Die Ketzer von Narbonne - Catherine Jinks - E-Book

Die Ketzer von Narbonne E-Book

Catherine Jinks

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Bekenntnisse eines Spions der Inquisition Südfrankreich, im frühen 14. Jahrhundert. Vor vielen Jahren war der Pergamentmacher einmal Spion im Dienste der Kirche. Nun führt er ein ruhiges Leben in Narbonne – bis ihn die Vergangenheit einholt. Helié bleibt keine andere Wahl, als sich der Macht seines alten Lehrmeisters zu beugen, der ihn noch einmal in die Dienste der Inquisition zwingt. Er soll das mysteriöse Verschwinden eines Mannes aufklären, der die Machenschaften einer neuen Sekte auskundschaftete. Schnell verstrickt sich Helié dabei immer tiefer in ein Netz aus Betrug, Täuschung, Ketzerei und Mord. Und irgendwann muss er sich selbst die Frage stellen, wem sein eigener Glaube und Gehorsam gelten ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 401

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Catherine Jinks

Die Ketzer von Narbonne

Aus dem Englischen von Gabriele Weber-Jarić

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die Bekenntnisse eines Spions der Inquisition

 

Südfrankreich, im frühen 14. Jahrhundert. Vor vielen Jahren war der Pergamentmacher einmal Spion im Dienste der Kirche. Nun führt er ein ruhiges Leben in Narbonne – bis ihn die Vergangenheit einholt. Helié bleibt keine andere Wahl, als sich der Macht seines alten Lehrmeisters zu beugen, der ihn noch einmal in die Dienste der Inquisition zwingt. Er soll das mysteriöse Verschwinden eines Mannes aufklären, der die Machenschaften einer neuen Sekte auskundschaftete. Schnell verstrickt sich Helié dabei immer tiefer in ein Netz aus Betrug, Täuschung, Ketzerei und Mord. Und irgendwann muss er sich selbst die Frage stellen, wem sein eigener Glaube und Gehorsam gelten ...

Über Catherine Jinks

Catherine Jinks, geboren 1963 im australischen Brisbane, hat mittelalterliche Geschichte studiert und arbeitete als Journalistin, bevor sie begann, historische Romane zu schreiben.

Inhaltsübersicht

Ich danke John ...Für Sebastian Ritscher, ...Auszüge aus dem ...I. Donnerstag nach EpiphaniasII. Freitag vor SeptuagesimaIII. FastnachtsdienstagIV. Erster Tag der FastenzeitV. Letzter Tag der FastwocheVI. Montag, Pierre Olivis TodestagVII. Montag, Festtag des heiligen BenediktVIII. Dienstag vor Beginn der Heiligen WocheIX. Mittwoch vor der Heiligen WocheX. Donnerstag vor der Heiligen WocheXI. Freitag vor der Heiligen WocheXII. PalmsonntagXIII. Montag der Heiligen WocheXIV. Dienstag der Heiligen WocheXV. Tag vor GründonnerstagXVI. Gründonnerstag (vormittags)XVII. Gründonnerstag (abends)XVIII. KarfreitagXIX. Karfreitag (Fortsetzung)XX. Ostersonntag (frühmorgens)XXI. Ostersonntag (mittags)XXII. Ostersonntag (nachmittags)Auszüge aus dem ...Anmerkung der Autorin

Ich danke John O. Ward, Trish Graham, Andrew Hellen und Margaret Connolly.

Für Sebastian Ritscher, ohne den es dieses Buch nicht gäbe

Auszüge aus dem Tagebuch des Helié Bernier aus Verdun-en-Lauragais (alias Helié Seguier aus Carcassonne)

 

1321

I. Donnerstag nach Epiphanias

Das hier ist ein guter Ort, den ich mir sorgfältig ausgesucht habe. So lange ich an diesem Fenster sitze, kann sich niemand unbemerkt meinem Haus nähern.

Umgeben bin ich von Menschen, die ich kenne, auf der Rückseite wird der Hof meines Hauses von der Stadtmauer begrenzt, und von der Westseite her blickt man eine Gasse hinab, die «Stumpfweg» heißt, weil sie wie eine amputierte Gliedmaße aussieht.

Von meinem Fensterplatz aus kann ich den gesamten Stumpfweg überblicken, ebenso ein Stück der Rue de Sabatayre, die sich dahinter erstreckt. Auf Fremde trifft man hier nur selten, und weil es in der Nähe keine Hospize gibt, kommen auch kaum Pilger vorbei. Die Seeleute und Fischer wiederum halten sich lieber in Villeneuve auf, und auch der Alte Markt liegt weit genug entfernt.

Die meisten der Gesichter, auf die mein Blick während des Tages fällt, sind mir also bekannt.

Das da hinten gehört beispielsweise meinem Mieter Hugues Moresi. Er zieht eben los, um Wein zu kaufen, und wenn er zurückkehrt, wird er betrunken sein. Dann schlägt er seine Frau, und ich tue, als bekäme ich davon nichts mit. Bei der Frau am Brunnen handelt es sich um meine Nachbarin von der Südseite. Zwar kann ich ihr Gesicht nicht sehen, dafür jedoch ihr Gewand in Genueser Rot und den Umhang mit der grünen Kante. Sie spricht mit ihrem Mann, der vor kurzem in einer Mühle oder einem Bäckerladen war (an seinen Stiefeln haften Mehlspuren).

Der einzige Fremde weit und breit entfernt sich in Richtung der Rue de Sabatayre. Er geht wie jemand, der sich nicht oft unter Menschen bewegt, mit dem ausholenden Schritt eines Bauern, den er mit Trippelschritten unterbricht, wenn er den leichtfüßigeren Passanten ausweichen muss. Sein Hemd sieht aus, als käme es aus Barchinone, denn im Stoff kreuzt sich der scharlachrote Faden mit einem in sattem Kirschrot. Demnach dürfte der Mann aus dem Westen stammen.

Dieser Mann ist also ein Fremder – doch Armand Sanche ist er nicht, denn Armand Sanche würde ich sogar von hinten erkennen. Ich habe ihn heute gesehen und wusste sogleich, wer er war, selbst wenn sein Haar mittlerweile grau ist und ihm die Nase gebrochen wurde.

Auch er erkannte mich und zuckte zusammen. Seine Augen weiteten sich, dann wandte er den Kopf ab. Anschließend rannte er wie ein Hase über die nächstbeste Seitengasse davon. Ich konnte nicht feststellen, ob er sich in Narbonne lediglich zu Besuch aufhält oder inzwischen hier wohnt. Sein Mantel war aus dem braunen Stoff gefertigt, für den Narbonne berühmt ist, doch wiederum lässt sich der Stoff inzwischen überall erstehen. Man könnte in Sizilien leben und sich trotzdem wie ein Bürger aus Narbonne kleiden.

Was hat Armand hier zu suchen? Er wollte nicht gesehen werden und hatte offenkundig Angst vor mir, also muss er sich auf der Flucht befinden. Vielleicht ist er aus einem Gefängnis geflohen und wurde dazu verurteilt, ein gelbes Kreuz zu tragen, das er sich von der Kleidung gerissen hat. Vielleicht hat er im Austausch für seine Freiheit versprochen, einige seiner ketzerischen Gefährten aufzuspüren und gefangen zu nehmen. Dieses Versprechen hat er offenbar nicht gehalten. So viel war ihm jedenfalls vom Gesicht abzulesen.

Vielleicht war es ihm sogar gelungen, den Inquisitoren zu entkommen.

