Die Kraft unseres inneren Ökosystems - Richard, Prof. Dr. Lucius - E-Book

Die Kraft unseres inneren Ökosystems E-Book

Richard, Prof. Dr. Lucius

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Beschreibung

Unser über Jahrmillionen entstandenes Immunsystem ist auf ein karges, naturnahes Leben geeicht. In unserer modernen Gesellschaft spielt es unter dem Einfluss von hochverarbeiteten Lebensmitteln, Medikamenten und mangelndem Naturkontakt immer häufiger verrückt. Die Folge: eine drastische Zunahme von Allergien, Autoimmunerkrankungen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Gemeinsamer Nenner all dieser Krankheiten sind chronische Entzündungsvorgänge. Ebenso anschaulich wie unterhaltsam stellt dieses Buch dar, wie Aspekte unseres modernen Lebensstils unser Mikrobiom und damit unsere Immunantworten nachhaltig beeinflussen und welche Möglichkeiten wir haben, dem entgegenzuwirken und das sensible Gleichgewicht unseres inneren Ökosystems aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.

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Prof. Dr. Richard Lucius

Wie das Mikrobiom die Immunantwort steuert und Entzündungen vorbeugt

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1. eBook-Ausgabe 2022

© 2022 Scorpio Verlag in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Lektorat: Silke Foos, München

Illustrationen, Layout und Satz: Margarita Maiseyeva

Gesetzt aus der Adobe Garamond Pro

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95803-457-0

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

Für Gudrun

Inhalt

Vorwort

Allergie & Co.: Die neuen Zivilisationskrankheiten

Entzündungskrankheiten, eine Epidemie der Moderne

Der weltweite Anstieg von Allergie & Co.

Das Beispiel der Allergien

Entzündung und Immuntoleranz

Der Quantensprung der Biomedizin

Aufregende Perspektiven

Wie sich unser Leben verändert hat

Der Eiserne Vorhang – Ticket zu einer Zeitreise

Zwischen Überfluss und Stress: Der »westliche Lebensstil«

Die Veränderung von Arbeitswelt und Freizeit

Alles keimfrei: Hygiene

Unsere künstliche Umwelt

Der Siegeszug der westlichen Ernährung

Länger leben, länger krank?

Von der Hygiene- zur Biodiversitätshypothese

Infektionen als Entzündungsbremse: Die Hygienehypothese

Parasitische Würmer als raffinierte Immunologen

Der Bauernhof-Effekt: Gesundheit aus dem Kuhstall

Mensch und Mikrobiom: Wir sind viele

Das Mikrobiom: Mehr als nur eine Modeerscheinung

Der Mensch als Superorganismus

Bakterien: Früher pfui, heute hui

40 Billionen Bewohner

Kleine Bakterienkunde

Escherichia coli – ein VIP unter den Bakterien

Die wichtigsten Bakteriengruppen des menschlichen Mikrobioms

Unser mikrobielles Ökosystem

Wie ein Wald …

Von Netzwerken, Arbeitsteilung und Abhängigkeiten

Überall Bakterien, vom Scheitel bis zur Sohle

Vom Mund zum Magen

Das Mikrobiom des Darms in seinem Lebensraum

Die Darmbarriere – mehr als eine elastische Wand

Entzündung und Ent-Entzündung: Das Darmimmunsystem

Unser Bauchgehirn

In ständigem Wandel

Unsere Bakteriengemeinschaft: Das Erbe vieler Generationen

Kotelett oder Kohlrabi: Der Einfluss der Ernährung

Ballaststoffe: Lieblingsfutter der Darmflora

Das Mikrobiom unserer Vorfahren

Steinzeitdarm und westliche Ernährung

Wie Bakterien ihren Wirt verändern

Fremdgesteuert: Ein Beispiel aus der Parasitenwelt

Dick oder dünn – eine Frage des Mikrobioms?

