Die Königin, die unter dem Tisch saß und weinte - Ildikó Boldizsár - E-Book

Die Königin, die unter dem Tisch saß und weinte E-Book

Ildikó Boldizsár

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  • Herausgeber: Arkana
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Geschichten sind großartige Heiler. Ildikó Boldizsár, ungarische Bestsellerautorin, hat die wundervolle Gabe, therapeutisch heilsame Märchen, Fabeln, Parabeln und Volksmärchen zu erzählen. Sie weiß, welche Geschichten in schwierigen Lebenssituationen genau die richtigen sind, um unser Potenzial zur Selbstheilung zu aktivieren. Sei es bei Verlust und Trauer, bei Krankheit, Familienstreitigkeiten, Partnerschaftsproblemen oder aller Art von Ängsten – Geschichten dienen uns als Kompass. Sie erklären uns auf eindringliche, klare und zugleich zauberhafte Weise die innere und die äußere Welt und zeigen das Problem und die Lösung.

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Seitenzahl: 444

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Buch

Zauberhafte Märchen geben Kraft und wirken Wunder

Geschichten sind großartige Heiler. Ildikó Boldizsár, ungarische Bestsellerautorin, besitzt die wundervolle Gabe, therapeutisch heilsame Märchen, Fabeln, Parabeln und Volksmärchen zu erzählen. Sie weiß, welche Geschichten in schwierigen Lebenssituationen die richtigen sind, um unser Potenzial zur Selbstheilung zu aktivieren. Sei es bei Verlust und Trauer, bei Krankheit, Familienstreitigkeiten, Partnerschaftsproblemen oder aller Art von Ängsten – Geschichten dienen uns als Kompass. Sie erklären uns auf eindringliche, klare und zugleich zauberhafte Weise die innere und die äußere Welt und zeigen sowohl das Problem als auch die Lösung.

Weitere Informationen zu Ildikó Boldizsár finden Sie am Ende des Buches.

Ildikó Boldizsár

Die Königin,

die unter

dem Tisch saß

und weinte

Die Ur-Kraft heilender Geschichten

Aus dem Ungarischenvon Eva Zador

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Hamupipőke Facebook-profilja« bei Jelenkor Kiadó Kft.

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert vom Büro für Buch- und Übersetzungsförderung des Petőfi Literatur Museums. Der Verlag bedankt sich dafür.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Arkana, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2018 Boldizsár Ildikó

Published by arrangement with Sárkőzy & Co. Literary Agency

Umschlaggestaltung und Innengestaltungsentwurf:

ki 36 Editorial Design, München

Redaktion: Judith Mark

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22310-6V002

www.arkana-verlag.de

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»Mir ist eine Geschichte eingefallen. Darf ich sie erzählen?«

Inhalt

DAS MÄRCHEN ALS KOMPASS

Finde dein Märchen!

Wo siehst du dich in deinem Märchen?

DER MÄRCHENERZÄHLER ALS THERAPEUT

Die Kraft der schöpferischen Fantasie

WIE WIRD AUS EINEM MÄRCHEN EINE SELBSTHEILENDE GESCHICHTE?

DIE PRÄSENZ DER WAHRNEHMUNG Der kluge Arzt

DEM PROBLEM AUF DEN GRUND GEHEN Die Königin, die unter dem Tisch saß und weinte

ÖFFNEN, WAS VERSCHLOSSEN IST Vom Mut eine Probe zu wagen

DIE FRÜCHTE ERNTEN Die Zaubersamen

MÄRCHEN, DIE MUT MACHEN – FÜR KINDER UND JUGENDLICHE

ES REGNET KIESEL Märchen diesseits und jenseits des Gefängnisses

Erster Tag – Beklemmung und Angst lösen

Es regnet Kiesel

Zweiter Tag – Ich-Kraft und Ich-Verteidigung

Die fürchterliche Eisenziege

Dritter Tag – Vertrauensbildung und Vergebung

Das geheime Herz der Bäume

DIE SCHWIERIGKEITEN, ERWACHSEN ZU WERDEN Märchen zu Beginn des Erwachsenenalters

Erste Sitzung – Wie baut man das innere Haus?

Die drei kleinen Schweinchen

Zweite Sitzung – Begegnung mit der Quelle fer Kraft

Die Kristallkugel

Dritte Sitzung – Die eigenen Anlagen bestmöglich entfalten

Die drei Weisheiten des Jungen

MÄRCHEN IN LEBENSKRISEN – FÜR ERWACHSENE

ASCHENPUTTELS FACEBOOK-PROFIL Angst vor dem Leben

Aschenputtel

IM BRUNNEN DER FRAU HOLLE Eine Frau in der Midlifecrisis

Frau Holle

WIE FUNKTIONIERT DAS STERNENAUGE? Der Übergang zum reifen Mannesalter

Der Schäfer mit den Sternenaugen

MIT WEM SOLL ICH LEBEN – WEN SOLL ICH LIEBEN? Unentschlossenheit in der Partnerschaft

König Lindwurm

HAKUNA MATATA Störungen im familiären System

Das goldene Ei

SCHAUKELN IM NICHTS Rehabilitation nach einer Krankheit

Das Mädchen aus dem Himmel

OHNE MANTEL, OHNE STIEFEL, OHNE FLÜGEL Märchen in der Trauer

Lotilkos Flügel

Die in diesem Buch verwendeten Märchen

Über die Autorin

DAS MÄRCHEN ALS KOMPASS

Seit es die Welt gibt, geraten Menschen von Zeit zu Zeit in Schwierigkeiten: mal mit sich selbst, mal mit ihrer Umwelt. In allen Epochen der Menschheitsgeschichte gibt es Krisen, und dasselbe gilt für die Geschichte jedes einzelnen Menschen. Für unsere Lebensqualität ist es entscheidend, was wir mit unseren Krisen anfangen. Überwinden wir sie, oder bleiben wir in ihnen stecken? Lösen wir sie, oder ringen wir mit ihnen? Können wir uns entwickeln und verändern? Oder, um es in der Sprache der Märchen zu sagen, machen wir uns auf den Weg, oder erstarren wir zu Stein?

Nach der Lektüre tausender Märchen wurde mir klar, dass sie uns Wege der Krisenbewältigung zeigen. Es sind Wege, die zeitlos gültig sind und die ihre heilsame Wirkung unzählige Male unter Beweis gestellt haben.

Wir Menschen haben praktisch immer vor irgendetwas Angst, seien es Blitze, wilde Tiere, die Dunkelheit, Krankheiten oder andere Menschen – die Liste ist lang. Fast immer handelt es sich um Dinge, die uns unerwartet treffen und für die wir keine Abwehrstrategie parat haben. Schon sehr früh haben Menschen nach Auswegen aus schwierigen und bedrückenden Situationen gesucht. Die Erfahrungen, die sie dabei machten, haben sie in Geschichten zusammengefasst. So entstanden die Märchen. Sie können uns auch heute dabei helfen, Krisen zu bewältigen, denn die inneren Prozesse, die wir in einer Krise durchleben, sind in Märchen in Bilder gefasst – Metaphern, die einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zeigen.

Für uns moderne Menschen ist es jedoch nicht immer ganz leicht, diese Bilder zu verstehen, die Märchen also zu entschlüsseln. Das liegt daran, dass wir den Bezug zum Weltbild und zur Sprache der Märchen und Mythen verloren haben. Wenn es in einem 1000 Jahre alten Märchen heißt, dass »die Drachen die Sonne, den Mond und die Sterne vom Himmel stahlen«, bedeutet das nichts anderes als: »Das Leben ist vollkommen aussichtslos, nichts hat einen Sinn.« Vor 1000 Jahren ebenso wie heute gibt es nur einen einzigen Ausweg: Das verlorene Licht muss wiederbeschafft und mit dem Drachen muss abgerechnet werden. Keine leichte Aufgabe – damals wie heute.

