Friesenglück - Anni Deckner - E-Book

Friesenglück E-Book

Anni Deckner

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Beschreibung

Sonne, Sand und Meeresrauschen Franzi von Liebermann hat eine große Zukunft vor sich. Eines Tages wird sie das Gut und die Pferdezucht ihrer wohlhabenden Großmutter in Friedrichskoog übernehmen. Bis dahin muss sie sich jedoch mit der eigensinnigen alten Dame gutstellen. Und diese wünscht sich nichts sehnlicher, als ihre einzige Erbin endlich in festen Händen zu sehen. Am liebsten in denen des gut betuchten Johannes von Berendes. Doch Franzi kann Johannes nicht leiden und denkt gar nicht daran, ihn zu heiraten. Viel besser gefällt ihr da der verwegene Zimmermann Luke, den sie auf einem ihrer Ausritte am Strand kennengelernt hat. Seine gradlinige Art und seine Lebensfreude beeindrucken die junge Erbin. Doch Franzis Großmutter hat noch ein Ass im Ärmel … Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen: Barfuß am Strand Leuchtturmtage Die Sehnsucht der Inselärztin Friesenglück Sylter Meeresrauschen Die Krabbenfischerin Das kleine Blumencafé am Strand Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording Inselglück im Schneegestöber

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Die AutorinAnni Deckner, geboren 1961 in Winnert bei Husum, lebt mit ihrer Familie in Hanerau-Hademarschen. Ihre Liebe zur Grauen Stadt am Meer kann man in ihren Werken spüren. Die kreative Luft des Nord-Ostsee-Kanals inspiriert die Autorin genau wie damals den berühmten Dichter Theodor Storm, der an diesem Ort seinen Schimmelreiter zu Papier brachte. Ihre Leidenschaft zum Schreiben entwickelte sich schon in früher Jugend, ihr erstes Buch Heimathafen Husum erschien jedoch erst im März 2014, gefolgt von Knocking Out 2015. In ihrer Freizeit geht die Autorin gern mit ihrem Mann auf Reisen. Ihr Beruf und gleichzeitig Berufung ist ihre Arbeit bei der Kirchengemeinde Hanerau-Hademarschen.

Das Buch

Sonne, Sand und MeeresrauschenFranzi von Liebermann hat eine große Zukunft vor sich. Eines Tages wird sie das Gut und die Pferdezucht ihrer wohlhabenden Großmutter in Friedrichskoog übernehmen. Bis dahin muss sie sich jedoch mit der eigensinnigen alten Dame gutstellen. Und diese wünscht sich nichts sehnlicher, als ihre einzige Erbin endlich in festen Händen zu sehen. Am liebsten in denen des gut betuchten Johannes von Berendes. Doch Franzi kann Johannes nicht leiden und denkt gar nicht daran, ihn zu heiraten. Viel besser gefällt ihr da der verwegene Zimmermann Luke, den sie auf einem ihrer Ausritte am Strand kennengelernt hat. Seine gradlinige Art und seine Lebensfreude beeindrucken die junge Erbin. Doch Franzis Großmutter hat noch ein Ass im Ärmel …

Anni Deckner

Friesenglück

Ein Nordsee-Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin August 2017 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95818-199-1  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Franzi

Franziska erkannte auf den ersten Blick, dass ihre Großmutter zum Kaffeeklatsch geladen hatte. Zahlreiche SUVs parkten in der vornehmen Hofeinfahrt. Alles mit Rang und Namen gab sich bei der Gutsherrin Susann von Liebermann die Ehre. Friedrichskoog hatte nicht übermäßig viel Abwechslung zu bieten. Eine Einladung im Hause von Liebermann bedeutete, zur guten Gesellschaft zu gehören. Hier wurden Klatsch und Tratsch aus der Gemeinde herrschaftlich diskutiert und dementiert. Dabei durfte nicht vergessen werden, die neuste Mode vorzuführen. Die Damen versuchten sich gegenseitig zu übertreffen. Susann von Liebermann stellte eine Vorreiterin in dieser Disziplin dar. Wobei jede der eingeladenen Frauen es darauf anlegte, es ihr gleichzutun.

Das Speisezimmer war erfüllt von edlen Düften, von denen Franzi zumeist Kopfschmerzen bekam. Ihre Nase war den Pferdeäpfeln weitaus wohlgesonnener.

Sie stöhnte genervt. Ihre Großmutter erwartete, dass sie ihre Gäste begrüßte und leutselig Small Talk führte. Sicher hatte ihre Großmutter bereits fürsorglich die geeignete Kleidung für so eine Veranstaltung auf Franzis Bett bereitgelegt, um Fehlgriffe ihrer Enkelin zu vermeiden. Nach ihrem verdienten Feierabend in der Bank verspürte Franzi jedoch nicht die geringste Lust dazu, sich an der Kaffeegesellschaft zu beteiligen. Umfangreiche Kundengespräche lagen hinter ihr, während derer sie ihr freundlichstes Lächeln aufgesetzt hatte. Franzi sehnte sich danach, abzuschalten, im Stall auszuhelfen. Dies war ein Ausgleich zu ihrer Arbeit und seit ihrer Jugend eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.

Susann von Liebermann teilte die Leidenschaft ihrer Enkelin in keiner Weise. Sie erachtete es als unschicklich, mit der Belegschaft die Stallarbeit zu erledigen. Sie fürchtete den Verlust des Respekts der Angestellten. Bekanntermaßen würde Franzi eines Tages die Gutsherrin sein und sollte sich schon jetzt ihrer Stellung entsprechend verhalten.

Franzi überlegte blitzschnell. Sie lenkte ihr Auto hinter die Pferdeställe und versteckte es dort, unsichtbar für ihre Oma. Mit eiligen Schritten begab sie sich zum Kellereingang, um durch die Gewölbe ins Haus zu gelangen. An den Weinvorräten vorbei, über die Wäschekammer zum Treppenaufgang huschte sie in das Wohnhaus. Auf dem Treppenabsatz strömte ihr der Duft von Bohnenkaffee und Torten entgegen. Sie widerstand der Versuchung, eine Köstlichkeit bei den hohen Damen der Gemeinde Friedrichskoog zu stibitzen. Sie wusste nur zu genau, dass ihre Großmutter sie nicht mehr aus ihren Fängen entlassen würde. Nach der Stallarbeit konnte sie sich immer noch an den Resten der Tortenschlacht erfreuen.

Franzi erklomm das nächste Stockwerk, um sich in ihrem Zimmer umzukleiden. Lautes Lachen und Kichern ertönte aus dem Wohnzimmer. Die Frauen schienen sich gut zu unterhalten. Auch ohne Franzi.

Nun verharrte sie einen Moment in ihrem Chaos, welches sie in der Eile am Morgen hinterlassen hatte. Nach kurzer Überlegung schlüpfte sie in ihre Reitkleidung. Sie entschied, auf die Stallarbeit zu verzichten und mit ihrem Hengst Dakota über die Deiche zu reiten. Franzi grinste verschmitzt, sie roch bereits die würzige Luft der Nordsee. Obwohl sie hier aufgewachsen war, konnte Franzi davon nie genug bekommen. Der Geruch von Freiheit und die unbändige Natur entsprachen genau ihrem Gemüt.