Das bezweifle ich jedoch, denn er ist von jeher ein Narr gewesen. Ich entsinne mich noch unserer letzten Begegnung, die inzwischen zwölf Jahre zurückliegt. Es war bei Prunet, so um die Lichtmess, und wir schliefen in einem Stall bei den Schafen und Rindern, zum einen wegen der Wärme und zum anderen, weil wir uns versteckt halten mussten. Armand war eine leichtgläubige Seele, die der Vernunft entsagt hatte, um Pierre Autier zu folgen, dem berühmten Priester der ketzerischen Katharer. Und ich imitierte ihn, so gut es ging.

«Helié», begann er, als wir im Stroh lagen und zu zweit mit einer dünnen Decke zurechtzukommen versuchten. «Hast du gehört, wie die Vollkommenen über böse Geister reden?»

«Viele Male», erwiderte ich. Tatsächlich zählen die bösen Geister zu den Lieblingsthemen der Katharerpriester, die man auch Vollkommene oder perfecti nennt, denn sie essen kein Fleisch, tragen ärmliche Kleidung und führen ein keusches Leben, das sie dann als «vollkommen» bezeichnen.

«Pierre Autier sagt, die Luft sei voll von bösen Geistern, die danach trachten, gute Geister zu verbrennen», fuhr Armand auf seine umständliche Art fort. «Und deshalb ist ein guter Geist, wenn er einen Toten verlässt, darauf aus, einen anderen Körper, der ihm als Heimat dient, zu finden. Denn da können die bösen Geister ihn weder quälen noch verbrennen.»

«Ja, gewiss», sagte ich gähnend. «Aber worauf willst du eigentlich hinaus?»

«Nun, was ist, wenn es draußen kalt ist, so wie jetzt? Erfriert da ein guter Geist nicht eher, als dass er verbrennt?»

An derartige Fragen war ich bei Armand gewöhnt. Ich hütete mich jedoch, abfällig zu lachen oder ihn gar zu verspotten, und verkniff mir sogar den Hinweis, dass er den Lügen der Vollkommenen eines Tages seinen Tod verdanken würde. Ich sagte lediglich: «Besser, du erkundigst dich bei Pierre Autier nach den guten Geistern, wenn du ihn das nächste Mal triffst.» Anschließend hauchte ich auf meine Finger, die mir wie zehn Eiszapfen vorkamen, farblos und taub.

Ich glaube nicht, dass Armand Pierre Autier jemals wiedergetroffen hat. Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg nach Villemur, um seinen Vetter zu suchen (der ebenfalls ein flüchtiger perfectus war), und ich begab mich in Richtung Süden, auf der Suche nach Pierre Autier. Er war es nämlich, auf den ich es in jenem Jahr abgesehen hatte, wohingegen einfältige Gläubige wie Armand mich nur am Rand interessierten. Armand war eine Elritze im Vergleich zu dem Wal namens Pierre Autier – mag sein, dass er auch gleich einer Elritze dem Fangnetz entschlüpft ist, doch das entzieht sich meiner Kenntnis. Autier jedoch war gerissen, ihn verfolgte ich bis Belpech, wo ich ihn meinem Dienstherrn in die Arme trieb. Als ihn in jenem Sommer der Tod ereilte, war ich auf dem Weg in die Berge, doch ich weiß, dass Pierre Autier verbrannt wurde. Was das Schicksal seiner zahlreichen Beschützer und Anhänger betraf – darüber wurde ich nicht unterrichtet.

Mit Sicherheit weiß ich nur, dass Armand Sanche sich inzwischen in Narbonne befindet. Er ist hierhergekommen und will nicht, dass man ihn erkennt. Mir soll es recht sein, denn auch ich möchte unerkannt bleiben. Wahrscheinlich hält er mich für einen Flüchtigen, ebenso wie er einer ist. Er würde meinen Namen dem Erzbischof nicht offenbaren, ebenso wenig wie ich den seinen. Also muss mich das, was er vorhat, nicht kümmern.

Was mir jedoch Sorgen macht, ist sein mangelnder Verstand. Denn was immer er unternommen hat, um seine Freiheit wiederzuerlangen (oder zu bewahren), wird er nicht lange für sich behalten, dessen bin ich mir gewiss. Eines Tages wird man ihn fassen, und dann wird er ein Geständnis ablegen, und bei irgendeinem der Verhöre wird unweigerlich mein Name fallen. Wie auch nicht? Dann könnte die Tarnung, die ich so sorgsam aufrechterhalte, Stück für Stück zu bröckeln beginnen, und falls diejenigen, die mich entlarven, ungeschickt verfahren, sind meine Pläne dahin. Es könnte daher sein, dass ich weiterziehen muss, bevor man auf mich aufmerksam wird.

Doch vorerst werde ich mir jeden Fremden auf der Straße merken, jede Nachfrage und jedes Ereignis, die mir sonderbar oder ungewöhnlich erscheinen. Leider ist mein Gedächtnis nicht mehr das, was es einmal war, sodass ich mich zukünftig besser wieder verhalte wie früher. Mit anderen Worten: Ich muss wieder einmal die vielen, winzigen Puzzlestückchen zusammensetzen, die sich vor meinen Augen ausbreiten.

II. Freitag vor Septuagesima

Gerade bin ich aus dem Stadtturm zurückgekehrt, wo ich die Nacht im erzbischöflichen Gefängnis zugebracht habe.

Wie es aussieht, haben sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet. Armand Sanche, dieser Narr, hat vor dem Inquisitor von Carcassonne ein Geständnis abgelegt. Und nun muss ich für seine Dummheit büßen.

Als die Vorladung zugestellt wurde, war ich im Keller dabei, mit einem Stock nasse Ziegenhäute aus einem der großen Kessel zu heben. Zunächst hörte ich nur, wie mein Lehrling jemanden durch die Vordertür einließ. Doch danach wusste ich sogleich, dass ich in Schwierigkeiten war, denn den Besuch eines Priesters von Saint-Sebastien hatte es bislang nicht gegeben, selbst wenn ich dort dreimal im Jahr zur Beichte gehe. Auch die Almosen, die ich spende, sind nicht so großzügig bemessen, dass es einer persönlichen Aufwartung bedürfte.

Dennoch erkannte ich die Stimme von Anselm Guiraud, einem der Kanoniker, der nach mir fragte. Und als mein Lehrling entgegnete, er müsse mich erst holen, fiel eine andere Stimme ein, eine Stimme mit einem katalanischen Akzent. «Sag deinem Herrn, er habe unverzüglich zu erscheinen, sonst wird er ohne Umschweife exkommuniziert.»

Zum Glück kann ich sagen, dass meine Fähigkeiten mich noch nicht gänzlich im Stich gelassen haben, denn meine Glieder reagierten schneller als mein Verstand. Eilig verriegelte ich die Tür, die meinen Keller von der Werkstatt trennt. «Einen Moment, wenn Ihr erlaubt!», rief ich, während ich das Schreiben meines Herrn und Meisters hervorzog. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass ich mich just in dem Raum aufhielt, in dem es normalerweise verborgen liegt – ich musste lediglich ein Fass zur Seite schieben und die Steinplatte darunter anheben. «Lasst mich nur noch diese Ziegenhaut aufhängen.»

Beim Anblick des Fasses könnte man sich fragen, wie es kam, dass ich es überhaupt zur Seite schieben konnte. Die Wahrheit ist, dass dieses Fass ein wenig unterhalb der Öffnung einen doppelten Boden besitzt, und wenngleich es bis obenhin mit Kalklösung gefüllt zu sein scheint, enthält es davon nur einen Eimer voll. Folglich lässt es sich im Handumdrehen verschieben, selbst wenn man wie ich von kleiner Statur ist und keineswegs mehr in der ersten Jugendblüte steckt. Der Katalane hatte kaum begonnen, die ersten Einwände zu erheben, als ich bereits die Tür entriegelte. Das Schreiben war sicher in meiner Kleidung verstaut, das Fass wieder an seinem gewohnten Platz.