Ich habe Menschen in vielen verschiedenen Lebenslagen Märchen erzählt – Kindern, die noch nicht geboren waren; Frauen, die in den Wehen lagen; Kleinkindern, die die Welt verstehen wollten, und Jugendlichen auf der Suche nach sich selbst. Ebenso jungen Erwachsenen, die Angst vor dem Erwachsenwerden und den damit verbundenen Verpflichtungen hatten, Männern und Frauen in der Mitte des Lebens, alten Menschen und Sterbenden. Ich habe erzählt bei Beerdigungen und Hochzeiten, in Gefängnissen, Erziehungsheimen, Kinderheimen, Blindeneinrichtungen, Büchereien, Banken, Schulen, an Universitäten und in Krankenhäusern. Durch die Märchen bin ich vielen verschiedenen Menschen begegnet. Unter ihnen gab es Frühgeborene, kranke Kinder, Erwachsene, die schwer oder unheilbar erkrankt waren. Es gab einen Mann, der im Koma lag. Einen Studenten, der nicht mehr wusste, wo’s langging, einen Mann, der mit 50 seinen Weg verloren hatte. Ich bin Frauen und Männern begegnet, die mit einer unglücklichen Beziehung oder Ehe zu kämpfen hatten, verlassenen Frauen, betrogenen Ehemännern. Ich saß Kindern und Eltern gegenüber, die depressiv waren, Witwen, die keinen neuen Partner mehr fanden, und alten Menschen, die sich auf den Tod vorbereiteten. Ich habe auch Sterbende getroffen, die sich vor dem Tod fürchteten. Die Märchen haben mich in alle Bereiche des Lebens geführt, und den Menschen, die mir begegneten, erzählte ich jeweils andere Geschichten – jeweils so, wie es die Situation und der einzelne Mensch erforderten.

Ganz unabhängig davon, in welcher Lebenssituation die Menschen zu mir kommen, fällt mir dazu immer eine Geschichte ein. Nehmen wir an, ein Mann oder eine Frau sitzt mir gegenüber und erzählt mir sein/ihr Leben: Die eine Hälfte meines Gehirns hört zu, merkt sich bestimmte Dinge, fragt, reflektiert – die andere Hälfte aber macht sich auf den Weg und bewegt sich frei durch Raum und Zeit. Erinnert sich. Sucht den Kern dessen, was mir gerade berichtet wird, und sucht nach dem Augenblick, in dem aus einer ähnlichen Lebenssituation irgendwann vor langer Zeit ein Märchen entstand. Dieses alte Märchen suche ich, um es an den Menschen weiterzugeben, der mir jetzt gerade gegenübersitzt, weil er in seiner eigenen Geschichte nicht weiterkommt. Vielleicht sind die Märchen ja gerade deswegen über Jahrhunderte erhalten geblieben, damit sie uns in einer solchen Situation zur Verfügung stehen. Ich bin überzeugt, dass jede Lebenssituation ihr eigenes, passendes, vor langer Zeit zum ersten Mal erzähltes Märchen hat – man muss es nur finden. Das ist der Kern meiner Arbeit: seit langer Zeit überlieferte Geschichten zu finden, die Menschen dabei helfen, Krisen zu überwinden. Einige der Märchen, die ich gefunden habe, möchte ich in den einzelnen Kapiteln dieses Buches vorstellen.

Seit über 30 Jahren beschäftige ich mich mit der Erforschung von Märchen und Mythen, und durch sie habe ich wohl das meiste über die Menschen und die Welt gelernt. Jahrelang untersuchte ich, wovon die einzelnen Märchen eigentlich handeln. Die meisten Märchen zeigen, dass eine schlechte Situation ins Gute gewendet werden kann, dass wir unsere Einschränkungen überwinden und unsere Ängste besiegen können. Die Helden der Märchen finden sich mit einem Problem nicht ab, sondern suchen beharrlich nach seiner Lösung. Märchen schildern also nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch, wie man sie bewältigt. Auf dem Weg zur Lösung eignet der Held sich Fähigkeiten an, über die er zu Beginn der Geschichte nicht verfügte.

Märchen sagen uns: Was schlecht läuft, lässt sich verändern. In ihnen gibt es nicht »die Welt«, die schlecht funktioniert; vielmehr ist es der Mensch, der die Möglichkeiten, die die Welt ihm bietet, nicht erkennt. Er trifft falsche Entscheidungen, die dann Probleme verursachen. Die »Welt« ist in der symbolischen Sprache der Märchen gleichermaßen das Universum, unser Wohnort und unser Innenleben. Als ich merkte, dass diese drei Dinge zusammenhängen und das Märchen sie alle miteinander verknüpft, verstand ich, dass ein Märchen nichts anderes ist als eine Geschichte, die in der Lage ist, Ordnung in das Chaos zu bringen und das Gleichgewicht zwischen Außen- und Innenwelt wiederherzustellen. Das ist einer der Gründe für die heilende Kraft der Märchen.

Ich betrachte die Märchen als eine repräsentative Sammlung archetypischer menschlicher Erfahrungen. Aus dem Wissen, das mir die Märchen vermittelt haben, habe ich eine therapeutische Methode entwickelt. Bei meiner therapeutischen Arbeit geht es mir nicht um die Anwendung von wissenschaftlich bewiesenen Kriterien für das, was »normal« und »gesund« ist. Vielmehr suche ich die Antwort auf die Probleme meiner Klienten in einem seit Jahrtausenden überlieferten Wissensbestand. Wenn ich – egal wo – Schwierigkeiten sehe, frage ich mich als Erstes: Was sagen wohl die Märchen dazu?

Auf dem Weg, der zur Wiederherstellung der Ordnung führt, ist genau jenes Märchen Kompass und Orientierungspunkt, das exakt auf die jeweilige Situation passt. Es bestimmt die Richtung und benennt das zu erreichende Ziel. So bewegen wir uns von einem Schauplatz des Märchens zum nächsten, und an jedem verweilen wir etwas, um uns anzuschauen, welche Aufgabe der Ort jeweils birgt. Wir bearbeiten diese Aufgaben; wir sehen uns an, welche Möglichkeiten sie enthalten, und nach und nach gelangen wir zum Ende der Geschichte. Die strenge Ordnung der Märchen ermöglicht keine Ausflüchte, keine Abwehr, kein Verzagen und keine Resignation. Die Nadel des »Märchen-Kompasses« zeigt nach einigen Ausschlägen nach rechts und links die Richtung an; manchmal kommt es aber auch vor, dass sie sich im Kreis dreht, bevor sie uns den Weg weist. Genau dasselbe tut ein Mensch, der auf der Suche nach sich selbst oder einem Ausweg aus seinen Problemen ist.

Übrigens habe auch ich selbst durch eine Lebenskrise zu den Märchen gefunden. Eines meiner Kinder war im Alter von fünf Jahren schwer erkrankt. Ich saß im Krankenhaus an seinem Bett und tat, was eine Mutter in einer solchen Lage eben tut: Ich erzählte. Ich hatte keinerlei therapeutisches Ziel, hatte nicht die geringste Ahnung von der heilsamen Kraft der Märchen. Doch als ich meinem Sohn ein bestimmtes Märchen erzählte, wurde er plötzlich ganz blass, dann wieder rot, begann zu zittern und klammerte sich an mich. Am Ende des Märchens entspannte er sich. Sein Gesicht wurde ruhig. Von da an wollte er nur noch dieses eine Märchen hören. Nach einigen Tagen verbesserte sich sein Zustand, doch damals kam ich nicht auf die Idee, dass das Märchen dabei eine Rolle gespielt haben könnte. Ich war den Ärzten dankbar und fragte sie, ob ich auch Patienten auf anderen Stationen Märchen erzählen dürfte. Man erlaubte es mir, und von da an ging ich regelmäßig ins Krankenhaus, um zu erzählen. Ich hatte keine Ahnung, dass ich »Märchentherapie« betrieb. Mein einziges Ziel war damals, den Patienten das Leben zu erleichtern. Die Story-Therapie-Methode Metamorphoses entwickelte sich aus diesem Erzählen im Krankenhaus. Als ich sah, welch positive Wirkung die Märchen und das Erzählen auf die Patienten hatten, wurde ich neugierig. Ich wollte verstehen, was da beim Erzählen genau passierte. Was bewirkte, dass die Patienten sich nach und nach besser fühlten, während sie den Geschichten lauschten? Natürlich wollte ich auch herausfinden, warum bestimmte Märchen eine derartige Wirkung bei den Patienten auslösten, während sie auf andere gleichgültig reagierten. Mir fiel auf, dass die Patienten in verschiedenen Abschnitten ihrer Krankheit jeweils andere Märchen zu brauchen schienen. Gab es eine Beziehung zwischen den Patienten und den Märchen?

Märchen zu erzählen und erzählt zu bekommen ist in jedem Fall gut. Wir können eine Geschichte erzählen, um aus ihr zu lernen, um Kräfte zu sammeln, um uns zu amüsieren, um jemanden zum Lachen zu bringen oder zu trösten, um zu heilen oder einfach nur die Dinge weiterzudenken – immer der jeweiligen Situation entsprechend. Die Märchen geben gültige und unendlich einfache Antworten darauf, was es bedeutet, »glücklich zu leben«, und sie geben uns die Möglichkeit, unsere eigene Geschichte neu zu denken oder umzugestalten, wenn wir in Schwierigkeiten geraten sind.

