Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording - Anni Deckner - E-Book
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Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording E-Book

Anni Deckner

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Beschreibung

Sonne, Sand und der Traum von der eigenen Apotheke  Merle ist seit vielen Jahren glücklich verheiratet. Für ihren Ehemann hat sie ihren Job als Apothekerin aufgegeben und ist zu ihm in die Forschung gewechselt. Doch dann verliert ihr Mann bei einem Arbeitsunfall sein Augenlicht. Er verlangt, dass Merle nicht mehr zur Arbeit geht, um sich um ihn zu kümmern. Während ihr Mann zur Reha ist, nimmt Merle sich eine Auszeit und besucht ihre Familie in St. Peter-Ording. Dort trifft sie zufällig auch ihren Kindheitsfreund Mika, dem die örtliche Apotheke gehört. Dabei kommen Gefühle auf, die Merle zu verdrängen versucht. Schließlich muss sie sich entscheiden, welchen Weg sie für ihre Zukunft einschlagen möchte. Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen: Barfuß am Strand Leuchtturmtage Die Sehnsucht der Inselärztin Friesenglück Sylter Meeresrauschen Die Krabbenfischerin Das kleine Blumencafé am Strand Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording Inselglück im Schneegestöber

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Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording

Die Autorin

Anni Deckner, geboren 1961 in Winnert bei Husum, lebt mit ihrer Familie in Hanerau-Hademarschen. Ihre Liebe zur »Grauen Stadt am Meer« kann man in ihren Werken spüren. Die kreative Luft des Nord-Ostsee-Kanals inspiriert die Autorin genau wie damals den berühmten Dichter Theodor Storm, der an diesem Ort seinen Schimmelreiter zu Papier brachte. Ihre Leidenschaft zum Schreiben entwickelte sich schon in früher Jugend, ihr erstes Buch »Heimathafen Husum« erschien jedoch erst im März 2014, gefolgt von »Knocking Out« 2015. In ihrer Freizeit geht die Autorin gern mit ihrem Mann auf Reisen. Ihr Beruf und gleichzeitig Berufung ist ihre Arbeit bei der Kirchengemeinde Hanerau-Hademarschen.

Das Buch

Sonne, Sand und der Traum von der eigenen Apotheke Merle ist seit vielen Jahren glücklich verheiratet. Für ihren Ehemann hat sie ihren Job als Apothekerin aufgegeben und ist zu ihm in die Forschung gewechselt. Doch dann verliert ihr Mann bei einem Arbeitsunfall sein Augenlicht. Er verlangt, dass Merle nicht mehr zur Arbeit geht, um sich um ihn zu kümmern. Während ihr Mann zur Reha ist, nimmt Merle sich eine Auszeit und besucht ihre Familie in St. Peter-Ording. Dort trifft sie zufällig auch ihren Kindheitsfreund Mika, dem die örtliche Apotheke gehört. Dabei kommen Gefühle auf, die Merle zu verdrängen versucht. Schließlich muss sie sich entscheiden, welchen Weg sie für ihre Zukunft einschlagen möchte. Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen: Barfuß am Strand Leuchtturmtage Die Sehnsucht der Inselärztin Friesenglück Sylter Meeresrauschen Die Krabbenfischerin Das kleine Blumencafé am Strand Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording

Anni Deckner

Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording

Ein Nordsee-Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juli 2019 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat E-Book powered by PepyrusISBN 978-3-95818-474-9

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Zweifel

Leichtsinn mit Folgen

Das Wiedersehen

Die Liebe bleibt

Sonnenuntergang

Was wird aus den Plänen?

Zärtlichkeiten

Heimat

Sonnenklinik in Chemnitz

Pfefferminztee und Antibiotika

Sönkes Traum vom Glück

Im Netz

Streit unter Freundinnen

Fluss des Lebens

Eheversprechen

Überqualifiziert

Zu dritt

Neue Wege

Dornröschen

Wendungen

Single

Nordfriesische Träume

Rückenwind

Sturm der Herzen

Rote Rosen

Epilog

Was ich noch zu sagen hätte …

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Zweifel

Zweifel

»Guten Morgen, mein Liebling, gut geschlafen?« Merle Hofer strahlte ihren Mann glücklich an. Sie waren inzwischen über zehn Jahre ein Paar, aber immer noch so verliebt wie am ersten Tag. Merle schwärmte für Sönke, seitdem sie fünfzehn gewesen war. Er hatte wie sie blaue Augen, die sie an einen See in der Morgensonne erinnerten. Sie erinnerten sie an einen bestimmten Baggersee, an dem sie mit siebzehn gezeltet und die körperliche Liebe für sich entdeckt hatten, an den See, an dem sie bei Vollmond ohne Kleidung baden gegangen waren. Merle sah es als ein großes Geschenk an, dass sie immer noch wie damals Gänsehaut bekam, wenn er sie zärtlich in die Arme schloss. In diesen Momenten zogen auch heute noch, wie am ersten Tag ihrer Liebe, Schmetterlinge ein. Bevor Merle ihrem Mann einen Becher Tee reichte, schmiegte sie sich an ihn und küsste ihn innig. Sanft zog er Merle näher zu sich, knabberte zielsicher an ihrem rechten Ohr. Sönke wusste genau, wie er sie verführen konnte. Sofort schnurrte Merle wie ein Kätzchen.

»Ich habe wunderbar geträumt«, flüsterte sie geheimnisvoll. Dann entzog sie sich aus der Umarmung. »Lass das, ich muss gleich los.« Sönke sah sie verwirrt an.

»Habe ich etwas verpasst?«

»Nein«, meinte Merle, »nur wieder mal vergessen. Ich habe einen Termin bei meiner Hausärztin.«

»Bist du krank?« Jetzt sah Sönke sie besorgt an. Merle seufzte. Sönke vergaß grundsätzlich, was sie ihm erzählte. Er war eben ihr zerstreuter Professor. Er hatte den Kopf meistens bei seinen Forschungsarbeiten, die ihn oft auch in der Freizeit nicht losließen. Merle machte es nichts aus, denn sie kannte ihn nur konfus und unkonzentriert, wenn er mit einem neuen Projekt beschäftigt war.

