Die kleine Dolmetscherin - Seyhan Derin - E-Book

Die kleine Dolmetscherin E-Book

Seyhan Derin

0,0

Beschreibung

Elif, ein türkisches Mädchen kommt mit seiner Familie als sie 3 Jahre alt ist nach Deutschland. Sie wächst hier auf und irgendwann wollen ihre Eltern sie wieder mit zurück in die Türkei nehmen. Doch was soll sie da? Es verbindet sie doch fast nichts mehr mit diesem Land. Sie wagt einen mutigen Schritt und verklagt ihre Eltern, dass sie in Deutschland bleiben kann. Im Gerichtssaal kommt es zur alles entscheidenden Begegnung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 211

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DIE kleine

DOLMETSCHERIN

von

Seyhan Derin

Impressum

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-368-9

MOBI ISBN 978-3-95865-269-6

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

KURZINHALT

Elif, ein türkisches Mädchen kommt mit seiner Familie als sie 3 Jahre alt ist nach Deutschland. Sie wächst hier auf und irgendwann wollen ihre Eltern sie wieder mit zurück in die Türkei nehmen. Doch was soll sie da? Es verbindet sie doch fast nichts mehr mit diesem Land. Sie wagt einen mutigen Schritt und verklagt ihre Eltern, dass sie in Deutschland bleiben kann. Im Gerichtssaal kommt es zur alles entscheidenden Begegnung.

BIOGRAFIE/FILMOGRAFIE

1969 in Çaycuma/Türkei geboren. 1972 Emigration nach Deutschland.

Grundschule und drei Jahre Gymnasium in Saarbrücken, danach Besuch einer privaten Internatsschule in Hessen, Abitur 1988 in Wiesbaden.

1988-1991 Schauspielerei, Assistenzen und Praktika bei verschiedenen Filmproduktionen, Hospitanz beim ZDF/Kl. Fernsehspiel.

1991-1997 Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film/München Regisseurin und Drehbuchautorin.

2009/2010: SOKO Leipzig, ZDF-Serie, Director

2009/2010: Eine wie Keine, Sat1-tägliche Serie,Regie

2009: Eine für Alle – Frauen könnens besser, ARD/BR – tägliche Serie, Regie

2008/2009: Abschied vom Tod, Dokumentarfilm

2008/2009: Sie will, dass ich lebe, Dokumentarfilm

2008: Anna und die Liebe, Sat1-tägliche Serie, Regie

2006: Schmetterlinge im Bauch, Sat1-tägliche Serie, Regie

2005: GZSZ, RTL-Special, Regie

2002 bis heute: GZSZ, RTL-tägliche Serie, Regie

2002-2004: Papierdrachen, Spielfilm

1999-2001: Zwischen den Sternen, ARD/WDR-Spielfilm, Drehbuch/Regie

1999: Ansichten & Memoiren eines Kameramanns in Turkish Hollywood, Festival Ankara, Istanbul

Dokumentarfilm, Drehbuch/Regie/Schnitt/Produktion

1995-1996: ben annemin kiziyim-Ich bin Tochter meiner Mutter, Filmfestspiele Berlin-Dokumentarfilm,

Drehbuch/Regie Weitere Festivals: München, Barcelona, Saarbrücken, Figuiera da Foz, Antalya, Ankara, Paris, Wien, USA u.v.a.

Preise auf vier Festivals

1994: Die Beständigkeit der Erinnerung, Experimentalfilm, Festivals: München, Nürnberg, Ankara, Antalya, Istanbul u.v.a., Drehbuch/Regie/Produktion/Schnitt

1994: Zelt der Träume, Kurzspielfilm, Co-Autor/Co-Regie

1993: Unberrührt, Kurzspielfilm, Ausstrahlung auf PREMIERE, zahlreiche Kinoaufführungen

Festivals: Montréal, Hof, Brest, Bilbao, Oberhausen, Istanbul, Ankara, Antalya, Adana, Dublin, Figuiera da Foz, Montecatini, Schwerin u.v.a.

