Die Kraft der Angst - Dr. Alexandra Shaker - E-Book

Die Kraft der Angst E-Book

Dr. Alexandra Shaker

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Beschreibung

Was heißt es genau, wenn unser Herz rast oder unser Herz buchstäblich in die Hose rutscht? Wenn unsere Fähigkeit, klar und logisch zu denken, uns verlässt oder das Blut in unseren Venen aus lauter Angst kalt wird? Und warum können uns Furcht und Sorge für Wochen und Monate gefangen nehmen? Dr. Alexandra Shaker, klinische Psychologin und internationale Expertin zum Thema Angst, erklärt, wie wir die Signale unseres Körpers richtig deuten. Ihr Buch ist der Schlüssel zu einem neuen Verständnis unserer Ängste, das uns hilft,  die Kontrolle zu behalten – und unsere Ängste in etwas Positives wie Resilienz, Mut oder Kreativität zu verwandeln.

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Seitenzahl: 386

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alexandra Shaker

Die Kraft der Angst

Wie wir die Signale unseres Körpers richtig deuten – und unsere Ängste in Stärke verwandeln

Tobias Rothenbücher

Für Houston und Rob

Schließlich versenkte er sich so tief in seine Bücher, daß ihm die Nächte vom Zwielicht bis zum Zwielicht und die Tage von der Dämmerung bis zur Dämmerung über dem Lesen hingingen; und so, vom wenigen Schlafen und vom vielen Lesen, trocknete ihm das Hirn so aus, daß er zuletzt den Verstand verlor.

 

Miguel de Cervantes, Don Quijote, übersetzt von Ludwig Braunfels

Kommen wir zurück zum Oxford English Dictionary, in dem wir nachlesen können, dass im Englischen des 16. Jahrhunderts […] »health« auch ein Verb war. Es wäre doch lustig, wenn wir von unseren Patienten – von unserem Liebsten, unseren Feinden, und von uns selbst ganz zu schweigen – sagen könnten, unabhängig von ihrem Leiden oder inneren Kampf: »They are now healthing and carrowsing deepe.«

 

Muriel Dimen, »Reflections on Cure: or, ›I/ Thou/ It‹«

Bei allen Schilderungen meiner Arbeit mit früheren Patienten und Patientinnen habe ich, um ihre Privatsphäre zu wahren, stets verschiedene Personen zusammengefasst, und alle diese Schilderungen sind vollständig anonymisiert.

Anmerkung der Autorin

Wie Sie feststellen werden, beziehe ich mich in diesem Buch auf zahlreiche Forschungsergebnisse, und dabei habe ich stets auf bestimmte Kriterien geachtet. Ich habe lange etablierte Grundlagen zum Thema Angst und Angststörungen sowie jüngste Forschungen auf höchstem Niveau herangezogen, um den aktuellen Stand der Wissenschaft wiederzugeben – wissenschaftliche Arbeiten, die uns beim Verständnis von Angst und ihrer Behandlung neue Wege eröffnen. Außerdem beziehe ich mich auf Studien, die zum Zeitpunkt meiner Arbeit an diesem Buch zu den allerneusten gehören – und in diesem Zusammenhang habe ich mich dazu entschlossen, manche Befunde anzuführen, die zuerst noch repliziert werden müssen, so wie es bei älteren Forschungsergebnissen bereits der Fall ist. Auf diese Weise habe ich versucht, Angst in ihrem wissenschaftlichen Kontext zu verorten und dabei stets mit einem Auge in die Zukunft zu schauen. In der Tat ein recht ängstlicher Blick.

Gleichwohl müssen wir beim Betrachten wissenschaftlicher Arbeiten zwei grundlegende Prinzipien beachten. Wie überall im Leben gilt erstens: Korrelation ist nicht dasselbe wie Kausalität, und zweitens: Dinge können sich ändern. Ergebnisse aus der Angstforschung zeigen oft Korrelationen, das heißt, es wird eine Gleichzeitigkeit von zwei Dingen festgestellt, sie sind miteinander assoziiert, beispielsweise ein hohes Angstniveau und eine hohe Impulsivität: Bei Menschen mit hohem Angstniveau stellt man tendenziell zugleich eine hohe Impulsivität fest. Doch diese Studien beweisen nicht, dass das eine das andere auslöst. Wir sollten stets die Grenzen der Forschung im Hinterkopf behalten, um Befunde im Entstehungskontext zu betrachten, und vor allem, um zu bedenken, was die Forschungsergebnisse ganz konkret für unser Leben und für die Menschen, die uns wichtig sind, bedeuten. Und da sich die Wissenschaft weiterentwickelt (genau so sollte es sein), werden manche der hier präsentierten Erkenntnisse in Zukunft womöglich in einem anderen Licht erscheinen. Unsere Annahmen darüber, was wahr und was richtig und was nützlich ist, sind nicht in Stein gemeißelt (und auch das ist gut so). Sosehr wir es uns auch anders wünschen würden: Viele Dinge sind nicht so eindeutig. Es besteht eine unvermeidliche Spannung zwischen dem, was wir wissen, was wir nicht wissen und was wir gerade erst zu verstehen beginnen. Man könnte sogar sagen, dass sowohl die größte Weisheit, die aus Angst erwächst, als auch ihre verheerendsten Folgen daher rühren, dass wir mit ihr in die bodenlosen Tiefen unserer Ungewissheit schauen.

Als ich anfing, an diesem Buch zu arbeiten, las ich Findungen von Maria Popova, mit seinen wunderbaren Lebensgeschichten rund um Kunst, Wissenschaft und Liebe. Popova zitiert die große Umweltaktivistin und Autorin Rachel Carson, die die Ansicht vertrat, ein Text solle »die magische Kombination aus Sachverstand und tief empfundener emotionaler Resonanz«[1] enthalten. Aus tiefstem Herzen habe ich (in aller Bescheidenheit) versucht, genau diese Verbindung auch in meinem Werk zu verwirklichen. Ich finde, dass uns genau diese Kombination tief empfundene Einblicke erlaubt und dass wir auf diese Weise uns selbst neu kennenlernen können. Reine Fakten, Daten, Informationen – sie sind essenziell, doch allein reichen sie nicht aus. Sie müssen mit Gefühlen und Wahrnehmungen koexistieren. Auch dieses Buch ist tief empfunden, es stammt aus meinem Innersten, und ich hoffe, Sie fühlen es auch.

Die Angst und ich: Angst als Potenzial

Um meinen Leib ist es mir bang –

Und bang um meine Seele –

Profund – labiles Eigentum –

Besitz, den wir nicht wählen –

 

Emily Dickinson[2]

An den meisten Tagen nagt an mir die Angst. Ich bin vertraut mit den Definitionen, mit den Symptomchecklisten, den zur Verfügung stehenden Medikamenten, den Atemtechniken. Ich bin klinische Psychologin. Ich profitiere von diesem Wissen, ich erkenne den deutlichen Nutzen, den es bringen kann, und doch macht seine Begrenztheit mich wütend. Trotz allem schleicht sich die Angst immer wieder ein und bleibt eine feste Größe in meinem Leben – beeinträchtigt andere Erfahrungen, raubt mir meine Zeit.