Alle Menschen, egal, ob Kinder oder Erwachsene, hören gern Märchen, allerdings jeder auf seine Weise. Es gibt Menschen, die zunächst einmal die Geschichte verzaubert, und andere, die darin unmittelbar die Möglichkeit zur Begegnung mit sich selbst erkennen. Erzählen schafft darüber hinaus Gemeinschaft. Wenn wir uns zu einem Menschen setzen, der in einer schwierigen Situation steckt, und ihm oder ihr etwas erzählen, was uns gerade einfällt, ist schon unsere bloße Anwesenheit Stütze und Trost. Wenn wir ein Märchen, statt vorzulesen, auswendig erzählen, setzen wir weitere positive Prozesse in Gang: Unser Zuhörer wird sich weniger bedrängt und belastet fühlen, die Lebenskraft wächst, und er oder sie blickt hoffnungsvoller auf das eigene Leben. Beim gezielten Erzählen – dem Erzählen einer der Situation entsprechenden Geschichte – verlagert sich der Akzent. Gezielt erzählte Märchen zeigen die Wege auf, die zur Wiederherstellung des Gleichgewichts führen, ganz ohne dass wir eigens darauf hinweisen müssen. Das zu erleben ist für einen Menschen, der in einer Krise steckt, ungemein spannend und motivierend. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, doch wenn das Märchen zu seiner Situation passt, wird er sich seiner Wirkung nicht entziehen können. Er wird immer wieder aufs Neue zu der Geschichte zurückkehren und über einzelne Motive nachdenken. Er wird spüren, dass das Märchen »irgendwie« ihm gilt, auch wenn er zunächst nicht versteht, wie. Dieses Rätsel muss der Zuhörer lösen, damit die Botschaft des Märchens erkennbar wird. Märchen fordern Menschen also dazu auf, ihre eigene Situation zu entschlüsseln und ihr inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. So kommen sie einer Klärung der krisenhaften Situation näher. Die Energie, die zur Entschlüsselung aufgewendet wird, ist Teil des Prozesses, der zur Wiederherstellung der inneren Ordnung und zur Heilung führt.

Eine Krise erlebt jeder Mensch auf seine ganz persönliche Weise, aber alle Krisen haben etwas gemeinsam: Sie bringen uns aus dem Gleichgewicht – körperlich, seelisch oder geistig. Der Verlust des Gleichgewichts ist auch in den Märchen ein Thema: In einem bislang gut funktionierenden System verändern sich die Dinge plötzlich, laufen nicht mehr so wie bisher. Jemand gerät in Gefahr, etwas verschwindet – das Gleichgewicht ist dahin. Es muss ein Held kommen, der dafür kämpft, das verlorene Gleichgewicht wiederherzustellen; ein Held, der zeigt, wie man glücklich leben könnte. Das ist heutzutage genauso schwierig wie in früheren Zeiten.

In den Märchen bleiben nur die »falschen Helden« unglücklich. Sie erkennt man daran, dass sie nicht vorankommen. Sie scheitern an den Prüfungen, haben keine Ausdauer, Kraft, Disziplin und Geduld. Vor dem Ziel ergreifen sie die Flucht oder erstarren zu Stein. Sie verweigern sich den Möglichkeiten, die sich ihnen bieten. Sie können sich nicht weiterentwickeln, nicht entfalten, bleiben in sich selbst erstarrt. Sie sind in einem Realitätsverlust gefangen oder in ihre Emotionen verstrickt.

Das Glück stellt sich je nach Märchentyp unterschiedlich dar. In den Tiermärchen ist beispielsweise derjenige glücklich, der nicht von anderen zum Abendessen verspeist wird. Oder derjenige, der sich selbst verteidigen kann, einer Zwangslage entkommt, eine Kraft besiegt, die eigentlich stärker ist als er selbst. In den Legendenmärchen hängt das Glück davon ab, dass man die universal gültigen Gesetze der Schöpfung kennt und einhält. Oder davon, dass man wagt, sich einer unbekannten Kraft anzuvertrauen. Im Gegensatz zu den Tiermärchen kämpft der Held nicht gegen eine andere Kraft, sondern er gibt sich ihr hin. In den Novellenmärchen sind diejenigen glücklich, die in Bildern denken können, die die Sprache der Symbole verstehen und die Welt um sich herum mit unbeeinträchtigten Sinnesorganen wahrnehmen. Sie erkennen, was um sie herum, was mit und in ihnen geschieht, und handeln bewusst, vertrauen sich nichts und niemandem an. Von den Teufelsmärchen ließe sich sagen, dass in ihnen derjenige glücklich wird, der sich vom Teufel befreit, doch wäre es übertrieben, hier von Glück zu sprechen. Denn der Kampf mit dem Teufel zehrt so sehr an den Kräften des Helden, dass am Ende nur die Erleichterung bleibt: Es ist gelungen. Die Spott-, Schwank- und Lügenmärchen kümmert es wenig, ob ihre Helden glücklich sind oder nicht. Sie zeigen Zustände, und zwar genau solche Zustände, die dem Glück im Wege stehen. Die Mehrzahl der Kettenmärchen wiederum zeigt Wege zur Wiederherstellung der Ordnung nach einem Verlust. In ihnen wird derjenige glücklich, der wiedererlangt, was er verloren hat.

Die meisten glücklichen Märchenhelden finden sich in den Zaubermärchen, allerdings ist dort jeder auf seine eigene Weise glücklich. Ich habe 450 Typen von Zaubermärchen und zahlreiche Variationen unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was ihre Darsteller glücklich macht. Die Antworten fielen ganz unterschiedlich aus. Die Glückseligkeit des Drachentöters entspringt beispielsweise der Vernichtung von Ungeheuern, die die Welt bedrohen. Ihn macht nicht die Durchsetzung seiner eigenen individuellen Interessen glücklich. Er kämpft für andere, und obwohl er am Ende die Königstochter bekommt, hat er während seiner Herrschaft dennoch am ehesten die Blüte des Reiches und das Wohl der Menschen im Auge. Einen anderen Helden macht glücklich, dass er der Gefangenschaft eines Ungeheuers entrinnt. Oder dass er eine gefährliche Kraft bezwingt. Dass er andere verstehen kann und selbst verstanden wird. Dass er von seinen schlechten Eigenschaften erlöst wird. Dass er in der Lage ist, sich zu verändern und zu verwandeln. Den Baum erklimmt, der bis in den Himmel reicht. Seine Gefährtin findet, sich versöhnt und vergibt. Erreicht, wofür er losgezogen ist. Seinen Weg zu Ende geht.

FINDE DEIN MÄRCHEN!

Es gibt viele Arten, die Welt kennenzulernen. Eine davon ist die Lektüre oder das Anhören von Mythen und Märchen. Märchen vermitteln uns das Wissen darüber, wie die Welt funktioniert und welche Aufgaben wir in ihr zu erfüllen haben. Wir erfahren, wer uns dabei hilft und wie wir den feindlichen Kräften begegnen können, die sich uns in den Weg stellen. Die Märchen weiten unseren Handlungsspielraum aus, indem sie uns zeigen, wie wir uns etwas vorstellen, ja sogar tun können, von dem jeder behauptet, es sei unmöglich.

Märchen halten wissenschaftlichen Welterklärungsmustern nicht stand. Es gibt Geschichten, die behaupten, dass die Pilze aus dem von Petrus weggeworfenen Brotteig entstanden sind und die Schildkröte sich durch den Neid einer geizigen Frau in der Welt verbreitet hat. Jeder weiß, dass das nicht stimmt. Und dennoch fasziniert uns die Möglichkeit, dass es auch so hätte sein können, immer wieder aufs Neue. Das Unmögliche kann – ebenso wie in den Märchen – auch in unserem Leben jederzeit möglich werden.

Märchen sind keineswegs der Gegenpol zur Rationalität. Die meisten von ihnen beschäftigen sich mit durchaus rationalen Dingen. Die Tiermärchen etwa mit der Erschaffung und Stabilisierung der moralischen Ordnung, die Novellenmärchen mit der Stärkung von Vernunft und symbolischem Denken, die Schwankmärchen mit dem Erkennen dessen, was falsch läuft. Sogar Zaubermärchen beinhalten Motive, die sich im Alltag auf praktische Weise nutzen lassen. Was all die wundersamen Dinge angeht, die in Märchen vor sich gehen, so sind sie keineswegs Ausdruck des Irrationalen. Vielmehr lässt sich sagen, dass uns diese Wunder ermöglichen, an die Unbegrenztheit unserer Möglichkeiten zu glauben. Denn unsere Möglichkeiten sind in der Tat grenzenlos, nur die Energie, die wir investieren, um sie zu erreichen, kann endlich sein.