Prädikat: wertvoll

1992: Toscana, Werbung, Drehbuch/Regie/Schnitt

1992: Per Luftpost, Kurzspielfilm, ARTE, Kamera/Drehbuch/Regie/Schnitt

Aufführungen in Programmkinos und Festivals

Kapitel 1

Ein trostloser Ort, eineCafeteriaeines deutschen Amtsgerichtsgebäudes in einer Kleinstadt. Wir, meine ältere Schwester Aylin, meine jüngere Schwester Suna und ich, sollen mit den drei Jugendamtsdamen auf das Ergebnis der Verhandlung warten, die gerade ein paar Etagen weiter oben stattfindet. Meinen Eltern wird das Sorgerecht streitig gemacht. Nach 10 Jahren Deutschland wollten sie uns in die Türkei zurückbringen. In die Fremde, für uns. In die Heimat für meine Eltern.

Der Richter steht plötzlich vor uns. Wir müssten, anders als er es uns versprochen hat, doch unseren Eltern gegenüber gestellt werden.

„Nein!“, sagt meine Schwester Suna, „Sie müssen ihr Wort halten!“

„Sonst kann ich keine Entscheidung treffen!“, antwortet der Richter freundlich.

Suna bleibt bockig sitzen. Mein Blick wandert von meiner älteren Schwester über die Jugendamtsdamen zum Richter. Ich schaue ihn an. Lange.

Ich heiße Elif. Gedankenversunken blicke ich zurück.

Ich wusste es. Zwar nicht woher, aber ich wusste es. Was meine Eltern da von mir verlangten, war falsch. Eine innere Stimme sagte das genau. Meine verwirrten Gefühle deuteten das ebenso an.

Ich war gerade vier Jahre alt und verstand meine Eltern nicht. Auf unserem grünen Hügel kniete ich im hohen Gras, unser kleines Häuschen in meinem Rücken, das Tal, die gegenüberliegenden Berge, alles vor mir. Die Schönheit der Natur übersah ich in dem Moment dennoch nicht. Ich fragte den höchsten Berg, warum meine Eltern so etwas Fremdes von mir verlangten, etwas, dass mir nicht entsprach.

Wahrscheinlich war dies die erste Entfremdung.

Voller Elan baute mein Vater unser Haus. Es sollte noch ein zweites Stockwerk dazukommen.

„Das wird dann im Winter wärmer sein als unten!“, sprach er.

Merkwürdig. Erst war er lange nicht da und jetzt verbrachte er seine ganze Zeit mit dem Haus. Mit dem Geld aus Deutschland, „hart erarbeitet im Bergbau“, wie er zu sagen pflegte, hatte er das Baumaterial gekauft. Wir Kinder spielten stets in der Nähe. Dieses „Tak, tak!“, das Geräusch des Bauens, drang in unsere Ohren. Beruhigend.

Mein geliebter Papa stellte sich vor uns. Seine drei Mädchen lächelten ihn an. Er bat meine älteste Schwester Aylin zum Großvater zu gehen und ein bestimmtes Handwerkzeug mit einem lustigen Namen, den ich vorher noch nie gehört hatte, auszuleihen. Mein Großvater sei ein Tyrann, sagten alle. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Papa redete nicht mit ihm. Keine Ahnung warum. Meine Schwester schaute den Hügel runter, auf das Haus, das große mit dem Flachdach, und jammerte:

“Bitte Papa, nicht!“

Papa sah zu meiner zweiten Schwester. Selma gab sofort ihre Angst zu. Noch bevor er mich anschaute, rief ich:

„Ich kann doch!“.

Nachdenklich schaute mein Vater den Hügel hinunter, in das Tal.

„Du findest den Weg sicher nicht!“ brummte er.

„Aber klar, da ist doch das Haus und den Weg bin ich schon oft gegangen. Was willst du mit diesem Gerät denn machen?!“

„Beton zwischen die Steine tun, damit sie nicht auseinanderfallen!“

„Aha!“ staunte ich.

