube nicht, dass lange Diskussionen uns weiterhelfen. So ist es für beide leichter. Findest du nicht auch?«

Jetzt sieht sie, dass sein Gepäck bereits in der Diele steht, wird ihr klar, dass er alles von langer Hand geplant hat. Wieder nickt sie stumm. Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hat, geht sie wie betäubt umher, unfähig zu verstehen, was geschehen ist. Erst als sie sich an der Tischkante stößt, kommen die Tränen, und sie weint bis zur Erschöpfung.

Die Fragen, die sie sich seit diesem Tag gestellt hatte, waren immer dieselben: Bin ich nicht gut genug für ihn? Gibt es eine andere? Und wenn ja, was wird aus mir? Würde sie ihr Dasein als alte sitzengelassene Jungfer unter den mitleidigen Blicken anderer fristen, die hinter vorgehaltener Hand über sie sprachen? Die Angst davor war groß.

Ähnlich groß wie die Furcht, sich nach all den Jahren wieder ein neues Zuhause suchen zu müssen. Sie war schon so oft entwurzelt worden und hatte neu beginnen müssen.

Die Worte ihrer Mutter kamen ihr in den Sinn: Ein Mann, der so viel Sorgfalt aufwendet, die Seiten eines Abreißkalenders zu entfernen, ist in meinen Augen nicht ganz dicht. Edgar hatte die Angewohnheit sie mit Hilfe eines Messers und eines kleinen Lineals abzutrennen, damit ja nichts an der Perforierung hängen blieb. Als wollte er so vermeiden, an vergangene Tage erinnert zu werden.

Diese Macke brachte Rike aber keine Erkenntnis darüber, warum er nie hatte durchblicken lassen, was ihm bei ihr fehlte. War sie zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen? Hatte er sich nicht genug beachtet gefühlt? Sofort hatte sie Edina angerufen. Doch egal, wie überzeugend ihre Freundin dargelegt hatte, dass sie keine Schuld traf, der Schmerz, zurückgelassen worden zu sein, war allgegenwärtig.

Vor allem beim Aufwachen und beim Einschlafen. Wenn nach zeitlosen Sekunden im gedanklichen Niemandsland die Realität über sie hereinbrach, die Angst sie überwältigte, den Rest ihres Lebens allein verbringen zu müssen. Schließlich war sie sechsundfünfzig und nicht die Art von Frau, die ihr Glück über Singlebörsen suchte.

Nach und nach war ihr die Wandlung seines Verhaltens bewusst geworden: die ungewohnte Wortkargheit, seine Launenhaftigkeit, die er plötzlich an den Tag gelegt hatte. Sie hätte gern mit ihm über die Gründe gesprochen, aber er war verschwunden und hatte sich jeglicher Diskussion entzogen.

Rike öffnete das Küchenfenster zum Hof und sah zu den Mülltonnen hinunter. Dort hatte sie die Notlüge zum ersten Mal benutzt. Als eine Nachbarin sich erkundigt hatte, wo ihr Freund abgeblieben sei, hatte sie sich an diesen Kollegen erinnert, der an einer französischen Schule unterrichtete. Kurzerhand hatte sie Edgar die Rolle zukommen lassen und sich bedeckt gehalten, wie lange er dort bleiben würde. Mittlerweile kam ihr diese Lüge leicht über die Lippen. Nur Edina kannte die Wahrheit. Und bis sie selbst wusste, was Sache war, sollte das auch so bleiben.

2.

Wenn Hendrik Rhee etwas nicht leiden konnte, waren es Touristen, die glaubten, mit ihrem Fahrschein die ganze Straßenbahn erworben zu haben. Wie diese Gruppe Provinzler, die sich im Mittelgang lautstark über ein verlorenes Fußballspiel ausließ. Hendrik bedauerte, dass die Tram nicht von einem Fahrer des alten Schlags gelenkt wurde. Der hätte sie mit einer flinkzüngigen Bemerkung in die Schranken gewiesen und für Heiterkeit unter den Mitfahrenden gesorgt. Doch diese Spezies war leider vom Aussterben bedroht.