«Oh», bemerkte der Katalane, als ich vor ihm auftauchte. «Seid Ihr Helié Seguier, der Pergamentmacher?»

«Der bin ich», gab ich zur Antwort.

«Dann wünscht man, dass Ihr im Stadtturm erscheint.» In Anbetracht der kleinen Brandmale auf Gesicht und Händen musste der Katalane einst Kerzenmacher oder vielleicht auch Küfer gewesen sein. Er hatte noch weitere Narben, und zwar solche, die seine Handgelenke umschlossen und von Eisenfesseln zeugten. Mit derartigen Narben kenne ich mich aus. Ebenso deutlich wie ein Eintrag in einem Strafregister verrieten sie mir, dass der Katalane ein Nuntius oder Bote im Dienst seines früheren Kerkermeisters war. Mit anderen Worten: Er war ein Ketzer gewesen, der nun dem falschen Glauben abgeschworen hatte und zum Lakaien der Inquisition geworden war.

Für ihn war ich jedoch ein Fremder, und dafür war ich dankbar.

«Dies ist eine gerichtliche Vorladung des Bruders Jean de Beaune, dem Inquisitor von Carcassonne», erklärte der Kanoniker und überreichte mir ein Dokument, das auf Latein verfasst war. Da ich kein Latein kann, reichte ich es umgehend zurück. «Wie Ihr seht, trägt es sein Siegel.»

«Ihr solltet Eure Frau unterrichten», sagte der Katalane. «Anschließend kommt Ihr mit.» Er warf einen kurzen Blick auf meinen Lehrling.

«Ich habe weder Frau noch Kinder», entgegnete ich und wandte mich zu Martin um. Der Junge wirkte tatsächlich verängstigt wie ein Sohn, der zusieht, wie sein Vater festgenommen wird. Seine Treue und Zuneigung hatte ich mir dank eines recht einfachen Mittels erworben.

Martins Vater ist nämlich Hugues Moresi, ein Schuhmacher, der sein Handwerk versteht, seine Geschäfte ehrlich betreibt und ein guter Mieter ist. Doch innerhalb seiner Wohnung ist er ein Mann der Faust. Die Art, in der er seine Frau und die anderen Kinder straft, geht mich nichts an, doch dass er sich an meinem Lehrling vergreift, nehme ich nicht hin, denn für ihn habe ich bezahlt. Und das nicht schlecht.

Vor drei Wochen habe ich die Dinge klargestellt. Seitdem taucht Martin in der Werkstatt nicht mehr mit aufgeplatzter Lippe oder Blutergüssen unter den Augen auf, und folglich werfen meine Kunden mir auch keine Seitenblicke mehr zu – und unterlassen witzige Bemerkungen, nach denen Prügel frisch und munter machen.

Wie dankbar mir Martin war, wurde ersichtlich, als er erbleichend verfolgte, wie der Katalane mich aus meinem Haus dirigierte.

«Du musst noch die restlichen Häute aufhängen», rief ich zurück. «Denk auch daran, die Tür und Fensterläden zu verriegeln.»

«Ja, Meister.»

«Danach begibst du dich nach oben und schabst die Häute weiter ab. Wenn es dämmert, gehst du nach Hause. Hast du verstanden?»

«Ja, Meister.»

«Ich komme wieder. Hab keine Angst.»

Die letzte Aufforderung war zwecklos. Wenngleich ich mich in Sicherheit wusste, verschwieg ich Martin die Gründe, die zu meinem Selbstvertrauen führten. Folglich sah er meinem Aufbruch zu, als rechne er damit, mich nie mehr wiederzusehen.

Von meinem Haus bis zum Stadtturm ist es nicht allzu weit. Auf dem Weg kamen wir an Saint-Sebastien vorbei, wo der Kanoniker mir einen stummen Abschied entbot. Der Segen, den er mir erteilte, wirkte fahrig, als wisse er nicht recht, was er von mir halten solle. Nachdem er verschwunden war, ergriff der Bote meinen Ellbogen. Er war mit einem großen Messer bewaffnet, das er an sichtbarer Stelle trug, und besaß einen festeren Griff, als ich ihm zugetraut hätte.

Dabei dachte ich nicht im Entferntesten daran zu fliehen. Ich wusste, dass mir nichts geschehen würde – vorausgesetzt, ich ließ Jean de Beaune nicht zu lange warten. Allerdings war ich ihm noch nie begegnet. Er wurde um die Zeit ernannt, als ich Toulouse verließ, sodass sich unsere Pfade bisher noch nicht gekreuzt hatten. Seiner Anwesenheit in Narbonne war ich mir allerdings bewusst, denn einen Inquisitor nicht im Visier zu haben, zahlt sich bekanntlich nicht aus. Selbst in der stillen Ecke der Stadt, in der ich lebe, hatte ich von den Ketzerverfahren, die allenthalben stattfanden, gehört. Sie hatten einiges an Staub aufgewirbelt, denn von Rechts wegen hätten sie von unserem Erzbischof aufgenommen und unter seinem Vorsitz durchgeführt werden müssen. Stattdessen war Jean de Beaune damit betraut. Er hatte den ganzen Weg von Carcassonne hierher zurückgelegt, um das Vorrecht der Bürger von Narbonne mit Füßen zu treten und die Gelehrten vor den Kopf zu stoßen, die zusammengerufen worden waren, um ihm zur Seite zu stehen.

Daher befürchtete ich, dass Jean de Beaune zu beschäftigt sein könnte, um mich umgehend zu befragen.

«Wo hält sich Jean de Beaune heute auf?», erkundigte ich mich bei meinem Begleiter. «Ist er im Palast des Erzbischofs? Oder in der Priorei der Dominikaner?»

«Woher soll ich das wissen?», erwiderte der Katalane, woraufhin mir klarwurde, dass er nicht unbedingt zu den Klügsten zählte. Ein kluger Gefangenenwärter gibt sich freundlich und versucht auf diese Art, das eine oder andere herauszufinden. Der Katalane dagegen hatte nur seinen Selbsterhalt im Sinn.

Also ließ ich sämtliche Hoffnungen auf ein Gespräch fahren und mich wie ein Lamm zum Gefängnis führen.

Bis dahin hatte ich mit dem erzbischöflichen Gefängnis noch keine Bekanntschaft gemacht. Wahrscheinlich könnte man den Turm als murus largus bezeichnen, denn er war recht klein, überfüllt und nicht mit Einzelzellen ausgestattet. An solchen Orten wandern die Gefangenen nach Belieben umher, schlafen dort, wo sich ihnen Platz bietet, und empfangen zu jeder Zeit Besucher. Ganz anders sind dagegen die Gefängnisse, die die Inquisition in Toulouse und Carcassonne unterhält. Dort findet man Zellen, in denen gewisse Gefangene eingesperrt und an die Wand gekettet werden. Nicht jedoch im Stadtturm, wo die Insassen, die in Ketten liegen, immer noch umherschlurfen können, wenn auch nur langsam und auf beschwerliche Weise. Auch halte ich die Wärter und Sergeanten hier für im höchsten Maße bestechlich und konnte, als ich in ihrer Obhut war, verfolgen, dass sie nicht nur für Nahrung und Wein Geld entgegennahmen, sondern auch, um Frauen einzulassen. Darüber hinaus musste ich für das Privileg, von schweren Ketten verschont zu bleiben, bezahlen.