Papa schaute mich an, verständnisvoll..

„Nein mein Kind, Du bist noch zu klein! Du gehst nicht!“

Und ging einfach weg.

Ich war nicht zu klein, ich wusste was falsch und richtig war. Also schlich ich mich davon und wanderte den Hügel hinunter.

Es dauerte eine Weile, bis ich vor diesem Holztor stand, das geschlossen war. Wie es wohl dahinter aussah? Ich klopfte. Lange passierte nichts. Ich klopfte lauter, mit meinen kleinen Fäusten. Plötzlich hörte ich ein Knarren. Das Tor ging auf. Männerbeine vor mir. Mein Blick wanderte weiter nach oben und landete in einem alten Gesicht, das zu mir herabschaute.

„Was willst Du?“ begann er.

„Mein Papa braucht ein Werkzeug, ich hab’ den Namen vergessen, aber er will damit Beton zwischen die Steine tun, damit sie aufeinander bleiben.“

„Soso!“ erwiderte er knapp mit sonorer Stimme.

„Ja! Kannst du es uns leihen, dieses Ding?“, fragte ich mutig.

Das Gesicht schaute mich ernst an, ich schaute ernst zurück. Dann lächelte es.

„Na, dann gehen wir mal dieses Ding suchen!“

Arme griffen nach mir und hoben mich in die Luft. So schleppte mein Großvater mich in seine Werkstatt. Freundlich fragte er mich, wie es mit dem Haus voranging. Voller Stolz erzählte ich, wie schnell und gut Papa das Haus baute.

Warum meine Schwestern wohl Angst vor diesem netten Mann hatten?

Es war Winter, es schneite. Aus dem Schornstein des einzigen Hauses in diesem Tal stieg Rauch. Ein friedliches, gemütliches Bild. Plötzlich wurde eine Tür aufgerissen und eine junge Frau mit voller Wucht rausgeschmissen. Sie fiel auf den frischen unberührten Schnee.

„Geh’ doch deinem Mann hinterher! Wenn er glaubt, dich und seine Bastarde hier lassen zu können, hat er sich geirrt!“

Der Mann war mein Großvater, die junge Frau meine Mutter, in deren Bauch ich noch ganz winzig war, noch nicht überlebensreif. Meine Schwestern liefen weinend zu ihr und versteckten sich hinter ihrem langen Rock.

Die Tür knallte wieder zu.

Mein Onkel, der jüngere Bruder meines Vaters, holte den Ochsenkarren und spannte ihn an. Meine Mutter und meine Schwestern setzten sich mit den wenigen Habseligkeiten darauf und fuhren in das nächste Dorf. Das Quietschen der Eisenräder durchbrach die Stille der Schneelandschaft. Einen Hügel hoch und wieder runter, einen zweiten hoch und dann waren sie da. Eine alte Frau schloss ihnen ein kleines Haus auf, es war kalt und feucht darin. Sie half meiner Mutter, Feuer zu machen, während andere junge Frauen Matratzen und Decken brachten. Es war das Gästehaus des Dorfes „Cavuslar“. In diesem kleinen Kaminzimmer kam ich zur Welt und meinen Vater lernte ich erst sehr viel später kennen.

Er wollte mir den Namen einer früheren Liebe geben, aber Mutter hatte es nicht angenommen. Also ließ er den Flussnamen aus der Stadt seiner Verflossenen in meine Geburtsurkunde eintragen, als er mich zwei Jahre später anmeldete. Zwei Jahre hatte ich offiziell nicht existiert, dennoch schon viel erlebt.

Warum mein Großvater meine Mutter rausgeworfen hatte?