Früher wollten die Menschen mithilfe von Geschichten nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst und andere verstehen und erklären. Sie hörten zu, nahmen wahr und verstanden. Ihre Menschenkenntnis spiegelt auch heute noch gültige Wahrheiten wider. Wir können uns selbst in Geschichten erkennen, die mehrere tausend Jahre alt sind, denn letztlich handelt jedes Märchen von uns, auch wenn sicherlich manche Geschichten besser zu unserer aktuellen Lebenssituation passen als andere. Ich mache häufig die Erfahrung, dass Menschen, die in Lebenskrisen stecken, in eine Beziehung mit jahrhundertealten Geschichten treten können, um ihr negatives Bild von der Welt und sich selbst zu revidieren.

Denn in jeder Situation, in die das Leben uns bringt, stecken wir mitten in einer Geschichte – und wenn wir Glück haben, ist diese Geschichte unsere eigene. Probleme treten erst dann auf, wenn wir versuchen, eine andere Geschichte zu leben als unsere eigene. Oder aber, wenn in unserem Märchen nichts mehr voranzugehen scheint, wir uns in unserem eigenen Leben verirrt haben, nicht mehr erkennen, wer unsere Helfer und wer unsere Gegenspieler sind oder sie sogar verwechseln. Dann können wir die Geschichte umschreiben oder in eine andere Geschichte hinübertreten. Beide Herangehensweisen bergen zahlreiche Möglichkeiten. Indem wir einen Bezug zu den überlieferten Geschichten herstellen, lassen wir ihre zunächst verschlüsselten Botschaften lebendig werden. Dann können wir Märchen sogar zu einem Teil unserer alltäglichen Praxis machen. Jeder Mensch kann seinem eigenen »persönlichen Märchen« begegnen und mit seiner Hilfe die Chancen erkennen, die in seinem Leben verborgen sind. Die Anknüpfungspunkte zwischen der Geschichte und dem eigenen Leben zu finden ist das Ziel. Sind sie gefunden, können wir ins Gleichgewicht zurückfinden. Indem wir die kollektiven Muster »unseres« Märchens mit den individuellen Mustern unseres Lebens verknüpfen, aktivieren wir Lebensenergie, die bislang nicht genutzt werden konnte.

WO SIEHST DU DICH IN DEINEM MÄRCHEN?

Im Märchen kommen die Helden von Zeit zu Zeit auf ihrem Weg nicht weiter. Sie gehen ihn dann aber dennoch zu Ende, indem sie beispielsweise etwas von der Welt verstehen lernen, sich von ihren Eltern lösen, die richtige Braut finden oder einfach nur Frieden in sich selbst.

Um ein Märchen in den Dienst unserer Entwicklung stellen zu können, müssen wir uns selbst in ihm finden. Die wichtigste Frage ist dabei nicht, mit welcher Figur wir uns identifizieren, sondern wo wir uns in der Geschichte sehen. An welchem Schauplatz erkennen wir uns wieder? Warum sind wir gerade dort? Wie sind wir dorthin gelangt? Was machen wir da gerade? Schon aus diesen Antworten kann sich ergeben, dass wir früher einmal vielleicht in die falsche Richtung aufgebrochen sind und das der Grund für unser Problem ist. Vielleicht haben wir aber auch die falschen Mittel gewählt, um unsere Ziele zu erreichen, Gegenspieler mit Helfern verwechselt oder die falsche Kampftechnik gewählt. Es kann auch vorkommen, dass wir uns einem Gegenspieler gegenüber sehen, der vorerst unbesiegbar scheint.

In den Märchen gibt es für jede Situation einen Lösungsschlüssel. Um ihn zu erkennen, muss man herausfinden, wie was funktioniert, was man wie benutzen kann. Welche Geheimnisse bergen die Gegenstände, Pflanzen, Situationen um uns herum? Was könnte jenseits des unmittelbar Sichtbaren verborgen sein? Gegen welchen Gegner kann man mit welcher Methode kämpfen, und wie kann man sich selbst bei der Erlösung anderer erlösen? Die selbstheilende Wirkung der Märchen basiert nicht auf der bloßen Interpretation der Geschichten. Die Gedanken des Märchens wollen verwirklicht, wollen praktisch gelebt werden. Diese Verwirklichung lernen wir von den Helden der Märchen. Das Märchen aktiviert unsere Bereitschaft zum Handeln.

Wir können die Märchen um Hilfe bitten, doch den Ausweg aus unserem Problem müssen wir selbst finden. Die entscheidende Frage lautet: Werden wir zum wahren oder zum falschen Helden? Der Held tritt in einer Geschichte immer dann auf, wenn etwas aus dem Ruder gelaufen ist und die Ordnung wiederhergestellt werden muss. Der Held ist nicht derjenige, der den Drachen tötet, sondern derjenige, der sich im Gleichgewicht befindet. Der abwägt und dafür sorgt, dass innen wie außen von allem genauso viel vorhanden ist, wie zum harmonischen Dasein benötigt wird. Das ist keine leichte Aufgabe. Doch jedem von uns steht die großartige Möglichkeit offen, zum Helden unseres Lebens zu werden. Auch in den schwierigsten Lebenskrisen.

DER MÄRCHENERZÄHLER ALS THERAPEUT

Die verschiedenen Märchentypen untersuchen die Ursachen und Folgen eines Phänomens, eines menschlichen Verhaltens oder einer Lebenssituation unter jeweils unterschiedlichem Aspekt. Wir finden in den Märchen Beispiele für jede physische, psychische und geistige Form des Daseins. Auf diese Muster, die nun schon seit so langer Zeit überliefert werden, können wir uns stützen – egal, ob wir »einfach nur« glücklich sein möchten oder ob wir aus irgendeinem Grund in eine Krise geraten sind. Doch die Tatsache, dass wir in den Märchen überlieferten und bewährten Lebensweisheiten begegnen, erklärt noch nicht ausreichend, warum uns Märchen immer wieder so stark in ihren Bann ziehen. Selbst der Umstand, dass Märchen eine gewissermaßen magische Wirkung haben, dass sie in der Lage sind, unser Denken zu verändern, liefert keine zufriedenstellende Erklärung.

Im Märchenschatz der Welt lassen sich die europäischen, nordamerikanisch-indianischen, mittel- und südamerikanischen, ozeanischen, indonesisch-indochinesischen, fernöstlichen sowie afrikanischen Märchenregionen deutlich voneinander unterscheiden. In jeder dieser Regionen haben sich eigene Märchengattungen mit eigenem Stil und eigener Überlieferung herausgebildet. Dennoch frage ich mich nicht in erster Linie, worin sich die Märchen der einzelnen Regionen voneinander unterscheiden, sondern was ihnen gemeinsam ist. Gibt es einen Bestandteil, von dem wir sagen können, dass ohne ihn eine Geschichte kein Märchen ist? Was macht das Märchen über die bestehenden Ähnlichkeiten im Aufbau, den Motiven, den Typen und Helden hinaus letztendlich zum Märchen?

In allen Märchenregionen enthalten die Märchen Lehren über universale menschliche Werte. Doch um Märchen wirklich in der Tiefe zu deuten, muss man das Weltbild kennen, gewissermaßen den Glauben und Aberglauben, dem sie entstammen. Das ist zum Beispiel auch der Grund dafür, warum die abendländischen und orientalischen Märchen eine unterschiedliche therapeutische Wirkung haben. Die abendländischen Märchenhelden sind ständig gezwungen zu handeln. Das ist einerseits ungeheuer anstrengend, andererseits aber auch sehr wirkungsvoll, denn sie stellen sich nicht nur vor, wie sie leben möchten, sondern unternehmen auch konkrete, praktische Schritte dazu. Sie lassen nicht zu, dass sich die Dinge von selbst erledigen. Sie übernehmen Verantwortung für sich selbst und andere. Ständig sind sie in Bewegung, »unterwegs«, denn sie wissen, dass man nicht alles, was man braucht, an einem Ort vorfindet. Deshalb begeben sie sich auf die Suche. Ihre Erfahrungen machen sie sich praktisch zunutze. Das gesteckte Ziel erreichen sie erst mit der Überwindung von sieben bis acht Hindernissen oder indem sie eine Reihe von Prüfungen bestehen.