Darmbakterien steuern auch das Verhalten

Mikrobielle Gefahrsignale trainieren die Immuntoleranz

Entzündungshemmende oder -stimulierende Bakterien

Probiotika

Der molekulare Code der Entzündungsbremse

Die langfristige Programmierung der Immuntoleranz

Alarm im Darm

Die Darmflora als Gefahr

»Von Natur aus böse«: Pathogene Bakterien

Antibiotika, ein zweischneidiges Schwert

Entzündungskrankheiten

Allergische Erkrankungen

Allergien, wie sie fast jeder kennt: Jucken, niesen, husten

Heuschnupfen

Allergisches Asthma

Lebensmittelallergien

Atopische Dermatitis

Zur Nachahmung empfohlen: Das finnische Allergieprogramm

Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED)

Die Krankheit CED

Die weltweite Zunahme von CED

Ohne Mikrobiom kein CED

Der ungeliebte Weltrekord der Färöer-Inseln

Typ-1-Diabetes (T1D)

Die beiden Formen des Diabetes

Die Krankheit T1D

Entstehung der Krankheit

Die Rolle des Mikrobioms bei T1D

Multiple Sklerose (MS)

Die Krankheit MS

Verbreitung und Zunahme von MS

Das Massaker im Gehirn

Immunologische Kreuzreaktionen als Auslöser von MS?

Psoriasis

Die Krankheit Psoriasis

Das Zusammenspiel der Auslöser

Rheumatoide Arthritis (RA)

Die Krankheit RA

Plötzlich Rheuma: Eine Patientin erzählt

Weshalb entzünden sich gerade die Gelenke?

Das Mikrobiom als Auslöser von RA?

Zöliakie

Zunehmendes Grummeln im Bauch

Zöliakie, die »Eisberg-Krankheit«

Wie Gluten zum Problem wird

Die Rolle des Mikrobioms bei Zöliakie

Lebensmittel für den Superorganismus

Großmutters Küche

Moderne Lebensmittel

Brot als Beispiel

Zweifelhafte Zutaten: Emulgatoren, Süßstoffe, Salz und Glyphosat

Mehr Zuwendung für unser inneres Ökosystem!

Ein neuer Pakt mit unseren Bewohnern

Bessere Ernährung

Mehr Bewegung

Mehr Naturkontakt

Inspirationen aus der neuen Gesundheitsszene

Ausblick

Danksagung

Literatur

Glossar

Zum vertiefenden Weiterlesen finden Sie die folgenden Exkurse auf der Website zum Buch:

https://bit.ly/Lucius-Inneres-Oekosystem-Exkurse

Mikrobiom und Mikrobiota

Bakterien und der Artbegriff

Bauernhof und Bauernhof ist nicht dasselbe

Biologika, eine Revolution in der Behandlung von Entzündungskrankheiten

Angeborenes und erworbenes Immunsystem

Makro- und Mikronährstoffe

Stuhltransplantation

Vorwort

Unser über Jahrmillionen entstandenes Immunsystem ist auf ein karges, naturnahes Leben geeicht. In unserer modernen Gesellschaft spielt es unter dem Einfluss von hoch verarbeiteten Lebensmitteln, Medikamenten und mangelndem Kontakt mit einer natürlichen Umwelt immer häufiger verrückt. Die Folge: Allein in Deutschland leiden mehr als 25 Millionen Menschen an Allergien, Autoimmunerkrankungen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die es früher kaum gab. Gemeinsamer Nenner dieser Krankheiten sind chronische Entzündungsvorgänge.

Mehr und mehr wird klar, dass die Neigung zu chronischen Entzündungen wesentlich durch die Bakterien bestimmt wird, die wir in und an unserem Körper tragen und mit denen wir in unserer Umwelt Kontakt haben. Allein im Darm beherbergen wir ca. ein Kilogramm dieser Bewohner. Mit jedem Atemzug und jeder Berührung einer Oberfläche, mit jedem Händeschütteln und jedem Kuss sind wir Myriaden dieser Winzlinge ausgesetzt.