Die älteste Schwester meines Vaters liebte seinen besten Freund. Sie wollten heiraten, doch Großvater war dagegen. Liebende gehörten nun mal zusammen, dachte sich mein Vater, verhalf seiner Schwester zur Flucht und reiste gleich weiter zum Militärdienst. Die Wut meines Großvaters musste sich entladen, irgendwie, und fand einzig meine verlassene Mutter, die nun im Nachbardorf untergekommen war. So dauerte es noch einige Jahre bis zu dem Moment mit dem Werkzeug, bis ich endlich meinem berüchtigten Großvater gegenüber stand.

Oben angekommen ging ich sofort zu meinem Vater und hielt ihm das Werkzeug hin. Erstaunt begriff er, dass ich bei Großvater gewesen war.

„Und wie war er?“ fragte er mich neugierig.

„Nett. Er hat mir ein Bonbon geschenkt!" Ich hielt es ihm unter die Nase.

Erschaute überrascht, dann lachte er und wirbelte mich durch die Luft.

„Ich hab’ aber kein Bonbon!“

Er holte Geldmünzen heraus und gab sie mir. Es war mein erstes selbstverdientes Geld.

„Meine Lieblingshose, die mit den bunten Blumen!“, schrie ich. Mama war entnervt. Wir fanden meine Hose nicht. Auf dem Dorfplatz sollte ein Foto mit Papa, seinen Freunden und uns gemacht werden, und da wollte ich nicht irgendetwas anziehen. Meine Schwestern und Mama suchten hektisch und wurden von mir tyrannisiert.

„Wenn wir nicht bald losgehen, gibt es gar kein Foto!“, schrie Mama zurück.

„Dann bekommst du aber Ärger mit Papa!“

Arme Mama. Sie fluchte und fand endlich meine Hose.

Voller Stolz hielt ich die Hände meines Vaters. Wenn da nicht diese Sonne gewesen wäre, die fürchterlich blendete und mich nach unten schauen ließ, obwohl der Fotograf sagte, wir sollten ihn anschauen. Aber meine blumige Hose gefiel mir. Heute noch.

Meine Mama sah ich kaum. Sie arbeitete von morgens nach Sonnenaufgang bis zum Abend nach Sonnenuntergang. Wenn ich aufwachte war sie meist schon weg und wenn sie abends nach Hause zurückkam, war ich schon längst eingeschlafen, auch wenn ich mir jeden Abend viel Mühe gab, wach zu bleiben. Ich saß mit dem Rücken zur Wand auf unserer Sitzecke. Meine Augen fielen zu, mein Kopfzur Seite, ich wachte auf. Schaute um mich, verstand, wo ich war, aber Mama war noch nicht zurück. Draußen in weiter Ferne jaulten Hunde. Wieder fielen meine Augen zu, wieder die Sache mit meinem Kopf. Irgendwann war er so schwer, dass ich mich hinlegte und dann geschah jedes Mal das gleiche: ich schlief ein.

Am nächsten Tag wachte ich im Bett auf und meine Mutter war schon wieder weg. Falls ich es doch mal schaffte, wach zu bleiben, war sie meist zu müde und kaum ansprechbar. Die einzige Arbeit, die sie in unserer Nähe bekommen konnte, war die Feldarbeit. Es gab keine Maschinen, weder auf den Feldern noch im Haus. Alles musste sie mit ihren Händen erledigen. Es gab noch nicht mal Elektrizität. Öllampen gaben uns das Licht und auch viele Schatten, die mir von merkwürdigen Geistern erzählten.

Vier Mädchen hatte sie. Ihre jüngste Tochter war erst auf die Welt gekommen, als ihr Mann schon längst in der Ferne war, in dem Wunderland Deutschland. Ein Urlaubsgeschenk!