Im Gegensatz dazu akzeptieren die orientalischen Märchenhelden das, was das Schicksal für sie bestimmt hat, wobei sie zugleich die Verpflichtung wahrnehmen, die sie ihrer eigenen Bestimmung schuldig sind. Personen und Dinge, denen sie begegnen, werden in einen Bezug zu dieser Bestimmung gesetzt. Zur Lebensanschauung der orientalischen Märchenhelden gehört, dass man auch an einem einzigen Ort alles, was man braucht, finden kann, wenn sich der Blick einem tieferen Erkennen der Dinge öffnet. Sie akzeptieren auch schwere Lebenslagen, für sie ist selbst der Tod keine Quelle des Unglücks, sondern die Möglichkeit, eine Grenzsituation und den Übergang zu erfahren. Das Tragische ist Teil des Lebens; die Helden der orientalischen Märchen bemühen sich nicht um jeden Preis, das Ungleichgewicht zu korrigieren oder Verluste zu ersetzen, sondern sie wollen lernen, mit Ungleichgewicht und Verlust zu leben. Es gibt Lebenssituationen, in denen nur die orientalischen Märchenhelden dem Menschen helfen können, so wie auch die Märchenhelden des Abendlandes ihre eigenen Kompetenzen für schwierige Situationen besitzen. Die abendländischen Märchenhelden können am effektivsten dabei helfen, ins Handeln zu kommen, die orientalischen, wenn es darum geht, etwas zu akzeptieren.

Allen Märchenregionen gemeinsam ist, dass die Lehre in Form einer Geschichte transportiert wird. Das Wissen vorangegangener Generationen wird weitergegeben. Jede Kultur weiß, dass Geschichten es uns erleichtern, über das zu reden, was ist, sogar über uns selbst. Auch eine Sache zu verstehen und zu akzeptieren ist viel einfacher, wenn wir sie nicht in Form trockener Fakten präsentiert bekommen, sondern mittels einer Geschichte. Von Sokrates ist überliefert, er habe, wenn er etwas gefragt wurde, mit der Gegenfrage geantwortet: Wollt ihr einen Mythos oder Logos hören? Das heißt, soll ich meine Gedanken mithilfe von Bildern und Gefühlen ausdrücken oder mithilfe des Verstandes? Die beiden Möglichkeiten stehen in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander und schließen sich auch nicht gegenseitig aus. Beide Vorgehensweisen spiegeln gültige Wahrheiten wider und geben dem Fragenden zufriedenstellende Antworten. Wenn wir mit Märchen auf eine existenzielle Frage antworten, tun wir nichts anderes, als in der Sprache der Bilder das zu erzählen, was wir logisch-systematisch bisher vielleicht vergeblich zu fassen versuchten. Dasselbe gilt auch umgekehrt. Nur gemeinsam sind die beiden Denkweisen in der Lage, die Welt in ihrer Schönheit und Gänze sichtbar zu machen. Darum verstehe ich nicht, wie die jahrtausendealte Tradition des Geschichtenerzählens aus unserem Leben verschwinden konnte. Warum benutzen wir im Unterricht nicht mehr Geschichten, so wie früher? Man könnte alle Schulfächer in die Sprache der Bilder übertragen, sogar die Physik, die Chemie und die Mathematik. Die Menschen brauchen Geschichten, denen sie zuhören und die sie weitererzählen können. Narrare necesse est– Wir Menschen müssen erzählen, behauptet der deutsche Philosoph Odo Marquard: »Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichten; wer auf seine Geschichten verzichtet, verzichtet auf sich selber.«1 Natürlich werden wir das in Form von Geschichten weitergegebene Wissen nur dann für zuverlässig halten, wenn wir es aus dem Mund eines glaubwürdigen Menschen hören. Deshalb gab es die Märchenerzähler, und deshalb bräuchten wir sie auch heute.

Der Märchenerzähler ist der Bewahrer eines Wissens, das sich über Jahrhunderte angesammelt hat und das er schützt und vermittelt. Er ist verantwortlich für die Qualität des weitergegebenen Wissens, er kann das Gleichgewicht zwischen Ratio und Intuition, rechter und linker Gehirnhälfte erschaffen, er ist zuständig dafür, dass innere Bilder entstehen, er setzt die schöpferische Fantasie in Gang, und es ist seine Verantwortung, unter den Märchentypen zu wählen: Warum entscheidet er sich gerade für dieses eine Märchen, und warum gerade jetzt? Der Märchenerzähler war in den archaischen Gemeinschaften der Vertreter des Unbewussten. Beim Erzählen stand er in ständiger und unmittelbarer Beziehung zu den Zuhörern und konnte das Märchen ihrem aktuellen Zustand anpassen, ohne der Botschaft der Geschichte untreu zu werden oder etwas wegzulassen. Wenn in einem Märchen ein wesentliches Element, ein Motiv oder ein wichtiger Satz ausgelassen wird oder aber der Aufbau der Geschichte ins Kippen gerät, entsteht statt der Ordnung Chaos.

Der Märchenerzähler früherer Zeiten wählte das Märchen immer entsprechend der gegebenen Situation. Er erzählte eine Geschichte, wenn er zur Arbeit anregen wollte, und eine andere, wenn es sein Ziel war, die Zuhörer zur Ruhe kommen zu lassen oder zu unterhalten. Wollte er die moralischen Fehltritte der Gemeinschaft deutlich machen, wählte er ein Tiermärchen, Legendenmärchen oder ein Schwankmärchen; wollte er hingegen Trost spenden oder Hoffnung machen, rief er die Helden der Zaubermärchen herbei. In Georgien konnte man als Märchenerzähler sogar von der Steuerlast befreit werden. Der estnische Volkskundler und Ethnologe Richard Viidalepp berichtet, dass bei einzelnen Gruppen der baltischen Völker das Erzählen nicht nur im Alltag der Menschen eine bedeutende Rolle spielte, sondern dem Märchen auch unter dem Gesichtspunkt der Produktion magische Kraft beigemessen wurde.2 Man meinte, wenn man am Abend nach getaner Arbeit oder vor Weihnachten viel erzählte, würde sich das positiv auf die Entwicklung von Jungtieren auswirken. Die »zur Zeit des Andenkens an die Toten« erzählten Märchen hingegen förderten, dass gescheckte Lämmer und Kälber geboren wurden. Auch andere Völker glaubten an die magische Kraft der Märchen: Die Saat wächst schneller, wenn man ihr ein Märchen erzählt, die Wanderer bekommen durch das Erzählen rascher eine Unterkunft, der Bettler gelangt in kürzerer Zeit an seine Einnahmen für den Tag, der Ladenbesitzer lockt die Käufer mit Märchen an, und ein Märchen kann auch in strittigen Fragen entscheidend sein.

DIE KRAFT DER SCHÖPFERISCHEN FANTASIE

Jeder, der ein Märchen hört oder liest, entscheidet selbst, in welcher Form er einen Bezug zu der Geschichte herstellt: ob er sie für eine gültige Wahrheit hält und über sie nachdenkt oder ob er sich eher an die Fakten hält. Die Frage, ob wir dem Märchen einen Wahrheitsgehalt zugestehen oder nicht, beeinflusst jedoch beim Zuhören nicht unsere Beziehung dazu. Es muss also noch etwas anderes geben, das über den Wahrheitsgehalt der im Märchen verschlüsselten Lehren und Botschaften sowie über den Bezug auf unser eigenes Leben hinaus immer, bei jedem Hören eines Märchens entsteht, und zwar so, dass es unmöglich ist, Richtung, Tiefe und Dauer zu beeinflussen. Dieses »Etwas« ist meiner Meinung nach nichts anderes als der Bewusstseinszustand, in den wir gelangen, wenn man uns eine Geschichte erzählt.

Überall auf der Welt erleben die Zuhörer Märchen in einer Art Trance. Sie grübeln nicht darüber nach, ob die Behauptungen des Märchens wahr sind, sondern sind sich vielmehr sicher, dass es nur so geschehen sein kann, wie der Märchenerzähler sagt. Diese storytelling trance3 entsteht in jeder Situation, in der mündlich erzählt wird. Die »beim Zuhören entstandene intensiv fokussierte Aufmerksamkeit« unterscheidet sich von jeder anderen Aufmerksamkeit. Die Menschen, die sich in einer storytelling trance befinden, sind ruhig, wachsam, körperlich reglos, gleichzeitig aber mental aktiv, stark konzentriert; ihre Aufmerksamkeit ist nach innen, auf sich selbst gerichtet, während sie Kontakt zum Märchenerzähler und zur Geschichte halten. Dieser Zustand lässt sich auch mit der Funktion der rechten und der linken Gehirnhälfte beschreiben: In diesen Momenten sind beide Gehirnhälften aktiv, befinden sich sogar im Gleichgewicht. Meiner Meinung nach ist in diesem Zustand unsere schöpferische Fantasie in uns wirksam.