Zusammenfassend bezeichnet man diese Mikrobenwelt als »Mikrobiom«. Diese Lebewesen bilden in unserem Inneren ein Ökosystem, in dem Hunderte von Bakterienarten miteinander kooperieren und gegeneinander konkurrieren. Sie verwerten Reststoffe, die der Mensch nicht verdauen kann, und liefern im Gegenzug Energie und lebensnotwendige Substanzen. Und, viel wichtiger als bisher gedacht: Sie programmieren und steuern das Immunsystem. Ihr wesentlicher Beitrag: Sie bremsen Entzündungen, und zwar so effizient, dass sie sogar den Krankheitsverlauf bei Coronainfektionen abmildern, der ja durch Entzündungsvorgänge geprägt ist. Erst zusammen mit unseren Bewohnern bilden wir einen widerstandsfähigen »Superorganismus«.

Wenn wir unser inneres Ökosystem nicht pfleglich behandeln, verarmt es und leidet, ganz ähnlich wie unsere äußere Umwelt, unter Artenschwund. Dann kann es uns nicht mehr vor Entzündungskrankheiten schützen. Die moderne Forschung erlaubt es, die Vielfalt an Bakterien und die Mechanismen, mit denen sie auf uns wirken, zu analysieren. Das Ergebnis: Der Körper des Menschen steht in ständigem Austausch mit seiner bakteriellen Umgebung. Wir profitieren von einer möglichst großen inneren Biodiversität. Unsere Sensoren registrieren Moleküle, die von Bakterien entlassen werden, als beruhigende oder alarmierende Signale. Je nachdem, wie das Artenspektrum des Mikrobioms zusammengesetzt ist, wird unser Immunsystem eingestellt. Die Gemeinschaft mit den Mikroben ist so eng, dass sie sogar großen Einfluss auf die Ausbildung von Organen, den Stoffwechsel und kognitive Vorgänge haben. Gesundheit ist kein Urzustand, sondern muss erworben werden: durch ein harmonisches Zusammenleben mit dem Mikrobiom.

Jäger und Sammler im brasilianischen Urwald, afrikanische Kleinbauern in Malawi oder fahrende Pferdehändler und Kesselflicker in Irland haben die Gemeinsamkeit, dass sie relativ naturnah leben. Bei solchen Menschen treten Entzündungskrankheiten nur selten auf. Sie kommen ständig mit einer großen Vielfalt von Bakterien in Kontakt. Deshalb beherbergen sie ein anderes Spektrum von Bakterienarten und die Artenvielfalt ihres inneren Ökosystems ist deutlich größer als zum Beispiel bei zeitgemäß lebenden Städtern. Wer hingegen ein modernes Leben führt, hat ein ausgedünntes Mikrobiom und läuft eher Gefahr unter Allergien, Autoimmunantworten oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu leiden.

Welche Faktoren des »westlichen Lebensstils« die Ursache sind, ist bislang unklar. Sind es die hochverarbeiteten Lebensmittel, mit ihrem Übermaß an Zucker, ungesunden Fetten, Salz, Emulgatoren, Süßstoffen, Konservierungsmitteln oder Pestizidrückständen? Ist es das Übermaß an Antibiotika und anderen Medikamenten? Oder der Mangel an Bewegung und fehlender Kontakt mit Bakterien aus der Umwelt? Alle diese Faktoren, allen voran die Ernährung, haben großen Einfluss auf das Mikrobiom. Sie bringen bestimmte Bakterienarten zum Wachsen und hemmen andere, und mit jeder Änderung der Bakterienflora verschiebt sich auch die natürliche Balance des Immunsystems.

Mit den neuen Forschungsergebnissen zu diesem Thema wachsen auch die Möglichkeiten, regulierend einzugreifen und die verlorene Vielfalt unserer Bakterienflora wieder herzustellen. Dazu müssen wir das sensible Gleichgewicht mit unserem Mikrobiom auf dem Schirm haben und für unsere Bewohner mitdenken. Was benötigen sie, um ein vielfältiges Ökosystem zu bilden, das mit unserem Immunsystem harmoniert? Und was schadet ihnen? Besonders wichtig sind diese Fragen in der frühen Kindheit, wenn das Mikrobiom durch epigenetische Veränderungen die Weichen für das spätere Leben stellt. Spannend ist es auch zu erfahren, wie ein gestörtes Mikrobiom und Entzündungskrankheiten zusammenhängen. Deshalb zeige ich in diesem Buch an einigen Beispielen auf, wie das Mikrobiom im Zusammenspiel mit den Erbanlagen zur Entgleisung von Immunantworten und chronischen Entzündungen beiträgt. Das Wissen, wie das sensible Gleichgewicht in unserem Inneren funktioniert, ermöglicht ein neues Verständnis von Gesundheit. Damit könnte es gelingen, die Last der Entzündungskrankheiten dramatisch zu verringern. Wir alle sollten wissen, dass unser innerer Mikrokosmos ein Schatz ist, der durch die moderne Lebensweise gefährdet ist und mit dem wir sehr sorgsam umgehen müssen.