Oft heißt es, wer forscht, erforscht sich selbst. Angst wissenschaftlich zu erforschen, sie klinisch zu behandeln und darüber zu schreiben, ist – für mich – ein ebenso persönliches wie professionelles Unterfangen. Solange ich mich erinnern kann, habe ich mit Angst zu kämpfen, und vermutlich wird sie immer ein Teil meines Lebens sein. Angst ist, in allen ihren Ausprägungen, die ich gesehen habe, ein ebenso körperliches wie geistiges Problem. Allzu gut kenne ich das flaue, heiße Gefühl, das mich erfasst, wenn Angst mich beschleicht, und auch die damit einhergehenden Selbstvorwürfe, weil ich nicht in der Lage war, sie gleich zu Beginn abzuwenden. Panik scheint in jeden Muskel, jede Ader, jede Zelle einzudringen. Mein Herz rast, mein Appetit verschwindet. Dann: die Furcht vor dem, was passieren könnte, entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Die Sorge, einen katastrophalen Fehler zu begehen, der so vernichtend ist, dass die Schuld mich verzehren würde und nicht die geringste Aussicht auf Besserung bestünde. Der Wunsch, alle Sorgen abzulegen, wenngleich die Latte der Gewissheit entsetzlich hoch liegt – ja unerreichbar hoch. Gewissheit würde für mich bedeuten, einen wundersamen Zustand unerschütterlicher Zuversicht zu erreichen, der Zuversicht, dass mich oder die Menschen, die ich liebe, kein Unglück ereilen wird.

Die Angst steckt in unserem Gehirn, im Blut, im Herzen und im Bauch – ihre Körperlichkeit ist nicht zu leugnen. Sie manifestiert sich in unseren individuellen Sorgen und Befürchtungen, aber auch in unserer DNA, unserem Blutdruck, unserer Pulsfrequenz, unserer Verdauung. Sogar das Wort »Angst« selbst verweist auf körperliche Anzeichen. Meine Lieblingsdefinition von »anxiety« aus dem Dictionary of Untranslatables, dem Wörterbuch der unübersetzbaren Ausdrücke, besagt: »Der Begriff ›anxiety‹ ist etymologisch verwandt mit ›Enge‹ und ›zusammenziehen‹.«[3] Das ist empirisch gesehen eine der genauesten Beschreibungen von Angst, die ich kenne. Angst betrifft immer Körper und Geist. Ja, sie sorgt durchaus für eine gewisse Verengung der Gedanken, aber auch das sympathische Nervensystem schaltet sich ein, sodass das Gehirn mehr Sauerstoff aufnimmt, die Blutgefäße sich verengen, das Herz rast und die Verdauung gehemmt wird. Man hat das Gefühl, als bekäme man nicht genug Luft, hängt in klaustrophobischen, niederschmetternden Gedankenkreisen fest, und es kommt einem vor, als füllten sich alle Adern mit Entsetzen – es ist eine Hölle der besonderen Art.

Angst gehört zu den menschlichsten Erfahrungen. Sie ist von Beginn an ein Teil von uns, und so war es offenbar immer schon. Deshalb wird sie seit jeher erkundet, analysiert und offengelegt, auch weit über die Grenzen von Psychologie und Psychiatrie hinaus. Vermutlich werden wir nie so recht wissen, wie wir Angst eigentlich betrachten sollen, denn sie ist etwas ganz Alltägliches und zugleich eine Kategorie psychischer Erkrankungen – ein ebenso existenzielles wie ein verhaltensbezogenes und ein biologisches Problem. Ja, Angststörungen sind genau definiert, und nicht alle Menschen erfahren sie in diesem engeren Sinne – aber Angst gehört zugleich zu unserem Leben dazu. Im Kern zeigt uns Angst, dass biologische und existenzielle Fragen gar nicht so weit auseinanderliegen, sondern sich im ständigen Dialog miteinander befinden. Angst ist medizinisch und psychisch – und noch vieles mehr.

Die Psychologie steht an der Schnittstelle von Geistes- und Naturwissenschaften. Ihr Spektrum reicht von empirischer Forschung bis zu menschlichen Gefühlen, doch das birgt auch Schwierigkeiten. Bei unserem Versuch, zu verstehen, welche Kräfte unsere Erfahrungen prägen, lassen wir uns heute allzu leicht von einer einschränkenden Sichtweise verführen: Wir betrachten Geistes- und Naturwissenschaften als Gegensätze. Doch die Psychologie verweigert sich einer einseitigen Zuordnung zum Reich der Biologie oder zu dem des rein Geistigen. Dasselbe gilt für unseren Körper mit all seiner Leiblichkeit und seiner Transzendenz. Unser Körper scheint Dinge zu wissen, bevor wir sie in Worte fassen können. Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Herzrasen gehen bewussten Gedanken voraus. Manchmal verhindert unser Bauchgefühl ein Unglück. Selbst die physischsten menschlichen Erfahrungen – dass unser Körper unvollkommen ist, dass Schmerz und Krankheit unvermeidlich sind, dass unsere Organe irgendwann aufhören werden zu funktionieren – schließen die nicht-greifbaren Erfahrungen weder aus, noch erklären sie sie zur Gänze – etwa dass wir Verbundenheit und maßlose Freude empfinden, dass wir hoffen und Hoffnung verlieren, dass wir lieben. Vielmehr wirken beide Seiten zusammen. Auf diese Weise lehrt uns der Körper etwas über unser Wesen und unseren Platz in der Welt.

Die Idee zu diesem Buch beschäftigt mich schon seit vielen Jahren, und das aus vielen verschiedenen Blickwinkeln. Zur Psychologie bin ich eher auf Umwegen gekommen. Zuerst habe ich vergleichende Literaturwissenschaft studiert und mich dann von der Literatur her schrittweise den Naturwissenschaften genähert. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass dieser Weg sich so entwickelt hat: Er hat dazu beigetragen, dass ich die Psychologie als weites Feld betrachte, als eines, das von der gegenseitigen Befruchtung mit anderen Disziplinen zutiefst profitiert (in Literaturseminaren etwa herrscht ein viel größeres Interesse an Freud als in einem durchschnittlichen Psychologiekurs).

Mein Psychologiestudium habe ich 2009 in New York City begonnen. Im Rückblick erkenne ich, welches Glück ich mit diesen beiden Umständen hatte – dem Ort wie auch der Zeit. Mir wurde beigebracht, menschliche Erfahrung und Psychotherapie aus (mindestens) zwei Blickwinkeln zu betrachten, was man in der Hochschulbildung zunehmend seltener antrifft, da sie einer immer stärkeren ideologischen Spaltung unterliegt. Wenn es um psychische Erkrankungen und ihre Behandlung geht, herrscht in der Psychologie die Tendenz, sich entweder streng an die eine oder an die andere Lehrmeinung zu halten, ja sich daran zu klammern – zum Beispiel indem entweder ein kognitiver Ansatz gewählt wird oder ein psychoanalytischer. Geht etwa eine bestimmte Angst auf die Unfähigkeit zu rationalem Denken zurück? Oder spiegelt sie einen inneren Konflikt wider? Wird sie behandelt, indem man irrationale Gedankenmuster identifiziert und korrigiert oder indem man langjährige Dynamiken innerhalb einer Familie zu verstehen versucht? Ich finde, dass eine einseitige Vorgehensweise Wege versperrt und Engstirnigkeit fördert.

Am meisten haben mich diejenigen Dozentinnen und Betreuer geprägt, die mit einem psychodynamischen Ansatz arbeiteten (wie er in der Regel mit Sigmund Freud in Verbindung gebracht wird). Dabei werden sowohl die bewussten als auch die unbewussten Kräfte unseres Lebens in Betracht gezogen, und es wird große Aufmerksamkeit darauf gerichtet, wie die frühkindliche Entwicklung uns prägt. Aber mir wurde auch beigebracht, die Perspektive der kognitiven Verhaltenstherapie einzunehmen, die sich darauf konzentriert, wie Gefühle Gedanken und Verhaltensweisen beeinflussen, sowie auf praktische Techniken zur Behandlung von Symptomen. Meine Dozenten spannten einen Bogen zwischen diesen beiden theoretischen Sichtweisen, ebenso wie zwischen verschiedenen Generationen von Forschern, und ich bin ihnen zutiefst dankbar für ihr Fingerspitzengefühl, für ihre Tiefgründigkeit und für ihre Klugheit – sie haben mir die Kraft beider Perspektiven vermittelt. Mit der Zeit begann ich die Psychologie als ein Fach zu begreifen, bei dem wir dann Fortschritte machen, wenn wir nicht nur das Innere betrachten, sondern auch das Äußere – wenn wir neugierig sind.