Mit erfahrenen Medizinern verhielt es sich ähnlich. Entsetzt hatte er heute feststellen müssen, dass sein langjähriger Hausarzt die Praxis an einen Knaben übergeben hatte, der gerade Abitur gemacht, die Weisheit mit Löffeln gefressen und eine Menge an seinen liebgewonnenen Gewohnheiten auszusetzen hatte. Bereits nach Minuten war er von dessen Predigt so bedient gewesen, dass er sich zusammenreißen musste, dem Knirps nicht die Meinung zu geigen. Kein Wunder, dass sein Blutdruck in astronomische Höhe geschnellt war.

Um auf andere Gedanken zu kommen, blickte er aus dem Fenster. Eine Gruppe Radfahrer fuhr bei Grün los, Linksabbieger stauten sich an der Brücke. Eine Plakatwand erregte seine Aufmerksamkeit: Neue Tango-Kurse! Melden Sie sich noch heute an! Während sie langsam an dem Foto mit tanzenden Paaren vorbeifuhren, drängten sich lang vergessene Bilder in den Vordergrund. Erinnerungen an einen schwülen Abend in Australien, der Jahrzehnte zurücklag.

Die Einladung zu diesem ungewöhnlichen Treffen hatte ihn und seine Freunde verunsichert, aber letztendlich waren alle gekommen. Anfangs standen sie verloren unter den bunten Lampions herum und nippten am Champagner, den leise umhergehende Kellner anboten. Dann hatte eine Combo zu spielen begonnen, und der Knoten war geplatzt. Bis tief in die Nacht hatten sie getanzt und gelacht – getanzt und geweint. Ein unvergessliches Erlebnis.

Als die Straßenbahn mit einem Klingeln an der Keizersgracht zum Stehen kam, hatte Hendrik einen überraschenden Entschluss gefasst. Tanzen. Ja, sie würden tanzen. Beim Aussteigen erklang das Glockenspiel der Westerkerk hoch über seinem Kopf. Automatisch passte er seinen Laufschritt der vertrauten Melodie an. Sie würden tanzen. Noch heute würde er sich darum kümmern.

Zu Hause empfingen ihn der Duft von frischem Kaffee und die Stimmen seiner Mitbewohner. Greet und Karel saßen sich am Küchentisch gegenüber, die Tageszeitung aufgeschlagen zwischen ihnen.

»Schau mal! Erinnerst du dich noch an die hübsche Tessa?« Greet zeigte auf das Farbfoto eines Gemäldes. »Die kommt jetzt als Malerin groß raus und stellt ihre Bilder in einer bekannten Galerie aus.«

»Tessa?« Hendrik nahm sich eine Tasse aus dem Regal und schenkte sich Kaffee ein. »Das sagt mir nichts.«

»Ging mir genauso«, sagte Karel. »Bei der Flut von Daans Freundinnen kann man den Überblick schon mal verlieren.«

»Jetzt übertreibst du aber. Das ist in dem Alter völlig normal.« Auf ihren Enkel ließ Greet nichts kommen.

»Wenn ich früher nur annähernd so viele Freundinnen mit nach Hause gebracht hätte wie dein Liebling, hätten mich meine Eltern in eine Besserungsanstalt gesteckt.« Karel nippte an seinem Kaffee.

»Als hättest du jemals ein Mädchen gehabt.« Greet wandte sich Hendrik zu. »Was hat Dr. Kroon gesagt?«

»Kroon praktiziert nicht mehr. Das ganze Personal wurde ausgetauscht. Bis auf Frau Schut. Die hat mir erzählt, dass der arme Mann einen Schlaganfall erlitten hat.«

»Du lieber Himmel! Gibt es einen Nachfolger?«

»Einen Minderjährigen.« Hendrik zeigte auf die dampfende Tasse vor ihm. »Einer, der schlau daherredet und der festen Überzeugung ist, dass das alles Gift für mich ist. Wenn es nach ihm ginge, war das gestrige Gläschen Portwein das letzte meines Lebens.«

»Lass dich bloß nicht von Ärzten ins Bockshorn jagen. Mal ist das eine gesund und das andere tödlich, ein halbes Jahr später haben sie es sich wieder anders überlegt. Gerade in unserem Alter sollte man sich nicht leichtfertig von seinen Gewohnheiten trennen. Das kann fatale Folgen haben.« Karel schenkte sich nach. »Soll der Typ mir mal den Niederländer zeigen, der freiwillig auf Kaffee verzichtet.«