Vorsorglich hatte ich mich reichlich mit Münzen eingedeckt, die ich dem Wärter unverzüglich überreichte. Im Gefängnis hat es nämlich keinen Sinn, das Geld bei sich aufzubewahren. Falls man nicht ohnehin von dem Wärter gezwungen wird, es ihm auszuhändigen, wird es einem während man schläft von den Mitgefangenen geraubt. Weil ich das wusste, bot ich dem Wärter bereits auf der Gefängnisschwelle eine hübsche Summe an und wurde daraufhin mit einer Großzügigkeit behandelt, die dem abgelieferten Betrag aufs kleinste entsprach.

Ich erhielt sogar eine Decke, denn im Gefängnis war es bitterkalt. Ein Feuer zu entfachen, ist eher nicht erlaubt, und die dicken Steinmauern sind ausnahmslos feucht, außerdem zieht es unbarmherzig durch jede Ritze und Luke. Auch ohne die Ketten oder sonstige Hemmnisse hockte ich mich zuletzt ergeben auf einen Fleck, hüllte mich in meine schmierige Decke und blies Dampfwolken in die stinkende Luft. Wie meine Mitgefangenen suchte auch ich die Nähe anderer Körper, um mich an ihnen zu wärmen. Einsamkeit ist nicht unbedingt ersprießlich, wenn einem das Blut zu Eis gefriert.

Auf die Weise lernte ich meinen ersten Begarden kennen.

Zahlreiche Nächte habe ich mit gefangenen Ketzern verbracht, doch in der Vergangenheit handelte es sich dabei stets um Katharer, die ihr Leben lang gejagt worden waren. Ich glaube, das Ketzerische steckt den Katharern im Blut, schließlich wird ihnen von Geburt an erklärt, dass die Priester ihre Feinde sind und die Kirche das Tor zur Hölle darstellt. Geschichten, die von Märtyrern handeln, nehmen sie mit der Muttermilch auf. Mit ihrem Schicksal haben sie sich abgefunden, selbst wenn sie sich zuweilen als stolz und hoffärtig erweisen. Widerstand und Aufbegehren wird man unter ihnen nur noch selten antreffen. Derartige Zeiten sind vorbei, denn ihr Ketzertum reicht weit in die Vergangenheit zurück und hat in der Gegend, der ich entstamme, tiefe Wurzeln geschlagen.

Die Begarden sind anders geartet, zumindest leitete ich das aus dem Verhalten desjenigen ab, den ich kennenlernte. Wir hockten zitternd in einem eiskalten Gang und tauschten ein paar Worte aus. Er verriet mir seinen Namen und ich ihm denjenigen, den ich zurzeit trage. Er wurde Pons genannt und redete nach einer Weile unaufhörlich. Ich konnte seine Dummheit kaum fassen, denn er kannte weder mich noch meine Pläne. (Immerhin hätte er mich für einen Spion halten können, der eingeschleust worden war, um seine Geheimnisse zu erfahren.) Doch er war leidenschaftlich in seinem Glauben, gewohnt, sich in Reden zu ereifern, und überdies voller Furcht. Vielleicht versuchte er sich auch lediglich von seinem Elend abzulenken.

Doch ganz gleich, welche Gründe ihn bewegten, er versorgte mich mit den jüngsten Nachrichten über das derzeitige Ketzerverfahren – das zufällig sein eigenes war. In der Regel finden derartige Verfahren im Geheimen statt, doch das Geschehen dieses speziellen ist offenbar zu gewissen Kreisen durchgedrungen und das dank der heftigen Auseinandersetzung, zu der es unter den Richtern kam. Pons beschrieb mir all das in epischer Länge und Breite. Augenscheinlich waren er und etliche seiner Gefährten angeklagt, eine Doktrin verbreitet zu haben, nach der Christus und seine Jünger besitzlos waren, sowohl einzeln als auch in der Gruppe. Diese Auffassung wiederum wurde von Jean de Beaune als ketzerisch verdammt. Einer der Experten, die zusammengekommen waren, um die gefangenen Ketzter zu richten – ein Vorleser der Priorei der Franziskaner hier in Narbonne –, hatte einen Einwand geltend gemacht. Er hatte erklärt, eine solche Überzeugung sei mitnichten als anfechtbar zu bezeichnen, sondern vielmehr ein Glaube, der in dem Dekret Exiit qui seminat als orthodox definiert worden sei.

«Und nun hat dieser Teufel Jean de Beaune ihm befohlen, seine Aussage zu widerrufen», klagte Pons. «Obwohl ihre Wahrheit doch unumstößlich ist. Es ist nicht zu fassen!»

«Mag sein», entgegnete ich, wenngleich ich das Ganze für mehr als ersichtlich hielt. Zwar wusste ich wenig über die Ketzerei der Begarden oder die der weiblichen Beginen, doch man müsste schon taub und blind sein, um nicht zu erkennen, dass Christi Armut kein Gesprächsthema für die Öffentlichkeit ist. Noch vor drei Jahren wurden in Marseille drei Franziskanermönche verbrannt, die zu eisern an ihrem Glauben an die heilige Armut festgehalten hatten. Seither sind aus den mehr oder weniger gleichen Gründen in Narbonne drei weitere Menschen auf dem Scheiterhaufen gestorben.

Beinah muss man annehmen, Jean de Beaune habe sich einen Scherz erlaubt, als er einen Franziskaner in den Kreis seiner Richter berief. Immerhin gibt es zahllose Franziskaner, die noch immer dem Gedanken an die kirchliche Armut anhängen, und das ungeachtet der ablehnenden Haltung, die der Papst in diesem Punkt einnimmt. Gibt es einen besseren Weg, einem Ketzer auf die Schliche zu kommen, als ihn sich offiziell mit eigener Zunge verdammen zu lassen?

Ich beschloss jedoch, taktvoll zu sein, und sagte: «Euer Franziskaner ist ein tapferer Mann.» Daraufhin wurde mir ein Sermon zuteil, in dem es um aufrechte Christen und verlogene Anhänger des Antichrists ging und um die Gründe, weshalb die Mönche des heiligen Domenikus an den Brüsten der Hure von Babylon saugen. Es gab einmal eine Zeit, in der ich mir jedes Wort sorgfältig gemerkt hätte, um es nachher unter Eid wiederholen zu können. Pons jedoch hatte Glück. Das meiste von dem, was er sagte, beachtete ich nicht. Die Wahrheit ist, dass ich allmählich eindöste, während er sich weiterhin über die Regel des heiligen Franziskus verbreitete und darlegte, weshalb sie mit dem Wort Christi identisch sei.

Als ich Stunden später erwachte, war es dunkel geworden. Selbst Pons war inzwischen eingeschlafen. Ein Gefängnis bei Nacht ist ein trostloser Ort, denn in der Stille ist jeder Seufzer und Schluchzer, jedes Stöhnen deutlich vernehmbar. Mir fiel ein, dass ich vor langer Zeit, als ich im Gefängnis von Toulouse lag, gegen meine Panik ankämpfte und mir die Ratten vorstellte, die in der Finsternis näher kamen. Das war natürlich vor der Ankunft meines Herrn und Meisters gewesen, doch die Erinnerung trug kaum dazu bei, mir die Nacht im Turm angenehmer zu gestalten.

Am Morgen kam mir der Gedanke, dass ich allmählich zu alt wurde, um mich im Gefängnis aufzuhalten. Jedenfalls machten mir in jüngeren Jahren weder steife Glieder noch schmerzende Gelenke zu schaffen, ganz gleich, wie unbequem ich untergebracht war. In den vergangenen fünf Jahren habe ich mich jedoch an weiche Betten und gutes Essen gewöhnt. Meine Ausdauer ist mir abhandengekommen.

Vielleicht sollte ich meinen Körper wieder kräftigen, nun, da Jean de Beaune mich aufgespürt hat.