Die Psychologie ist also ein Fach, das sich strengen Abgrenzungen entzieht – und psychologische Fragen bieten uns Gelegenheit, unsere zutiefst menschlichen inneren Kämpfe mit den Theorien verschiedener Schulen zu durchdenken. Indem wir Angst als biologisches und soziales, als historisches und generationenübergreifendes Phänomen verstehen, können wir aus einer erweiterten Erfahrungswelt schöpfen, die unsere Wirklichkeit noch umfassender widerspiegelt. Über Angst, und schließlich auch über Resilienz, können wir aus vielen Quellen etwas erfahren: aus der neuesten biologischen Forschung genauso wie aus unserer Ahnentafel oder aus der Literatur vergangener Jahrhunderte. An genau diesen Schnittstellen entstehen die spannendsten Forschungsarbeiten. Es ist das Wesen guter Wissenschaft, dass sie die Welt erhellen möchte, und die Welt ist alles andere als geordnet. Wir wenden uns, zu Recht, an die Wissenschaft, wenn wir wichtige und buchstäblich lebensverändernde Informationen benötigen – Gemeinschaft und Weisheit aber suchen wir woanders. Ich habe mehr Trost in meinen Lieblingsbüchern gefunden als in geprüften wissenschaftlichen Fachartikeln. Das ist nicht die Schuld der Wissenschaft – es liegt daran, dass ich ein Mensch bin. Würde mich jemand, der eine Laufbahn in der Psychologie anstrebt, fragen, welches Hauptfach er oder sie wählen sollte oder wie man sich am besten auf das Studium vorbereitet, würde ich dieser Person raten, viel und breit gefächert zu lesen.

In genau diesem Geist blicke ich über den Tellerrand der üblichen Betrachtung von Ängsten hinaus – über die Symptom-Checklisten, über das Zubettgehen ohne Telefon auf dem Nachttisch und auch über die Fixierung auf positives Denken hinaus, wie sie heute in der westlichen Kultur vorherrscht. Ich möchte dieselbe Spannweite an Ideen ausbreiten, die ich für mich selbst als hilfreich empfunden habe und die ich hoffe auch anderen vermitteln zu können. Ich glaube, dass auf diese Weise verdeutlicht werden kann, welche Rolle Angst in unserer Geschichte und in menschlichen Beziehungen spielt, und das hilft uns, ihre Bedeutung, ihre vielen Dimensionen zu sehen und sie nicht bloß als Stachel in unserem Fleisch zu betrachten oder sogar ausschließlich als Quelle des Leids. Angst spricht die Sprache der Neurologie und der Psychologie, der Biologie und der Physiologie, der Philosophie und der Soziologie, der Anthropologie, der Literatur und der Poesie.

C.G. Jung schreibt: »[…] es erscheint gerade dem Psychotherapeuten, dessen eigentliches Arbeitsgebiet eben in der kritischen Sphäre der Wechselwirkung von Leib und Seele liegt, als höchst wahrscheinlich, daß das Psychische und das Körperliche nicht zwei nebeneinander herlaufende Prozesse, sondern durch Wechselwirkung verknüpft sind […]«.[4] In diesem Buch werden wir den Pfad der Angst durch den Körper nachzeichnen. Wir betrachten das Zusammenspiel zwischen unserer physiologischen Seite und unserer Seele – und dann gehen wir noch einen Schritt weiter. Unser Körper erinnert uns stets an unsere Menschlichkeit. Innerhalb seiner Begrenzungen sind wir mit unserem Potenzial konfrontiert, und auch mit unserer Sterblichkeit. Wir spüren beginnende Kopfschmerzen oder wie uns das Blut aus den Wangen weicht oder wie unser Herz zu rasen beginnt – und schon ist er da, der Beweis des Lebens und seiner Begrenzungen, der Samen der Angst.

Statt eine bestimmte Richtung vorzugeben, hoffe ich, dass wir, indem wir sie durch ein mehrdimensionales Objektiv und in ihrer Tiefe betrachten, gemeinsam herausfinden können, was Angst uns darüber lehren kann, lebendig zu sein – ohne dabei bestimmte Wahrheiten aus dem Blick zu verlieren. Vor allem die Wahrheit, dass zum Leben auch Leid gehört. Dass es keinen Lifehack gibt, der uns wirklich von Angst befreit, und dass das unterm Strich in Ordnung ist. Wir können stark und zerbrechlich zugleich sein, sterblich, und trotzdem ist alles okay, und wir werden am Ende nicht alles mit Sicherheit wissen. Wie bei vielen Dingen im Leben ist das, was uns am meisten Sorgen bereitet, worüber wir persönlich stolpern, auch das, was sich am meisten zu bearbeiten lohnt. Resilienz, nicht Heilung sollten wir anstreben.

Ich versuche in diesem Buch stets, meine eigenen Ungewissheiten und Ambivalenzen zu offenbaren, auch die Ungewissheiten, die übrig bleiben, wenn eigentlich alle Fakten auf dem Tisch liegen. Ich versuche keine Quadratur des Kreises. Es mag zwar oft unbequem sein, aber wir können durchaus mehrere Dinge zugleich fühlen und sogar glauben – und diese Ambivalenzen und Ungewissheiten anzunehmen, ist eine ganz eigene Art des Widerstands gegen Angst.

Immer wieder versuche ich hier, verschiedene Bedeutungsebenen zusammenzufügen – von Forschungen über die körperliche Manifestation von Angst bis zu der Art und Weise, wie die Symbolik rund um unseren Körper uns zeigen kann, was in uns vorgeht, und uns dabei helfen kann, Stärke und Standfestigkeit zu kultivieren. Ich habe Gespräche mit Expertinnen und Experten verschiedener Fachgebiete geführt, aus Psychologie, Psychiatrie, Neurowissenschaften, Neurobiologie und Wirtschaft, denn ich glaube, dass es ein Weitwinkelobjektiv braucht, um Ängste zu verstehen. Hier folgt die Form der Funktion. Mit jedem Kapitel binde ich auf dem Weg durch den Körper neue Forschungsfelder mit ein, vom Gehirn zum Blut, zum Herzen und zum Darm. Ich schaue darauf, wie diese verschiedenen Teile des Körpers der Angst ihre Gestalt und ihre Textur verleihen: von den Gedanken und Befürchtungen, die im Gehirn entstehen, bis zu den Empfindungen, die sich plötzlich im Bauch regen. Ich bin davon überzeugt, dass wir, wenn wir sowohl unsere Geschichte (unsere persönliche und unsere gemeinsame) als auch unseren Körper verstehen, auch einen Umgang mit der Angst finden werden. Schließlich existiert Angst vor allem in unserem Alltag, in der tatsächlichen Welt, und nicht in Lehrbüchern oder im Labor.

***

Zu Beginn meines Masterstudiums kaufte ich mir für ein Seminar über Psychopathologie bei Erwachsenen zum ersten Mal das Diagnostic and Statistcal Manual of Mental Disorders (DSM) – das führende Nachschlagewerk für psychische Erkrankungen. Die Kapitel trugen Überschriften wie »Affektstörungen« oder »Angststörungen«, und damals kam es mir wie ein mächtiges Buch vor, in dem ich die geheimen Antworten auf Fragen finden würde, die ich nur schwer in Worte fassen konnte. Im Rückblick waren es wohl Fragen wie: Ist diese Sorge übertrieben? Warum komme ich von dieser oder jener Angewohnheit nicht los?