Schon bevor er Chemiker geworden war, hatten ihn Experimente fasziniert, zum Leidwesen seiner Eltern. Es war oft vorgekommen, dass er den Keller in Brand gesetzt oder gar eine Explosion hervorgerufen hatte, Zwischenfälle, die zum Glück nie schwerwiegende Folgen gehabt hatten. Sönke war dann glücklich auf seine Eltern zugegangen, um ihnen von seinen neuesten Erkenntnissen zu berichten. Dem angerichteten Schaden hatte er keine Bedeutung zugemessen. Irgendwann hatten seine Eltern davon abgesehen, den Keller zu renovieren, weil sie gewusst hatten, dass Sönke ohnehin bald den nächsten Versuch starten würde. Damals waren seine Eltern sehr verständnisvoll mit ihrem Sohn gewesen. Leider hatten sie heute kaum noch Kontakt.

Vor fünf Jahren war Merle die Kollegin ihres Mannes im Bremer Chemielabor geworden. Oft hatte sie ihn seither ermahnen müssen, weniger risikofreudig an eine Sache heranzugehen. Was nicht selten mit einem handfesten Streit endete. Der zum Glück nie lange anhielt.

Merles Eltern waren überrascht gewesen, als sie ihnen mitgeteilt hatte, dass sie ihre Apotheke verkaufen wollte, um in die Forschung einzusteigen. Ein Entschluss, den sie reiflich überlegt hatte. Das lange Studium mit anschließendem praktischem Jahr in einer Krankenhausapotheke, beides Bedingung für das Staatsexamen, hatte sie viel Kraft gekostet. Im Anschluss daran hatte sie für ihre Doktorarbeit gebüffelt. Merle hätte es bei der Approbation belassen können, jedoch war ihr wichtig, eine Doktorarbeit zu schreiben. Es gehörte für sie zu den Voraussetzungen, um den akademischen Heilberuf auszuüben. Sie war damals eine der jüngsten Apothekerinnen des Kreises gewesen. Alle Hürden der umfangreichen Ausbildung hatte sie mit Bravour gemeistert. Schon auf dem Gymnasium hatte sie unter den Schülern als hoffnungslose Streberin gegolten. Merle hatte sich nicht daran gestört, es war ihre Zukunft, um die sie gekämpft, für die sie geschuftet und die sie letztendlich gewonnen hatte. Sönke war nie müde geworden, seine Frau davon zu überzeugen, ihr Wissen der Forschung zukommen zu lassen. Irgendwann hatte Sönke gewonnen, sodass Merle ihre Apotheke verkauft hatte. Seitdem arbeitete sie mit Sönke zusammen in der Forschung.

»Ich muss zum jährlichen Check-up, danach komme ich ins Labor«, klärte sie ihren Mann zum x-ten Mal auf. Dabei lächelte sie sanft und strich ihm über den Dreitagebart, der ihm verdammt gut stand.

»Ach so, ja natürlich, entschuldige bitte, ich habe es einfach vergessen.« Reumütig blickte er Merle an.

»Ach, das ist ja völlig untypisch für dich«, antwortete sie vergnügt. Frühstück gab es im Hause Hofer nur selten. Aber mit einem Becher Tee auf der Dachterrasse zu sitzen und dabei eine Zigarette zu rauchen, war ein Muss des morgendlichen Rituals vor Arbeitsbeginn.

Merle genoss die Aussicht über Bremens Dächer. Sie liebte es, dabei zuzusehen, wie der Tag langsam erwachte. Es gab selten genug die Gelegenheit für eine Auszeit und dazu, die Seele baumeln zu lassen. Die Wohnung mit der Dachterrasse war ihrer beider Traum gewesen, den sie sich vor einigen Jahren erfüllt hatten. Merle hatte Blumen und mediterrane Pflanzen aufgestellt und eine Oase des Glücks geschaffen, die sie und Sönke jeden Tag aufs Neue genossen.

Doch es belastete sie etwas, das sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, bevor sie zu sprechen begann: »Sönke? Hast du mal ein aufmerksames Ohr für mich?«

Sönke sah seine Frau erstaunt an. »Hast du Probleme mit Sina?« Sina war eine Kollegin, die Sönkes Assistentin gewesen war, bevor Merle in dem Labor angefangen hatte. Seither ließ Sina keine Gelegenheit aus, um Merle ins schlechte Licht zu rücken. Merle war aber auf der Hut und gab Sina keine Grundlage für Kritik.

»Nein, mit der komm ich doch klar«, sagte Merle rasch.

»Okay, womit kommst du dann nicht klar?«

Merle zögerte, bevor sie weitersprach. »Meine Gyn meinte neulich, ich sollte mir noch mal überlegen, ob nicht doch ein Baby für mich infrage kommen würde. Ich bin jetzt siebenunddreißig, meine biologische Uhr läuft langsam ab.«

Sönke lachte schallend, dabei schlug er die Hand auf sein Knie. »Die ist ja hartnäckig. Du hast ihr hoffentlich endgültig deine Einstellung zu vollen Windeln und schlaflosen Nächten klargemacht? Die muss dich ja für ziemlich blöde halten, wenn sie glaubt, dass du nicht weißt, worauf du dich da einlassen würdest.« Sönke schüttelte verständnislos seinen kurz geschorenen Kopf. Er steigerte sich in seinen Ärger hinein. »Warum kann die Frau nicht einfach akzeptieren, dass es Ehepaare gibt, die nicht an Fortpflanzung denken?«

Merle verkrampfte sich und rutschte weiter in den Sessel mit den dicken Kissenauflagen hinein.

Sönke, dem ihre Reaktion offenbar nicht entgangen war, verstummte abrupt. Mit Engelszungen redete er auf sie ein.

»Liebling, du willst doch nicht im Ernst unsere Entscheidung canceln?«

»Nein … doch … ich weiß es nicht. Was ist, wenn ich es später bereue? Bald ist es zu spät für eine Schwangerschaft, und ich habe tatsächlich Angst eine Fehlentscheidung getroffen zu haben.« Merle sah ihren Mann unsicher an.