Das kleine Wesen schrie. Mama arbeitete im Garten vor dem Haus. Ich schaukelte es ab und zu in seiner Holzwiege. Babies wurden in diesen Wiegen auf eine ganz bestimmte Art gebunden, damit sie keine Windeln brauchten. Alles lief in einen Behälter unter ihnen, der später geleert wurde. Das Baby schrie lauter, ich stupste wieder die Wiege an. Mehr Schreien, mehr Schaukeln. Und dann, mit einem fürchterlichen Krach, fiel die Wiege um. Urin verteilte sich über dem Fußboden. Das Baby hing in der Wiege seitlich herunter. Voller Schrecken hob ich mit meinen kleinen Händen die Wiege wieder auf. Woher ich wohl in diesem Moment die Kraft dazu hatte? Das Baby lag wieder richtig, aber schrie noch lauter. Hatte sich wahrscheinlich doch sehr erschreckt, meine kleine Schwester. Mama kam und schimpfte mich aus. So erschrocken wie ich selbst auch war, konnte ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen.

Unser Haus stand am Rande eines Waldes auf diesem schönen Hügel. Ein sehr großer Garten davor. Wir spielten gerne draußen, irgendwie war es oft Sommer und selten Winter. Einmal befanden wir uns auf der Wiese und machten eine Art Picknick, ich und meine älteren zwei Schwestern. Das Baby hatte meine Mutter mit der Wiege auf ihren Rücken geschnallt und mitgenommen. Zwei Cousins kamen vorbei. Unsere Urgroßmutter ließ ausrichten, dass wir zum Abendessen zu ihr kommen sollten, Mama würde wohl länger arbeiten müssen. Meine Schwestern packten alles ein, jede griff sich etwas von den Sachen, um sie ins Haus zu tragen. Ich hatte ein Kissen und einen Messerschleifer. Was der wohl bei uns zu suchen hatte?

Zwischen Garten und Haus war eine Fläche mit Kieselsteinen, die musste ich überqueren. In der einen Hand das Kissen, in der anderen dieser Messerschleifer. Und dann passierte es. Die rutschigen Steine unter meinen Füßen nahmen mir den Halt, ich fiel hin und bekam die Spitze des Schleifers ins Auge.

Es tat fürchterlich weh! Ich schrie. Wieder einmal.

Aus Drahtgestell konnte man sich ein kleines Rad an eine Stange binden und damit durch die Gegend rollen. Meine Cousins hatten es mir gebaut, um mich zu trösten. Mit meinem tränenden, schlecht sehenden Auge rollte ich es vor mir her. Ich weinte und sang mir dabei selbst Lieder vor. Bald setzte ich mich erschöpft auf einen Hügel, von dem aus man das ganze Tal und auf die weiten, gegenüberliegende Berge blicken konnte.

Da, hinter diesem einen Berg war irgendwo mein Papa. In meinen Gedanken fragte ich ihn, wann er denn endlich zurückkam. Und da sah ich schon zwei Scheinwerferstrahlen eines Autos sich von oben nach unten schlängeln. Ja, er kam, mein Papa , es dauerte sicher nicht lange und er war hier bei mir.

Mama weckte mich im Morgengrauen. Sie hatte keine gute Laune, ich sollte mich anziehen.

Kleinlaster, die zwei Bänke hatten, fuhren die Menschen aus den Dörfern in die Stadt. Ich saß mit meiner Mama und ihrem Vater, meinem geliebten Dede, im Laster voller fremder Frauen und Männer. Niemand redete, kaum einer schaute sich an, man hörte nur die Fahrgeräusche auf den ungeteerten Straßen. Der Staub, den unser Laster aufwirbelte, verdeckte meist unsere Sicht.

„Erkennst Du deine Mama?“

"Was war das für eine blöde Frage? Natürlich erkannte ich meine Mama, ich war doch nicht auf den Kopf gefallen, sie stand doch vor mir!" protestierte ich innerlich.

Meine Mutter war mit mir wegen meinem Auge vorsorglich zu einem Doktor gegangen. Der Arzt war grob, ich mochte ihn nicht, auch wenn er weiß gekleidet war. Die komische Brille auf seinem Kopf imponierte mir gar nicht, ich fand sie lächerlich!

Doch ich hatte Glück. Meinem Auge war fast nicht mehr passiert, als wenn man einen Finger hinein bekam.