Jean de Beaune wiederum erschien am Nachmittag, gleich nach der Nona. Die Glocken von Saint-Sebastien läuteten, als ich in den Raum der Gefängniswärter gebracht wurde. Dort wartete ich eine Weile allein und betrachtete die Nussschalen, Obstkerne, alten Stiefel, Lumpenhaufen, leeren Fässer und angeschlagenen Möbel, mit denen die Wärter sich offenkundig umgaben. Als ich mich langsam fragte, ob man auch mich zurückgelassen hatte, auf dass ich wie ein Apfelbutzen verfaule, tauchte Jean de Beaune mit einem Mal auf, begleitet von dem Boten, der mich am Vortag abgeholt hatte.

Der Dominikaner kam wie ein Windstoß herein und warf die Tür mit einem solchen Knall ins Schloss, dass die verstreuten Abfälle und das Stroh auf dem Boden aufstäubten. Er ist ein erstaunlich kleinwüchsiger Mann. Selbst ich bin größer als er, obwohl meine bescheidene Größe, weil sie unbedrohlich wirkt, mir sonst zu meinem Vorteil gereicht. Daher kann man sich gewiss mein Erschrecken vorstellen, als ich mich erhob und feststellte, dass ich auf Jean de Beaune hinuntersah, der zudem den Jähzorn zu besitzen schien, den Kleinwüchsige oftmals an sich haben. Er starrte mich grimmig an und blickte sich anschließend mit sichtlich wachsendem Unmut um, ein Ausdruck, der sich bereits in Form zahlreicher scharfer Falten auf seinem Gesicht eingegraben hatte.

«Was soll das?», fragte er den Boten. «Das ist nicht angemessen. Schafft den Kerkermeister herbei. Und zwar sofort.»

«Den Kerkermeister», setzte der Katalane an. «Aber –»

«Sofort!»

«Bevor Ihr das tut», schaltete ich mich ein und nutzte den Schock, den meine Kühnheit auslöste, um ungehindert meinen Brief hervorzuziehen. «Bevor Ihr das tut, Pater, mögt Ihr vielleicht noch dieses Schreiben lesen.»

«Wie bitte?», fragte Jean de Beaune barsch und streckte die Hand aus. «Was ist das?»

Ich überreichte ihm das Dokument und deutete auf das Siegel. Der Dominikaner runzelte die Stirn und kniff kurz die Lider zusammen. Er hatte kleine, gerötete Augen, die ein wenig zu eng beieinanderstanden, doch als er sie auf mich richtete, merkte ich, dass sein Blick scharf und stechend war.

Einen Moment lang taxierte er mich und überflog anschließend mit zunehmendem Erstaunen den Brief Ich registrierte, dass die Röte auf seinem Gesicht verblasste und seine feindselige, übellaunige Miene um einiges offener und aufmerksamer wurde. Dann wandte er sich jäh zu dem Boten um.

«Verschwindet. Wartet draußen auf mich.»

«Seid Ihr Euch sicher, Pater?» Der Katalane beäugte mich argwöhnisch. «Er könnte ein Messer bei sich tragen.»

«Seid Ihr taub? Ich habe gesagt, Ihr sollt verschwinden!», fuhr Jean de Beaune ihn an. Woraufhin der Bote sich in verdrießlichem Gehorsam entfernte und die Tür hinter sich schloss.

Anschließend herrschte langes Schweigen. Jean de Beaune las den Brief ein zweites Mal, mit einem Ausdruck, als widerstrebe es ihm, das Gelesene zu glauben. Er stierte auf den Namen meines Meisters, der sich am Ende des Pergamentes befand. Danach studierte er das Siegel und nagte an seiner Unterlippe. Zuletzt erklärte er: «Ich kenne Bernard Gui. Ich kenne seine Schrift.»

Ich hielt es für besser zu schweigen.

«Könnt Ihr lesen?», fuhr er fort. «Könnt Ihr Latein?»

«Kein Latein. Nein, Pater», entgegnete ich.

«Dann wisst Ihr also nicht, was hier steht?»

«Pater Bernard hat mich von dem Inhalt unterrichtet. Ich war lange Jahre sein Diener. Er hatte Angst, meine Vergangenheit könne mich einholen, trotz meiner Umsicht und Vorsichtsmaßnahmen. Deshalb hat er mir den Brief mitgegeben.» Mit einem Nicken wies ich auf das Blatt in Jean de Beaunes Hand. «Wie Ihr seht, hatte er recht. Meine Vergangenheit hat mich tatsächlich eingeholt.»

«Euer Name wurde von einem Ketzer namens Armand Sanche genannt», bemerkte der Dominikaner. «Seid Ihr mit ihm bekannt?»

«Ja.»

«Er wurde im vergangenen Monat nahe Quié gefasst und anschließend nach Carcassonne gebracht. Nach seinen Worten wart Ihr einst ein Anhänger von Pierre Autier.»

Ich senkte den Kopf und dachte: Armand Sanche. Dieser Narr. Es war genau so gekommen, wie ich erwartet hatte.

«Ich bin Pierre Autier gefolgt», lautete meine Antwort. «Den ganzen Weg bis nach Belpech, wo ich ihn festnehmen ließ.»

«Dann wart Ihr also kein wahrer Jünger?»

«Nein, Pater.»

«Ohne diesen Brief fiele es mir schwer, das zu glauben.»

«Gewiss.»

«Seid Ihr ein treuer Sohn der Heiligen Römischen Kirche? Glaubt Ihr, dass sich das Brot und der Wein, die während der Messe von den Priestern ausgeteilt werden, durch heilige Kraft in den Leib und das Blut Christi verwandeln?»

«Ja, Pater.»

Abermals nagte er an seiner Lippe. Ich konnte erkennen, dass seine Gefühle zwiespältig waren. Nichts behagt einem Inquisitor weniger, als eine frische Spur zu verwerfen. Das Schreiben konnte er jedoch nicht leugnen. Er kannte die Handschrift meines Meisters. Er kannte sein Siegel.

Er konnte mich nicht gefangen nehmen, ohne meinen Meister zu brüskieren.

«Ist dies Euer richtiger Name?», erkundigte er sich plötzlich und schnippte mit einem Finger gegen das Pergament. «Helié Bernier aus Verdun-en-Lauragais?»

«Das ist er.»

«Dennoch nennt Ihr Euch Seguier.»

«Ich habe zahlreiche Ketzer verraten, Pater. Und es gibt einige darunter, die, trotz meiner Umsicht, davon Kenntnis haben. Ich konnte weder in den Bergen noch in der Toulouser Gegend verweilen. Ich musste hierherkommen und vorgeben, ich wäre ein anderer.»

«Falls ich mich bei Bernard Gui nach Helié Bernier erkundige, was würde er dann sagen?»

Das war eine kluge und interessante Frage. Sie führte dazu, dass ich Jean de Beaune größere Achtung als bisher entgegenbrachte.

Es war die Art von Frage, die auch mein Meister hätte formulieren können.

«Falls Ihr Euch bei Pater Bernard nach Helié Bernier erkundigt», erwiderte ich und stellte mir das Gesicht und die Stimme meines Meisters vor, «würde er vielleicht fragen: ‹Warum wünscht Ihr das zu wissen?›»

Bei dem letzten Satz imitierte ich die Art meines Meisters, sprach äußerst milde und mit ausdrucksloser Miene, jedoch mit durchdringendem Blick. Für einen Moment stockte Jean de Beaune der Atem, und er blinzelte dreimal, doch danach war er überzeugt.

«Ah, ja», bemerkte er. «So, so. Nun, gut.»

Wir betrachteten einander längere Zeit. Anschließend reichte er den Brief langsam und zögernd zurück. Ich verstaute ihn abermals in meiner Kleidung. Jean de Beaune schürzte die Lippen.