Sönke lachte freudlos auf. »Viel schlimmer wäre es doch, wenn wir später bereuen, ein Kind zu haben. Erinnerst du dich daran? Zurückschicken geht dann nicht mehr.« Sönke sah Merle liebevoll an. »Du bist eine begnadete Forscherin und eine super Apothekerin, auch wenn du diesen Beruf nicht mehr ausübst. Ich glaube nicht, dass du eine treusorgende Mutter werden könntest. Dazu arbeitest du zu gerne. Wer soll denn die Betreuung des Kindes übernehmen? Fremde oder deine Eltern? Das ist doch keine Basis für ein Kind.«

Sinnierend trank Merle den letzten Schluck Tee aus ihrem Becher. Dann blickte sie in Sönkes Augen, in denen sie Panik und Verzweiflung erkannte. Sie lächelte besänftigend. »Du hast natürlich recht, ich musste es aber mit dir besprechen. Es hat mich zu sehr beschäftigt.«

»Wir bleiben also bei unserer Entscheidung?« Erwartungsvoll sah Sönke seine Frau an. Er wirkte erleichtert, als sie nickte. »Liebling, wie wäre es, wenn du heute mal frei nimmst und deine Eltern in Nordfriesland besuchst? Es wird dir sicher guttun, Mara und Gerd freuen sich bestimmt, wenn du dich mal blicken lässt.«

»Ich kann dich nicht alleinlassen, ich habe auch Verpflichtungen, wie stellst du dir das vor?«

Sönke schien zu überlegen. »Ich habe noch einen gut beim Chef, lass mich mal machen.«

Sönke mochte es, die Dinge für Merle in die Hand zu nehmen. Er hatte den Ehrgeiz, seine Frau auf Händen zu tragen. Nur selten gab er Merle die Chance, eigene Entscheidungen zu treffen. Merle störte das nicht. Nur mit dem Kinderwunsch war sie sich nicht mehr sicher. Sönke würde niemals einlenken, dazu kannte sie ihn zu gut. Aber sie hatte ein schlechtes Gewissen ihrem ungeborenen, noch nicht einmal gezeugten Kind gegenüber.

Bestimmt war die Idee zu ihren Eltern zu fahren richtig. Ihre Mutter hatte bisher immer einen Rat für Merle gehabt. In solchen Fällen war ihre Mutter seit jeher die beste Adresse. Ihre einfühlsamen Ratschläge waren bei Merle schon oft der Schlüssel zu einer Erkenntnis gewesen.

Sie schreckte hoch, als Sönke aufsprang. »Ich muss los, Liebling, denke darüber nach, ich regle das für dich. Außerdem komme ich manchmal auch ohne dich klar.« Er lachte Merle aus belustigten Augen an.

Warum sagte er das so sarkastisch? Merle hatte mal wieder das Gefühl, von ihrem Mann nicht ernstgenommen zu werden. Dies waren die Momente, in denen sie sich fragte, ob es richtig gewesen war, ihre Apotheke zu verkaufen. Die Herausforderung hatte sie durchaus gereizt. Sönke hatte mit leuchtenden Augen über seine Arbeit erzählt und mit der Zeit hatte Merle die Neugier gepackt. Sie konnten gemeinsam viel erreichen. Ihr größter Traum war es gewesen, für die Krebsforschung einen bahnbrechenden Erfolg verbuchen zu können. Leider hatte es mit der entsprechenden Abteilung nicht geklappt. So war es dann dazu gekommen, dass sie mit Sönke an Lösungen der Schädlingsbekämpfung forschte.

»Ich finde die Idee gut, nach St. Peter-Ording zu fahren, sobald ich vom Doc zurück bin.«

»Soll ich dir einen neuen Termin vereinbaren? Damit du gleich fahren kannst? St. Peter liegt nicht gerade um die Ecke.«

Merle verstand nicht, warum es sie plötzlich störte, dass Sönke wieder das Zepter für sie in die Hand nehmen wollte. Aber das ging nun wirklich zu weit. »Hallo? Ich bin durchaus in der Lage, selbständige Entscheidungen zu treffen«, sagte sie verärgert, milderte ihren Ton aber dann mit einem Lächeln.

»Dann haben wir uns ja verstanden.« Sönke grinste und gab ihr einen Kuss zum Abschied. Dann sah er Merle prüfend an. »Du triffst aber keine selbstständige Entscheidung bezüglich der Familienplanung?« Er zog die Augenbraue hoch und durchbohrte sie mit einem Blick, den Merle noch nie an ihrem Mann gesehen hatte. Es schien, als ob er ihr tief in die Seele schaute, die plötzlich nicht mehr zu ihr gehörte.

Sie wich ein Stück zurück, verdrängte schnell das aufkommende Gefühl der Schwäche ihrem Mann gegenüber und sagte leise: »Wo denkst du hin, was soll diese Frage? Du machst mir heute irgendwie Angst, Sönke.«

Sie folgte ihm in die Küche. Er griff sich einen Apfel aus dem Obstkorb, in den er herzhaft hineinbiss. Kauend näherte sich sein Mund dem ihren. Die Düfte von Apfel und Rasierwasser verfehlten nicht ihre Wirkung. Merle schloss die Augen. Der Zauber endete jedoch abrupt, denn Sönke griff sich die Autoschlüssel und verließ die Wohnung.

»Das führen wir heute Abend weiter, Liebling«, rief er, als er sich bereits im Fahrstuhl befand, der direkt zu ihrer Wohnung führte. Offenbar war ihm Merles schwacher Moment nicht entgangen.

»Alter Schlingel«, flüsterte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Unter seinen Händen war sie Wachs. Sie schmolz dahin, wenn er sie aus den schönsten Augen Bremens anschaute. Sie liebte seine Hände, seinen Körper, der trotz der vielen sitzenden Tätigkeiten muskulös und straff war. Er hatte einen modernen Kleidungsstil und wirkte in einem seriösen Anzug gleichermaßen anziehend wie in einer Jeans oder im saloppen Jogginganzug. Letzteren trug er jedoch so gut wie nie, denn er sagte stets: »Wer Jogginghosen trägt, hat sein Leben nicht im Griff.«

Merle lachte zu gerne mit ihm. Er hatte einen Humor, den nicht jeder verstand, aber Merle wusste immer genau, was er meinte. Merle wusste, dass Sönke ihre Aufrichtigkeit schätzte. Besonders verliebt war er in ihren Körper, der trotz ihrer mickrigen ein Meter sechzig Körperlänge über sexy Kurven verfügte. Er liebte es, sie in Spitzenunterwäsche zu sehen, die sie ihm zuliebe trug. Sönke ließ keinen Tag vergehen, ohne Merle zu sagen, wie schön sie war.

Plötzlich hielt sie in ihren Gedanken inne. Fahrig suchte sie ihr Handy und fand es schließlich im Schlafzimmer. Schwer atmend wählte sie Sönkes Nummer. Verdammt, er hatte es ausgeschaltet. Sie sprach auf die Mailbox. »Sönke! Du machst doch heute keine Experimente mit der neuen Schädlingsbekämpfung? Du weißt, die Formel ist noch nicht ausgereift, es ist zu gefährlich! Bitte melde dich noch mal bei mir.« Merle überlegte, ob sie ihm ins Labor folgen sollte. Er würde es fertigbringen, die Tinktur zusammenzumixen, ohne Rücksicht auf die Folgen.