Und so funktioniert es: Laut DSM muss eine bestimmte Anzahl von Kriterien erfüllt sein, um eine bestimmte Diagnose zu stellen – sagen wir, eine generalisierte Angststörung (GAS) oder eine Zwangsstörung (OCD, von engl.: obsessive-compulsive disorder). Manche Kriterien sind für die Diagnose essenziell, andere optional. Eine OCD kann entweder bei Zwangsgedanken oder bei Zwangshandlungen diagnostiziert werden – es müssen nicht beide vorliegen. Manche Kriterien umfassen zeitliche Vorgaben – so müssen etwa bei einer GAS bestimmte Symptome mindestens seit sechs Monaten zu beobachten sein. Auf diese Weise fasst das DSM bestimmte Symptome zusammen und gelangt so zu einer bestimmten Diagnose (und vor allem wird es herangezogen, um Versicherungen Rechnungen für bestimmte Leistungen zu stellen.)

Als ich das DSM durcharbeitete (ziemlich obsessiv sogar, was mir damals gar nicht auffiel, obwohl obsessives Verhalten gerade mein Thema war) und als ich wenig später selbst Diagnosen stellen und Behandlungspläne entwickeln konnte, erkannte ich, wie mangelbehaftet dieses System ist, wie zutiefst begrenzt seine Möglichkeiten sind, menschliche Erfahrungen zu beschreiben. Es fehlte ihm völlig an jener heilenden Kraft, nach der ich suchte. Vielmehr war meine Angst nach der Lektüre des DSM unverändert, obwohl ich es mit äußerster Sorgfalt und zur Gänze gelesen hatte. In verschiedenen Kapiteln erkannte ich mich hier und da wieder: hier ein bisschen Panik, da ein bisschen zwanghaftes Verhalten, häufiges Sorgenmachen. Im Rückblick glaube ich, dass es den meisten Menschen ähnlich ginge. Wir passen nicht exakt in bestimmte Kategorien, sondern können unterschiedlich abgestufte Erfahrungen an uns beobachten, die sich innerhalb von Tagen oder Wochen oder in bestimmten Lebensphasen immer wieder verändern.

Obwohl unser gängiges Diagnosesystem den Eindruck erweckt, dass psychische Erkrankungen klar voneinander abgegrenzt und bezeichnet werden können, gibt es in der Diagnostik starke Überlappungen, und oft passen die Menschen nicht fein säuberlich in die bestehenden Kategorien. Das ärgert die wissenschaftliche Forschung, für die Klarheit das Höchste ist, doch es ist schwierig, klar abgegrenzte Gebilde zu erforschen, wenn sie in Wirklichkeit gar nicht klar abgrenzbar sind.

Bei der Diagnose von Angststörungen muss man sich unbedingt vergegenwärtigen, dass Angst ein ganzes Kontinuum von Erfahrungen umfasst, ein Spektrum, zu dem auch die ganz alltäglichen Ängste zählen, jene, die unvermeidlich zum menschlichen Dasein dazugehören. So ist es zum Beispiel völlig im Rahmen guter psychischer Gesundheit, sich Sorgen zu machen oder Traurigkeit zu verspüren. Man hätte Mühe, jemanden zu finden, auf den das nicht zutrifft (und falls doch, vermute ich, dass man dann auf andere Probleme stieße). Innerhalb des Kontinuums ist der Bereich der psychischen Erkrankung dann erreicht, wenn diese Dinge das Leben beeinträchtigen und Leid verursachen. Es besteht etwa ein großer Unterschied zwischen gelegentlichen Sorgen angesichts eines Familienzwists und so häufigem und tiefgreifendem Sich-Sorgen-Machen, dass man schlecht schläft, reizbar und rastlos ist und Mühe hat, seine Arbeit zu erledigen. Und wenngleich diagnostische Werkzeuge nützlich sind, um zum Zweck der Behandlung und der Erforschung eine gemeinsame Sprache zu finden, sind sie doch eine gewisse Vereinfachung. Weil Angst sich über den Grenzbereich zwischen Gesundheit und Erkrankung erstreckt, ist sie bisweilen schwer zu greifen – sie setzt sich bemerkenswert leicht über die Begrenzungen traditioneller Diagnosen und Klassifikationen hinweg.

Die Geschichte unseres heutigen diagnostischen Systems, ja der Krankheitslehre an sich (also der Art und Weise, wie Erkrankungen aller Art klassifiziert werden), reicht bis in die Antike zurück. Nicht ganz so lang ist es her, dass Robert Burton im 17. Jahrhundert seine ausufernde, mäandernde Anatomie der Melancholie verfasste. Burton interessierte sich für die Einzelheiten rund um das Leid der Menschen. Er sammelte anekdotische Erfahrungsberichte und stellte sie den Werken medizinischer Gelehrter gegenüber. Zusammengenommen entstand daraus eine der bemerkenswertesten heute bekannten Beschreibungen der Probleme unseres Seelenlebens, obwohl der Text rund vierhundert Jahre alt ist. Burtons Katalog der Symptome der Melancholie umfasst »Herzklopfen, Kurzatmigkeit, ein übersäuerter Magen, Herzbeklemmung [und] Herzschmerzen«.[5] Obwohl unsere diagnostischen Systeme sich seit dem 17. Jahrhundert bedeutend weiterentwickelt haben, erinnert Burton uns an eines: So sauber wir unsere Empfindungen auch voneinander trennen möchten, so sehr vermischen sich verschiedene Leiden auch miteinander.

Heutzutage widmen sich Wissenschaft und klinische Forschung ausgiebig der Krankheitslehre auf dem Feld der psychischen Erkrankungen. In ihrem Kern steht die Frage, ob sich für deren Klassifizierung ein dimensionales oder ein kategoriales Modell am besten eigne. Unser derzeitiges diagnostisches System ist kategorial aufgebaut. Das bedeutet, dass Erkrankungen scheinbar akkurat in klar umrissene Kategorien eingeteilt werden, etwa »generalisierte Angststörung« oder »Panikstörung«. Bei einem dimensionalen Modell hingegen wird mit unterschiedlichen Schweregraden gearbeitet, zum Beispiel bei den Symptomen Ruhelosigkeit oder Schlafstörungen. So können diese innerhalb eines Kontinuums betrachtet werden, und es lässt sich klarer benennen, wie uneinheitlich sich eine psychische Erkrankung bei unterschiedlichen Personen manifestiert. So würden zwei Menschen mit qualitativ unterschiedlichen Empfindungen anstelle der holzschnittartigen Diagnose einer generalisierten Angststörung jeweils eine Art Profil erhalten, das die Eigenheiten ihres individuellen Empfindens widerspiegelt. Bei der einen Person würde beispielsweise ein hohes Maß an Sorgen und Reizbarkeit festgestellt, jedoch ein relativ geringes an Ruhelosigkeit und Schlafstörungen, während die andere stark von Sorgen, Reizbarkeit, Rastlosigkeit und Schlafstörungen betroffen wäre. Unterschiede dieser Art können sich bedeutend auf die Art der Behandlung auswirken.