«Bis ich bei Bernard Gui nachgefragt habe, solltet Ihr die Stadt nicht verlassen», erklärte er. «Ihr solltet auch wissen, dass ich Euch beobachten lasse. Ihr werdet mir nicht entkommen.»

«Nein, Pater.»

«Mag sein, dass Ihr die Ketzer getäuscht habt, doch die Heilige Römische Kirche täuscht Ihr nicht. Ebenso wenig wie ihre treuen und gehorsamen Diener.»

Ich nickte stumm, und Jean de Beaune schien zufrieden zu sein. Er rief den Boten herbei und trug ihm auf, mich freizulassen. Im Handumdrehen stand ich wieder auf der Straße, wo mich der Lärm und der Sonnenschein für einen Moment benommen machten.

Auf dem Heimweg dachte ich mir eine überzeugende Geschichte aus. Dazu gehörte nicht viel. In den Bergen wäre es mir äußerst schwergefallen, einen derart kurzen Aufenthalt in der Obhut eines Inquisitors zu erklären. Nach so viel Verrat über Generationen hinweg sind die Menschen in den Pyrenäen überaus argwöhnisch geworden und wissen, dass eine Freilassung nach so kurzer Zeit ihren Preis hatte.

Die Menschen von Narbonne sind mit den Inquisitoren und ihren Sitten weniger vertraut. Meine Mieter und Nachbarn begnügten sich mit dem Gedanken, dass das Ganze eine Verwechslung gewesen sei. Man hatte einen Helié Seguet gesucht und einen Helié Seguier gefunden, zumindest war das die Geschichte, die ich ihnen erzählte. Sie schien ihnen einzuleuchten. Allerdings werden sie ihren guten Glauben vermutlich verlieren, falls sie entdecken, dass man mich häufig und offenkundig überwacht.

Gebe Gott, dass Jean de Beaune möglichst rasch die Bestätigung meiner Aussage erhält. Gott möge auch geben, dass Bernard Gui mich zufriedenlässt. Denn eigentlich möchte ich ihn nicht wiedersehen.

Er ist mein Meister und ein großer Mann. Dennoch wäre es mir lieber, seiner Aufmerksamkeit auch weiterhin zu entgehen. «Versteck dich», hatte er mir aufgetragen, und ich gehorchte – vielleicht zu konsequent. Kein Inquisitor mag es, wenn man ihn übertrumpft.

Ich möchte lediglich in Ruhe gelassen werden. Ist das nach so vielen Jahren treuer Dienste etwa zu viel verlangt?

III. Fastnachtsdienstag

Schon der Auftrag an sich hätte mich stutzig machen müssen. Normalerweise kommt er alle zwei Monate, eine regelmäßige Bestellung über zwanzig Lagen Pergament, die von der Priorei der Dominikaner in La Moyale aufgegeben wird. Dieses Mal waren seit dem letzten Auftrag kaum drei Wochen vergangen. Und es wurden auch nur zehn Lagen bestellt.

Ich hätte es wahrhaftig besser wissen müssen.

Doch mein Verdacht lief in die falsche Richtung. Wie immer hatte ich den Weg vor dem Haus beobachtet, und auch meine Runden mit geschärften Sinnen zurückgelegt. Dabei suchte ich nach Mustern, verknüpfte Namen mit Gesichtern und hielt mich von engen Gassen fern. Auch auf meinem Weg nach La Moyale machte ich zweimal kehrt, ehe ich die Alte Brücke erreichte, und wiederholte dieses Verfahren in Bourg zwischen dem Kornplatz und dem Tor von Lamourguié. Mein Fehler war, dass ich mich auf einen Hinterhalt konzentrierte. Seit fünf Jahren rechne ich mit einem Angriff von hinten, auf einen Frontalangriff war ich hingegen weniger eingestellt.

Die Lieferung für die Dominikaner nahm ich natürlich persönlich vor. Martin ist noch zu jung, als dass er meine wertvolle Ware jenseits der Stadtgrenze ausliefern könnte. Sollte er es tun, würde ich mir sowohl um ihn als auch um die Ware Sorgen machen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich jedoch, dass ich an keinem der Stadttore angehalten würde und dass Jean de Beaunes Drohung leere Worte gewesen waren. Hätte er mich tatsächlich überwacht, hätte man mir niemals erlaubt, die Stadtmauern von Narbonne zu verlassen. Doch seit unserer Begegnung hatte ich das mindestens dreimal getan und war, als ich mich der Priorei der Dominikaner näherte, vielleicht nicht so vorsichtig, wie ich hätte sein sollen. Dummerweise hatte ich begonnen, Jean de Beaune außer Acht zu lassen. Er erschien mir weniger gefährlich als die unbekannten, verdeckten Angreifer, die seit Jahren meine Träume heimsuchten.

Kurz vor Mittag verließ ich mein Haus und traf kaum noch auf Menschen, nachdem ich das Tor von Lamourguié durchschritten hatte und linker Hand in Richtung des Flusses abgebogen war. Ich erblickte vier Bauern beim Pflügen und erkannte zwei Dominikaner – Predigerbrüder –, die, ins Gespräch vertieft, nach Bourg unterwegs waren. Und ich sah einen Färber, auf dessen Hände das Wau gelbe Flecken hinterlassen hatte. Diesen Mann musterte ich sorgsam, denn er wirkte seltsam fehl am Platz. Dann jedoch fiel mir der Junge an seiner Seite auf, und ich begriff, dass sich der Färber vermutlich bei seinem Weingarten befand und seinen Erben in Fragen der Bewirtschaftung unterwies.

Als ich die Priorei erreichte, dauerte es noch einige Zeit bis zur Komplet. Daher scharten sich um die Kirchentür auch noch keine Menschen, wie es sonst zu Beginn der Tagesgebete üblich ist. Doch ich hätte mich ohnehin nicht durch irgendwelche Menschenmengen drängen müssen, denn die Kirche war nicht das Ziel meiner Reise. Stattdessen klopfte ich an der kleinen Pforte, die sich zu dem Kloster, zu den Gärten und den Verwaltungsräumen öffnet. Anschließend wartete ich, denn ich bin jedes Mal gezwungen zu warten. Anders als bei den Franziskanern auf der anderen Seite des Flusses ist es schwierig, in die Priorei der Dominikaner zu gelangen.

Bei den Franziskanern trifft man weder auf hohe Mauern noch auf einen mürrischen Pförtner, der die Abgeschlossenheit des Klosters überwacht. Zwar liefere ich meine Ware stets bei den Pförtnern am Eingang der Priorei ab, doch auf einen solch verdrießlichen und unhöflichen Menschen wie bei den Dominikanern bin ich bisher noch nirgends gestoßen. Dabei neigen Laienbrüder, wegen ihres niederen Ranges in der Hierarchie der Kirche, häufig zu großer Unzufriedenheit. Da sie bescheidener Herkunft und nur wenig gebildet sind, werden sie von den Geistlichen, denen sie dienen, bisweilen verächtlich behandelt. Außerdem besitzen sie keine Mittel, um ihre Lage zu verbessern. Dennoch begegnet man selten einem Mann, der mit seinem Schicksal so sichtlich hadert wie jener Pförtner der Dominikaner. Wahrscheinlich hatte man ihn wegen seiner sauertöpfischen Miene ausgesucht, um leichtfertige Nachfragen abzuwehren. Gewöhnlich betrachtet er meine Ware mit finsterem Blick, reißt mir das Paket aus den Händen und schlägt mir die Tür vor der Nase zu. Wäre ihm je ein Wort über die Lippen gekommen, hätte ich mich glücklich geschätzt.