Sie hatte bereits ihre Autoschlüssel in der Hand, als er zurückrief.

»Sönke, gut dass du …«

»Liebling, ich weiß schon, was ich tue. Außerdem ist das unser gemeinsames Projekt, ich schließe dich so kurz vorm Ende nicht aus. Was denkst du von mir?«

Merle schloss die Augen. Ja, was dachte sie von ihm? Sie kannte ihren Mann lange genug, um zu wissen, wie er tickte. Schnell sagte sie: »Ich wollte nur sichergehen, es kam so ein ungutes Gefühl auf, ich hätte keine Ruhe, wenn ich versäumt hätte, dich anzurufen. Sorry, aber …«

»Schon gut, Liebes, ich mache keinen Blödsinn ohne dich.«

»Sehr gut, ich freue mich übrigens auf meine Eltern, danke für die nette Idee. Sie werden sich sicher ebenfalls sehr freuen. Ich liebe dich Sönke. Bis heute Abend.«

»Warum bleibst du nicht über Nacht, du hast morgen deinen freien Tag?«

»Mal schauen.« Merle zögerte.

»Überleg es dir, bis bald.« Sönke war aus der Leitung verschwunden.

Merle sah auf die Uhr. Wenn sie den Termin beim Arzt schaffen wollte, musste sie sich beeilen. Wie ferngesteuert, nahm sie erneut das Telefon in die Hand. Ungeduldig wartete sie auf das Freizeichen. Die nette Sprechstundenhelferin ihrer Ärztin nahm das Gespräch an.

»Guten Morgen, Frau Bender, hier spricht Merle Hofer, leider muss ich den heutigen Termin absagen, es tut mir furchtbar leid, aber …«

»Frau Doktor Hofer, kein Problem, soll ich Ihnen gleich einen neuen Termin geben?« Die sanfte Stimme von Frau Bender bedrängte ihr schlechtes Gewissen. Sie mochte keine Notlügen. Warum sage ich ab? Hatte ich nicht vor, den Termin wahrzunehmen?

»Frau Hofer, sind Sie noch dran?«

»Was? Ja, ich melde mich wegen eines neuen Termins. Danke, Frau Bender.« Merle legte auf und starrte ins Leere.

Dann raffte sie sich auf. Sie freute sich auf ihre Eltern. Es war lange her, dass sie in St. Peter-Ording gewesen war. Viel zu lange.

Sie suchte das Wohnzimmer ab. Irgendwo hatte sie das hübsche Tuch liegen lassen, welches sie vor einigen Tagen für ihre Mutter gekauft hatte. Sie musste mehr Ordnung halten. Dann wäre sie jetzt nicht so ratlos. Sie betrachtete das stilvoll eingerichtete Wohnzimmer, von dem sie auf die Dachterrasse gelangte. Sie hatten sich für helle Möbel entschieden. Im Einklang mit den leicht grau getönten Wandfarben und der indirekten Beleuchtung erschien das Wohnzimmer modern, aber trotzdem gemütlich. Der große Ohrensessel am künstlichen Kamin verlieh dem Raum zusätzlich eine optische Wärmequelle. Dicke Teppiche schluckten den Hall auf den vierzig Quadratmetern Wohnraum. Die offene Küche benutzten sie nur selten. Weder Sönke noch Merle hatte je eine Leidenschaft fürs Kochen entdeckt. Umso mehr freute Merle sich auf ihre Mutter. Es war jedes Mal ein Hochgenuss für die Gäste des Hauses, wenn Mara Fischer in ihrer Küche Kulinarisches zauberte.

Plötzlich spürte Merle, wie sehr sie ihre Mutter vermisste. Sie freute sich immer, ihre Tochter in die Arme schließen zu können. Merle gab ihre Suche auf und rief den Fahrstuhl. Rasch nahm sie die Autoschlüssel und ihre Handtasche an sich und die Fahrt nach Nordfriesland konnte losgehen.

Der Fahrstuhl beförderte sie sekundenschnell in die Tiefgarage. Von Weitem öffnete Merle mit der Funkfernbedienung das Auto und stieg daraufhin ein.

Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, ihren Besuch anzumelden. Sie wusste schließlich nicht sicher, ob ihre Eltern zu Hause waren. Merle lächelte.

Nein, die Überraschung gelang viel besser, wenn sie wie aus dem Nichts im Garten ihrer Eltern erschien. Sie werden austicken vor Begeisterung.

Während Merle ihren Wagen durch Bremens Berufsverkehr steuerte, dachte sie an ihr Kind, welches es nie geben sollte. Sie fragte sich, was es wohl wäre, ein Junge oder eine Tochter? Hätten sie sich gut verstanden, so wie es bei ihr und ihren Eltern der Fall war? Vielleicht ginge sie ihm auf die Nerven, wenn es groß geworden war? Ein Gefühl von Wärme erfüllte sie. Der Gedanke an weiche Babyhaut. Vor ihrem inneren Auge besaß dieses Kind die schönsten blauen Augen der Welt.

Als ein lautes ungeduldiges Hupen ertönte, zuckte sie zusammen und erwachte aus ihren Tagträumen. Die Grünphase der Ampel wechselte gnadenlos auf Rot. Die Fahrzeuginsassen hinter ihr hatten allen Grund sauer zu sein. Bestimmt mussten einige von ihnen ihren Arbeitsplatz erreichen und die rote Ampel hinderte sie am Weiterfahren. Beschämt winkte Merle ihren Hintermännern zu. Dann heftete sie ihren Blick an das rote Licht. Als es endlich auf Grün wechselte, brauste sie mit aufheulendem Motor davon, um gleich darauf an der nächsten Ampel wieder stehenzubleiben. Mit den gleichen Hintermännern und Frauen, die vorhin ein einheitliches Hupkonzert veranstaltet hatten, um Merle zu wecken. Merle war das zutiefst peinlich, sie hoffte, bald die Autobahn zu erreichen. Bildete sie sich das ein oder spürte sie tatsächlich die missmutigen Blicke der Insassen der nachfolgenden Fahrzeuge? Sie seufzte. »Ja, ja ihr habt alle recht, dennoch kann ich es nicht rückgängig machen.«

Noch einmal ließ sie es zu, dass der unerfüllte Kinderwunsch in ihre Gedanken trat. Warum sehnte sie sich plötzlich so sehr nach einem Kind? War ihr Leben nicht längst ohne Kinder verplant?