Derzeit wird das diagnostische System der »Hierarchischen Taxonomie der Psychopathologie« (HiTOP) erarbeitet, um psychische Erkrankungen in ein dimensionales Gerüst einzuordnen.[6] Angehörige einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Institute sind damit beschäftigt, dieses Modell zum Einsatz in Klinik und Forschung weiter zu verfeinern. Seine Grundlage bilden Symptome und Anzeichen (wobei Symptome von den Patienten benannt werden, etwa: »Ich fühle mich ständig angespannt«, während unter »Anzeichen« Beobachtungen des Therapeuten verstanden werden, etwa: »Patientin klopfte während der ganzen Sitzung mit dem Fuß und zappelte«). Am Ende steht ein individuelles Profil der Person, das die Schwere ihrer psychopathologischen Erkrankung zeigt.[7] Forschungsergebnisse legen nahe, dass das HiTOP-Modell nicht nur in der klinischen Praxis nützlich ist, sondern auch die genetischen Grundlagen psychischer Erkrankungen besser reflektiert, als es unser bisheriges diagnostisches System vermag.[8] Mich selbst, und ich glaube auch viele andere Menschen, spricht das Konzept eines dimensionalen Diagnosesystems intuitiv stärker an. Ich habe ein gutes Gefühl, dass meine Empfindungen und Ihre, ja, die Empfindungen von uns allen, auf diese Weise besser erfasst, besser beschrieben werden. Ein dimensionales diagnostisches System, das Raum für individuelle Unterschiede, für mehr menschliche Spezifizität bietet, erscheint mir als deutlich differenzierter, menschlicher. Natürlich möchten wir unsere inneren Kämpfe am liebsten in klare Kategorien zwingen und entsprechend einsortieren, in der Hoffnung, sie zu verstehen und aufzulösen. Aber wieder einmal liegen die Dinge meistens nicht so eindeutig.

***

Wir neigen dazu, Angst als individuelles Problem zu betrachten, das, kurz gesagt, darin besteht, sich zu große Sorgen zu machen; ein Problem, dessen Ursache im Privaten besprochen und das auch in diesem Rahmen behandelt werden sollte. Und die Behandlung der Ängste einzelner Personen ist wichtig, ja lebenswichtig. Ich kenne diese Arbeit aus eigener Erfahrung als Therapeutin und auch als Patientin, und ich glaube fest an deren Bedeutung. Aber Angst geht weit über das persönliche Erleben hinaus. Sie ist eine enorme Kraft mit sozialen und biologischen Wurzeln. Wir sind heute unbestreitbar von Präkarität umgeben: Wir leben in einem prekären Körper, auf einem prekären Planeten, abhängig von prekären Gesundheits- und Wirtschaftssystemen und internationalen Beziehungen sowie unter dem Druck einer scheinbar endlosen Informationsflut. Katastrophen scheinen nicht nur möglich, sondern kurz bevorzustehen, und unsere kollektive Angst ist riesig geworden. Studien aus den Jahren 2020 und 2021 zeigen einen bedeutenden Anstieg der Mortalitätssalienz – das heißt, wir alle beschäftigen uns mit dem Tod.[9] In jüngerer Zeit, innerhalb des Jahres 2020, verzeichnete die Forschung einen ernüchternden Anstieg von Angststörungen, Depressionen und suizidalen Gedanken (in den Vereinigten Staaten hat sich in den letzten beiden Jahren die Anzahl der berichteten Fälle von Angststörungen und Depressionen ungefähr vervierfacht, und ähnliche Studien aus Großbritannien zeigen, dass sich die entsprechenden Zahlen dort nahezu verdoppelt haben).[10] Es geht uns nicht gut bei dem Gedanken, dass wir die Zukunft wohl oder übel nicht kennen können. Tagtäglich werden wir, abrupt und schmerzlich, daran erinnert, dass Angst uns alle befallen kann und dass sie ihren langen Schatten vorauswirft.

Wir reden mittlerweile öffentlich über Ängste. Die Tendenz, selbstverständlich über unsere Verwundbarkeit zu sprechen und in unserem Leid tiefergehende Bindungen zu anderen zu suchen, ist deutlich spürbar. Es besteht nicht nur der dringende Bedarf, Angst detailliert und nuanciert zu betrachten (das auf jeden Fall) – wir wollen es auch tun. Und auf einer gewissen Ebene reden wir bereits seit Jahrhunderten darüber, wenn auch mit anderen Worten. Historisch gesehen hat Angst im Leben kreativer und intellektueller Menschen stets eine zentrale Rolle gespielt, und zahllose unserer bedeutendsten Denkerinnen und Denker rangen mit den komplexen Zusammenhängen zwischen Körper und Geist, angefangen bei den Werken der Stoiker über Burtons Anatomie der Melancholie bis hin zu Freuds Schriften über das Verhältnis zwischen Trauma und Angst.

Die Geschichte der Angst in Psychologie und Psychiatrie ist lang und wenig geradlinig. Zu verschiedenen Zeiten wurde Angst mal als ein physisches, mal als mentales Problem oder auch als beides zusammen begriffen, und manchmal sogar als ein moralisches. Im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, als die hippokratische Medizin entstand, wurde Angst oft als Mangel an innerer Stärke betrachtet. In seinem Buch Anxiety: A Short History schreibt der Soziologe Allan V. Horwitz: »In der Antike wurde Angst eher als Zeichen moralischen Versagens begriffen denn als medizinische Störung.«[11]

Einige Jahrhunderte später prägte die Humorallehre große Teile der westlichen Medizin. Ihr Grundprinzip besagte, dass Ungleichgewichte im Körper die verschiedenen Gesundheitsprobleme auslösen würden, und umgekehrt könne man Krankheiten durch das Wiederherstellen des Gleichgewichts begegnen. Die Mittel und Wege, Angst zu behandeln, würde man heute als Veränderungen des Lebensstils bezeichnen – etwa »Veränderungen der Ernährungsweise, der körperlichen Bewegung, der sexuellen Aktivität und der Schlafgewohnheiten«[12]. Manchmal wurden auch pflanzliche Heilmittel verschrieben: »Ringelblume ist gegen Melancholie sehr bewährt und wird daher häufig als Mittel gegen diese und viele andere Krankheiten in gewöhnlicher Brühe verabreicht. […] Und weil Milz und Blut bei Melancholie oft ebenfalls befallen sind, darf ich auch Endivien, Zichorien, Löwenzahn […] nicht auslassen, die das Blut reinigen.«[13] Angesichts der modernen Wissenschaft und unserer heutigen, sich stets wandelnden Behandlungsmöglichkeiten erkennen wir kaum, wie lange die Grundsätze der Humorallehre in der Medizin fortwirkten – tatsächlich prägten sie die westliche Heilkunde noch jahrhundertelang.

Die Annahmen über psychische Erkrankungen – sowohl über ihre Ursachen als auch ihre Behandlung – veränderten sich im 17. Jahrhundert, als Ärzte begannen, Angst (und andere Leiden) auf andere Weise als bisher mit dem Körper in Verbindung zu bringen, nämlich indem sie sich mit Problemen des Nervensystems und besonders des Gehirns befassten. Zu dieser Zeit kam auch der Überbegriff »Nervenleiden« auf, der das einschloss, was wir heute Angststörungen nennen.[14] Bei ihrer Behandlung spielten weiterhin vor allem Aspekte des Lebensstils eine Rolle, aber auch Substanzen wie Opium.[15]

Ende des 19. Jahrhunderts begann sich der ausgebildete Neurologe Sigmund Freud für die unbewussten Faktoren zu interessieren, die zu psychischen Belastungen führen. Ihn faszinierten Angst und ihre Auslöser, und am bekanntesten ist er für die Entwicklung der Psychoanalyse, eine Form der Psychotherapie, die betont, wie wichtig es ist, die eigenen Erfahrungen zu verstehen, oft durch freie Assoziationen. Im 20. Jahrhundert entstand neben der Psychoanalyse eine andere Form der Behandlung von Angst: die Verhaltenstherapie. Schon früh kam sie bei bestimmten Angststörungen zum Einsatz, etwa bei Phobien. Gemäß den Prinzipien der Verhaltenstherapie soll die »Behandlung […] die Auslöschung des unadaptiven Verhaltens fördern und adaptives Verhalten stärken.«[16] Verhaltenstherapie und Psychoanalyse waren und sind bis heute deutlich unterschiedliche Ansätze zur Behandlung von Ängsten, da sich Erstere auf messbare Verhaltensweisen konzentriert, während die Psychoanalyse innere, subjektive Erfahrungen in den Mittelpunkt stellt.