»Vielleicht gehst du einfach öfter spazieren«, schlug Greet vor. »Regelmäßige Bewegung ist das A und O für die Gesundheit.«

»An etwas in der Art habe ich auch schon gedacht«, sagte Hendrik. »Was haltet ihr von einem gemeinsamen Tanzkurs?«

»Von einem was?« Greet sah ihn entgeistert an. »Wie kommst du denn auf die Idee? Arbeitet dieser neue Arzt mit Drogen?«

»Tanzen ist im Grunde nichts anderes als rhythmisches Spazierengehen. Und es hält angeblich jung.«

»Ein Tanzkurs … Und wer soll da deiner Meinung nach mitmachen? Zu dritt kommen wir nicht weit.«

»Tanzkurs ist vielleicht nicht der richtige Begriff. Ich dachte eher daran, einen Auffrischungskurs zu organisieren und Freunde und Bekannte dazu einzuladen. Vielleicht fallen euch auch noch Leute ein.«

»Wenn ein paar hübsche Kerle dabei sind, kann ich der Idee durchaus etwas abgewinnen«, sagte Karel.

Greet schüttelte irritiert den Kopf. »Wenn ich an meine Tanzstunden zurückdenke, habe ich picklige Jungs vor Augen. Ungelenke Typen mit verschwitzten Händen und fettigen Haaren. Das muss ich nicht noch mal haben.«

»Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass unsere Pubertät schon etwas zurückliegt?« Karel strich sich über die glatt rasierten Wangen. »Schau: zwar faltig, aber ohne Pickel.«

»Also, was jetzt? Macht ihr mit oder nicht?« Hendrik spürte, dass die Sache ihm wichtiger war, als er zunächst geglaubt hatte.

»Das ist ein Fall für den Flipper«, sagte Greet. »Aber ich sage euch gleich: Wenn ich gewinne, bin ich aus der Nummer heraus!«

Der Spielautomat, ein Schmuckstück aus den siebziger Jahren, gehörte zum Hausinventar und kam immer dann zum Einsatz, wenn sie sich nicht einigen konnten. Wer die Partie gewann, durfte entscheiden.

Bereits in den ersten Wochen ihres Zusammenlebens hatte Greet sich als Flipperqueen entpuppt. Als unterhielte sie eine geheime Allianz mit der Stahlkugel, fuhr sie Punktsiege ein, die ihre Mitbewohner sprachlos machten.

»Wollen wir doch mal sehen, ob ich das Tanzbein schwingen muss.« Sie schaltete den Kasten ein, und es dauerte nicht lange, bis der Automat dudelnd zum Leben erwachte. Der Kopfaufsatz am hinteren Ende zeigte einen Westernsaloon mit kurz berockten Animierdamen, auf dem Spielfeld stand ein schussbereiter Cowboy inmitten leuchtender Schlagtürme und Zielscheiben. »Wer beginnt?«

»Ich fange an.« Der stämmige Karel brachte sich in Stellung und schoss die erste Kugel ins Spielfeld. Wie immer spielte er mit Herz und Seele und kommentierte alles. »Aaaah … nein! Nach links habe ich gesagt, du Miststück! Jetzt mach endlich mal, was ich dir sage. Ist es zu glauben? Gleich ziehe ich dir die Ohren lang!«

»Kugeln haben keine Ohren«, sagte Greet und tauschte einen vielsagenden Blick mit Hendrik. So begabt Karel am Herd war, am Flipper war er eine Niete.

»Lenk mich nicht ab!« Schnaufend drückte er die seitlichen Knöpfe, doch es dauerte nicht lange, bis auch die dritte Kugel durch die Out-Lane rollte.