»Ich kenne dich doch gar nicht«, sagte sie zu dem unbekannten Wesen. »Warum vermisse ich dich jetzt?« Merle fand keine Antwort auf ihre konfuse Frage. Sönke hatte am Morgen in einer für ihn untypischen Weise beinahe zornig reagiert; für weitere Diskussionen würde sie keine Basis finden, die halbwegs erfolgversprechend wäre. Für ihn hatte dieses Thema keine Grundlage. In der Vergangenheit hatte es für Merle nie Gründe gegeben, an ihrer Entscheidung gegen ein Kind zu zweifeln. Ob es sein konnte, dass ihre Gynäkologin sie wachgerüttelt und in diese tiefe Trauer um ein nicht vorhandenes Kind befördert hatte?

Sönkes Reaktion darauf war eindeutig genug gewesen. Er hatte Angst, sie könnte es sich überlegen und den Kinderwunsch ohne sein Einverständnis verwirklichen. Merle liebte ihren Mann über alles, das Leben, das sie führten, mit all dem Luxus, war ein erfüllter langersehnter Traum für beide gewesen. Merle fragte sich verwirrt, ob es nur Sönkes Wunsch war keine Kinder zu bekommen. Hatte sie seine Einstellung dazu übernommen? Wenn sie einmal ehrlich zu sich war, geschah dies bei vielen anderen Dingen so.

Merle schüttelte heftig ihren Kopf. »Unsinn, ich bin Frau Doktor Merle Hofer, ich habe eine lange Entwicklung meiner Selbstständigkeit hinter mich gebracht.« Merle sprach die Worte laut aus, dabei erschrak sie über ihre eigene Stimme, die den Innenraum des Autos füllte. Aber dennoch hatte sie recht. Sie liebte Sönke und er liebte sie. Vielleicht fing er ja doch an, sie zu verstehen und über ein Kind nachzudenken. Dafür musste seine Liebe doch ausreichen, oder? Andererseits, sollte ihre Liebe nicht auch ausreichen, seine Wünsche zu verstehen?

Merle musste plötzlich lachen. »Ich bin aber auch eine dusselige Kuh.« Die Jahre an Sönkes Seite, ihre lange Ehe, ihre Liebe hatten ihr nie Grund gegeben daran zu zweifeln, dass alles richtig gelaufen war in ihrem Leben. Wahrscheinlich befand sie sich gerade inmitten einer Midlife-Crisis? Sie wischte alle dunklen Wolken aus ihrem Hirn fort. In wenigen Augenblicken würde sie St. Peter-Ording erreichen, Merles Zuhause aus Kinderzeiten. Hier war sie aufgewachsen und ihre Eltern wohnten immer noch hier. Sie kannte jeden Stein, jede Düne und war mit den meisten Bewohnern per Du. Der rosa-graue Himmel über ihrem Geburtsort empfing sie mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages. Sie öffnete das Seitenfenster einen Spalt, um die Nordseeluft einzuatmen. Es roch nach Heimat, Geborgenheit und Salz.

Ihre Eltern bewohnten ein Reetdach-Häuschen mit Anbindung an die Dünen St. Peter-Ordings. Grüne Fenster mit den passenden Türen rahmten das Äußere des Hauses. Merles Mutter verbrachte viel Zeit damit, ihren Vorgarten in eine kleine Oase zu verwandeln. Hier bauten Vögel ihre Nester, Eichhörnchen huschten an den hohen Fichtenstämmen empor. Wunderschöne Rosen erblühten den Sommer über in Rosa und Weiß. Ihre Mutter ließ nichts unversucht, um neue Sorten zu züchten. Zwar hatte sie nur mäßig Erfolg damit, aber es störte sie nicht weiter.

Merles Herz klopfte leicht. Die Freude gleich in die überraschten Gesichter ihrer Eltern zu blicken, beherrschte sie. Zögernd drückte sie, obwohl sie einen Schlüssel besaß, auf den Klingelknopf. Aufgeregte wippte sie auf den Zehenspitzen auf und ab. Merle vernahm Schritte. Vermutlich die ihrer Mutter. Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt. Merle sah in fragende Augen, die jedoch nicht ihrer Mutter gehörten.

»Merle, Liebes, schön dich zu sehen. Deine Eltern sind nicht da, die sind vorgestern in den Urlaub geflogen.« Merle blickte enttäuscht in die bedauernden Augen der Nachbarin, die in ihren Händen eine Gießkanne hielt. Merle bezweifelte, dass die Blumen ihrer Mutter nach drei Tagen Wasser brauchten. Sie vermutete, dass es reine Neugier der Nachbarin war, die sie schon jetzt ins Haus getrieben hatte. Ihre Eltern wussten von der Leidenschaft ihrer Nachbarin, das Haus zu durchsuchen, aber sie nahmen die grenzüberschreitende Frau so, wie sie war. Ihre Mutter war froh, dass die Zimmerpflanzen ihre Abwesenheit auf diese Weise unbeschadet überstanden. Und schließlich hatten ihre Eltern ohnehin nichts zu verbergen. Merle war nicht verwundert, dass sie von der Nachbarin freundlich zum Kaffee eingeladen wurde und diese außerdem wie selbstverständlich an den Küchenschrank ging, um den Kaffee zu kochen.

Leichtsinn mit Folgen

Sönke war mit gemischten Gefühlen ins Labor gefahren. Er grübelte über das morgendliche Gespräch, das er mit Merle geführt hatte, nach. Warum wollte Merle plötzlich ein Kind? Gott im Himmel, wie sollte er Sina das erklären?

Er zog einen neuen weißen Kittel an und öffnete die Glastür zum Labor mit seinem Code. Nur er hatte Zugang zu diesem sich nahe an der Hölle befindenden Raum. Nur er besaß die Formel für das anschließende Experiment. Selbst Merle hatte er nicht erzählt, woran er in den vergangenen Monaten geforscht hatte. Wie könnte er auch. Sie hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihn daran zu hindern.