1

Allergie & Co.: Die neuen Zivilisationskrankheiten

Entzündungskrankheiten, eine Epidemie der Moderne

Frühjahr 2020: Mit einem Schlag war die Coronapandemie das Gesprächsthema Nummer eins. Mit Lockdown, Hamsterkäufen und Kurzarbeit brach sie brutal in den Alltag ein. Sind unter normalen Umständen Krankheiten eher ein Thema im Wartezimmer von Arztpraxen, gab es jetzt kaum noch ein Gespräch ohne Corona. Die Aussicht, an dem lebensgefährlichen Virus zu erkranken zwang jede und jeden dazu, sich zu informieren und zu schützen. Man konnte COVID-19 nicht einfach ignorieren. Für die Medien war die Pandemie ein Renner: ein unverbrauchtes Thema, eine Seuche, die jeden treffen konnte. Die weltweite Bedeutung, gepaart mit dem medialen Dauerfeuer, machte COVID-19 zum gesellschaftlichen Ereignis, brachte neue Stars und Bösewichter hervor, führte zu Demonstrationen und Polizeieinsätzen. Selbstverständlich sprach man mit Freunden und Bekannten darüber, wie die Übertragung funktioniert, wie man sich schützt und was einen bei einer Infektion erwarten würde. Wer mitreden wollte, musste informiert sein.

Seuchen wie COVID-19, die plötzlich über uns hereinbrechen, bekommen viel mehr Aufmerksamkeit als chronische Erkrankungen, an deren Vorkommen man sich im Lauf der Zeit gewöhnt hat. Auch sie können Millionen von Menschen betreffen und immenses Leid verursachen, sind aber trotzdem nur selten ein Gesprächsthema. Sie sind auf weniger dramatische Weise aufgetaucht, haben sich eher eingeschlichen, und sind mittlerweile so sehr Teil des täglichen Lebens geworden, dass man sie schon fast für selbstverständlich hält. Zu diesen Leiden gehören Krankheiten, die auf einer Überreaktion des Immunsystems beruhen. Wo sich bei gesunden Menschen das Immunsystem auf die Abwehr von Krankheitserregern beschränkt, reagiert es bei Betroffenen auch auf harmlose Stoffe. Wo immer auf dem Globus sich eine moderne Lebensweise ausbreitet, steigt unweigerlich die Häufigkeit von Allergien, Autoimmunerkrankungen und Unverträglichkeiten von bestimmten Lebensmitteln. Und dieser Anstieg liegt nicht etwa an der Zunahme der Weltbevölkerung oder dem steigenden Alter von Menschen, sondern an dem häufigeren Auftreten von Neuerkrankungen in der Bevölkerung. In Deutschland sind mehr als ein Viertel der Bevölkerung von diesen »Entzündungskrankheiten« betroffen. Sie haben in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen und sind im Gegensatz zu den klassischen Seuchen eine »Epidemie der Moderne«, wie eine Zeitung kürzlich titelte.

Von diesen Leiden sind die Allergien am bekanntesten und am weitesten verbreitet. Sie sind sozusagen die Fahnenträger der Entzündungskrankheiten, die man deshalb auch kurz als »Allergie & Co.« bezeichnen könnte.