Dakota besaß ein schwer zu zügelndes Temperament, dem nur Franzi gewachsen war. In ihren Händen war er butterweich zu lenken. Er liebte seine Herrin und vertraute ihr. Mit einem erwartungsfrohen Lächeln begab sie sich in den Stall.

»Moin, Tony, wie geht’s dir?«, begrüßte sie den in die Jahre gekommenen Pferdewirt. Er war verantwortlich für das Wohl der Zuchtpferde. Franzi kannte ihn von Kindesbeinen an. Darum pflegten sie einen saloppen Umgangston untereinander. Ihrer wachsamen Großmutter war das ein Dorn im Auge. Franzi störte das nicht im Geringsten.

»Alles bestens«, versicherte Tony zwinkernd. »Du willst ausreiten? Dakota ist heute extrem unruhig. Du solltest ihn erst mal über die Weide jagen, damit er sich abreagiert.« Franzi lachte ihn an. »Das wird nicht nötig sein. Wenn ich ihn auf die Weide lasse, sieht meine Oma mich womöglich noch und zitiert mich zur Kaffeetafel. Ein Risiko größeren Kalibers.«

Tony spielte den Entsetzten, indem er die Hand vor den Mund schlug und den Kopf einzog. »Na dann lieber vom Ross fallen. Im Krankenhaus hast du es definitiv besser als bei deiner fürsorglichen Oma!«

Franzi bewarf Tony mit einem Apfel, den sie aus dem Futtereimer entwendete. Gerade noch rechtzeitig bückte der alte Mann sich, um dem Angriff auszuweichen. Er lachte diebisch.

»So geht man aber nicht mit Lebensmitteln um, unreifes Fräulein.«

»Den bekommt Dakota, wenn wir zurück sind.« Schwungvoll hob sie das Obst auf und legte es in den Eimer zurück. Danach öffnete sie die Tür der Box.

Der Hengst stampfte aufgeregt mit dem Huf gegen die Wand. Franzi schlüpfte hinein und begrüßte ihren Liebling zärtlich. Sie steckte die Nase in sein Fell und sog den Geruch des Tieres ein. Mit geschlossenen Augen verweilte sie an seinem Hals. Schlagartig wurde Dakota ruhiger. Franzi schnappte sich einen Striegel, um das Fell zum Glänzen zu bringen. Dabei sprach sie mit dem Hengst und erzählte von ihrem Arbeitstag. Dakota ließ die Ohren tanzen und lauschte Franzis Stimme.

Tony beobachtete die Szenerie aus sicherer Entfernung. Dakota war in seinen Augen unberechenbar. Franzi nahm die Gefahr, die von ihm ausging, nicht sonderlich ernst. Er wäre froh, wenn dieser Teufel den Hof verlassen würde. Er ahnte jedoch gleichzeitig, dass Franzi die Trennung auf gar keinen Fall verwinden könnte. Ein Lächeln huschte über sein faltiges Gesicht. Franzi beruhigte ihren Liebling in Sekunden. Kopfschüttelnd verließ er den Schauplatz für einen Kontrollgang bei den Stuten.

»So, mein Dicker, wir reiten aus. Also benimm dich!« Franzi klopfte ihrem Pferd den Hals, striegelte wiederholt seinen Rücken und legte sanft einen Sattel darauf. Dakota tänzelte in der Box, dann ließ er sich bereitwillig hinausführen. Franzi hatte eine Vorliebe für harte Arbeit, weshalb ihr Körper leicht muskulös war. Sie hatte kräftige Hände, die zupacken konnten und nicht nur dafür geschaffen waren, den Kugelschreiber zu führen.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie nie den Umweg einer Bankausbildung gewählt, sondern wäre gleich Pferdewirtin geworden. Ihre Großmutter hatte sie zu der Ausbildung überredet. Zuerst hatte sie mit Engelszungen auf Franzi eingeredet, bis sie zu härteren Methoden übergegangen war und Franzi schließlich ihren Wünschen entsprechen musste. Franzi hatte die Wahl gehabt, nach England zu ihrer verhassten Tante zu ziehen oder sich den Forderungen ihrer Oma zu beugen. Ihre Entscheidung war klar gewesen.

Franzi verstand es, ihre Oma um den Finger zu wickeln. genau wie bei ihrem Hengst, war sie auch bei ihrer Großmutter die Einzige, die sich Widerworte erlauben durfte. Jedoch hatte sie in diesem Fall auf Granit gebissen. So war Franzi dem Wunsch ihrer Oma gefolgt und hatte eine Lehre in der Zentralbank absolviert. Dagegen gelang es Susann aber nicht, ihre Enkelin zur Heirat zu bewegen. Sie hätte es zu gern gesehen, wenn Franzi Johannes von Berendes geehelicht hätte.

»Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, da wird man einem Mann nicht mehr versprochen, den man nicht liebt«, hatte Franzi ihrer Oma gesagt. Franzi teilte die antiquierte Einstellung ihrer Großmutter nicht und hatte zum Leidwesen Susanns auch nicht vor, das zu ändern.

Die dreißigjährige zukünftige Gutsherrin hatte die Liebe bislang nicht gefunden. Die Heiratswilligen aus der sogenannten guten Gesellschaft schienen ihr zu spießig. Franzi war eine Abenteurerin. An Teestunden und Mode zeigte sie, zum Bedauern ihrer Oma, kein Interesse.

Draußen ließ Franzi ihren Hengst auf dem Abreitplatz ein paar Runden an der Longe traben. Bis zur Friedrichskoogspitze würde sie an der Straße reiten müssen. Dakota war unter ihrer Führung zuverlässig, aber sie gönnte ihm vorher ein wenig Auslastung. Sie war sich durchaus bewusst, dass ihre Großmutter sie vom Fenster aus erblicken könnte, doch das war ihr egal. Franzi freute sich über das feurige Temperament ihres Pferdes. Sie liebte die Herausforderungen, die Dakota ihr täglich bot.

Die Gutsherrin Susann von Liebermann schob ihren blond gefärbten Schopf an das Fenster der Villa. Beleidigt presste sie die schmalen Lippen aufeinander. Sie hatte damit gerechnet, dass ihre Enkelin ihr einen Strich durch die Rechnung machen würde. Dennoch war sie verärgert.

Dessen ungeachtet musste sie jedoch lächeln, als sie sah, wie Franzi mit dem temperamentvollen Tier ihren Spaß hatte. Susann hätte in ihrer Jugend nicht den Schneid besessen, sich Anweisungen ihrer Eltern zu widersetzten, allerdings hatte sie auch kaum Gelegenheit dazu gefunden, da ihre Eltern sehr früh gestorben waren.

Sie hob ihr Kinn. Franzi hatte bei ihr eine gute Erziehung genossen. Das, was Franzi trieb und nicht trieb, zeigte trotz alledem ihre Handschrift und erfüllte sie mit Stolz. Franzi ging ihren eigenen Weg, und Susann gönnte es ihr von Herzen. Trotzdem wurde es Zeit, dass sie Franzi auf die Aufgaben, die sie ihr bald übertragen würde, vorbereitete. Ihre Enkelin benötigte dringend den nötigen Biss, sie war zu gutmütig für das harte Geschäft der Zucht. Susann wandte sich vom Fenster ab, um sich wieder um ihre Gäste zu kümmern.