Die schöpferische Fantasie ist eine gültige Erfahrungsmöglichkeit. Im Gegensatz zum rationalen Wissen ist die schöpferische Fantasie ein Wissen, das auf Bildern basiert. Sie ist die Grundlage für die Sinnesbewusstheit, die Intuition – im Grunde eine Art Bewusstseinszustand, der den Verstand mit der Wahrnehmung und den Gedanken mit dem Gefühl verbindet. Nach dem französischen Philosophen Jacques Maritain ist die schöpferische Fantasie nichts anderes als die Interkommunikation zwischen dem inneren Dasein der Dinge und dem inneren Dasein des menschlichen Ich.4 Jedes Märchen bewahrt das Andenken an jene Zeit, in der der Mensch nicht nur all das, was er wahrnahm und erfuhr, verstehen wollte, sondern in der er ganz fraglos in alledem lebte, weil es seine ganz natürliche Kraftquelle war. Der Mensch war auf eine Weise in der Welt präsent, dass ihm alles, was ihn umgab, zugutekam und auch er allem zugutekam. Er nahm die Welt nicht als etwas wahr, das erst entschlüsselt werden musste, sondern existierte in vollkommener Einheit mit ihr. Jedes Ereignis hatte für ihn Sinn und Bedeutung, und da er sich selbst tatsächlich als Teil eines großen Ganzen wahrnahm, behandelte er die anderen Teile des großen Ganzen mit dem entsprechenden Respekt: Die Erde war heilig, das Feuer war heilig, die Luft war heilig, das Essen, die Pflanzen, die Bäume, die Tiere waren heilig, und heilig war auch der Mensch an sich. Dieses »Sein als Einheit« haben die Märchen bewahrt. Darum kommen jene Märchenhelden am leichtesten voran, die sich selbst nicht als von der Welt getrennt betrachten. Um auf Maritain zurückzukommen: Diese Helden sind in der Lage, eine Verständigung zwischen ihrem eigenen inneren Dasein und dem inneren Dasein der Gegenstände, Tiere und Personen aufzubauen, die ihnen auf ihrem Weg begegnen.

Wir können also sagen, dass bei der Wissensvermittlung durch Geschichten einer der wichtigsten gemeinsamen Züge nicht im Aufbau der Märchen und in ihrem Motivschatz liegt, sondern in dem Bewusstseinszustand, den das Märchen schafft. In diesem Bewusstseinszustand gewinnen wir Zugang zu unseren unerschlossenen Energieressourcen. Unsere Lebensfähigkeit wird gestärkt. Das Märchen hilft uns dabei, mit dem Leben in einen Dialog zu treten. Und obwohl dieser Dialog auf viele verschiedene Arten stattfinden kann, ist das Wesentliche daran, dass alles in seiner eigenen Sprache angesprochen werden muss. Wenn der Schnittpunkt, an dem sich das innere Dasein der Dinge und das innere Dasein des menschlichen Ich treffen, berührt wird, befinden wir uns im unendlichen Raum der schöpferischen Fantasie.

1. Odo Marquard: Narrare necesse est, in: Ders.: Philosophie des Stattdessen. Stuttgart 2000, S. 60–65.

2. Richard Viidalepp: A mesélők és a mesemondás körülményei az észteknél. Ethnographia, 1969, S. 447–460.

3. Fran Stallings: The Web of Silence: Storytelling’s Power to Hypnotize, in: The National Storytelling Journal, Frühjahr/Sommer 1988, S. 6–19. Hajnal Korbai (Hrsg.): Az aranytök. Terápiás történetek és mesék traumát átélt gyerekeknek, Budapest 2010. Ildikó Boldizsár: Meseterápia – Mesék a gyógyításban és a mindennapokban, Budapest 2010, S. 319 f.

4. Jacques Maritain: Creative Intuition in Art and Poetry. New York 1954, Kapitel 3–4.

WIE WIRD AUS EINEM MÄRCHEN EINE SELBSTHEILENDE GESCHICHTE?

In der selbstheilenden Märchentherapie übernimmt das Märchen selbst die Rolle und Funktion des Erzählers. Jedes Märchen bietet uns die Chance zur Verbesserung unseres eigenen Lebens: Wir können uns darauf verlassen, dass das Märchen zeitlose Wahrheiten birgt, die wir uns allerdings zunächst erschließen müssen. Danach können wir damit beginnen, die einzelnen Motive des Märchens daraufhin zu betrachten, wie sie unser eigenes Leben bereichern können. Auf diese Weise wird das Märchen zu einer selbstheilenden Geschichte: Wir verknüpfen die persönlichen, subjektiven Aspekte unseres Lebens mit der objektiven, zeitlosen Wahrheit des Märchens.

Grundlage für die (Selbst-)Heilung durch Märchen ist also die intensive Begegnung mit dem Text. Dabei geht es nicht einfach darum, den Text zu verstehen. Vielmehr müssen die objektiven und die subjektiven Anteile feinfühlig miteinander abgestimmt werden. Wenn wir einem Märchen das erste Mal begegnen, entsteht unser erster Eindruck aus der Geschichte als Ganzem. Sobald wir dann beginnen, uns genauer mit einzelnen Aspekten des Märchens zu befassen, wird dieser erste Eindruck revidiert. Die erste Schwierigkeit ergibt sich, wenn wir versuchen, ein Märchen ausschließlich von uns selbst ausgehend zu deuten und die objektiven Aspekte der Geschichte außer Acht lassen. Oder aber umgekehrt: wenn wir ausschließlich objektive Wahrheiten im Märchen suchen und diese nicht auf uns selbst beziehen können. Ein komplettes Verstehen stellt sich nach und nach ein, wenn wir die objektiven und subjektiven Deutungsmöglichkeiten miteinander abstimmen.

Auf der Suche nach der objektiven, zeitlosen Wahrheit des Märchens schauen wir uns an, wer der Held des Märchens ist, was den Konflikt auslöst, wer der Gegenspieler und wer der Helfer des Helden ist und welche Lösung das Märchen für das entstandene Problem anbietet. Bei der subjektiven Interpretation des Märchens beziehen sich unsere Fragen dann auf unsere eigene persönliche Wirklichkeit: Wer bin ich in dem Märchen? Wo liegt der Konflikt, das Problem in meinem Leben? Mit wem oder was bin ich dort konfrontiert? Auf wen kann ich zählen? Welche Möglichkeiten bergen die weiteren Schauplätze des Märchens für mich? Wenn wir unsere objektiven und subjektiven Antworten aufeinander projizieren, machen wir eigentlich nichts anderes, als nach Lösungen für unsere existenziellen Probleme, im schwerwiegenderen Fall für unsere Lebenskrisen zu suchen. Ob und wie gut wir dabei vorankommen, können wir überprüfen, indem wir darauf achten, dass sich möglichst wenig Widersprüche zwischen der objektiven und der subjektiven Erschließung des Märchens ergeben. Dies bringt uns unserer inneren Ordnung näher – und damit dem Abschluss des Selbstheilungsprozesses.

Eine der Stärken der Märchentherapie-Methode Metamorphoses liegt darin, dass alle ihre Elemente auf den Märchen aufbauen. Das strukturelle Gerüst des Märchens bietet den Therapierahmen. Bei der Entwicklung von Metamorphoses habe ich das von Wladimir Jakowlewitsch Propp ausgearbeitete sogenannte morphologische System der Märchen in die Therapiepraxis übertragen.5 Das Grundgerüst der Behandlung basiert auf bestimmten Fragen, die sich aus den Märchen ergeben. Im Verlauf der (Selbst-)Heilung wird dann der »Code« des jeweiligen Märchens Schritt für Schritt mit Bezug auf die eigene, persönliche Situation entschlüsselt – wie das konkret aussieht, werden die einzelnen Kapitel dieses Buches zeigen. Es gibt Lebenssituationen, in denen es notwendig sein kann, sich professionelle Unterstützung zu suchen. In diesem Fall ist das Märchen nicht als selbstheilende, sondern als heilende Geschichte im Therapieverlauf präsent, die Rolle des Erzählers hingegen übernimmt der Märchentherapeut.