Wer hatte in den 1960er-Jahren schon eine Allergie? Ich kann mich nicht erinnern, dass es im Sommerferienlager irgendjemand gab, der Milch, Eier oder Erdnüsse nicht vertrug. Heute dagegen kursieren in Kindergärten Listen von Lebensmitteln, die Emma, Ben, Luca oder Mia auf keinen Fall essen dürfen, weil sonst ein anaphylaktischer Schock droht. Nehmen wir Deutschland als Beispiel: Aktuell leiden fast 19 % aller erwachsenen Bundesbürger unter mindestens einer Allergie. Auch Asthma und Psoriasis (Schuppenflechte), die zu den allergischen Erkrankungen im weiteren Sinn gehören, sind häufig und betreffen fast 10 % beziehungsweise 2 % der Bevölkerung (Bergmann et al. 2016). Viel häufiger als früher sind schwere Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes (0,4 %; RKI 2019), chronische Darmentzündung (0,74 %; Hein et al. 2014) oder Multiple Sklerose (0,3 %; Holstiege et al. 2017). Man schätzt, dass außerdem bis zu 30 % der in Deutschland lebenden Menschen unter Verdauungsstörungen leiden, von denen manche mit Entzündungen einhergehen, wie etwa der Zöliakie. Dies sind nur einige Beispiele für Entzündungskrankheiten. Eine vollständige Nennung der über 100 Leiden würde hier den Rahmen sprengen.

Die Wissenschaft hat lange Zeit nach Erklärungen für dieses Phänomen gesucht, aber mittlerweile ist man sich sicher: Unser Immunsystem ist für sein Funktionieren auf Kontakt mit unserer belebten Umwelt angewiesen. Der Mensch braucht um gesund zu bleiben die richtige, für jede Person unterschiedliche Mischung von Mikroben auf der Haut, in der Lunge und besonders im Darm. Homo sapiens lebt nicht allein, sondern ist ein »Superorganismus«, der erst zusammen mit seinen Bewohnern eine funktionsfähige Einheit bildet. Seine Mikroben bilden ein artenreiches Ökosystem, das das Immunsystem beruhigt und vor Überreaktionen schützt. Allerdings hat die moderne Lebensweise die Mikrobenlandschaft in unserem Inneren und um uns herum so verändert, dass sie nicht mehr zu unserem Immunsystem passt. Es ist aus dem Gleichgewicht geraten, schlägt bei nichtigen Anlässen Alarm und reagiert zu stark. Was steckt dahinter?

Unsere Immunzellen überprüfen ständig jeden Winkel des Körpers, ob Gefahr besteht oder nicht. Krankheitserreger wie Bakterien, Viren, Parasiten oder Pilze enthalten molekulare Gefahrensignale, aber auch die eigenen Köperzellen setzen bei Beschädigung Moleküle frei, die das Immunsystem aktivieren. Je nachdem, wie stark diese Signale sind, fällt eine Entscheidung, ob ein Angriff erfolgen soll oder nicht. Wenn das der Fall ist, werden weitere Immunzellen an den Ort des Geschehens gelockt und aktiviert, die dann eine Wolke hoch reaktiver Chemikalien entlassen. Die Substanzen greifen Krankheitserreger an und zerstören sie, ziehen dabei aber auch das eigene Gewebe in Mitleidenschaft. Diese Attacke, die sich zu einer Großoffensive ausweiten kann, nennt man »Entzündung«. Entzündungen sind also ganz normale, lebensnotwendige Reaktionen. Allerdings sind die Kollateralschäden oft beträchtlich, sodass effiziente Mechanismen der Begrenzung wichtig sind.

Harmlose Substanzen wie etwa Nahrungsbestandteile oder körpereigene Stoffe rufen im Normalfall keine Entzündungsantworten hervor. Sie regen das Immunsystem nicht an oder führen durch komplexe Mechanismen sogar zu einer Hemmung von Entzündungsreaktionen. Harmlose Reize ignoriert ein gut ausbalanciertes Immunsystem also oder drückt auf die Bremse und verhindert Entzündungen.

Genau diese Fähigkeit haben in modernen Gesellschaften viele Menschen verloren. Ihr Immunsystem kann Entzündungsreaktionen gegen irrelevante Fremdstoffe wie etwa Pflanzenpollen nicht stoppen und solche Substanzen einfach tolerieren. Die entstehenden Entzündungen schädigen das eigene Gewebe. Je nachdem welches Organ betroffen ist und welche Art von Immunantworten vorherrscht, können so ganz unterschiedliche Krankheiten entstehen. Dabei unterscheidet man grob zwischen Allergien, Autoimmunerkrankungen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten.