»Marlene, Franzi kommt heute nicht. Du musst dein Anliegen mit ihr in der Bankfiliale besprechen. Ich vereinbare gerne einen Termin für dich.« Sie legte der Freundin ihre mit Goldschmuck versehene Hand auf die Schulter. Jeder wusste, dass Marlene mit ihrer Familie ums Überleben rang. Nach wie vor setzten sie auf die Milchproduktion, die zunehmend ihre Rentabilität verlor. Ein Darlehen auf ihre Flächen sollte für eine Zeit lang Ruhe in die finanzielle Lage bringen.

Susann von Liebermann hatte damals nach Übernahme des Guts sofort zur Pferdezucht gewechselt. Obwohl Susann erst zwanzig Jahre alt gewesen war, hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes auf das richtige Pferd gesetzt. Die Wirtschaftlichkeit des Guts war ohne Zweifel gewährleistet. Sie hatte ein Vermögen verdient. Sie würde Franzi zu gegebener Zeit mit reinem Gewissen die Geschäfte übertragen können.

Wehmütig sah sie zum Fenster. Nur zu gerne würde sie mit Franzi über die Deiche jagen. Sie war vor zwei Monaten fünfundsiebzig geworden, aber ihre Fähigkeiten, ein Pferd zu lenken, hatte sie bisher nicht einbüßen müssen. Vielleicht gab es am nächsten Tag eine Möglichkeit, mit Franzi gemeinsam zu reiten. Dies hatten sie lange nicht mehr gemacht, und sie könnte die Gelegenheit nutzen, um Franzi die Vorzüge von Johannes Berendes aufzuzeigen. Es wäre eine weitaus bessere Lösung, wenn Franzi freiwillig die Ehe mit Berendes einging, als wenn sie sie zwingen müsste.

Dakota lief in gleichmäßigem Schritt am Straßenrand entlang. Franzi spürte die Anspannung unter ihr. Es kribbelte Dakota unter den Hufen. Er ließ seine Ohren spielen. Schaum bildete sich vor seinem Maul. Sie klopfte beruhigend den Hals des Pferdes.

»Du alter Hitzkopf, mach mir keinen Ärger. Tony wartet schon lange darauf, dich zu Wurst verarbeiten zu können.« Sie kicherte leise. Dafür würde er allerdings erst einmal an ihr vorbeimüssen. Sie lockerte die Zügel und ließ ihren Teufel weitergehen. Franzi ritt ihre Tiere nur nach Westernart. Sie zog es vor, mit lockeren Zügeln die Richtung anzugeben. Ihr Becken schwang im Takt der Bewegung des Pferdes. Langsam wuchs auch bei ihr die Lust loszupreschen. Dakota spürte die Erregung seiner Besitzerin. Er tänzelte nervös. Franzi hatte alle Mühe, ihn zurückzuhalten.

»Moin, Franzi«, hörte sie. »Soll ich dir den Teufel mal einreiten? Danach hast du keine Probleme mehr mit ihm.«

Franzi sah in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Sie kannte die Stimmfarbe nur zu gut. Ausgerechnet der Berendes. Der hatte ihr noch gefehlt. Sie lenkte ihr Pferd in seine Richtung und funkelte ihn böse an. »Wie kommst du darauf, dass ich deine Hilfe bräuchte? Dakota ist eingeritten. Deine tierfeindlichen Methoden sind hier in Friedrichskoog jedem bekannt. Pass lieber auf, dass ich dir nicht den Tierschutzverein auf deinen Hof schicke, Jo.«

Johannes Berendes, den jeder nur Jo nannte, lachte laut. Er legte den Kopf weit nach hinten und verlor dabei fast seinen Hut. Jo besaß einen durchtrainierten Körper. Er trug die langen, glatten Haare zu einem Zopf. Das schmale Gesicht mit den übergroßen Augen wirkte unschuldig. Die Stupsnase mit den sinnlichen Lippen darunter unterstützte diesen Eindruck zusätzlich. Franzi wusste jedoch, dass dies ein trügerisches Bild von ihm gab. Sie verstand ihre Oma immer weniger, warum sie ihn heiraten sollte. Wie konnte sie diesen windigen Tierquäler nur in ihre Familie aufnehmen wollen? Die gesamte Gemeinde Friedrichskoog kannte Jos Methoden, den Pferden seinen Willen aufzuzwingen. Es gab nur keine stichhaltigen Beweise dafür, sonst hätte sie ihm längst das Handwerk gelegt.

»Franzi, Franzi, du wirst auch noch gezähmt. Am liebsten wäre es mir, wenn ich das übernehmen dürfte. Die Verhandlungen mit deiner Großmama sind noch nicht beendet.« Seine Augen blieben vom Lachen unberührt. Sie lagen dunkel und ohne Glanz in ihren Höhlen.

Franzi wurde zornig. Sie rutschte vom Pferd, ließ die Zügel langsam auf die Erde gleiten und ging wutentbrannt auf Jo zu. »Ich rate dir gut, lieber Jo, rede hier nicht so einen Schwachsinn! Bist du betrunken? Oder warum pöbelst du hier rum?« Sie baute sich dicht vor Jo auf und blickte ihm provozierend ins Gesicht.

Jo grinste schief und schaute an ihr vorbei. Er hob die Hand. »Sieh mal, dein Gaul flüchtet, womöglich ist er doch nicht gut erzogen?«

Franzi ließ sich nicht beirren. Sie wusste, dass Dakota mit Sicherheit immer noch dort stand, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Unbeirrt trat sie näher an Jo heran. »Ich rate dir, Berendes, behandle deine Pferde besser, oder ich leite ein Verfahren gegen dich ein!«

Jos Gesichtsausdruck verfinsterte sich bedrohlich. Seine Augen formten sich zu schmalen Schlitzen. Langsam hob er die Hand und legte sie, ohne zu zögern, in Franzis Nacken.

Franzi hatte das Gefühl, in einen Schraubstock geraten zu sein. Kraft hatte der Kerl. Er setzte seine Lippen hart auf ihre. Fordernd sog er daran. Als Franzi Luft holen musste, öffnete sie ihren Mund. Einem Schlangenangriff gleich erforschte Jo eilig ihre Mundhöhle. Jetzt endlich setzte Franzi sich zur Wehr und stieß ihn weg. Jo ließ sie abrupt los, sodass Franzi taumelte. Sie roch seinen Atem, als er sie fragte: »Wann reite ich dich ein, Baby?«

»Dazu bist du gar nicht fähig, du Aufschneider.« Franzi kochte vor Wut. »Wenn du ein echter Mann wärst, müsstest du deine Unzulänglichkeiten nicht an deinen Pferden auslassen.«

Mit einem hämischen Lachen drehte er sich weg und ging, immer noch lachend, zur Wirtschaft auf die andere Seite der Straße. Dort hatten Koogbewohner die Streitigkeiten aus der Ferne beobachtet. Jetzt applaudierten sie freudig.

In Friedrichskoog kannte man die Pläne der Gutsherrin. Die Bewohner glaubten offenbar, dass die Romanze, die ihre Großmutter zu lenken versuchte, nun Früchte trüge. Sie hatten den Wortlaut des Gefechts zwischen Franzi und Jo nicht verstehen können. Daher dachten sie wohl nun, dass sie Zeugen eines Streites unter Liebenden geworden waren.