Greet sah sich das Ergebnis übertrieben genau an. »Gut, dass ich dir kein Zeugnis ausstellen muss. Bei dieser Punktzahl hieße es: Der Schüler bemüht sich redlich, aber seine Versetzung ist gefährdet.«

»Das kommt nur, weil du immer wieder dazwischenquatschst. Da kann ich mich nicht konzentrieren. Hendrik ist mein Zeuge!«

»Müde Ausreden, mein Lieber.« Grinsend zog Greet einen Schemel unter der Maschine hervor und stellte sich darauf. Dann schob sie die Ärmel hoch, schüttelte die Hände und holte tief Luft. »Aufgepasst, meine Herren!«

Langsam zog sie den Plunger. Die Kugel schoss nach vorn und bewegte sich eine gefühlte Ewigkeit zwischen den aufleuchtenden Bumpers und Slingshots. Nach dem dritten Durchgang hatte sie einen erheblichen Vorsprung auf Karel. »Sieht ganz so aus, als müsstet ihr beim Tanzen auf mich verzichten.«

»Abwarten.« Hendrik öffnete den oberen Hemdknopf und starrte auf den Cowboy unter der Glasplatte. Der Start konnte sich sehen lassen, doch dann machte seine Nervosität ihm einen Strich durch die Rechnung, und die erste Kugel verschwand in die Tiefe des Kastens.

Greet rieb sich die Hände und hob an, etwas zu sagen, doch Hendrik brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Er schloss die Augen, rief sich den besagten Abend ins Gedächtnis und dachte daran, wie wichtig es ihm wäre, auch Greet mit im Boot zu haben.

Nach einem Stoßgebet schoss Hendrik die zweite Kugel auf das Spielfeld und konzentrierte sich, als ob sein Leben davon abhinge. Diesmal klingelte das Zählwerk unablässig, schaffte er es Mal um Mal, die Kugel weiter umherflitzen zu lassen. Auch als sie direkt auf ihn zuschoss, gelang es ihm, sie nach oben zurückzubefördern und weitere Punkte zu sammeln.

»Was habe ich gesagt?«, rief Greet. »Dieser Arzt hat ihm Drogen verpasst. Normalerweise spielt er nie so gut!«

»Lass dich nicht ablenken«, raunte Karel. »Hau rein!«

Hendrik nickte, während er sich ganz auf die letzte Kugel konzentrierte. Sie bescherte ihm ähnlich viele Punkte wie ihre Vorgängerin und als sie letztendlich zwischen den Flipperfingern verschwunden war, stieß er eine Faust in die Luft: »Gewonnen!«

»Respekt!« Greet schrieb den Spielstand in das alte Heft, das auf einem Tischchen neben dem Automaten lag, und zog den Stecker. »Freu dich aber nicht zu früh. Ich glaube erst an diesen Kurs, wenn wir mit einem Tanzlehrer auf dem Parkett stehen.«

Genau darum wollte Hendrik sich gleich kümmern. Beschwingt stieg er die Stufen zu seinen Räumen hinauf. Er liebte dieses Haus. Jeder hatte seinen eigenen Bereich; die Küche und das gemeinsame Wohnzimmer waren im Parterre untergebracht.

Es war schon acht Jahre her, dass Karel sie zu einem Essen eingeladen hatte. An sich keine Besonderheit. Er war ein hervorragender Koch und hatte sie regelmäßig bewirtet. Doch an dem Abend war es anders gewesen. Karel hatte Greet und ihn zu dieser ihnen unbekannten Adresse in der Innenstadt gebeten. Auf Greets Frage, warum er schwarz gekleidet sei, antwortete er, er habe einen engen Freund verloren. Genauer gesagt seinen Lebensgefährten, der bis vor kurzem in diesem Haus gelebt hatte.

Karel war stets offen mit seiner Homosexualität umgegangen; dass er aber seit Jahren mit einem bekannten Unternehmer liiert gewesen war, hatten nicht mal sie beide geahnt. Doch dieser Mann war nicht gewillt gewesen, sich zu outen, und Karel hatte sich seinem Wunsch gefügt. Bis zu dessen Tod.

Karel hatte das Haus geerbt und überraschte sie mit dem Vorschlag, hier eine Alters-WG zu gründen. Schließlich waren sie von Kindesbeinen an befreundet. Warum nicht auch die letzten Jahre vergnügt zusammen verbringen?