Parallel zur Entwicklung der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie wurden Mitte des 20. Jahrhunderts neue Psychopharmaka zur Behandlung von Angst eingeführt. In den fünfziger und sechziger Jahren verschrieben Ärzte Beruhigungsmittel gegen Ängste, bald darauf folgten Benzodiazepine (ein Medikamententyp, der bis heute etwa in Form von Tafil Anwendung findet und der oft gegen Panikattacken verschrieben wird).[17] In den achtziger Jahren behandelte man Angststörungen mit Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI, z.B. Fluoxetin, Zoloft und Escitalex), die ursprünglich zur Therapie von Depressionen entwickelt worden waren und bis heute zu den verbreitetsten Medikamenten gegen Angststörungen gehören.

Im Rückblick ist, trotz aller Fortschritte der modernen Wissenschaft, manches beim Alten geblieben. Auch die heutige Gesellschaft muss noch den Irrglauben ablegen, dass Angst ein moralisches Problem sei. Die meisten von uns kennen die Vorstellung – vermittelt durch unser Umfeld (oder durch eine nörgelnde innere Stimme) –, dass Angst ein Anzeichen von Schwäche sei. Und so absurd die Humorallehre für uns heute klingen mag (bei unserer Gesundheit denken wir kaum mehr an Blut und Phlegma, an schwarze und gelbe Galle), so spielt doch das Konzept eines Gleichgewichts bei unserer alltäglichen Vorstellung von Wohlbefinden eine zentrale Rolle. In den Versuchen der Vergangenheit, die Auslöser der Angst im Nervensystem aufzuspüren, erkennen wir die Ursprünge der modernen klinischen Forschung, die ihre biologischen und genetischen Hintergründe ermittelt. Und sowohl psychodynamische als auch verhaltensbezogene Therapien finden sich weltweit – in neuem Gewand – in der klinischen Behandlung und der Forschung. Wir sehen also, dass Angst und ihre Behandlung eine lange Geschichte haben. Da überrascht es nicht, dass sie, trotz aller Anstrengungen, sie zu verstehen und zu bändigen, uns immer noch überlegen ist. Laut Schätzung der Weltgesundheitsorganisation lebten 2019 weltweit rund 301 Millionen Menschen mit Ängsten, die die diagnostische Schwelle einer Angststörung erreichten.[18] Unabhängig von Zeiten und Bezeichnungen für sie ist die Angst ein Teil von uns, sie hält sich zäh und ist uns offenbar nicht auszutreiben.

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Als wir noch klein waren, sagte meine damals vierjährige Schwester zu meiner Mutter, dass ich lesen gelernt hätte, habe »unsere Beziehung zerstört«. Lesen war für mich eine Erweiterung der Welt. Am liebsten mochte ich Bücher wie Harriet – Spionage aller Art und die Reihe Der Babysitter-Club, die mir das Gefühl gaben, dass Kinder imstande sind, Großes zu leisten. Aber mit etwa zehn Jahren verschob sich mein Interesse: weg von Kindern, die etwas auf die Beine stellten, hin zu solchen, die auf tragische Weise starben, vor allem an Krebs. Ich war wie besessen von Lurlene McDaniels Büchern. Die Autorin dominierte damals das Segment der Jugendromane, in denen Kinder und Teenager den Tod vor Augen hatten, meist aufgrund unheilbarer Krankheiten. Heute frage ich mich, was meine Eltern wohl von mir dachten, denn ich las Bücher wie Nur noch sechs Monate?, Sechzehn ist zu früh zum Sterben oder Wenn ich morgen nicht mehr da bin. Ich kannte die Anzeichen von Leukämie (unerklärliche blaue Flecken, häufiges Nasenbluten), und eine Zeit lang schlugen mich diese Geschichten vollends in ihren Bann. Im Rückblick glaube ich, dass das vielleicht mein erster Versuch war, meine aufkommenden Ängste, ja meine existenzielle Angst zu begreifen, vor allem meine Furcht vor Katastrophen und Verlust. Ich hatte Angst, meine Eltern könnten sterben, Angst, zum Zahnarzt zu gehen, Angst, eine tödliche Krankheit zu bekommen. Mich ängstigte die unausweichliche Verletzlichkeit meines Körpers und alles, was wir an unserem Körper nie völlig werden ergründen können. In meinen Teenagerjahren wuchs meine Angst weiter an, oft verbunden mit einem überwältigenden, unrealistischen Verantwortungsgefühl für die mir nahestehenden Menschen. Mit siebzehn hatte ich die erste (von vielen) Panikattacken, und als meine Angst mich mehr und mehr bedrängte, fürchtete ich schließlich – was oft damit einhergeht –, einen Herzinfarkt zu bekommen. Aber selbst nachdem ausführliche medizinische Untersuchungen bestätigt hatten, dass mein Herz gesund war, blieb diese Furcht.

Im folgenden Jahr, während der ersten Monate meines Studiums in New York, entdeckte ich an meinem Oberkörper etwas, was ich (als Landei) für Spinnenbisse hielt. Einige Tage später informierte mich der Gesundheitsdienst der Uni, ich hätte eine Gürtelrose, vermutlich stressbedingt. Ich begann eine Therapie, und in meiner ersten Sitzung empfahl mir meine Psychologin, Yogastunden zu nehmen. Sie verwies auf Forschungen, die den Nutzen von Yoga und kontrollierter Atmung für die Angstbewältigung zeigten. Damals hätte ich alles, was sie vorschlug, dafür getan, meine häufigen Panikattacken zu bezwingen, die mir das Gefühl gaben, mein Körper sei zutiefst verletzlich und entzöge sich gänzlich meiner Kontrolle. Eine Zeit lang ging ich sehr regelmäßig ins Yogastudio gleich neben meinem Wohnheim. Jede Stunde begann mit Sanskrit-Gesängen, dazu spielte die Lehrerin Harmonium. Am Anfang war mir das unangenehm und ehrlich gesagt peinlich. Ich hatte Mühe, die Augen geschlossen zu halten und nicht herumzuzappeln. Aber als ich lernte, mein Unbehagen abzulegen, empfand ich es allmählich als beruhigend, und diese ersten Minuten des Kurses wurden zu einer verlässlichen Quelle der Ruhe. Tatsächlich haben die Neurowissenschaften dafür eine Erklärung: Singen und andere Formen der Musik können die Angst, die wir in Körper und Geist spüren, nachweislich verringern.[19] Obwohl ich gerade erst anfing, das komplexe Verhältnis zwischen meiner Angst und meinem Körper zu verstehen, fühlte es sich an wie ein erster erfolgreicher Schritt, die Macht, die meine Angst über mich hatte, zu zügeln und umzuwandeln. Ich war nicht geheilt, noch lange nicht, aber ganz allmählich kam mir mein Körper eher wie ein Verbündeter vor und nicht mehr wie der Auslöser möglicher Katastrophen. Das Pochen meines Herzens konnte, im rechten Licht betrachtet, ein Zeichen meiner Vitalität sein statt meiner Furcht.

Mit Anfang zwanzig war mir schließlich klar, dass die Angst, trotz Psychotherapie und Medikamenten, sogar trotz Yoga und einem ganzen Arsenal an Techniken, immer ein Teil meines Lebens sein würde, immer in mir drin, und tatsächlich prägt sie mich bis heute, im Guten wie im Schlechten. Gleich zu Beginn meiner klinischen Ausbildung konnte ich rings um mich herum beobachten, auf welch vielfältige Weise unser Körper Schauplatz und Ausdruck unserer Leiden sein kann – von Panik über Hypochondrie, Drogenkonsum und Selbstverletzung bis hin zu Bulimie –, und es kann einem unerträglich vorkommen, in ihm zu leben. Ich erkenne, wie der rote Faden der Angst mein Leben durchzieht, wie er sich tief in meinen Körper eingegraben hat, wie diese Angst manchmal enorm viel Raum einnimmt und dann wieder in den Hintergrund tritt. Und obwohl meine Ängste vor Verlust und Ungewissheit mit den Jahren ihre Gestalt verändert haben, sind sie doch im Kern bis heute dieselben.