Zitternd begab Franzi sich zu Dakota, der brav wartete, genau dort, wo sie ihn stehen gelassen hatte. Vorsichtig legte er die weichen Nüstern auf ihre Schulter und schnaubte ihr ins Ohr. Diese Geste beruhigte Franzi etwas. Sie kicherte leise. »Du großer lieber Teufel«, flüsterte sie Dakota zu.

Sie griff die Zügel, um sich auf seinen Rücken zu schwingen. Dakota tänzelte ungeduldig. Franzi lenkte ihn sanft zum Deich. Als sie ihr Ziel erreichte, gab sie ihm einen leichten Schenkeldruck. Dakota verstand sie sofort und preschte los. Franzi hatte keinen Blick für das weite Wattenmeer übrig, das sich zu ihrer linken Seite in seiner ganzen Schönheit erstreckte. Sie genoss den Ritt und ließ Dakota seinen Willen. Er sollte sich austoben.

Erst als Pferd und Reiterin der Schweiß den Rücken hinunterlief, gab sie das Kommando, in den Schritt zu wechseln. Dakota schnaubte zufrieden, er hatte seine Energie herauslassen können. Franzi vergaß die hässliche Szene mit Jo und atmete die salzige Luft der Nordsee ein. Sie legte sich der Länge nach auf den Rücken ihres Helden und ließ sich durch den milden Sommerabend treiben, zum Himmel schauend und den sanften Wellen lauschend, die den Deich streichelten.

Friedrichskoogs Natur war weitgehend unberührt. Ein Paradies der Erholung. Alle Urlauber, die jährlich zu dem kleinen Ort zurückfanden, konnten dies nur bestätigen. Franzi würde nie woanders leben wollen. Ihr genügten die Ausflüge in die umliegenden Städte Heide und Husum, manchmal auch nach Hamburg. Sie war immer wieder froh, wenn sie nach Hause kam und den Lärm der Stadt hinter sich lassen konnte.

Eine seltsame Begegnung

Franzi rutschte beseelt von Dakota herunter, zu Fuß trat sie den Heimweg an. Die Flut setzte schon ein. Der Wind frischte auf, und Franzis verschwitzte Haut kühlte unangenehm ab, sodass sie fröstelte. Sie beobachtete einen Mann ihres Alters, der kopfschüttelnd an einer Slipanlage, auf der Boote vom Land ins Wasser gelassen werden konnten, verharrte. Er erblickte Franzi und eilte auf sie zu.

»Entschuldigung, aber ich hatte mein Boot hier liegen lassen, nun ist es verschwunden. Können Sie mir das vielleicht erklären?«

Franzi schmunzelte. »Wann war das?«

»Gestern. Ich hatte eigentlich vor zu fischen, aber hier ist nie Wasser, wenn ich es versuchen will.«

»Nun, haben Sie Ihr Boot nicht festgemacht? Dann ist es mit größter Wahrscheinlichkeit mit der letzten Ebbe hinaus aufs Meer getrieben.« Franzi versuchte vergeblich, Bedauern vorzutäuschen. Um ihre Mundwinkel zuckte es verdächtig. Sie gluckste vergnügt. Der Fremde schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Ich Idiot, an die Gezeiten habe ich gar nicht gedacht. Dabei war ich schon öfter hier. Zu blöd, nun ist es weg.«

»Das ist wirklich ärgerlich«, bedauerte Franzi ihn immer noch lachend und wenig überzeugend. Sie wollte weitergehen, aber er hielt sie zurück.

»Sorry, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Luke Wagenknecht.« Er reichte Franzi eine kräftige, warme Hand.

»Freut mich, ich bin Franzi.« Neugierig starrte sie Luke an. Er hatte leuchtende grüne Augen. Sie erkannte winzige schwarze Sprenkel darin. Der Dreitagebart ließ ihn etwas verwegen wirken, aber Franzi spürte die Herzlichkeit, die von ihm ausging. Lukes Kleidung glich der eines Vagabunden. Auf unerklärliche Art und Weise fühlte Franzi eine Anziehungskraft, die ihr unwirklich erschien. Er versetzte sie in weiteres Erstaunen, als er auf Dakota zuging und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Dakota wich nicht aus, wie er es sonst bei Fremden tat, sondern ließ Luke gewähren. Der betrachtete die am Boden liegenden Zügel.

»Ein Westernpferd?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Prüfend ging er um Dakota herum. Er streichelte ihn fast zärtlich, mit bewundernden Blicken.

»Ja, ich bilde alle meine Pferde so aus. Ich verabscheue die englische Reitweise. Sie ist in meinen Augen nicht artgerecht.«

Luke nickte wissend. »Er scheint ein temperamentvolles Wesen zu besitzen. Wer von euch beiden ist der Chef?«

Franzi räusperte sich geräuschvoll und tat damit ihre Empörung kund. »Ich natürlich, andersherum würde es bestimmt nicht funktionieren. Er braucht eine feste Hand.«

Luke grinste sie frech an. »Du besitzt also eine feste Hand?«

Franzi verkrampfte sich ein wenig. Wo würde dieses Gespräch hinführen? Ging es in die gleiche Richtung wie das mit Jo? Waren denn alle Kerle so unverschämt?

Luke bemerkte Franzis Veränderung sofort. »Entschuldige, ich hatte nicht vor, dich zu beleidigen.«

Franzi ließ die angehaltene Luft aus ihren Lungen entweichen. »Das will ich auch hoffen. Ich muss los.« Sie ging, gefolgt von Dakota, weiter Richtung Deichübergang.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, rief sie Luke zu: »Dein Boot scheint nicht zu wissen, wer der Chef ist … Viel Erfolg bei der Suche!« Dann saß sie auf und preschte davon. Die Begegnung mit Luke beschäftigte sie derweil nachhaltig. Er wirkte auf eine angenehme Art sonderbar. Anders als die Typen, die sie bisher kennengelernt hatte. Beeindruckend selbstbewusst, ohne überheblich zu wirken. Sie zog es vor, nicht mehr an ihn zu denken. Dieses Kennenlernen konnte nur eine Momentaufnahme gewesen sein. Er war und blieb ein Fremder.

Franzi erreichte die Straße und befahl ihrem Teufel, Schritttempo zu gehen. Jo hatte sie offenbar von Weitem kommen sehen. Er schlenderte von der Terrasse des Restaurants Deichkind zu ihr hinüber und versperrte ihr den Weg.

»Hey, Franzi, deine Drohung vorhin …« Er wirkte immer noch angetrunken auf sie.

Franzi schnitt ihm das Wort ab. »War keine«, giftete sie ihn an. »Verzieh dich, ich will nach Hause.«

Doch Jo dachte anscheinend nicht daran, ihr den Weg freizugeben. »Weißt du, Frau Rühr-mich-nicht-an, du solltest lieber vorsichtig sein, über wen du urteilst. Deine Familie hat selbst genug Dreck am Stecken.« Er sah sie aus glasigen Augen an.

Franzi schenkte ihm einen spöttischen Augenaufschlag. »Fällt dir nichts Besseres ein? Was sollte mit meiner Familie nicht in Ordnung sein?« Mit einem leichten Schenkeldruck gab sie Dakota zu verstehen, dass sie weiterreiten wollte. Jo blieb keine andere Wahl, als seine Position aufzugeben, wenn er nicht riskieren wollte, von dem kräftigen Tier niedergetreten zu werden.