Eine der wenigen warmen Momente mit Mama verbrachte ich auf ihrem Schoß. Sie musste mir jeden Tag Tropfen in die Augen träufeln, die mir der Arzt verordnet hatte. Obwohl das nicht gerade angenehm war, setzte ich mich dennoch jedes Mal freiwillig auf ihren Oberschenkel und genoss ihre Fürsorge. Manchmal lachte sie und ich auch.

Vielleicht hatte ich mir seitdem gemerkt: Unfall haben hieß gleich Mama haben.

Ich war allein mit meiner zweiten Schwester Selma. Mama war arbeiten, Aylin in der Dorfschule. Ob das Baby wieder bei Mama war, wusste ich nicht. Wir langweilten uns. Selma schlug vor, auf das Flachdach unseres Hauses zu steigen und dort von dem eingelegten Gemüse zu naschen, das Mama für den Winter als Vorrat angelegt hatte. Das war verboten, das wussten wir.

„Nur wenn Du es niemandem verrätst!“, forderte mich Selma auf.

Sie und ich verstanden uns selten gut. Aber heute war es anders, die Einsamkeit verband.

Wir kraxelten auf das offene Dach, dort befanden sich große Plastikbehälter. Selma machte eines davon auf und gab mir drei eingelegte Peperoni. Ich biss in eines rein. Hhm, war das lecker! Wie sehr ich mich freute, Selma hatte zuerst an mich gedacht. Nachdem ich eine Peperoni verzehrt hatte, fing ich zu tanzen an. Eine Peperoni in der linken, eine in der rechten Hand. Ich tanzte und drehte mich dabei, die warme Sonne blendete, ich schloss die Augen. Ich tanzte, ich drehte mich, war der glücklichste Mensch der Welt. Und flog plötzlich etwas Schwarzem entgegen. Von links hörte ich meine Mama schreien, von rechts sah ich meine Schwester Aylin in ihrer dunklen Schuluniform und weit aufgerissenen Augen laufen. Und dann ein Filmriss. Ich war vom Dach in den Schlamm gefallen.

Sehr weiß war dieses Unterhemd, das Mama mir gerade anzog, es blendet mich fast, aber es roch frisch und ich mochte das sehr. Sie hielt mich in ihren Armen, meine Haare waren nass, wahrscheinlich genauso frisch gewaschen. Alles war still, die Arme meiner Mama um mich waren stark. Und wieder einmal lachte sie mich zärtlich an. Erleichtert.

Weiße Kleider fand ich toll. Wallend sich darin zu bewegen und zu tanzen, musste herrlich sein. Braut zu werden war die schönste Zukunftsvorstellung für ein Mädchen. Es zog nicht nur ein wunderschönes weißes Kleid an, es trug auch herrliche, glitzernde Ohrringe. Dafür musste es sich die Ohrlöcher stechen lassen. Mit Brennnesseln wurde das Ohr betäubt und eine unter einer Flamme heiß gemachte Nadel mit Faden wurde durch das Ohrläppchen gezogen. Allein die Vorstellung daran, ließ meinen Kreislauf niedersinken. Wenn da nicht die bunten Steine an Tantes Ohr gewesen wären, die mir nun mal sehr gefielen. Auch ich wollte mal solch’ schöne Ohrringe tragen.

An einem Tag, als Mama wieder zur Feldarbeit war und Papa immer noch hinter den Bergen weilte, trafen wir auf einige ältere Tanten und bald kam die Sprache auf meine fehlenden Ohrlöcher. Eine Tante schlug vor, sie mir jetzt auf der Stelle zu stechen. Mir gefiel die Idee. Wir liefen nach Hause, holten Faden, Nadel und Cologne. Als wir zurück waren, hatte jemand schon Brennnesseln gesammelt und ein kleines Feuerchen gemacht. Ich durfte mich wie bei meiner Augenverletzung damals auf den Oberschenkel der Tante setzen. Auch bei ihr fühlte ich mich sehr wohl. Und dann ging alles sehr schnell. Noch bevor ich Angst bekam, baumelte ein Fädchen in meinem Ohrläppchen. Das zweite Ohrloch ging noch schneller.