 

Auswirkungen

Häufigkeit in Deutschland

Allergische Erkrankungen

Allergien im engeren Sinne

Vorübergehende Entzündungsreaktionen von Scheimhäuten und Haut

16,6 Mio.(a)

Asthma

Chronische Entzündungen der Atemwege, Husten

6,57 Mio.(a)

Neurodermitis

Chronische Entzündungen der Haut

4,31 Mio.(a)

Autoimmunerkrankungen

Chronische Darmentzündungen

Massive Schädigung der Darmschleimhaut

615 000(b)

Typ-1-Diabetes

Zerstörung von Pankreaszellen durch Entzündungen

330 000(c)

Multiple Sklerose

Zerstörung von Nervenzellen durch Entzündungen

240 000(d)

Psoriasis

Entzündung der Haut durch fehlgeleitete Immunantworten

2,0 Mio.(e)

Rheumatoide Arthritis

Entzündung von Gelenken

940 000(f)

Unverträglichkeiten

Zöliakie

Verdauungsbeschwerden durch Unverträglichkeit von Gluten

830 000(g)

Reizdarmsyndrom

Verdauungsbeschwerden durch Nahrungsbestandteile (FODMAPS)

2,9 bis 14 Mio.(h)

Tabelle 1. Auswirkungen einiger Entzündungskrankheiten und ihre Häufigkeit (Prävalenz) in Deutschland. Quellen: (a) Bergmann et al. 2016. (b) Hein et al. 2017. (c) RKI 2019. (d) Holstiege et al. 2017. (e) Hense et al. 2018. (f) Sewerin et al. 2018. (g) Schuppan et al. 2018. (h) Verschiedene Quellen.

Zur Zeit sind Entzündungskrankheiten in den Wohlstandsländern der westlichen Welt am weitesten verbreitet, greifen jetzt aber zunehmend auch auf Schwellen- und Entwicklungsländer über. Grund für den Anstieg ist unsere moderne Lebensweise, in der Fachliteratur »westlicher Lebensstil« genannt. Dieser schwammige Begriff – im folgenden Kapitel näher besprochen – versucht die unterschiedlichen Faktoren zusammenzufassen, die typisch für die Lebensweise von Menschen in modernen Wohlstandsgesellschaften sind. Die Palette umfasst unter anderem Ernährung, Wohnen, Hygiene, Gesundheitsversorgung, Naturkontakt und Bewegung. Bei Menschen, die noch ohne die Errungenschaften der modernen Zivilisation leben, etwa in afrikanischen Dörfern, im brasilianischen Regenwald oder auch auf einsamen Bauernhöfen im Gebirge, wo der westliche Lebensstil noch nicht angekommen ist, sind Entzündungskrankheiten so gut wie unbekannt.

Viele Studien zeigen, dass bei solchen naturnah lebenden Menschen der Kontakt mit Mikroorganismen ein wichtiger Faktor für ihre Gesundheit ist. Bei ihnen sind Haut, Schleimhäute und Darm von einer gesunden Mischung vieler unterschiedlicher Arten von Mikroben bevölkert. Diese Mikroben, in ihrer Gesamtheit als »Mikrobiom« bezeichnet, bilden ein ganzes Ökosystem, in dem Hunderte von Arten um Nahrung und Platz konkurrieren oder auch zusammenarbeiten (zum Begriff »Mikrobiom« siehe den Exkurs »Mikrobiom und Mikrobiota« auf der Website zum Buch).

Allein im Darm erwachsener Menschen tummeln sich etwa ein Kilogramm Bakterien, Viren, Parasiten, Pilze und Archaeen (urtümliche Einzeller), darunter etwa 40 000 000 000 000 Bakterien (in Worten: 40 Billionen, eine Zahl mit 13 Nullen!). Die Bakterienzellen sind damit etwa so zahlreich wie die Zellen des menschlichen Körpers, das heißt, wir bestehen – was die Anzahl der Zellen betrifft – etwa zur Hälfte aus Bakterien.