»Da frag mal deine vornehme Oma!«, rief er ihr mit schriller Stimme nach. Mit einem Satz folgte er ihr und schlug mit Wucht auf Dakotas Flanken. Dakota stieg und wieherte ängstlich. Franzi konnte ihn gerade noch rechtzeitig beruhigen und hinderte ihn daran durchzugehen. Pferd und Reiterin waren ein eingespieltes Team. Dakota vertraute Franzi, sodass er sich langsam fasste.

Luke konnte Franzi nicht einfach davonreiten lassen. Er wusste ja noch nicht einmal, wo er sie wiedertreffen könnte. Er überließ das Boot seinem Schicksal und folgte der Staubwolke, die Dakota aufwirbelte. Luke hatte nicht die geringste Hoffnung, dass er Franzi einholen würde. Aber er konnte in Dakotas Fußspuren stapfen. Er fühlte eine starke Anziehungskraft, die von Franzi ausging. Ihre alles erkunden wollenden Augen! Sie leuchteten in einem faszinierenden Blau und heller als so mancher Stern am Nachthimmel. Er grinste. Ihre zierliche Nase, die sie dem Meer entgegengehalten hatte, hatte es ihm besonders angetan.

»Wagenknecht, hör auf zu spinnen«, brummte er. Die Gefühle, die ihn nun zu überwältigen schienen, waren ihm fremd. Dieses kurze Treffen mit Franzi konnte sie unmöglich in ihm hervorgerufen haben. Trotzdem wollte er der Sache auf den Grund gehen.

Er verließ den Deich und hatte nun freien Blick auf die Straße. Dort sah er Franzi. Sie schien in einen Streit verwickelt zu sein. Dieses Bild trieb Luke zur Eile. Er beobachtete, wie eine männliche Person ihr Pferd schlug. Die Situation schien zu eskalieren wie in einem Kinodrama. Erleichtert, dass Franzi ihr Pferd beruhigen konnte, rannte er los, um ihr zu Hilfe zu eilen. Denn nun sprang sie von Dakotas Rücken und stürmte aufgebracht auf diesen Unhold zu. Ihr Pferd tänzelte nervös. Luke sah sich gezwungen einzuschreiten.

Franzi war außer sich. Erbost stellte sie Jo zur Rede. »Du verdammter Idiot, was fällt dir ein?« Trotz ihrer geringen Körpergröße war sie bereit, es mit Jo aufzunehmen. Sie packte ihn am Kragen.

Schallendes Lachen entwich Jos Kehle. Er schien unbeeindruckt von dem Wutausbruch der jungen Frau. Unerwartet umschloss er mit festem Griff ihr Handgelenk. Schmerzerfüllt schrie Franzi auf. »Du kleines Luder, pass auf, was du tust!« Sein drohender Blick durchbohrte sie, als Jo sie zwang, ihn anzusehen. Seine Nase war nicht weit von ihrer entfernt.

»Kann ich irgendwie behilflich sein?« Luke packte Jo am Zopf und drückte ihn zu Boden. Vom Überraschungseffekt verwirrt, ließ Jo von Franzi ab. Die beiden Männer funkelten sich an wie zwei Kampfhähne. Ohne Jo aus den Augen zu lassen, zischte Luke: »Franzi, steig auf dein Pferd und reite heim!«

»Ich denke nicht daran, ich rufe die Polizei, der wird seine Lektion endlich einmal lernen.« Sie nahm ihr Telefon aus der Satteltasche.

»Ihr könnt mich alle mal«, grunzte Jo. Er drehte sich aus dem festen Griff von Luke heraus und trottete wie ein räudiger Hund davon.

»Berendes, könnte es möglich sein, dass du die Polizei fürchtest?«, rief Franzi ihm schrill nach. Zögernd schob sie ihr Mobiltelefon in die Tasche zurück. Doch als sie Jo mit dem Auto davonfahren sah, holte sie es rasch wieder hervor und wählte die Nummer der Dorfpolizei.

»Moin, Birger, hier spricht Franzi von Liebermann, ich möchte Anzeige gegen Jo Berendes erstatten. Er hat mich belästigt und bedroht. Nun bringt er andere in Gefahr, indem er betrunken Auto fährt. Er rast in Richtung Hafen.« Sie beendete grußlos das Gespräch. Um die Details würde sie sich später kümmern.

Dann wandte sie sich an Luke. »Aus welchem Versteck bist du denn so plötzlich hervorgekommen? Danke für deine Unterstützung, aber ich schaffe meine Probleme ohne Hilfe aus der Welt«, behauptete sie wenig überzeugend.

»Schon klar, aber jetzt begleite ich dich nach Hause.« Er grinste. »Dakota geht es gut?«

Franzi nickte, es gelang ihr nicht, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. »Danke, Luke!« Sie waren ohne Umschweife zum Du übergegangen. Nebeneinander liefen sie vor Dakota her, der ihnen bereitwillig in Richtung Gut folgte.

»Was führt dich nach Friedrichskoog? Urlaub?«, fragte Franzi. Sie war neugierig auf den Mann geworden, der ihr so ritterlich geholfen hatte.

»Nein, ich bin sozusagen auf meinem eigenen Jakobsweg.«

Franzi blieb erstaunt stehen. »Auf dem was …? Da bist du hier im Norden aber völlig falsch.«

»Darum erwähnte ich, dass es mein eigener Weg ist.«

»Interessant.« Neugierig geworden, brannte sie darauf, mehr zu erfahren. »Wie geht deine Geschichte weiter?«

»Ich rede nicht gerne darüber.«

»Verstehe.«

Luke haderte offensichtlich mit sich, seine Geschichte doch zu erzählen. »Ich bin in Amerika aufgewachsen.«

»Ach, darum rollst du das R so süß. Hat es dir dort nicht mehr gefallen?«

»Im Prinzip schon. Aber meine Schwester wurde schwer krank. Wir hatten keine Krankenversicherung und ich habe mein gesamtes Vermögen, welches ohnehin nicht übermäßig groß war, in die Behandlungskosten investiert. Nun bin ich fast pleite.«

»Oh, das war aber großzügig von dir.«

»Nein, so kann man das nicht bezeichnen, meine Schwester ist alles, was ich habe … hatte.« Luke schwieg.

Franzi blieb stehen und sah ihn betroffen an. »Deine Schwester … ist …«

»Nicht mehr unter uns.«

»Luke, das tut mir sehr leid.«

»Schon gut, inzwischen sind drei Jahre vergangen. Nur dass mir das Durch-die-Lande-Ziehen bisher noch nicht viel gebracht hat.«

»Was sollte es denn bringen?«

»Ich versuche zu verstehen, warum meine Schwester es nicht geschafft hat. Warum ausgerechnet sie sterben musste. Und ich versuche, mich selbst zu finden.« Luke sprach ruhig, ohne dabei traurig zu wirken. Er hatte sich für ein Vagabundenleben entschieden und offensichtlich nicht vor, dies zu ändern, bis er Klarheit für sich gefunden hatte.

»Wie kommst du über die Runden, wenn du nicht arbeitest?«, wollte Franzi wissen.