Es war eine lange Nacht geworden, in der sie das gesamte Haus besichtigt, jedes Für und Wider gewissenhaft abgewogen und all ihre Wünsche und Vorstellungen offen auf den Tisch gelegt hatten. Greet hatte sie daran erinnert, wie sie sich früher mit anderen auf dem Schulhof geprügelt hatten, dann waren weitere Geschichten gefolgt: über die Zeit der deutschen Besatzung, als sie Karel geholfen hatten, unterzutauchen, wie sie Greet in den schlimmen Phasen ihrer Ehe zur Hilfe geeilt waren, und an die Freude, Hendrik nach Jahren in Australien wieder in die Arme schließen zu können.

Fünf Gänge später hatten sie alle Fragen geklärt, und ihnen war klar gewesen, dass sich an ihrer Verbundenheit seit Schulzeiten nichts geändert hatte. Auch wenn sie nun um die neunzig waren und die Lust, sich mit anderen zu prügeln, deutlich nachgelassen hatte, waren sie nach wie vor bereit, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen.

Der Pakt wurde mit Champagner aus dem gutsortierten Getränkevorrat besiegelt, bevor sie im Morgengrauen auseinandergingen. Voller Vorfreude, ihren letzten Umzug in die Wege zu leiten und das zusammenzutragen, was ihnen im Lauf ihres Lebens lieb und teuer geworden war.

Wann immer er an diese Nacht zurückdachte, spürte Hendrik großen Frieden. Denn es hatte sich bewahrheitet: Egal, was in den vergangenen Jahren passiert war, sie hatten sich stets aufeinander verlassen können.

In seinem Zimmer schien die Sonne durch die Sprossenfenster und zeichnete geometrische Muster auf das Parkett. Er ging zu der Musikanlage und setzte den Plattenteller in Bewegung. Im nächsten Moment drang die weiche Stimme Georges Moustakis aus den Lautsprechern. Lieder, deren er nie überdrüssig wurde.

Leise mitsummend setzte er sich an den Schreibtisch. Unten an der Gracht versuchte ein Fahrer, einen Wagen in eine enge Parklücke zu manövrieren. Erleichtert, dass er sich mit diesem Problem nicht mehr herumschlagen musste, nahm Hendrik sein Adressbuch aus der Schublade. Der fleckige Einband und die Eselsohren zeigten, dass er es schon viele Jahre in Gebrauch hatte. Auch am Innenleben war das Alter abzulesen. Einige Namen hatte Hendrik durchgestrichen, weil die Freunde verstorben waren, und ein Teil der Adressen war schon mehrfach aktualisiert worden.

Während er die Einträge durchging, stieg seine Vorfreude immer weiter. Es würde ihnen guttun, wieder aktiv etwas miteinander zu unternehmen. Da konnte Greet lästern, so viel sie wollte. Als er bei V angekommen war, standen bereits zwanzig Namen auf seiner Liste. Dann schlug er die Seite zu W um – und hielt inne. W wie Cisca de Wit. Auch nach sechzig Jahren stand die Frau ihm so deutlich vor Augen, als hätten sie sich erst gestern getroffen.

Unvergessen, wie er sie am Hochzeitstag seiner Schwester zum ersten Mal sah. Sie waren beide Trauzeugen. Louise hatte bereits im Vorfeld den Humor und den scharfen Verstand ihrer besten Freundin erwähnt. Doch auf das Strahlen, das von Cisca ausging, auf diese grünen Augen, die ihn leicht spöttisch anblickten, hatte sie ihn nicht vorbereitet.

Mit einem Mal war er wieder zweiunddreißig, beobachtete, wie sie das Brautpaar begrüßte und dann auf ihn zukam. Ein fester Händedruck, eine warme Altstimme. »Wir sollten zusehen, dass diese Turteltäubchen unter die Haube kommen. In letzter Zeit können sie kaum noch die Finger voneinander lassen!« Ihr ansteckendes Lachen und ihre zwanglose Art zogen ihn sofort in den Bann. Was für ein Unterschied zu seiner Verlobten! Prompt war ihm der Gedanke gekommen, dass Katrien bei einer derartigen Bemerkung missbilligend den Mund verzogen hätte. In ihren Kreisen dachte man so etwas nicht mal. Sie hätte diese Hochzeit ohnehin als ärmlich bezeichnet. In der Familie van Dongen wäre das Hilton für diesen Anlass das Mindeste gewesen. So wie man in diesen Kreisen nicht zu Abend aß, sondern dinierte.