Diese Masse von Bakterien lebt, verbraucht Energie und produziert Stoffe, sie arbeitet wie ein zusätzliches Organ unseres Körpers. Die Bakterien verteidigen ihr Revier gegen Eindringlinge und halten damit Krankheitserreger fern. Gleichzeitig schließen sie Nahrungsreste auf und liefern dem Körper daraus Energie, Vitamine und andere Stoffe. Eine weitere wichtige Funktion, die bisher meist übersehen wurde: Ihre Stoffwechselprodukte regulieren das Immunsystem und reduzieren so die Tendenz zu Entzündungen. Unsere nützlichen Bewohner werden im Wissenschaftsjargon als »Kommensalen« (lateinisch: Mitesser) bezeichnet, aber sie sind mehr: Zusammen mit unserem inneren Ökosystem bilden wir einen leistungsfähigen Superorganismus, solange das Gleichgewicht zwischen den Partnern stimmt.

Im Gegensatz zu naturnah lebenden Menschen ist beim modernen Städter die Artenvielfalt dieses inneren Ökosystems durch ungesunde Ernährung, überzogenen Medikamentengebrauch und mangelnde Bewegung stark zurückgegangen. Auch Umweltchemikalien, Pestizide, Lebensmittelzusatzstoffe und viele andere Faktoren haben einen Einfluss auf unsere Mikrobenlandschaft. So wurde das Gleichgewicht zwischen den Arten nachhaltig gestört und es haben sich Bakterien ausgebreitet, die früher kaum vorkamen, während andere verschwunden sind. Ganz ähnlich wie der Mensch durch rücksichtslose Übernutzung seine äußere Umwelt ruiniert, malträtiert er durch die moderne Lebensweise auch sein inneres Ökosystem. Ein derart verarmtes und verändertes Mikrobiom kann seine vielfältigen Aufgaben nicht erfüllen und ist auch nicht in der Lage, Entzündungsantworten im Zaum zu halten.

Der weltweite Anstieg von Allergie & Co.

Der Anstieg der Entzündungskrankheiten ist ein globaler Trend, der zuerst in den Industrieländern auftrat, jetzt aber mit zunehmender Veränderung des Lebensstils auch die Schwellen- und Entwicklungsländer erfasst. Selbst in entlegensten Winkeln der Erde, wie zum Beispiel auf Neuguinea, beobachtet man eine Zunahme dieser Erkrankungen, sobald Menschen Anschluss an die moderne Welt bekommen (Herbert et al. 2009). Innerhalb weniger Jahre ändern sich dann die Ernährung, die medizinische Versorgung, die Wohnsituation und viele andere Faktoren. Mit diesem »westlichen Lebensstil«, der weiter hinten ausführlich erläutert wird, treten Zivilisationskrankheiten auf.

Ob in Europa, USA, Japan oder Australien: In großem Stil setzte der Anstieg von Entzündungskrankheiten zwischen 1960 und 1970 ein und nahm seit den 1980er- und 1990er-Jahren Fahrt auf. In Europa sind dabei die skandinavischen Länder besonders stark betroffen, während die Entwicklung in den osteuropäischen Ländern während des Sozialismus langsamer verlief. Dort veränderte sich die Lebensweise weniger und entsprechend verhalten war auch der Anstieg der Entzündungskrankheiten. In manchen Industrieländern steigen die Kurven mittlerweile nicht mehr an, sondern haben ein Plateau erreicht. Ein möglicher Grund: Mittlerweils sind dort mehr oder weniger alle Personen erkrankt, die aufgrund ihrer Erbanlagen für Entzündungskrankheiten besonders empfänglich sind, sodass keine weitere Steigerung mehr erfolgt. Wenn dann im Wesentlichen nur noch der Nachwuchs erkrankt, bleibt die Anzahl jährlicher Neuerkrankungen relativ stabil.