»Ich arbeite. Gelegenheitsjobs, immer wenn es sich ergibt. Ich brauche nicht viel.«

»Aber wo übernachtest du? Unter der Brücke?«

Luke lachte heiser. »Sieh dich mal um, gibt es hier irgendwo Brücken? So schlimm steht es nun auch wieder nicht um mich. Es gibt jede Menge günstige Pensionen. Oft sogar mit Familienanschluss.«

»Beeindruckend«, meinte Franzi. »Wir sind da, ich wohne hier.« Franzi war stehen geblieben.

Unsicher betrachtete Luke das Gutsgebäude. Er pfiff leise durch die Zähne. Die einladende Einfahrt mit dem Rundbogen wirkte herrschaftlich. Das liebevoll restaurierte Wohnhaus dominierte auf beeindruckende Weise die Mitte des Grundstücks. Kostbare Autos parkten davor. Das kleinere Wohnhaus neueren Datums schien unbewohnt, aber gepflegt. Die Stallungen zeugten von einem gut gehenden Gestüt. Dahinter erstreckten sich Wiesen von beachtlicher Größe. Die grasenden Pferde schienen die Idylle zu genießen. Luke fiel auf, dass die Tiere allesamt wertvoller Abstammung schienen.

»Arbeitest du hier? Oder bist du die Tochter des Hauses?«

»Enkelin der Gutsherrin. Meine Eltern sind gestorben, als ich noch ganz klein war. Ich habe keine Erinnerung an sie, nicht einmal Fotos gibt es aus dieser Zeit. Ich wuchs als Vollwaise bei meiner Oma auf.«

Luke wurde unruhig. Er fühlte sich unwohl vor dem Anwesen, in dem seine Zufallsbekanntschaft lebte. »Franzi, es war schön, dich kennengelernt zu haben. Pass auf, dass dieser Trollo dich kein weiteres Mal belästigt. Er wirkte auf mich unberechenbar.«

Franzi lachte bitter auf. »Das erzähl mal meiner Großmutter. Sie ist der Meinung, er wäre der ideale Ehemann für mich. Aber da wird sie sich an mir die Zähne ausbeißen.«

»Du willst heiraten?«

»Nee«, stieß Franzi hervor. »Ich muss so etwas nicht haben.«

Luke reichte ihr die Hand zum Abschied. »Alles Gute, Franzi, und komm mir nicht so schnell unter die Haube. Der Mann, der dich bekommt, sollte etwas Besonderes sein. Einer, der zu dir passt.« Lukes kräftige, warme Hand lag in Franzis. Sie sah an ihm hoch. Luke sorgte sich um die unabhängige Schönheit. Niemals zuvor hatte er mehr Verbundenheit zu einem anderen Menschen empfunden.

Eine Locke kräuselte sich auf ihrer Stirn. »Darf ich dich auf einen Tee oder Kaffee einladen?«, fragte Franzi plötzlich.

Luke zögerte, doch dann lehnte er entschlossen ab. »Vielen Dank, Franzi, aber ich sollte jetzt besser verschwinden.«

Franzis Augen weiteten sich. »Wo kann ich dich wiedertreffen?«

»Ich bin noch eine Weile in Friedrichskoog, ich bin überzeugt, dass unsere Wege sich kreuzen werden.« Luke hielt ihrem Blick stand. Ein Leuchten darin erwärmte sein Herz. Ihr schien es ähnlich zu ergehen. Trotzdem wandte er sich zum Gehen. Er sah nicht mehr zurück, zielstrebig schlenderte er in Richtung Dorfmitte davon.

»Ich bin überzeugt, dass unsere Wege sich kreuzen werden«, äffte Franzi die Worte von Luke leise nach und rollte mit den Augen. »Bin ich Aschenputtel? Erst macht er mich mit seinen Blicken verrückt, und dann verschwindet er auf Nimmerwiedersehen!« Sie streichelte Dakota liebevoll die Nüstern. »Na komm, mein Dicker, es gibt gleich Futter.«

Dakota folgte treu seiner Herrin. Ein Westernpferd brauchte kein Zaumzeug. Er trat in Franzis Fußabdrücke im Sand. Hin und wieder stupste er sie an der Schulter und versuchte ihr Ohr zu beschnuppern. Er war ein gescheites Tier und wusste genau, wann Franzi eine Aufheiterung benötigte. Und nach einer Weile gelang es ihm. Franzi kicherte.

»Benimm dich Dakota, andernfalls kommst du in die Wurst.« Sofort bereute sie ihren Scherz. »Entschuldige, mein Bester, ich habe es nicht so gemeint.« Beschwingt durch die Zuwendung Dakotas lief sie flott auf die Stallungen zu.

Susanns Gäste befanden sich im Aufbruch. Nach und nach rollten die Autos vom Gut. Manche winkten Franzi fröhlich zu. Sie hatte den Eindruck, dass nicht alle Frauen am Straßenverkehr teilnehmen sollten. Ihre Oma hatte ohne Frage den Weinkeller um ein paar Flaschen erleichtert.

Franzi beförderte Dakota in seine Box und rieb ihn trocken, danach versorgte sie ihn mit Heu und Hafer. Wie versprochen erhielt er einen Apfel zum Nachtisch. Danach begann sie ihren Rundgang zu den anderen Pferden. Der Schimmel, der ihrer Großmutter gehörte, quälte sich mit Langeweile. Susann kümmerte sich seit Tagen nicht um ihn. Zu viele Dinge waren ihr wichtiger als ihr Pferd. Franzi überlegte, ihm am nächsten Tag einen Ausritt zu gönnen.

»Bisschen einsam, der Kleine, nicht?« Franzi sah in Tonys Gesicht. Er wirkte erschöpft, als wäre er von einem Ausflug in die Wüste zurückgekommen. Die Arbeit auf dem Gut fiel ihm nicht mehr so leicht wie früher.

»Ich werde ihn morgen reiten.«

Tony betrachtete sie skeptisch. »Dem schwarzen Teufel willst du Ruhe verordnen? Ich fürchte, damit wird er nicht einverstanden sein.«

»Ich muss morgen nicht in die Bank, ich habe also genügend Zeit.«

»Du musst die Zuchtbücher überarbeiten und einen Deckhengst für die Stuten freigeben.«

»Das habe ich bereits. Dakota wird diesen Sommer unsere Stuten beglücken. Er hat ausgezeichnete Gene. Ich bin gespannt, wie die Ergebnisse aussehen werden.«

»Dakota!« Tony spuckte verächtlich ins Heu. »Ich werde diesen Gaul nicht anrühren. Er macht unsere Stuten fertig. Er ist viel zu wild für die wertvollen Tiere.« Tony rieb sich am linken Knie. Er hatte vor vielen Jahren einen Reitunfall erlitten, seitdem hatte er bei Wetterwechseln Schmerzen. Franzi vermutete, dass es am nächsten Tag regnen würde. Tony war in dieser Beziehung besser als jede Wettervorhersage.

»Das musst du auch nicht, Tony, ich werde mich darum kümmern.«

»Dir fehlt die Erfahrung für diese Dinge«, gab er zu bedenken.