Er grinste. Natürlich war es nicht ungefährlich, dennoch hatte er alles gedanklich durchgespielt. Wenn sich die Gelegenheit ergeben hatte und Merle oder Sina nicht im Haus waren, hatte er es auch in der Praxis getestet. Dann war er mit einem Kribbeln im Bauch an die Arbeit gegangen. Er liebte die Herausforderung, vor allem aber die Gefahr. Er war bisher immer mit einem blauen Auge davongekommen, im Anschluss daran waren ihm die vorwurfsvollen Blicke der Kollegen sicher gewesen. Leider hatte er sich bei seinem Chef bereits eine Abmahnung eingefangen. Er musste jetzt höllisch aufpassen, keinen Fehler zu machen. Dennoch waren es sein Sieg und seine Anerkennung, die es zu ernten galt, sollte dieses Experiment glücken.

Die Glastür schloss sich mit einem leisen Zischen. Sofort löste dieses Geräusch ein Flattern in Sönkes Magengegend aus. Er lachte leise in sich hinein. Anspannung, Nervosität und sogar ein wenig Angst lagen in der Luft, die er kaum noch in seine Lungenflügel pressen konnte. So sehr war er, ja, fast schon erregt. Merle musste einfach einsehen, dass ein Kind nicht in ihr gefahrenvolles Leben passte. Er sah durch die Glastür. Wenn alles glatt lief, würden sich bald die Nasen der Kollegen daran plattdrücken.

»Ich werde euch schon beweisen, wie einfach es ist«, flüsterte er, dabei rieb er die Hände aneinander. Ein halbes Jahr lang hatte er experimentiert und andere Möglichkeiten einbezogen, Berechnungen angestellt und sie in seinem Hirn abgespeichert. Notizen hatte er nicht gemacht, damit diese nicht in Merles Hände gelangten.

Am heutigen Tag aber notierte er den Vorgang in ein Berichtsbuch. Damit sichergestellt war, dass ihm der bahnbrechende Erfolg zugeschrieben wurde. Die Kolben stellte er in die dafür vorgesehenen Ständer. Dann gab er die erste Chemikalie hinein. Der Versuch nahm Form an, jetzt nur noch die zweite Zutat hinzugeben. Sönke hielt einen Augenblick inne. Er genoss dieses überwältigende Gefühl der Macht. Die Macht über das Leben und Sterben. Denn dieses Schädlingsbekämpfungsmittel sollte alles bisher Dagewesene übertreffen. Das Beste daran war, dass es seine Handschrift tragen würde.

Er beobachtete gespannt, wie gelblicher Dampf aus den Kolben aufstieg, gleich kam der Moment, an dem er reagieren musste. Er bemerkte zu spät, dass ein scharfer, beißender Geruch aufstieg, der seine Schleimhäute reizte. Er hustete. Verdammt, etwas lief falsch! Sönke konnte kaum die Augen offenhalten. Er zwang sich zur Konzentration. Auf keinen Fall durfte er nachlässig werden.

Ah, das Brodeln im Glaskolben ließ etwas nach. Sönke atmete erleichtert auf, was schlimme Folgen für ihn hatte. Der beißende Dampf strömte in die Lunge und verursachte einen Hustenreiz. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er diesen Versuch zu voreilig unternommen hatte. Aber es war zu spät für Reue. Er musste weitermachen, auch wenn es das letzte Experiment dieser Art für ihn sein würde. Nach dieser Aktion musste er damit rechnen, von seinem Chef gefeuert oder zum Pillendrehen versetzt zu werden.

»Das wird nicht passieren«, krächzte er. Langsam nahm er den Kolben heraus. Er musste ihn abkühlen. Er sah zur Wanduhr über der Glastür. In dem Augenblick, als er wieder in den Kolben blickte, geschah die Explosion.

Sönke musste nicht lange überlegen, ihm waren die Folgen bewusst, er war am Ende. Die ätzende Dampfwolke umhüllte ihn wie ein Mantel des Bösen. Er spürte die nun aufsteigende Flüssigkeit auf seinem Gesicht. Heiße Spritzer landeten in seinen Augen. Er schlug die Hände vor das Gesicht und ein markerschütternder Schrei entwich seiner Kehle. Die Hitze, diese verdammte Hitze! Er fuhr sich langsam mit den Fingern über die Augen. Sein Kopf drohte zu zerplatzen. Als er kurz darauf polternd zu Boden stürzte, fühlte er sich der Hölle nahe.

Bevor der Alarm ausbrach, versank er in eine tiefe Dunkelheit. Das Sicherheitssystem öffnete die Glastür zum Labor, in dem Sönke reglos lag. Nur aus der Ferne vernahm er die aufgebrachten Stimmen. Merle, dachte er, bitte verzeih mir. Jemand rüttelte an ihm, doch er war nicht fähig, darauf zu reagieren. Heftige Schmerzen machten ihn fast wahnsinnig. Die Worte des eintreffenden Notarztes brannten sich ihm dennoch ins Hirn.

»Mein Gott, der wird nicht mehr schön, so viel ist klar.«

»David«, zischte eine weitere Stimme, »halt’s Maul.«

Sina Klein stürzte herein und fiel vor Sönke auf die Knie. »Sönke! Kannst du mich hören?« Sie hielt den Atem an. Tränen rannen haltlos über ihr Gesicht. Der Sanitäter schob sie sanft, aber bestimmt fort von Sönke.

»Sie müssen hier weg, Sie können hier nicht helfen«, polterte er ungehalten. Sönke versuchte, einen Laut von sich zu geben, scheiterte aber kläglich.

Oben auf dem Flachdach des Chemiekonzerns landete ein Hubschrauber, um Sönke in ein Spezialkrankenhaus nach Hamburg zu fliegen. Als der Pilot zum Landeanflug ansetzte, kam Sönke zu sich. Der Notarzt hatte ihn mit Schmerzmitteln zugedröhnt, die einigermaßen Wirkung zeigten und Sönke etwas klarer werden ließen.

»Wo bringen Sie mich hin?« Er versuchte, den Kopf anzuheben, aber er konnte nichts erkennen. »Warum kann ich nichts sehen?« Voller Panik wälzte er sich hin und her.

»Bleiben Sie ruhig, Sie tragen einen Verband, der ist so gut wie undurchsichtig, was durchaus gewollt ist. Ihre Augen benötigen Lichtschutz und Ruhe. Bitte haben Sie Geduld.« Geduldig redete der Notarzt auf Sönke ein.

»Ich muss meine Frau anrufen, sie wird verrückt vor Sorge, wenn ich mich nicht melde!«

»Ich erledige es gern für Sie, Herr Hofer«, sagte eine weibliche Stimme leise an seinem Ohr.

Sönke drehte den Kopf in die Richtung, wo er sie vermutete. »Danke, sehr lieb von Ihnen«, murmelte Sönke kraftlos.