Folglich kann man sich mein Erstaunen vorstellen, als ich heute mit einladender Geste empfangen wurde.

«Seid Ihr der Pergamentmacher?», knurrte er mit rauer Stimme. «Helié Seguier?»

«Der bin ich. Jawohl.»

«Dann dürft Ihr eintreten.»

Er gab den Weg frei. Ich starrte ihn an. Ungeduldig winkte er mit seiner fleischigen Hand.

«Kommt!»

Und da, beim Überschreiten der Schwelle, erkannte ich meinen Fehler. Irgendetwas stimmte nicht. In meinem Kopf erklang kurz die Stimme von Jean de Beaune. Beunruhigt hielt ich nach ihm Ausschau, während ich versuchte, mit dem Pförtner Schritt zu halten, einer massigen Gestalt mit hängenden Schultern, die schlurfend vor mir lief Wortlos umrundeten wir den Kräutergarten, in dem die Frühlingssaat ausgebracht worden war, und tauchten in eine Reihe aus Stein gemauerter Gänge ein, die Schlafsaal, Küche und Bibliothek verbanden. Die Anordnung der Gebäude glich beinah aufs Haar derjenigen, die man in der Priorei von Toulouse antrifft. Selbst der Geruch war ähnlich: eine leicht süßliche Mischung aus Kräutern, Weihrauch und alten Büchern. Die Mönche in ihren schwarz-weißen Kutten hätten ebenso gut diejenigen aus Toulouse, die man hierherversetzt hatte, sein können. Sie bewegten sich gleichermaßen geschäftig und schweigsam und neigten ihre Köpfe auf exakt dieselbe Weise.

Doch bei keinem von ihnen handelte es sich um Jean de Beaune. Und keiner schenkte mir auch nur die geringste Beachtung. Zuletzt wurde ich in einen kleinen, weißgekalkten Raum geführt, in den das Licht aus einem geöffneten Fenster fiel. Der Pförtner bat mich, auf einer der Holzbänke, die die Wände säumten, Platz zu nehmen, und verschwand. Ich hörte seine schlurfenden Schritte auf dem Gang verklingen.

Ich drückte das Pergament an mich und wartete voller Furcht. Die Stille war vollkommen. Mir fiel ein, dass ich vor nicht allzu langer Zeit in einem ebensolchen kleinen Raum gewartet hatte (wenngleich er dunkler und unordentlicher gewesen war), und gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass mir eine zweite Begegnung mit demselben Mann bevorstand. Jean de Beaune war zurück – Jean de Beaune hatte mich in seine Falle gelockt.

Nach einer Weile ließ sich das leise, schnelle Tappen lederbeschuhter Füße vernehmen – und das Geräusch langer Wollgewänder, die über den Boden schleiften –, ein Mönch, der in Eile war. Nichts jedoch bereitete mich auf den Anblick des Mannes vor, der danach den Raum betrat. Ich hatte mit Jean de Beaune gerechnet. Sein Gesicht hatte ich vor meinem geistigen Auge gehabt.

Stattdessen war es Bernard Gui, der sich meinem erstaunten Blick offenbarte.

«Helié, mein lieber Sohn», sagte er. «Lang, lang ist es her.»

***

Ich werde nie den Moment vergessen – damals im Gefängnis von Toulouse –, als ich meinen Meister erstmalig erblickte. Ich war etwa sechzehn Jahre alt, klein und schmächtig und wie ein Ochse angekettet. Meine Zelle war dunkel und feucht und glitschig von Schimmel und Exkrementen. Ich war halb verhungert, man hatte mich geschlagen, und meine nächsten Verwandten hatten mich grausam im Stich gelassen. Selbst der Inquisitor hatte mich im Stich gelassen. Er war nach Rom gereist, um den Fall eines reichen Ketzers mit einflussreichen Freunden zu verhandeln und kurz danach in Perugia gestorben, sodass mein Schicksal unentschieden blieb. Mein Fall war nicht verhandelt, ich nicht verurteilt worden. Wie es aussah, hatte man mich vergessen. Sogar mein Onkel und meine Vettern hatten mich vergessen, denn sie hatten nichts für meinen Unterhalt an jenem schrecklichen Ort gezahlt. Sie hatten mich auf meinen Irrweg gelockt und zurückgelassen, als sie in die Schwarzen Berge flohen, wo sie später festgenommen wurden.

Zwei endlos lange Jahre vegetierte ich wie ein Tier vor mich hin. Der Kerkermeister verachtete mich und legte mich in schwere Ketten, denn niemand hatte ihn bestochen, sie mir abzunehmen. Er gab mir nur Brotrinden und Abfälle zu essen, denn meine Familie interessierte sich nicht für mein Befinden. Seinen Zorn reagierte er an meinem schutzlosen Körper ab. Und all das tat er ohne Furcht vor Strafe, denn einen Inquisitor, der ihm Einhalt geboten hätte, gab es nicht.

Dann wurde Bernard Gui Inquisitor von Toulouse. Ich wusste nichts von seiner Ernennung, bis er wie eine Himmelsgestalt in glänzendem, schwarz-weißem Gewand vor mir erschien. Damals dürfte er fünfundvierzig gewesen sein und noch in den besten Jahren – hochgewachsen, schlank und voller Kraft. Sein längliches, blasses Gesicht, das nun, im Ruhezustand, ein wenig ausdruckslos wirkte, wurde von großen grauen Augen mit durchdringendem Blick belebt. Als er sie auf mich richtete, wusste ich sogleich, dass er ein Mann mit ungeheurem Wissen und tiefem Einblick in die Zusammenhänge menschlichen Lebens war.

«Wer ist das?», fragte er den Kerkermeister. Nachdem ihm mein Name genannt worden war, runzelte er die Stirn, und sein klarer Blick huschte hin und her, als sei er dabei, ein unsichtbares Dokument zu prüfen. Als ich ihn besser kannte, wurde mir klar, dass er ebendies tat, denn er besaß ein erstaunliches Gedächtnis und schien in seinem Geist eine vollständige Bibliothek mit Texten und Listen mit sich zu führen.

«Helié Bernier ist nicht zum murus strictus verurteilt worden», erklärte er. «Löst seine Ketten. Befreit ihn aus seiner Zelle. Ich werde mir seinen Fall vornehmen, sobald ich dazu in der Lage bin.»

Und mit jenen wenigen, einfachen Sätzen veränderte Bernard Gui mein ganzes Leben. Wenngleich er sich umgehend entfernte, um den Rest des Gefängnisses zu inspizieren, war sein Einfluss fortan spürbar. Ordnung und klare Regeln kehrten in das Gefängnis ein, und seine Insassen waren nicht länger Opfer der launenhaften Wärter, die nach Belieben prügeln konnten. Sie wussten inzwischen, dass Bernard Gui körperliche Züchtigungen nur dann guthieß, wenn er sie persönlich angeordnet hatte.

Er verlangte bedingungslosen Gehorsam und setzte seine Herrschaft mit unbeugsamer Entschlossenheit durch.

Was mich betraf, verbesserte sich meine Lage unendlich. Ich durfte umherlaufen und mich unterhalten, ja, sogar die eine oder andere Aufgabe verrichten, in der Hoffnung, mir ein paar zusätzliche Brotrinden verdienen zu können. Weitaus wichtiger war jedoch, dass ich mich nicht länger der Verzweiflung hingab, denn mit einem Mal hatte ich Ziele, nach denen ich mein Leben ausrichten konnte. Es kam mir vor, als sei mir Bernard Gui als Schutzengel erschienen. Fortwährend hielt ich nach ihm Ausschau, und wenn er kam, versuchte ich, ihm wohlgefällig zu sein. Mein Vater war seit langem tot; mag sein, dass ich nach einem Ersatz für ihn suchte. Doch was immer die Gründe waren, die mich bewegten, meine Gedanken kreisten ohne Unterlass um den Mönch in der schwarz-weißen Kutte. Ich trieb mich in seiner Nähe herum. Ich bat um seinen Segen. Nichts war mir schöner, als seine honigweiche Stimme zu vernehmen – außer dem Anblick seines Gesichtes, scharfgeschnitten und ernst, wenn es sich mir zuwandte.