Die Ausbildung der Märchentherapeuten basiert ebenfalls auf den Märchen: Sie beschäftigen sich mit Volksmärchen aus aller Welt und lernen dabei, was die Märchen über Leben, Tod, Krankheit und Heilung erzählen sowie welche Rolle Heiler und Patient spielen können, wenn es darum geht, die verloren gegangene Ordnung wiederherzustellen. Angehende Märchentherapeuten lernen als Erstes die Weltbilder kennen, die den Märchen zugrunde liegen. Später lernen sie dann, die Deutungsebenen des Märchens voneinander zu trennen, die Muster darin zu erkennen. Sie eignen sich ein tieferes Verständnis der Märchen an und lernen, in Bildern zu denken. Aus den Märchen entwickeln Story-Therapeuten auch ein Verständnis dafür, wer ein guter Helfer sein kann und wie man dazu wird – ganz unabhängig davon, ob man sich selbst oder anderen helfen will. Welche Einstellungen und Fähigkeiten braucht man dazu? Worauf muss bei der Selbstanalyse und im Therapiegespräch geachtet werden?

Die Märchentherapie ist eine weisheitsbasierte Methode, daher erfordert sie ständige Weiterentwicklung und bewusste Präsenz. Weisheit bedeutet nichts anderes als angewandtes Wissen. Wer die Elemente seines eigenen Lebens mithilfe der inneren Ordnung der Märchen auffädelt, entwickelt im Laufe der Zeit ein Verständnis für zunehmend tiefere Schichten. Innerhalb eines Märchens lassen sich nämlich verschiedene Deutungsebenen voneinander trennen: Auf der Grundebene sehen wir uns erst einmal nur an, wovon die Geschichte eigentlich handelt. Auf der kulturgeschichtlichen Ebene verorten wir das Märchen in jenem Weltbild, aus dem es stammt, und versuchen es einer der verschiedenen Märchengattungen zuzuordnen. Auf der sozial- oder gesellschaftspsychologischen Ebene analysieren wir das Verhältnis der Figuren zueinander, also ihr Beziehungssystem. Auf der universalen menschlichen Ebene suchen wir nach allgemeingültigen Aussagen zum menschlichen Dasein. Die metaphysische Ebene eröffnet sich, wenn wir die Märchen nicht mehr dazu nutzen, eine Ordnung in die seelischen Probleme zu bringen, sondern in ihnen auch die Möglichkeit zu einer geistigen Entwicklung suchen. Die selbstheilende Märchentherapie wirkt vor allem auf der universalen menschlichen Ebene. Daher suchen wir in den Märchen in erster Linie allgemeingültige Aussagen über das menschliche Leben.

Ich möchte im Folgenden auf vier Märchen zu sprechen kommen, die von Anfang an sehr wichtig für meine Arbeit waren. Aus dem ersten dieser Märchen habe ich gelernt, worauf ich achten muss, wenn ich mir die Geschichten anderer Menschen anhöre. Aus dem zweiten, wie ich mich empathisch in die Situation meiner Klienten einfühlen kann, ohne dabei mich selbst zu verlieren. Das dritte Märchen beleuchtet für mich die therapeutische Verantwortung des Klienten. Und das vierte, wie ich am besten dem Wohl der Menschen dienen kann, die sich an mich wenden.

Bevor ich die Erfahrungen, die ich aus den Märchen gewonnen hatte, in der therapeutischen Arbeit mit anderen Menschen anwendete, probierte ich sie erst einmal an mir selbst aus. Dabei stellte ich mir die folgenden Fragen: Worauf muss ich bei der Analyse meiner selbst achten? Wie kann ich mich in das Leid einfühlen, ohne meine eigenen Grenzen zu verlieren? Worin besteht meine Verantwortung für mich selbst; was muss ich tun, um Schwierigkeiten zu bewältigen? Und schließlich: Wie kann ich meinem eigenen Wohl am besten dienen?

Die Märchen der nun folgenden Abschnitte zeigen uns, wie wir vorgehen können, wenn wir uns auf die Suche nach der heilenden und vor allem auch der selbstheilenden Kraft der Märchen begeben.

5. Wladimir Jakowlewitsch Propp: Morphologie des Märchens, München 1972. Ders.: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, München 1987.

DIE PRÄSENZ DER WAHRNEHMUNG Der kluge Arzt

In Seoul lebte einmal ein Arzt, der weit und breit für sein Können bekannt war. Eigentlich hatte er seine Heilkunst nirgendwo erlernt, sondern war immer seinem eigenen Verstand gefolgt, doch er erkannte die Gemütsstimmung seiner Kranken auf ganz wunderbare Weise, und aus dieser schloss er, welchen Rat er ihnen geben sollte. Darüber hinaus konnte er sich gut in die Lage der Kranken hineinversetzen. Wenn ihn jemand aufsuchte – ganz gleich, ob er aus der Nähe kam oder aus einem fernen Teil des Landes –, bestand die Untersuchung darin, dass der Arzt den Kranken vor sich hinstellte und ihm starr in die Augen blickte, ohne sich nach dem Grund für dessen Besuch oder sein Befinden zu erkundigen. Er fragte nur: »Hier tut es dir weh, nicht wahr?«, oder, wenn er es genauer wissen wollte: »Dies und jenes hat deine Krankheit verursacht, ist es nicht so?«

Der Kranke erwiderte dann meist: »Ja, du hast Recht, so ist es wahrhaftig!«, da der Arzt das Leiden fast immer erriet. Die Kranken baten ihn vertrauensvoll, ihr Leiden zu heilen. Der kluge Arzt schrieb ihnen seine Anweisungen auf und schickte sie nach Hause. War der Kranke ein armer Hungerleider, so verlangte er keinen Lohn von ihm.

Eines Tages klopfte bei dem Arzt ein kranker Mann aus der Provinz Gyeonggi an die Tür, der bis auf die Knochen abgemagert war. Schon sein Gesicht erregte Mitleid bei jedem, der ihn nur anschaute. Der Arzt blickte auch diesem Kranken voller Mitgefühl starr in die Augen. Gründlich beobachtete er seine sorgenvollen Züge, das Glänzen seiner Augen, dann sprach er: »Ich sehe keinerlei körperliche Krankheit! Was mag also der Grund dafür sein, dass du so abgenommen hast und so furchtbar blass bist?«

Der Kranke antwortete: »Du hast Recht, das Leid wohnt nicht in meinem Körper, denn ich verspüre niemals Schmerz, doch hier drinnen, in meiner Seele, da quält mich etwas fürchterlich!«

Nachdem er dies ausgesprochen hatte, zeigte er dem Arzt seinen Nabel. Dieser schaute ihn weiterhin forschend an, und am Ende erzählte der Kranke, was ihm zugestoßen war: »Vor drei Jahren ging ich einmal in den Wald hinaus, um Feuerholz zu schlagen, und nachdem ich ordentlich viel Holz aufgeladen hatte, machte ich mich auf den Heimweg. Eine ganze Weile verspürte ich keine besondere Anstrengung. Doch plötzlich brannte die Sonne so heiß, und es überkam mich ein solcher Durst, dass mir fast schwindlig wurde. Meine Kehle war vollkommen ausgetrocknet. Also legte ich das Feuerholz neben mich, kniete mich am Ufer eines Baches nieder, der ein Stück vom Waldweg entfernt leise dahinplätscherte, hielt meinen Mund an den Spiegel des Wassers und trank langsam, Schluck für Schluck von dem kühlen Nass. Da sah ich deutlich, dass, während ich das Wasser trank, eine Schlange heranschwamm. Es war eine abscheuliche Ringelnatter, und noch bevor ich es hätte verhindern können, glitt sie mir in den Mund, hinein in meinen Rachen und von dort gleich in den Magen. Du kannst dir vorstellen, was ich da fühlte! Ich würgte, solange ich konnte, doch das Tier wollte einfach nicht aus meinem Magen herauskommen! Seitdem lebe ich in fürchterlicher Angst, und kein Arzt kann mein Leid heilen! Nun bin ich zu dir gekommen. Du bist weise und geschickt, dir vertraue ich! Hilf mir!«

Der Arzt versank eine Weile in Gedanken, dann sah er den Kranken wohlwollend an und erklärte: »Es gibt Hilfe für dich! Bitte versuche dich zu erinnern, ob du, als du das Wasser aus dem Bach geschlürft hast, nicht eine Mütze oder eine Art Hut getragen hast – und wenn ja, wie dieser aussah.«

Der Kranke überlegte eine Weile und erwiderte dann, dass er kurz zuvor eine schöne lange Fasanenfeder gefunden und sich diese ins Haar gesteckt habe, beim Trinken aus dem Bach habe nur diese seinen Kopf geschmückt, er habe keine Mütze und auch keinen Hut getragen.