»Haben Sie die Nummer im Kopf?«, erkundigte sich die Stimme.

»Scheiße … mein Handy … ich weiß nicht …«

»Das spielt keine Rolle, ich finde die Nummer Ihrer Frau sicher auch so.«

»Wie heißen Sie?«, fragte Sönke, der zunehmend auf die Schmerzmittel reagierte.

»Lisa.« Die Stimme schien zu lächeln.

»Danke, Lisa.« Lisas beruhigende, dennoch besorgt wirkende Stimme begleitete Sönke in den Schockraum. Sönke fasste Vertrauen zu der fremden Person.

»Lisa?«

»Ja, ich bin hier, neben Ihnen.«

»Haben Sie ein Handy dabei?«

»Ja.« Sie schien zu zögern.

»Könnten Sie bitte die Nummer meiner Frau wählen? Ich möchte selbst mit ihr sprechen.«

»Verschieben Sie es besser auf später.« Sönke hörte ein Zittern in Lisas Stimme.

»Nein«, sagte er fest. »Ich muss sofort mit Merle sprechen. Es dauert nicht lange. Sie käme um vor Sorge, wenn jemand Fremdes sie anriefe.«

»Also gut, wie Sie wollen. Wie lautet die Nummer?« Stockend sagte er ihr die Nummer auf, die plötzlich aus seinem Gedächtnis aufgetaucht war. Die Trage hielt im Schockraum und Sönke lauschte dem Freizeichen.

Das Wiedersehen

Merle hätte sich ohrfeigen können. Natürlich, ihre Eltern waren in den Urlaub geflogen. Warum hatte sie nur nicht daran gedacht? Zähneknirschend trank sie mit der Nachbarin einen Kaffee. Eigentlich hatte sie keine Lust dazu, aber es wäre unhöflich gewesen, wenn sie abgelehnt hätte. Merle kannte Gisela Sauer von Kindesbeinen an, aber sie konnte Gisela nie richtig leiden.

Um nicht völlig umsonst nach St. Peter-Ording gefahren zu sein, ging sie im Anschluss noch in die Badallee, um ein wenig zu bummeln. Bevor sie den Heimweg nach Bremen antrat, aß sie bei ihrem Lieblingsitaliener eine Kleinigkeit zu Mittag. Sönke freute sich sicher ebenso wie sie, dass er sie früher wieder in die Arme schließen konnte als vorgesehen. Sie zuckte zusammen, als ihr Handy klingelte. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum ein ungutes Gefühl sie erstarren ließ. Eilig suchte sie das Telefon in der Handtasche. Misstrauisch starrte sie auf die ihr fremde Nummer.

»Hofer«, meldete sie sich zögernd.

»Liebling, ich bin es.« Merle erstarrte.

»Schatz, was ist los? Stell dir vor …« Merle wollte ihm berichten, dass ihre Eltern nicht zu Hause waren, aber Sönke sprach weiter.

»Alles bestens, du kannst übrigens gerne länger in SPO bleiben, ich habe eben unseren Arbeitsplatz zerstört.« Sönke lachte gedämpft.

»Geht es dir gut?« Merles Stimme wurde schrill.

»Klar, Unkraut vergeht nicht. Ich werde gleich ein bisschen zusammengeflickt und danach darf ich nach Hause.«

»Zusammen… was? Du bist verletzt?« Merle keuchte. Sie spürte eine Gefahr auf sich zukommen, konnte jedoch nicht ausmachen, was es war.

»Wie gesagt, verlängere deinen Aufenthalt bei deinen Eltern, vielleicht komme ich bald nach. Ich muss Schluss machen, die nette Schwester neben mir wird ungeduldig, ich melde mich, sobald ich hier raus bin. Schöne Zeit und grüß die Alten.« Klick!

Merle starrte wie betäubt auf das Telefon. Sönkes Stimme hatte sich verändert angehört. Er hatte versucht, möglichst unbeschwert zu klingen, aber Merle kannte ihren Mann nur zu gut. Er hatte versucht, sie nicht zu beunruhigen, das war ihm leider gänzlich misslungen. Ihre Hände zitterten, als sie die Rechnung beglich. Der Kellner bedankte sich überschwänglich für das großzügige Trinkgeld. Merle wusste nicht, wie viel sie ihm gegeben hatte. Das interessierte sie auch nicht. Sie musste auf dem schnellsten Weg nach Bremen.

Als sie loslief, stieß sie mit jemandem zusammen. Es hätte nicht viel gefehlt und Merle wäre rücklings über die Stühle gefallen, wenn nicht ein fester Griff sie daran gehindert hätte. Wütend riss sie sich los.

»Können Sie nicht aufpassen?«, fauchte sie.

»Doch, aber Sie sind blind in mich reingerannt.« Ein belustigtes Lachen ertönte.

Merle wurde noch ärgerlicher. Der Mann überragte sie um Längen, sodass sie zu ihm aufschauen musste, um ihm böse Blicke zuzuwerfen.

»Püppi?! Bist du es wirklich?« Offenbar benötigte der Mann keine weitere Antwort, denn er hob sie hoch und umarmte sie freudig. Merle sah ihm in die Augen und wusste dann, wer sie so übermütig begrüßte.

»Mika?« Merle konnte es nicht fassen. Mika war mit ihr in dieselbe Klasse gegangen. Viele Jahre waren sie Freunde und Vertraute gewesen, bis ihre beruflichen Wege sich getrennt hatten. Nannte er sie tatsächlich Püppi? Er hatte sie früher so genannt, weil sie eine überzeugte Puppenmutter gewesen war. Bewundernd hatte er ihr dabei zugeschaut, wie sie versucht hatte, ihrem Puppenbaby Brei in dessen geschlossenen Mund zu stopfen. Da war sie acht Jahre alt gewesen. Ihre Mutter hatte es, lachend, als grenzenlose Sauerei bezeichnet. Mika hatte sich auf die Reste gefreut und sie verschlungen. Er wohnte damals in der Nachbarschaft. Sie verbrachten nach der Schule die Freizeit miteinander. Wenn Merle nicht mit ihren Puppen spielte, zog sie mit Mika durch die Wälder St. Peters oder sie bauten Sandburgen in der größten Sandkiste der Welt.

»Du kannst mich jetzt wieder runterlassen«. Sie landete sanft auf ihren Füßen.