Aus Ehrfurcht hätte ich alles getan, um ihn zufriedenzustellen. Als ich einmal mitbekam, wie eine der Gefangenen mit Unbedacht über ihren Irrglauben sprach, hielt mich nachher nichts davon ab, sie zu verraten, und das, obwohl sie mir nie etwas getan hatte. Dank eines glücklichen Zufalls ließ Bernard Gui mich nur zwei Tage danach zu sich rufen. Mit trockenem Mund machte ich mich mit meiner Gabe auf den Weg, voller Hoffnung und dem verzweifelten Wunsch zu gefallen.

Er empfing mich in einem hellen Raum, in dem an einem Tisch ein Notar saß und etwas schrieb. Der Anlass zu unserem Zusammentreffen war denkbar einfach: Ich sollte verhört werden, um das Ausmaß meiner Schuld zu bestimmen, auf dass ich hernach die angemessene Strafe erhielt. Bernard Gui benutzte die Volkssprache, als er mich befragte. Zunächst erkundigte er sich nach meinem Namen und dem Ort meiner Geburt. Dann zog er eine Liste zu Rate und erklärte, ein gewisser Priester der Katharer habe mich als denjenigen identifiziert, der ihn vor fünf Jahren von einem Ort zum anderen geleitet hatte.

«Von diesem Mann, heißt es, bist du auf Ersuchen deines Onkels gesegnet worden. Trifft das zu?»

Ich bekannte, dass es so war, und gab weiterhin zu, ebenjenen Katharer bei einer anderen Gelegenheit mit Brot und Obst versorgt zu haben. Danach erklärte ich, wie sehr ich diese Tat bereue, wenngleich ich damals nur ein Kind gewesen war und meinem Onkel gehorcht hatte.

«Ich wurde in die Irre geführt, Pater», beichtete ich inbrünstig. «Ich weiß, dass die Vollkommenen unrecht haben. Die Welt ist nicht das Reich des Teufels, und nach unserem Tod ziehen unsere Geister keineswegs in einen anderen Leib ein. Es ist weder verwerflich, Tiere zu töten, noch Fleisch, Eier oder Käse zu essen. All das sind Lügen. Das weiß ich nun. Ihr habt mir den Weg zur Wahrheit gewiesen.»

Anschließend bot ich meine Gabe dar und wiederholte den Wortlaut dessen, was ich vor drei Nächten aus dem Mund der Katharin, die meine Gefängnisecke teilte, vernommen hatte. Bernard Gui lauschte stumm. Sein durchdringender Blick haftete unentwegt auf meinem Gesicht, und als ich zu Ende gesprochen hatte, blickte er mich nachdenklich an. Zuletzt fragte er: «Wie alt bist du?»

Ich gab mein geschätztes Alter an (selbst heute bin ich mir meines Alters nicht gänzlich sicher), und Bernard Gui hob eine Braue.

«Du siehst jünger aus», bemerkte er. «Deine Zeit im Gefängnis hat dein Wachstum behindert.»

«O nein, Pater, ich war von jeher klein und schwächlich», versicherte ich. «Zu nichts zu gebrauchen, wie mein Onkel immer sagte.»

«Tatsächlich?» Die grauen Augen wurden schmal. «Da wäre ich mir nicht so sicher.» Danach stellte er Fragen nach meinem Vater, meiner Mutter und meinem Leben zu Hause – das nie sonderlich erfreulich gewesen war –, und daraus leitete er offenbar ab, dass mich keine starken Treuebande mit den Menschen, die mich großgezogen hatten, verknüpften, und dass meine Eltern, da sie gestorben waren, keinerlei Einfluss auf mich hatten, sei es im Guten oder Schlechten.

Kurz darauf entließ er mich. In der folgenden Zeit merkte ich jedoch, dass er mein Tun aufmerksam verfolgte, obgleich dies unauffällig geschah und ich keineswegs eine Sonderstellung einnahm. Ich weiß noch, dass er mich aussandte, um Dinge zu besorgen, bei mir stehen blieb, um nach Vorkommnissen im Gefängnis zu fragen, und mich zuweilen Bücher tragen ließ. Ein- oder zweimal wurde ich zum Verhör gerufen, doch keines davon wurde mitgeschrieben, und meine ketzerischen Taten wurden nur selten erwähnt. Stattdessen bat Bernard Gui mich, die Dörfer, die ich gesehen hatte, in sämtlichen Einzelheiten zu schildern, die Menschen, denen ich begegnet war, und die Schmähungen, die ich über mich hatte ergehen lassen müssen. Er lobte mein Gedächtnis und erklärte, dass man es schulen könne. Er äußerte sich mit überzeugenden Worten über den christlichen Glauben und erklärte, dass wahre Frömmigkeit Hand in Hand mit Demut ginge.

«Der Stolz ist die Wurzel allen Übels», verkündete er. «Stolz und Eitelkeit sind die Werkzeuge des Teufels. Wann immer du dem Ketzertum begegnest, triffst du auf Menschen voller Stolz, solche, die sich für besser als andere halten. Doch Christus hat die Füße seiner Jünger gewaschen, und wie können wir uns da in unserem Herzen über andere erheben? Mag sein, dass die ganze Welt einen Mann für klug hält, doch wenn er sich selbst für klug hält, wird er niemals errettet werden.» Er blickte mir direkt in die Augen, als er hinzusetzte: «Hüte dich stets vor denen, die stolzen und eigensinnigen Wesens sind, Helié Bernier. Denn sie werden dich in die Hölle führen.»

Wenn man mich fragt, ist nie ein wahreres Wort gesprochen worden. Jeder Übeltäter der Geschichte war von Hochmut geprägt, und der ist kein Heiliger, der nicht aufrichtig demütig und von geringer Selbsteinschätzung ist. Bernard Gui war kein stolzer Mann. Er tat das, was man ihm auftrug, sei es durch seinen Ordensherrn oder den Papst. Er arbeitete ununterbrochen und hingebungsvoll, ohne zu klagen. Wurden falsche Anschuldigungen erhoben und Menschen daraufhin eingekerkert, war er nicht zu stolz, öffentlich seinen Irrtum zu bekennen. Es gibt zahlreiche Inquisitoren, die Unschuldige lieber leiden lassen, als dass sie ein Fehlurteil zugeben. Zu ihnen zählte mein Meister nicht. Wenngleich er zutiefst gefürchtet war, war er weder tückischer noch launischer Natur. Sein Ruf gründete in seinem hervorragenden Gedächtnis, seinen organisatorischen Fähigkeiten und seiner unumstößlichen Treue zur Heiligen Römischen Kirche. Die Ketzerei verfolgte er eifrig und unerbittlich, und falls er sündigte, dann nur im Ausmaß seines Zornes gegen ehemalige Ketzer, die rückfällig geworden waren. Das war ein Hang, der anfänglich nicht so offen zutage trat, mit der Zeit jedoch augenfällig wurde.

«Sie haben Gottes Gnade erbeten und erhalten», erklärte er mir einmal in einem Tonfall tiefer Empörung. «Wie kann jemand IHN ein zweites Mal zurückweisen, nachdem er wieder wie ein verlorenes Schaf in die Herde aufgenommen worden ist? Das widersetzt sich jeder Vernunft.»