Jeder Mensch hat seine Wunden, ob sie ihm bewusst sind oder nicht. Als Therapeutin muss man sich das stets bewusst machen, und zugleich kann man es unmöglich vergessen – Tag für Tag wird man daran erinnert, dass sich unter der Oberfläche Geschichten und Verletzungen jenseits aller Vorstellungskraft verbergen. Als ich allerdings begann, meinen Master in klinischer Psychologie zu machen, kam mir der seltsam unlogische Gedanke, dass es peinlich wäre, ja sogar eine Schande, im Geschäft der Psychologie eigene Aktien zu haben, als könnte ich mich dieser Wissenschaft irgendwie »unbelastet« nähern, als hätte das alles mit meinen eigenen inneren Kämpfen nichts zu tun. Doch nach und nach wurde mir klar, dass wir alle unsere Gründe für unsere Studienwahl hatten. Manche aus meinem Studiengang hatten schreckliche Verluste erlitten, andere kannten Depressionen aus eigener Erfahrung oder hatten eine schmerzhafte Familiengeschichte. Niemand wird allein aus wissenschaftlichem Interesse oder aus altruistischen Motiven klinische Psychologin. Wie ein besonders scharfsinniger Professor uns häufig ins Gedächtnis rief: »Je größer die Fassade, desto mehr steckt dahinter« – soll heißen: Wer besonders viel Kraft investiert – ob für einen guten Abschluss oder eine knallharte Erscheinung –, bei dem sieht es unter der Oberfläche ganz sicher anders aus. Und am Ende kommen diese Gründe ans Licht, ob man will oder nicht. Meine Motive, Psychologie zu studieren, waren komplex, und vielen meiner Mitstudierenden ging es wohl ähnlich. Die Entscheidung erwuchs aus echtem akademischen Interesse und aus der ehrlichen Hoffnung heraus, etwas für andere Menschen tun zu können, auch vor dem Hintergrund dessen, was mich in meinem Leben plagte. Da waren meine Ängste, festgeschrieben in meinem Körper und meiner Psyche. Und jetzt habe ich, da ich im Rückblick schon ein bisschen schlauer bin, die wohlüberlegte Entscheidung getroffen, manche meiner Erfahrungen zu teilen. Angehende Psychologen lernen üblicherweise, dass sie möglichst wenig Persönliches preisgeben sollen – nur in geringem Umfang und wenn es unbedingt sein muss. Man geht von der Prämisse aus, dass wir damit für unsere Patientinnen und Patienten wie ein unbeschriebenes Blatt wirken. Nach reiflicher Überlegung kam ich jedoch zu dem Entschluss, dass es nicht authentisch und sogar unehrlich wäre, über Angst zu schreiben, ohne meine eigenen Erfahrungen zu erwähnen. Ich bin sogar der Überzeugung, dass meine Leserschaft das spüren würde. Ich glaube inzwischen, dass mein persönlicher und mein professioneller Blick auf Ängste Hand in Hand gehen und dass ich auf diese Weise etwas Nützlicheres und hoffentlich Tiefgreifenderes anbieten kann: die Sichtweise einer Psychologin, aber auch die einer Mutter, einer Partnerin, einer Freundin. Wir alle sind Menschen – davon ist niemand ausgeschlossen. Und es gehört meines Erachtens zu unseren wichtigsten Instinkten als Menschen (wir können es überall beobachten), unser Leid in etwas Sinnvolles zu verwandeln.

Als sich mein scheinbar endloses Masterstudium allmählich dem Ende zuneigte, machte ich einen lang ersehnten einwöchigen Urlaub auf Island (damals ein Trendreiseziel). Es waren fröhliche, aufregende Ferien, aber danach durchlief ich eine Episode der schrecklichsten Angstzustände, die ich je erlebt hatte, gefolgt von Depressionen. Zurück am Schreibtisch und in meinen Alltagsroutinen, verfing ich mich in Grübeleien (diese elenden, endlosen Gedankenschleifen, oft ein verzweifelter Versuch, ein Problem zu lösen). Angst ist heimtückisch – sie drängt sich in Räume, die man zuvor nicht bemerkt hat. Aus einer unterschwelligen, leicht beiseitegeschobenen Ahnung wurde ein Monster von einem Bauchgefühl: Irgendetwas war nicht in Ordnung.

Heute verstehe ich, was passiert war. Weit weg von zu Hause, wo ich Zeit und Raum hatte, außerhalb des Alltagstrotts über Dinge nachzudenken, konnte ich wieder durchatmen. Mit dem neugewonnenen Freiheitsgefühl gestattete ich mir, neue Möglichkeiten außerhalb meiner bisherigen Vorstellungen eines späteren Berufslebens zu erwägen. Da meine Studienjahre nun bald zu Ende waren, erdrückte mich die Vorstellung der nächsten Jahrzehnte. Ich hatte bis dahin einen klar vorgezeichneten Weg beschritten, dessen Struktur und Voraussagbarkeit mich anfangs beruhigt hatten, aber ein Teil von mir war dabei auf der Strecke geblieben. Mich überfiel der schreckliche Gedanke, dass ich einem Lebensplan gefolgt war, noch ehe ich ganz verstanden hatte, was das für mich bedeutete – und deshalb fürchtete ich, einen entsetzlichen, nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen zu haben. Und obwohl ich damals auch schon wusste, dass das Psychologiestudium zu sehr verschiedenen Berufsbildern führen konnte, kam mir diese Freiheit völlig abstrakt vor. Ein derartiger Konflikt ist gar nicht so ungewöhnlich – viele kennen so etwas von sich selbst oder aus Erzählungen –, aber mir kam er wie ein beschämendes Geheimnis vor. Wenn meine Freunde über ihre beruflichen Meilensteine sprachen, klangen sie stolz, es waren Zeichen ihrer Aufgeschlossenheit und ihres Unternehmergeists. Ich war neidisch auf die Empathie, die sie für sich selbst empfanden. Ich kenne mich selbst als verlässliche Person: Wenn ich sage, dass ich etwas mache, dann mache ich es auch. Was ich anfange, bringe ich zu Ende. Ich bin vertrauenswürdig, verlässlich. Meine Unsicherheit schien all das in Frage zu stellen. Am meisten zu schaffen machte mir, dass sich in all den Jahren leise Zweifel geregt hatten, die ich aber immer beiseitegeschoben hatte. Schritt für Schritt hatte ich mich vorgearbeitet und mich höllisch angestrengt, um dorthin zu gelangen, wo ich nun stand. In vielerlei Hinsicht wäre es einfacher gewesen, meinen Weg schlicht fortzusetzen, zu hoffen, dass sich von selbst etwas bewegte, dass meine Zweifel einfach in den Hintergrund treten würden. Aber ich wusste, das wäre Selbstbetrug. Vielmehr musste ich einen Weg finden, mir die Seiten meiner Persönlichkeit, die ich unbeabsichtigt aufgegeben hatte, wieder zu eigen zu machen. Die Vorstellung war einerseits aufregend, aber, wie so häufig, auch beängstigend. Zum ersten Mal seit Jahren gestand ich mir zu, an meinen Plänen und Wünschen etwas zu ändern, und in dieser neuen Lage zu sein, fühlte sich an wie ein Notfall.