Die nächste Zeit spielte ich immer wieder an den Fäden. Natürlich entstand dadurch dort eine Wunde. Aber sie heilte irgendwann ab und ich bekam endlich meine ersten Ohrringe. Eine Art Blume mit roten Steinen! Einfach schön. Meiner Zukunft als Braut stand nun nichts mehr im Wege.

Sie saß in der Ecke in ihr weißes Kleid und Schleier gehüllt und weinte. Das verstand ich nicht. Warum bloß? Sie heiratete doch einen Mann, das hieß für mich so jemanden wie meinen Papa zu bekommen! Was konnte einem denn da Besseres passieren? Goldschmuck, Ohrringe, Geld, Stoffe bekam sie auch noch geschenkt. So viele Leute waren da und feierten mit ihr. Also was gab es da zu weinen? Niemand erklärte es mir. Vielleicht traute ich mich auch nicht zu fragen. Nur in der Ecke sitzen, so lange, würde ich nicht wollen. Die Frauen sangen und trommeln auf einer großen metallenen Käsebüchse, es hörte sich schön an. Und der Baklava, dieses süße Gebäck, schmeckte einfach unglaublich gut. Die Frauen erzählten sich lustige Geschichten. Immer wieder hörte ich den Satz: „Und dann wird sie in das Zimmer einen Mann rein schicken“. Warum sagten die Frauen nicht einfach „heiraten“. Oder hieß das etwas anderes? „Rein schicken!“. Hörte sich irgendwie bedrohlich an, so als ob ein fremder böser Mann ins Zimmer kommt. Weinte die Braut vielleicht deswegen? Vor fremden Männern wurden wir immer gewarnt. Besonders die vielen Tanten sagten uns oft, wir sollten niemals mit fremden Männern, die uns auf den Feldern, im Wald oder auf der Straße begegneten, mitgehen. Es könnten Vampire sein. Was ein Vampir war, wusste ich schon. Das waren Wesen, die einem das Blut aussaugten und dann war man tot. Sterben wollte ich noch nicht, es gab noch so vieles, was ich noch sehen und lernen wollte.

Eines Nachmittags spielten wir vor unserem Haus mit Cousins und Cousinen. Ein weiterer Cousin kam den Hügel hoch gelaufen und schrie, er habe unterwegs einen Vampir gesehen. Wir wollten brennend wissen, wie er aussah.

„Ganz normal eigentlich, nur schwarz“.

„Wie schwarz?“

„Ja, irgendwie schwarz überall“.

„Schwarze Kleidung?

„Ja! Sein Gesicht habe ich nicht sehen können! Er ist abgehauen, als ich näher ran bin!“

Ein anderer Cousin, der für seine ungezogene Art berühmt war, sagte: „Stellt euch vor, dieser schwarze Mann kommt aus dem Wald und vögelt Selma!“

Gelächter.

„Kommt, wir spielen das nach!“

Selma schüttelte den Kopf, so einen Blödsinn spielte sie nicht!

„Ach, Du bist doch nur feige!“

Vielleicht hatte dieser Cousin im Falle meiner Schwester Selma sogar recht, dennoch ärgerte mich seine arrogante Art! Was glaubte er, wer er ist?

Von Selma wurde schon früh die folgende Geschichte erzählt. Sie vermisste Mama oft und wollte sie nicht zur Feldarbeit gehen lassen oder sie wollte mit. Das ging aber nicht, Mama wollte in Ruhe arbeiten können. Eines Tages lief Selma einfach in Mamas Richtung hinterher, wohin sie verschwunden war. Aylin, die auf sie aufpassen sollte, merkte nichts. Auf der einsamen Straße traf sie wohl auf einen Mann, der sie fragte, wo sie hin wolle.

"Zu Mama" wird sie wohl gesagt haben.