Cisca. Hendrik stand auf und ging ruhelos umher. Was würde er dafür geben, ein letztes Mal mit ihr zu tanzen! Während er sich vorstellte, sie in den Armen zu halten, sich mit ihr zur Musik zu drehen, sang er leise den Text mit:

Nous prendrons le temps de vivre

D'être libres, mon amour

Sans projets et sans habitudes

Nous pourrons rêver notre vie

Obwohl er diesen Text bereits hunderte Male gehört hatte, schien es ihm plötzlich, als wären diese Zeilen für sie beide geschrieben worden. Wie oft hatten sie sich in den Wochen, die ihnen vergönnt gewesen waren, gewünscht, Zeit zum Leben zu haben, frei zu sein.

Ohne Pläne und Gewohnheiten

würden wir unser Leben träumen.

Ob sie noch lebte? Er hatte ehemalige Freunde von Cisca angerufen, frühere Nachbarn befragt und später im Internet recherchiert, aber es war ihm nicht gelungen, sie ausfindig zu machen. Dennoch fuhr er den PC hoch und gab ihren Namen bei einer Suchmaschine ein. Sekunden später wurde ihm ein Ergebnis angezeigt:

Francisca Kehrmann

geb. de Wit

* ‌1927 in Amsterdam – † ‌2017 in Assen

Diese Endgültigkeit traf ihn unvorbereitet. Unbewusst war er immer davon ausgegangen, Cisca eines Tages wiederzusehen und zu erfahren, warum sie so plötzlich verschwunden war. Doch es gab keine Cisca mehr. Keine Chance, ihr Lachen noch mal zu hören, die feinen Fältchen zu betrachten, die sich dabei um ihre Augen bildeten. Keine Chance, ihre Haut ein letztes Mal zu riechen, seine Nase in ihre Haare stecken zu können. Nie wieder.

Was er beim zweiten Lesen der Anzeige entdeckte, berührte ihn aber noch stärker. Unter den Trauernden stand der Name ihrer Tochter. Ein ganz besonderer Name. Er notierte sich die deutsche Adresse, die dort angegeben war. Er würde ihr sofort schreiben und diesen Brief gleich einwerfen. Damit ihn nicht das Schicksal ereilte, das den Briefen an ihre Mutter zuteilgeworden war.

3.

Zufrieden mit ihren Spontaneinkäufen – einem türkisfarbenen Leinenhemd und einem T-Shirt in Jadegelb –, betrat Rike die Buchhandlung. Sie hatte zwar genug Lesestoff zu Hause, schaffte es aber nie, hier vorbeizugehen, ohne wenigstens kurz in den Regalen gestöbert zu haben.

Eine Neuerscheinung mit reizvollem Cover weckte ihr Interesse. Neugierig, mehr über den Inhalt zu erfahren, überflog sie den Klappentext. Von der Rückseite des Romans fixierte die Autorin sie mit herausforderndem Blick. Rike fragte sich, ob ein Foto existierte, auf dem sie ebenfalls so selbstbewusst in die Welt sah. Ein Blick in die Vita ergab, dass die Autorin im Orwell-Jahr geboren war. Das Jahr, in dem Rike erste berufliche Schritte gemacht hatte. Zwölf Monate, die anfangs voller Zuversicht gewesen waren, doch mit der Auflösung ihrer Wohngemeinschaft und dem Einzug in eine triste Einzimmerwohnung geendet hatten. Auch in den darauffolgenden Jahren waren dramatische Wendungen nie Mangelware gewesen. Aber eine Phase, in der sie mit einem Was-willst-du-denn-Ausdruck in die Kamera des Lebens geschaut hatte, fehlte ihr bislang.