In den folgenden Wochen verzehrten mich unzählige Sorgen. Ich befürchtete, dass ich alle möglichen höchst unwahrscheinlichen, aber katastrophalen Fehler gemacht haben könnte. Wieder und wieder überprüfte ich die Ergebnisse meiner Arbeit. Aus Angst, ich hätte den Stecker meines Glätteisens womöglich nicht herausgezogen, bevor wir fürs Wochenende zu meiner Großmutter aufgebrochen waren, steckten wir vier Stunden im Stau, weil ich darauf bestanden hatte, zurückzufahren. Jedes bisschen Freizeit wurde dadurch zerstört, dass ich die Ereignisse der vergangenen Woche durchging – vor allem die Momente, von denen ich mir wünschte, etwas anders gemacht zu haben. Mir war, als würde ich ersticken. Ich malte mir unzählige Möglichkeiten aus, wie bestimmte Dinge enden könnten, um dann einen Weg zu finden, diese völlig unwahrscheinlichen Katastrophen zu umgehen. Obwohl ich es eigentlich besser wusste, begann ich, das Ausmaß dieses Sorgenmachens als schützend, vorsorgend und vorausschauend zu begreifen, als wäre das Übergehen der Sorgen eine Nachlässigkeit, ein Einfallstor für das Unglück. Mein Herz raste. Ich hatte Schlafprobleme und verlor meinen Appetit. Meine Muskeln waren angespannt und meine Hände zitterten. Die Ungewissheiten lasteten schrecklich auf mir. Ich konnte sie im Kopf kaum in Worte fassen, geschweige denn aussprechen. Ich schimpfte mit mir selbst, hinterfragte meine Entscheidungen und schämte mich für meine Unsicherheit, während ich mühevoll versuchte, mir klarzumachen, dass es nichts Schlimmes ist, seine Meinung zu ändern. Es befiel mich wieder diese schreckliche Enge.

Wenig später wurde ich depressiv. Das ist nichts Ungewöhnliches: Angst und Depressionen treten oft gemeinsam auf. Aber während manche Ängste einen anheizen, sodass man auf Zack bleibt und sein Ziel im Auge behält, ist es etwas ganz anderes, wenn sie einen in Depressionen stürzen. Die Forschung zeigt, dass fast die Hälfte aller Menschen, auf die die Kriterien einer generalisierten Angststörung zutreffen, auch jene für eine Depression erfüllen, und bei manchen Studien ist diese Überlappung sogar noch größer.[20] Das bedeutet nicht, dass eine Angststörung zwangsläufig zu Depression führt, aber beides hängt zusammen. Es fühlt sich zumindest so an, als bestünde ein kausaler Zusammenhang, als würde einen die andauernde Angst zermürben, bis schließlich die Depression einsetzt. Ein hohes Angstniveau kann das Gehirn nur für eine gewisse Zeit aufrechterhalten.

In dem besagten Jahr fühlte ich mich immer dann am nützlichsten und am lebendigsten, wenn ich auf einer Station für Menschen mit schweren Essstörungen arbeitete. Dort, wo überall Verlust, Wut und Furcht spürbar waren, war auch das Leid des Körpers präsent, mit allem, was er umfasst. Die Angst war greifbar und unausweichlich – wie auch die Fragen rund um Gehirn, Blut, Herz, Darm und Bauch, in ihrer physischen und ihrer metaphorischen Bedeutung. Hier spielten sich physiologische Krisen ab, etwa aufgrund von Herzproblemen oder Mangelernährung, aber auch existenzielle Fragen kamen auf. Was bedeutet rationales Denken? Was geben wir an unsere Kinder weiter, unser Fleisch und Blut, sei es durch Vererbung oder Erziehung? Wie finden wir inmitten des Chaos Raum für zwischenmenschliche Bindung oder gar Liebe? Und was passiert, wenn wir die Kontrolle verlieren?

Heute begreife ich, dass dieses Jahr eine unvermeidliche, notwendige Sackgasse war. Ich fühlte mich gefangen zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen Zuständen: ängstlich und doch mutig, hilflos und doch entschlossen. Grundsätzlich aber wusste ich, dass ich nicht in der Falle saß. Ich wusste, dass meine Angst und meine Depression temporäre Zustände waren, für die es zwar nicht perfekte, aber immerhin ausreichend gute Gegenmittel gab, und dass die Welt weit ist und außerhalb der Grenzen meines Gehirns, außerhalb meines Körpers existiert. Dass ich den Orientierungsfaden schon finden würde, wenn ich nur danach suchte. Ich hatte eine Peilung. Ich witterte Möglichkeiten.

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Zwischen Hoffnung und Furcht entsteht Reibung. Einerseits liegt in all dem, was die Wissenschaft uns über die Zusammenhänge unseres Körpers lehrt, ein so großes Versprechen und so viel Trost. Doch trotz unserer Anstrengungen lauert dort auch die Furcht, häufig nur eine Armeslänge entfernt, und da beides so nahe beieinanderliegt, verlieren wir leicht die Orientierung. Die meisten von uns schieben Gefühle, mit denen wir fürchten nicht fertigzuwerden, eher beiseite. Wir gehen ihnen aus dem Weg, manchmal jahrelang, ohne uns dessen bewusst zu sein. Aber nichts verschwindet einfach so (Freud prägte den berühmten Begriff von der »Wiederkehr des Verdrängten«)[21]. Im Umgang mit Ängsten beginnt die Hoffnung dann zu wachsen, wenn wir der Furcht offen entgegentreten.

Ich möchte verstehen, wie unsere Ängste unseren Körper kontrollieren können, wie unser Körper dann unseren Geist zügeln und sich gegen ihn auflehnen kann und wie wir schließlich lernen können, diese grundlegende Tatsache des Lebens in etwas zu verwandeln, das uns nicht länger ausbremst. Wenn mir die Angst den Atem raubt, möchte ich sie ins Gegenteil verkehren und von der Energie zehren, die unter ihr verborgen liegt. Statt mich abzulenken und emotional lähmen zu lassen, werde ich beweglich und offen sein.

Was mich zu der uralten Frage bringt: Wie schafft man es, sich nicht selbst im Weg zu stehen?

Ohne wirksame und praktische Methoden, Angst zu lindern, erreichen wir nichts. Ich habe größte Hochachtung für die vielen Behandlungsmöglichkeiten, die verhaltenstherapeutischen wie die medizinischen. Und ich wende sie selbst an. Die pragmatischen Ansätze zur Behandlung von Angst sind uns vertraut geworden: Workbooks, Listen, Habit-Tracking usw. Solche praktischen Techniken sind verführerisch vielversprechend, denn wenn wir leiden, suchen wir nach schneller Linderung. Um es ganz deutlich zu sagen: Es ist wichtig, ja lebensrettend, als Erstes die Symptome zu behandeln. Die Forschung benennt übereinstimmend eine Reihe von Techniken, die Angstsymptome verringern – von Sport bis hin zu Atemübungen. Diese Strategien sind unerlässlich, denn wenn man akut unter Angst leidet, muss die Linderung der Symptome an erster Stelle stehen. Ohne Linderung bleibt kein Raum zum Nachdenken. Erst wenn wieder so etwas wie Ruhe einkehrt, eine ebenso körperliche wie geistige Ruhe, werden die nächsten Schritte möglich. Aber kurzfristige Linderung allein schafft nur eine vorübergehende Besserung, und wenn unser Dialog über Angst bereits bei praktischen Linderungsstrategien endet, bleibt eine Menge ungesagt. Sie sind nützlich, reichen aber letzten Endes nicht aus. Trotz aller Fortschritte der Wissenschaft und trotz eines stets wachsenden Zugangs zu Informationen haben wir unsere ältesten Schrecken noch nicht besiegt. Alles deutet darauf hin: Wir sind heute ängstlicher, einsamer, verlorener.

Angst fühlt sich an wie ein Notfall, ohne dass tatsächlich einer vorliegt. Das Ergebnis nenne ich eine chronische Notfall-Fehleinschätzung, und das ist manchmal wortwörtlich zu verstehen: Laut einer jüngeren Studie suchten allein in den USA innerhalb eines Jahres 1,2