"Dann bringe ich dich zu ihr!"

Es gab nicht nur Vampire in unserer Gegend, es wurde gemunkelt, auch Zigeuner würden Kinder entführen. Aber Selma war zu klein, um diese Geschichten zu verstehen. Der Mann nahm sie also bei der Hand und sie ging mit ihm. Unterwegs trafen sie zufällig auf einen anderen Mann, einen entfernten Onkel von uns. Er erkannte Selma sofort und wunderte sich über ihre Begleitung.

"Wohin gehst du des Weges, mein Herr?", fragte er den Mann.

"Meine Tochter und ich wollen ins nächste Dorf!"

Dieser Mann bezeichnete also meine Schwester Selma als seine Tochter und da verstand mein Onkel sofort was Sache war.

Er zögerte nicht lange, griff den Mann an, band ihn an einen Baum und drohte ihm Schläge an. Vielleicht hatte er ihn sogar tatsächlich geschlagen. Er sollte sich nie wieder in unserer Gegend blicken lassen und sich niemals fremder Kinder bemächtigen.

Als mein Onkel Selma zurück zu Aylin brachte, fiel diese aus allen Wolken. Aylin hatte noch nicht einmal festgestellt, dass Selma weg war, so sehr war sie mit dem Haushalt, für den sie als älteste Tochter verantwortlich war, beschäftigt.

Dieser Cousin hatte wohl auch diese Geschichte gehört und glaubte jetzt Selma provozieren zu können.

„Ich bin aber nicht feige!“, sagte ich.

„Du? Wenn Du dich traust, dann spiel es doch mit mir!“, konterte er.

„Aber nur wir beide alleine, niemand darf zuschauen!“

Alle akzeptierten.

Wir gingen in unser Haus rein, in das Badezimmer. Mein Cousin wollte sich auf mich legen.

"Nein", sagte ich, "so geht das nicht, ICH muss mich auf dich legen!"

Und das tat ich auch gleich. Er protestierte, aber ließ dennoch erstmal alles geschehen. Plötzlich lachte er und verdrehte seine Augen nach oben. Ich schaute mich auch um und sah, dass die anderen Kinder über die Brüstung gestiegen waren und uns zuschauten. Ich schrie „Spielverderber“ und stand auf!

Wir gingen in ein anderes Zimmer. Das gleiche Spiel von vorne. Diesmal ließ er nicht mit sich diskutieren. Ich musste unten liegen. Na gut. Als ich also da so lag und nichts Besonderes passierte, außer dass mein Cousin auf mir lag, hörte ich Gekicher. An der Decke, durch ein Loch, so klein wie ein Cent, sah ich Licht blitzen. Die anderen Kinder waren auf den Dachboden gestiegen und hatten durch die dünnen Platten, die auf den Holzbalken liegen, ein Guckloch gebohrt. Heftig stieß ich meinen Cousin von mir weg und forderte die anderen auf, gefälligst da runter zu kommen. Rumpelnd kletterten sie wieder runter und krümmten sich vor Lachen. Mein Cousin wollte weiter spielen, auch wenn die anderen zuschauen wollten. Ich weigerte mich aber, das gehörte nicht zu unserer Abmachung. Er drohte, unseren Eltern alles zu erzählen, wenn ich nicht weiterspielte. Plötzlich erhob meine älteste Schwester Aylin bedrohlich ihre Stimme. Wenn er auch nur ein Wort sagte, würde er von ihr zum Krüppel geschlagen werden. Mein Cousin verstummte. Ich begriff damals mit Fünf noch nicht, was daran so schlimm gewesen sein sollte, dass es wert war, den Eltern das Ganze zu petzen und noch weniger, ihn zum Krüppel schlagen zu wollen.

Es gab manche Geschichten, die kannte man, dachte jedoch, es sei ein Traum gewesen. Und plötzlich, im Erwachsenenalter entdeckte man eine Spur - eine Narbe an seinem Körper. So mit der Narbe unter meinem linken Fuß.