Ihre Freundin Edina beherrschte Blicke dieser Art meisterlich. Mit ihrem Lächeln wirkten sie zwar weniger provokativ, büßten jedoch nichts von ihrer Intensität ein. Gleichzeitig hatte sie Edinas eindringliche Bitte nach Edgars Verschwinden wieder im Ohr: »Versuch deine Schockstarre abzustreifen und zeig ihm – und auch dir –, wer du bist, Rike. Wenn er glaubt, eine Auszeit zu brauchen, bitte sehr. Das ist aber kein Grund für dich zu versauern, bis er wieder vor der Tür steht!«

Bisher hatte sie diesen Rat als Bedrohung empfunden. Doch heute spürte sie erstmals, wie ihre Lebensgeister zurückkehrten und eine Welle der Zuversicht sie erfasste. Edina hatte recht. Sie stand mit beiden Beinen fest im Leben, und es lagen drei freie Wochen vor ihr. Sogar vier, wenn sie wollte. Die sollte sie nicht damit verbringen, auf bessere Zeiten zu warten, sie sollte ihre Koffer packen und wegfahren. Doch wohin?

Sie legte das Buch zurück und wandte sich den Reiseführern zu. Vor einem der Regale hatte die Buchhändlerin eine Staffelei mit einem gerahmten Foto der bretonischen Granit-Küste aufgestellt. Eine faszinierende Landschaft mit großen, bizarr geformten Felsblöcken, an denen sich die Fluten des Atlantiks brachen und die im Sonnenuntergang rosa glühten. Je länger sie das Bild betrachtete, umso klarer stand ihr das Reiseziel vor Augen.

Als Studentin war sie einmal dort gewesen und hatte sich geschworen, wiederzukommen. Zuerst war das an ihrem Geldbeutel gescheitert, später an Edgars Unlust. Immer wieder hatte er Gegenvorschläge gemacht, und sie hatte klein beigegeben.

Es war eine seltsame Verkettung der Umstände gewesen, die sie mit Edgar zusammengebracht hatte: Ein plötzlich aufziehendes Unwetter hatte Edina und sie zusammen mit anderen Gästen von der Terrasse ins Innere eines Restaurants getrieben. Als klar geworden war, dass Regen und Sturm nicht so schnell weiterziehen würden, hatte man sich an den freien Plätzen im Lokal verteilt, und so hatten sie Edgar und seine Kollegen kennengelernt und einen netten Abend mit ihnen verlebt.

Es war nicht bei dieser einen Begegnung geblieben, und auch wenn Rike nie das Gefühl gehabt hatte, Edgar sei die vielbesungene große Liebe, waren sie vor zwölf Jahren zusammengezogen. Bei ihm hatte sie die Beständigkeit gefunden, die sie ihr Leben lang vermisst hatte, und sie war stets der Meinung gewesen, ihre Beziehung verfüge über eine solide Basis. Bis sie nun eines Besseren belehrt worden war. Doch das sollte sie nicht daran hindern, ihren Traum diesmal in die Tat umzusetzen. Sie würde sich um die Reise kümmern, bevor der Mut sie wieder verließ!

Ein Zitat ihrer Mutter kam ihr in den Sinn: Die schlimmsten Momente in meinem Leben begannen mit den Worten ›Scheiß drauf, ich mach das jetzt einfach!‹ Die schönsten aber auch.

Auf dem Weg nach Hause ließ Rike den damaligen Urlaub Revue passieren. Sie war mit Freunden auf einem kleinen Campingplatz gelandet und hatte es sehr bedauert, nicht das Geld zu haben, eines dieser hübschen Steinhäuser mieten zu können. Doch das würde sie nun nachholen. Vielleicht hatte sie Glück und fand sogar eine Bleibe direkt am Meer.

Während sie an einer roten Ampel wartete, schrieb sie Edina in kurzen Sätzen von ihrem Plan. Sie fügte der Nachricht einige Wellen-, Sonnenschirm- und Sonnenuntergangs-Icons hinzu und verschickte sie. Beim Überqueren der Straße nahmen ihre Reisepläne Form an: Sie könnte nach Paris fliegen und von dort mit einem Leihwagen weiterfahren. Dann wäre sie flexibel, und auch einem abgelegenen Strandhaus stünde nichts im Weg. Schon die Aussicht, stundenlang an der Flutlinie entlangzulaufen oder einfach nur dazusitzen und den Wellen zuzuschauen, verlieh ihr Flügel.