»Fortpflanzung ist die natürlichste Sache der Welt. Dakota wird es gut machen und die Stuten sowieso. Auch wenn ich nicht so viel davon halte, werde ich den Besamer kommen lassen.«

»Deine Entscheidung, ich rede dir nicht hinein. Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Stell dir einmal vor, er vererbt seine teuflische Seite. Dann haben wir ein Problem. Das wollte ich nur gesagt haben. Ich gehe jetzt nach Hause. Bis morgen, Franzi!«

»Schönen Feierabend, Tony!« Sie sah ihm lächelnd nach. Tony war unersetzlich für das Gut. Er verfügte über Erfahrungen, die ihm so schnell niemand streitig machen konnte. Dass Franzi über seinen Kopf hinweg entschieden hatte, wurmte ihn sichtlich. Dennoch, sie war die Chefin. Zumindest fast. In wenigen Monaten wollte sie die Anstellung bei der Bank kündigen, um sich mit ganzem Einsatz der Zucht zu widmen.

Susann von Liebermann kümmerte es nicht, was in den Scheunen des Guts vor sich ging. Sie spielte die Grand Dame. Ehrenämter hielten ihre Oma auf Trab. Sie zog an Fäden, an die sonst niemand herankam. Alles zum Wohl der Gemeinde.

Franzi war sich nicht sicher, ob Susann wirklich uneigennützig handeln konnte. Das entsprach nicht ihrem Naturell. Sie musste dringend mit ihr sprechen, die Andeutungen, die Jo heute fallen gelassen hatte, waren sicher haltlos, aber Franzi musste erfahren, was über ihre Großmutter gemunkelt wurde. Susann konnte sich winden wie eine Schlange, wenn es darum ging, Geheimnisse zu bewahren. Franzi nahm sich vor, sie nicht entkommen zu lassen.

Lügen

Franzi erledigte ihren Rundgang und war äußerst zufrieden. Die Pferde waren alle gesund und die Stuten gebärfreudig. Dakota schnaubte in der Box. Sicher spürte er, dass seine Herrin Pläne mit ihm hatte. Grinsend schloss Franzi das Tor. »Deine Zeit kommt, mein Dicker.« Sie gluckste albern. »Aber dafür musst du sanfter werden.« Sie freute sich bereits auf die Nachkommen ihres Lieblings.

Susann von Liebermann empfing ihre Enkelin mit vorwurfsvollem Blick. »Ich habe dich früher erwartet, junges Fräulein.«

»Ich weiß Omimi, hat leider nicht geklappt. Bitte nenn mich nicht Fräulein, ich bin durchaus eine Frau. Auch wenn du nichts von meinem Sexleben weißt.« Trotzig sah Franzi ihre Oma an.

»Kind«, hauchte Susann verlegen, »sprich nicht so vulgär. Das passt nicht zu dir.« Susann war sichtlich verärgert. »Wenn dich jemand hört …«

»Schau dich um, Oma, wer sollte mich hören? Die nicht vorhandenen Geister dieses Gutes?«

Susann von Liebermanns Gesichtsausdruck wurde weich. Franzi war es einmal mehr gelungen, sie zu besänftigen.

Der anmutigen Gutsherrin waren die Jahre der Entbehrungen kaum anzusehen. Sie hatte in den Sechzigern das Gut ganz allein führen müssen, ohne Mann und ihre beiden Kinder. Susann hatte aus dem ehemaligen landwirtschaftlichen Betrieb eine Pferdezucht geschaffen, die überall im Land hohes Ansehen besaß. Die hochgewachsene Frau wirkte so elegant und selbstsicher wie Marlene Dietrich in ihren besten Jahren. Der drahtige Körper schaffte es, jeden Betrachter in Staunen zu versetzen. Um ihren Hals hingen mehrere Perlenketten. Die dazu passenden Ohrringe waren Pflicht. Susann hatte große blaue Augen, von Falten umschlossen, denen nichts entging. So schien sie auch jetzt zu bemerken, dass Franzi etwas auf der Seele brannte. In aller Ruhe räumte sie das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und ließ Franzi dabei nicht aus den Augen. »Was bedrückt dich?«, wollte sie wissen.

Beflissen holte Franzi die Weingläser aus dem Wohnzimmer, um diese ebenfalls in der Spülmaschine verschwinden zu lassen. Sie benötigte einen Augenblick, um den richtigen Ton zu finden. Susann hatte die Gabe, sich ernsten Gesprächen mit Franzi geschickt zu entziehen. Dies wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Besonnen goss sie Tee aus der Kanne in ihre Tasse.

»Ich bin Jo heute begegnet«, begann sie zögerlich.

Über Susanns Gesicht huschte ein Lächeln. »Oh, wie nett, dass …« Susann verstummte, als sie Franzis Verstimmung bemerkte.

»Ganz und gar nicht nett.« Franzi spuckte die Worte verächtlich aus. Sie erzählte ihrer Oma, was ihr bei ihrem Reitausflug widerfahren war.

»Nanu, was ist dem denn über die Leber gelaufen?« Susann zeigte sich überrascht, bewahrte jedoch die Ruhe.

Jetzt platzte Franzi der Kragen. »Nun tu doch nicht immer so … so …« Franzi suchte nach den richtigen Worten.

»So was?«, fragte Susann gefährlich ruhig.

»Als ob dich das alles nicht interessieren würde. Er hat mir gedroht, mein Pferd erschreckt und mich in Gefahr gebracht. Du kannst nicht im Ernst denken, er wäre der richtige Mann für unser Gut. Dieser Tierschänder.« Franzi war außer sich vor Zorn. Warum nur glaubte ihre Oma ihr nicht?

»Dass er Tiere misshandelt, kannst du nicht beweisen.« Susann erhob die Stimme. Auch sie konnte ihren Unmut nicht mehr verbergen.

»Das glaubst auch nur du! Ich bin ganz nahe dran, dann erlebt er sein blaues Wunder. Dann kannst auch du ihn nicht mehr schützen. Warum auch immer du es tust.«

»Franziska! Werde nicht laut, das kann ich nicht leiden.« Susann verschränkte ihre Arme vor der Brust. Böse funkelte sie Franzi an.

»Er hat etwas erwähnt, das dich nicht gerade in gutem Licht dastehen lässt.« Franzi fand ihre Wortwahl geglückt. Susann konnte nichts leugnen, weil sie nicht wusste, worum es ging.

Der Gesichtsausdruck ihrer Oma verriet ihre Unsicherheit. Sie blickte dennoch spöttisch auf Franzi herab. »Was könnte er schon von mir erzählen, ich gehe immer ehrlich mit meinen Mitmenschen um.« Fahrig strich sie ihre Haare glatt. Eine völlig überflüssige Geste. Ihre Frisur war stets so tadellos, als wäre sie einem Modemagazin entsprungen. Die Unterhaltung schien sie mehr und mehr anzustrengen. Trotz ihres Talents, immer wieder neu aufzudrehen, wenn es um Herausforderungen ging.

Franzi war die Erschöpfung ihrer Oma nicht entgangen. »Jo sprach von deiner Vergangenheit. Du hast ein Geheimnis, wovon nur wenige in Friedrichskoog wissen, hat er gesagt.« Franzi beobachte ihre Oma jetzt genau, jede Regung konnte etwas verraten.

Resigniert gab Susann wider Erwarten nach. Sie bedeutete Franzi, ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Dort ließ Susann ihren elfenhaften Körper in einen Sessel fallen. Erwartungsvoll sah Franzi sie an. Ohne ihren Blick abzuwenden, setzte sie sich auf den Sessel gegenüber. 