»Hättest du Zeit für einen Kaffee?« Mika sah sie aufmunternd an. Die Gelegenheit hätte nicht schlechter sein können, denn Merle musste zu Sönke, der irgendwie in Schwierigkeiten steckte. Jedoch schwanden die Sorgen allmählich. Hatte er nicht gesagt, dass es ihm soweit gut ginge? Ihre vor wenigen Minuten aufgekommene Unruhe hatte sich etwas gelegt. Sie würde noch schnell genug erfahren, wie es um ihren Arbeitsplatz stand. Darum nickte sie kurz und suchte einen freien Platz in den Strandkörben, die das Lokal in beschaulichen Ecken bereithielt.

»Gerne, aber ich muss heute noch zurück nach Bremen.«

Sichtlich erfreut führte Mika sie an einen frei gewordenen Platz. Beide ließen sich lachend in den Strandkorb fallen und saßen nun dicht nebeneinander. Merle bestellte einen Friesentee und Mika nahm ein Bier. Zunächst schwiegen beide. Merle spürte sofort die Vertrautheit von damals aufkommen. Als wären die Jahre dazwischen, in denen sie sich aus den Augen verloren hatten, gelöscht geworden.

Mika erzählte vom Klassentreffen von vor zwei Jahren und dass er gehofft hatte, sie dort zu treffen.

Merle blickte erstaunt auf. »Davon wusste ich nichts. Schade eigentlich.«

Mika legte die Stirn in Falten. Schon als kleiner Junge hatte er unheimlich skeptisch dreinschauen können. Dabei verdunkelten sich seine grünen Augen und er rümpfte zusätzlich die gerade Nase. »Aber ich habe mir extra von deinen Eltern deine aktuelle Adresse geholt und die Einladung sogar selbst in die Post gegeben.«

»Verstehe ich nicht«, meinte Merle nachdenklich. »Dann müsste meine Mutter mir doch zumindest bei einem Telefongespräch davon erzählt haben. Ich habe keinen Brief erhalten, das wäre mir doch aufgefallen.« Fieberhaft grübelte Merle darüber nach, wie es möglich gewesen war, dass der Brief nicht ankam. Sie gab der Post die Schuld und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem langjährigen Freund. »Machst du Urlaub bei deinen Eltern?«, fragte Merle.

»Ich bin wieder in die Heimat zurückgekehrt, als mein Vater die Apotheke nicht mehr weiterführen konnte. Entgegen meiner Einstellung habe ich sie übernommen.«

Merle sah Mika erstaunt an. »Aber du wolltest doch immer etwas Handwerkliches lernen? Wann hast du dir das anders überlegt?« Neugierig betrachtete sie Mika. Er sah verdammt gut aus und hatte sich kaum verändert. Etwas breitere Schultern und einige kleine Fältchen um seine Augen herum waren hinzugekommen, aber ansonsten entdeckte Merle in seinen Zügen den Jungen aus ihrer Schulzeit.

Mika lachte beschämt. »Sehr bald, ich kam ziemlich schnell an meine Grenzen, als ich bei Nässe und Kälte auf den Baustellen herumtoben musste. Da habe ich mich schnell an mein relativ gutes Abiturzeugnis erinnert und mit dem Studium begonnen.«

Merle schmunzelte. »Sandburgen bauen war da eine deiner leichtesten Übungen, nicht wahr?«

Mika fiel in ihr Lachen ein. »Ja, nicht zu vergleichen mit der Realität.« Er schmunzelte verlegen. »Aber eine Apotheke zu führen, ist leider auch nicht so lukrativ wie es früher einmal war. Die sich jährlich ändernden Bestimmungen durch die Politik und die Krankenkassen machen es nicht leicht. Ich weiß nie, was das neue Jahr bringt. Außerdem sind die Betriebskosten gerade in einem Urlaubsgebiet wie St. Peter-Ording nicht von Pappe. Wenn ich daran denke, wie schwer es ist, geeignetes Personal zu bekommen, müsste ich eigentlich meine Tore schließen, bevor ich gänzlich meine Energie verschwende.« Mika sah Merle bewundernd an. »Du bist wunderschön, Merle. Wir hätten auf unsere Eltern hören sollen, als sie uns im Sandkasten verloben wollten.«

Merle kicherte. »Genau, dann wären wir jetzt das Apothekerehepaar von SPO.«

Mika war sichtlich überrascht. »Jetzt sag nicht, du bist …« Er strahlte, als er Merles Nicken sah. »Echt? Das ist ja der Hammer.«

Merle erzählte ihm von ihrer Arbeit im Labor und erntete Mikas Bewunderung.

»Hört sich spannend an. Ich dagegen bin glücklich über eine Grippeepidemie und im Sommer verkaufe ich den Touristen die beste Sonnencreme der Saison.« Mika wirkte nachdenklich. »Vielleicht sollte ich mir im hinteren Teil der Apotheke ein kleines Forschungslabor einrichten.« Er grinste. »Dann hole ich dich dazu, wenn ich nicht mehr weiterweiß.«

»Nein danke, mir genügt mein Mann, dem ich auf die Finger klopfen muss, wenn die Leidenschaft für seine Experimente mit ihm durchgeht.« Merle wusste von den Problemen, auch sie hatte sich während sie die Apotheke gehabt hatte mit solchen Dingen auseinandersetzen müssen, aber sie vermisste die Apotheke trotzdem manchmal. Am besten hatte ihr der Umgang mit den Kunden gefallen, die sich vertrauensvoll an sie gewandt hatten. Gedankenverloren sah sie auf die Fußgänger, die an ihnen vorbeischlenderten.

Mika stieß sie an. »Hallo? Erde an Merle! Wo bist du mit deinen Gedanken?« Er lächelte.

»Och, ich glaube, ich war ein wenig in der Vergangenheit versunken.« Merle dachte an Sönke, sie sollte bald aufbrechen, um endlich Antworten zu finden, die ihren Arbeitsplatz betrafen. Vor allem aber, um nach Sönke zu sehen. Ob er schon zu Hause war?

»Sag, wie viele Kinder habt ihr?«

Merle sah ihn verwirrt an. Für Mika war es offenbar klar gewesen, dass sie eines Tages Kinder haben würde. Ihre Leidenschaft als Puppenmutti war ihm wahrscheinlich in guter Erinnerung geblieben. Langsam wandte sie ihr Gesicht zu ihm.

»Kinder sind anstrengend und passen nicht in unser Leben«, sagte sie wenig überzeugend.

Mikas Überraschung darüber, dass Merle kinderlos war, sah sie ihm deutlich an. Er schüttelte langsam seinen Kopf. »Sagt wer? Dein Mann oder du?«