»In Ordnung«, sagte der Arzt beruhigt, »geh jetzt nach Hause, stecke dir wieder eine schöne lange Fasanenfeder ins Haar und eile zu dem Bach, trinke noch einmal einige Schlucke Wasser an derselben Stelle, an der du damals die Schlange verschluckt hast, und du wirst sofort gesund, deine Furcht wird vergehen!« Mit diesen Worten schickte er den Kranken nach Hause und begab sich an seine Arbeit.

Der Kranke machte sich sofort auf den Heimweg, suchte sich eine lange Fasanenfeder, steckte sie sich in seinen Zopf und ging an das Ufer des Baches hinaus. Dort fand er glücklicherweise jenen Ort, an dem ihm das Unglück widerfahren war, er kniete sich nieder und schlürfte genauso wie damals Schluck für Schluck von dem kühlen Nass. Und welch ein Wunder, wieder erblickte er die sich nähernde Ringelnatter, und bevor er es hätte verhindern können, glitt ihm das Reptil erneut in den Mund. Er beugte sich auch ein zweites Mal über das Wasser, wieder erschien die Schlange. So oft er es auch versuchte, immer war die Ringelnatter plötzlich da und glitt ihm in den Rachen.

Da überlegte er, und auf einmal fand er den Schlüssel zur Lösung: Das, was er als Schlange sah, war nur das Spiegelbild der in den Zopf gesteckten Fasanenfeder, das sich dort schlängelte und über das sich kräuselnde Wasser des Baches entlangglitt. Das war es, was er als echte Schlange wahrgenommen hatte. Er zog sich also die Feder aus dem Zopf, kniete sich nieder und trank so; jetzt war keine Spur einer Schlange mehr zu sehen, aus dem Wasser lächelte ihm nur sein eigenes rundes Gesicht entgegen. Von diesem Augenblick an war seine Ruhelosigkeit vorbei, und er war endgültig von seiner eingebildeten Krankheit geheilt.

Die objektive Deutung des Märchens

In dem koreanischen Märchen finden wir zahlreiche Begriffe, die beschreiben, wie der ideale Helfer beschaffen sein muss und wie eine wahrnehmende und intuitive Präsenz bei einer (Selbst-)Analyse aussieht. Was steckt hinter den Wörtern? Was liegt jenseits dessen, was wir bereits kennen und auch erzählen können? Gibt es ein Element, das wir in unserer eigenen Geschichte noch nicht wahrgenommen haben?

Der berühmte Arzt, den wir im Märchen kennenlernen, hat »seine Heilkunst nirgendwo erlernt, sondern war immer seinem eigenen Verstand gefolgt«; dennoch »erkannte er die Gemütsstimmung seiner Kranken auf ganz wunderbare Weise, und aus dieser schloss er, welchen Rat er ihnen geben sollte«. Ein Geheimnis seiner Methode ist, dass »er sich gut in die Lage der Kranken hineinversetzen« kann. Er mustert sie eingehend, sieht ihnen »starr in die Augen«, beobachtet die sorgenvollen Züge, das Glänzen der Augen und verschließt sich auch dem Mitgefühl nicht. Nach der Beobachtung des Kranken stellt er direkte Fragen, die sich auf den Ursprung des Leidens beziehen, und denkt gründlich über die Antworten nach. In jedem Kranken sucht er das »Individuelle« und findet es auch. Er untersucht nicht nur den Körper des Kranken, sondern bezieht auch seinen eigenen Körper – seine Sinnesorgane, seine Intuition – mit ein. Eine derartige Methode war vermutlich auch zu der Zeit, in der das Märchen entstand, nicht alltäglich, denn wir erfahren von dem Kranken: »Ganz gleich, wohin ich auch gehe, kein Arzt kann mein Leid heilen.«

Die wahrnehmende Präsenz geht der Präsenz des Bewusstseins voraus. Die bewusste Präsenz beginnt mit gut gestellten Fragen. So demonstriert es das koreanische Märchen: All das, was der Arzt im ersten Schritt beobachtet hat, überträgt er nicht sofort in eine Diagnose, sondern beginnt – gewissermaßen zur eigenen Kontrolle –, Fragen zu stellen. Noch dazu sehr genaue Fragen. Wie viele Kämpfe, mit denen wir uns herumplagen, könnten eine andere Richtung nehmen, wenn wir uns selbst ein paar ehrliche Fragen stellen und so erkennen würden, was auch der Kranke in Seoul erkennt: Die Krankheit wohnt in Wirklichkeit »nicht in meinem Körper, denn ich verspüre niemals Schmerz, doch hier drinnen, in meiner Seele, da quält mich etwas fürchterlich«. Er ist blass, bis auf die Knochen abgemagert, etwas zehrt sichtlich an ihm. Und noch während er über die Gründe seines Leidens spricht, geschieht etwas Seltsames: Er reißt sein Hemd hoch und zeigt dem Arzt seinen verletzlichsten Punkt, den Nabel.

Die hohe Schule der wahrnehmenden Präsenz ist, dass der Arzt sofort erkennt: Sein Patient hat ihm mit dieser Geste den Schlüssel zur eigenen Heilung gegeben. Der Nabel ist der Ort des Kraft- und Energiezentrums, der physische Mittelpunkt des menschlichen Körpers, der uns darüber hinaus mit dem Anfang unseres Lebens, unserer Geburt verbindet. Der Arzt hat weise abgewartet, bis der Kranke selbst über den Anfang, das heißt über den konkreten Grund für seine Krankheit zu reden beginnt. Er hört zu. Der Kranke erzählt, doch der Arzt versteht ihn auch jenseits der Ebene der Wörter. Er weiß, dass er in diesem »Jenseits« suchen muss, um dem Kranken etwas wahrnehmbar zu machen, von dem er noch nicht weiß, da er seine eigene Geschichte nicht in ihren größeren Zusammenhängen sehen kann. Er dringt nicht bis zur eigentlichen Ursache seiner Krankheit vor. Der Arzt versteht die Geschichte des Kranken, »übersetzt« sie seinem Patienten aber nicht, weil er weiß, dass dies nichts nützen würde. Der Kranke würde nicht zwangsläufig gesund, wenn er von einem anderen erführe, was genau mit ihm passiert ist. Stattdessen führt der Arzt den Mann zur Quelle seiner »Krankheit«. Die Heilung erfolgt, als der Kranke auf dem Weg der Erfahrung verblüfft feststellt, was genau seinerzeit mit ihm passiert ist. »Auf einmal fand er den Schlüssel zur Lösung.« Er verbindet die Elemente seiner eigenen Geschichte miteinander und findet das fehlende Glied, den Schlüssel zu seiner Heilung. Nachdem er verstanden hat, ist er in der Lage, die Geschichte neu zu schreiben, die Dinge an ihren Platz zu rücken. Er muss sich lediglich die Fasanenfeder aus seinem Zopf ziehen, damit er zur Ruhe kommt.

Der Seouler Arzt längst vergangener Zeiten wusste bereits, was die Positive Psychotherapie Jahrhunderte später (wieder-)entdeckte: »Besonders wichtig scheint uns die Überlegung, daß der Patient nicht nur die Krankheit mit sich bringt, sondern auch die Fähigkeit, seine Krankheit zu überwinden. Der Therapeut hat die Aufgabe, ihm dabei zu helfen. Der positive Ansatz versucht, zusammen mit dem Patienten, alternative Möglichkeiten, Lösungen zu vermitteln, die bislang jenseits des Bewußtseinshorizontes lagen. Sie erlauben uns, unseren Standort zu wechseln und andere Denkmodelle einzubeziehen als die, die uns in unseren Konflikten noch verstärkten.«6 Genau das hat der Arzt aus Seoul getan, und dies tun auch die Märchen, wenn sie neue Gesichtspunkte zum Verständnis einer Situation anbieten. Die Märchen führen uns an den Entstehungsort des Problems, damit wir dort die Elemente unserer Geschichte, die uns noch fehlen, ebenso finden wie den Weg zur Lösung unseres Problems. Denn letzten Endes sind wir allein in der Lage, uns zu heilen, alle anderen können nur unsere Begleiter auf dem Weg der Heilung sein.

6. Nossrat Peseschkian: Der Kaufmann und der Papagei. Orientalische Geschichten als Medien in der Psychotherapie, Frankfurt a. M. 1979, S. 18.

DEM PROBLEM AUF DEN GRUND GEHEN Die Königin, die unter dem Tisch saß und weinte