»Franziska, es ist eine dumme Geschichte. Ich dachte nicht, dass es nach wie vor in den Köpfen der Gemeinde in Friedrichskoog herumgeistert. Da habe ich mich wohl geirrt.« Susann machte eine bedeutungsvolle Pause. Dabei starrte sie zum Fenster hinaus, als suchte sie dort nach Antworten. Leise sprach sie weiter. »Damals, als ich das Gut übernehmen musste, ohne irgendwelche Mittel, wollte ich trotz allem eigene Kinder. Sie sollten einmal würdige Erben werden. Ich hatte jedoch keine Lust auf einen Ehemann.«

Franzi preschte empört vor, auch wenn sie befürchtete, dass ihre Oma danach nicht weitersprechen würde. »Aber ich, ich soll mir einen Mann suchen?«

Susann hob die Hand und gebot Franzi zuzuhören. Franzi lehnte sich wieder in den Sessel zurück. »Ich habe mir den passenden Mann gesucht, der würdig gewesen wäre, der Vater meiner Kinder zu werden. Nicht, dass ich ihm je erzählt hätte, dass ich von ihm schwanger war.«

Fassungslosigkeit machte sich in Franzi breit. Sie beugte sich vor und starrte Susann entsetzt an. »Ich habe demzufolge einen Großvater, der hier in Friedrichskoog rumläuft? Sag mir sofort, wer es ist.« Franzis schneller Atem erinnerte an einen Marathonläufer kurz vor der Zielgeraden.

Susann lächelte geheimnisvoll. »Liebes, ich habe in unserer Gemeinde nicht den Passenden gefunden. Keine Sorge, ich habe alle Vorkehrungen getroffen. Einen Opa hast du hier nicht zu befürchten.«

»Na, da bin ich ja beruhigt«, sagte Franzi trocken. »Du bist gemein, Oma, vielleicht hätte meine Mutter auch gerne gewusst, wo ihre Wurzeln lagen.«

Susann stieß ein freudloses Lachen aus. »Bettina, die Arme, war in ihrer eigenen Welt versunken, sie machte sich keine Gedanken um ihre Herkunft.« Die Erinnerung an ihre verstorbene Tochter Betty schien die Gutsherrin traurig zu stimmen. Plötzlich wurde ihr wirkliches Alter sichtbar. Eine Maske war gefallen. Es würde sie alle Kraft kosten, ihr wahres Inneres nun erneut zu verhüllen. Dazu bedurfte es großer Härte gegen sich selbst. Susann hatte nicht aus ihren Fehlern gelernt. Sie hatte immer wieder auf der Stelle getreten. Trotzdem schien sie einen Teil der Wahrheit zurückzuhalten und inständig zu hoffen, Franzi würde ihr nicht auf die Schliche kommen.

Franzi sah, wie bekümmert ihre Oma war, dennoch hakte sie nach. »Sagst du mir nun, warum deine andere Tochter nach England ausgewandert ist? Sie hätte dich doch unterstützen können. Hattet ihr kein gutes Verhältnis? Oder ist sie dir auf die Spur gekommen?«

»Ich wohl eher ihr, aber das ist eine andere Geschichte. Darüber möchte ich nicht reden.« Bitterkeit lag in Susanns Stimme. Franzi fragte sich mehr und mehr, auf welche Familiengeheimnisse sie noch stoßen würde. Sie hatte ihre Tante Elisabeth nie kennengelernt. Sie wusste lediglich aus Erzählungen, wie durchtrieben sie gewesen war. Ihre Oma verwendete sie gerne als Druckmittel, wenn Franzi nicht so spurte, wie Susann es gerne hätte. »Ich schicke dich zu deiner Tante nach England, die wird dir schon die Suppe versalzen.« Drohungen, die Franzi seit ihrer Kindheit kannte, deren Bedeutung ihr aber nie bewusst gewesen war. Es gab auf dem ganzen Anwesen keine Fotos, die darauf hinwiesen, dass die Familie jemals nicht nur aus Franzi und Susann bestanden hatte. Nun wurde ihr die Tatsache zunehmend unbehaglich.

»Für die damalige Zeit ein ziemlich mutiges Unterfangen. Alleinerziehende Mutter und noch dazu Vater unbekannt. Wie hast du das alles hinbekommen? Hat nie jemand nachgefragt?« Franzi sah ihre Oma zweifelnd an.

»Sicher, du kennst unser Dorf. Alles, was nicht der Norm entspricht, wird gnadenlos unter die Lupe genommen und laut in den Kneipen diskutiert. Ich hielt mich nie in diesen Lokalen auf. Irgendwann verstummten die Fragen über die Herkunft meiner Kinder. Das Gut gewann zunehmend an Ansehen. Niemand traute sich mehr, über die vornehme Dame des Ortes herzuziehen. Das, liebe Franzi, ist auch der Grund, warum ich dich verheiraten möchte. Ich will dir dieses Spießrutenlaufen ersparen.« Susann warf Franzi einen bedeutungsvollen Blick zu. »Zumal …« Susann brach erschrocken ab.

»Zumal was?« Franzi war hellhörig geworden.

»Nichts«, antworte Susann scharf.

»Omimi, ich kann und werde sehr gut auf mich selbst aufpassen. Ein Jo Berendes gehört auf keinen Fall an meine Seite. Versuche mich nicht weiter zu drängen, das würde mit größter Sicherheit einen Keil zwischen uns beide treiben, den wir nicht brauchen. Du bist meine Familie, mehr als uns haben wir nicht.«

Susanns Hand zitterte, als sie diese zu Franzi ausstreckte. Franzi nahm sie versöhnlich an. Tränen schimmerten in Susanns Augen.

»Du bist mir nicht böse? Dass ich dir meine Geschichte nie erzählt habe?«

»Ehrlich gesagt, ich bin schockiert. Ich wüsste zu gerne, wer mein Opa ist.«

»Er lebt nicht mehr. Da solltest du dir keine Hoffnungen machen. Ich habe das Leben des Erzeugers meiner Töchter stets im Auge behalten.« Susann fiel es offenbar schwer, ihrer Enkelin ins Gesicht zu schauen.

Schließlich erklärte sie, sie sei müde, und verabschiedete sich. Mit schweren Schritten verließ Susann das Wohnzimmer. Es war ihr anzusehen, dass dieses Gespräch sie belastet hatte. Franzi folgte ihr mit Blicken der Fassungslosigkeit. Ein leichter Geschmack von Bitterkeit lag ihr auf der Zunge. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Susann bei ihren Enthüllungen Wichtiges für sich behielt. »Ich werde Jo morgen zum Tee zu mir bitten. Er wird dich künftig in Ruhe lassen«, sagte Susann zum Abschied.

Franzi verdrehte die Augen. Was hatte ihre Oma nun wieder vor? Konnte sie die Sachen nicht einfach auf sich beruhen lassen. Franzi konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen.

»Keine Widerrede, Franziska«, hörte sie noch, dann war Susann verschwunden. Das Knarren der Treppe verriet ihre schwerer werdenden Schritte.

Franzi verharrte bis Mitternacht in ihrem Sessel und starrte zum Fenster hinaus. Die Finsternis dort draußen spiegelte ihr Inneres wider. Franzi hatte keine Freunde, schon gar keine beste Freundin, die sie jetzt dringend gebraucht hätte. Susann hatte nie geduldet, dass andere Kinder sie länger auf dem Gut besuchten. Dadurch war es Franzi nicht vergönnt gewesen, Freundschaften zu pflegen.