Zeitversetzt ist inzwischen derselbe Trend in Schwellenländern wie China, Indien oder Südafrika zu beobachten. Asien holt gerade besonders schnell auf, zum Teil mit enorm hohen Zuwachsraten. So wurde aus Hongkong eine Verdreißigfachung (!!) von chronischen Darmentzündungen im Zeitraum von 30 Jahren berichtet (Ng et al. 2016). In Entwicklungsländern liegen die Werte teilweise noch sehr niedrig, steigen mit dem Übergang zu modernen Lebensverhältnissen aber an. Mit diesem Anstieg stehen die chronischen Darmentzündungen aber nicht allein, sie sind nur ein besonders gutes Beispiel, weil sie so auffällig und belastend sind, dass sie ziemlich systematisch registriert werden und gut untersucht sind. Demselben Trend folgen auch die meisten anderen Entzündungskrankheiten.

Mit der Ausbreitung des westlichen Lebensstils wird die Häufigkeit von Entzündungskrankheiten in Schwellen- und Entwicklungsländern in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiter zunehmen. Es ist abzusehen, dass auch in Regionen mit bisher niedrigen Raten die Krankheitszahlen so lange ansteigen werden, bis es zu einer Sättigung auf ähnlich hohem Niveau wie in den Industrieländern kommt.

Mit diesem Verbreitungsmuster sind die Entzündungskrankheiten eine wirkliche Pandemie, ein weltweiter Seuchenzug. Die Daten sind erschreckend! Allerdings ist es nicht einfach, aus der Vielzahl unterschiedlicher Studien die relevanten Informationen herauszufiltern und ein stimmiges Bild zusammenzusetzen. Eine große Herausforderung ist es dabei, die zahlreichen unterschiedlichen Entzündungskrankheiten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Schließlich betonen die entsprechenden Publikationen ja meist die Besonderheiten von Krankheiten und grenzen sie voneinander ab, anstatt die Gemeinsamkeiten herauszustellen. So haben zum Beispiel Typ-1-Diabetes und Multiple Sklerose, die ja ein ganz unterschiedliches klinisches Bild zeigen, als gemeinsame Wurzel eine erhöhte Entzündungsbereitschaft.

Gerade wenn man verfolgen möchte, wie die Häufigkeit solcher Krankheiten sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt, trifft man auf Probleme. Meist ahnte bei der ersten Beschreibung ehemals seltener und jetzt häufig auftretender Krankheiten kaum jemand, wie bedeutend sie später werden könnten. Dementsprechend fehlen für viele Entzündungskrankheiten solide Basisdaten. Die sicherste Methode, um überhaupt zuverlässige Daten zu generieren, ist eine kontinuierliche, langjährige Erfassung aller Krankheitsfälle mit standardisierten Diagnosemethoden. Solche weit zurückreichenden Langzeituntersuchungen und die entsprechenden Register existieren leider nur in wenigen Ländern mit hoch entwickelten Gesundheitssystemen, wie etwa in Skandinavien.

Aus den Angaben solcher Krankenregister lassen sich die Inzidenz (Anzahl der Neuerkrankungen) und Prävalenz (Gesamtzahl der Fälle) von Krankheiten in einer Bevölkerung berechnen. Existieren keine kontinuierlich geführten Register, ist man auf Daten einzelner Studien angewiesen, die allerdings oft nicht exakt miteinander vergleichbar sind, weil zum Beispiel die angewendeten Methoden etwas unterschiedlich sind. Daten von mehreren Studien werden oft in »Metastudien« zusammengefasst. Solche Übersichten sind extrem hilfreich, weil sie häufig gerade ältere und wenig zugängliche Literatur erfassen und damit ein gutes Gesamtbild ergeben.

Eine solche überzeugende Metastudie stammt von Loftus (2004), in der anhand von sieben Langzeituntersuchungen der weltweite Anstieg der Inzidenz von chronischen Darmentzündungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgezeigt wird (Abb. 1). Alle Kurven verlaufen in dieselbe Richtung. Diese Grafik zeigt – wie die Ergebnisse vieler anderer Metastudien – zweifelsfrei, dass Neuerkrankungen im dargestellten Zeitraum tatsächlich stark zugenommen haben.

Abbildung 1. Anstieg der Neuerkrankungen an Colitis ulcerosa in verschiedenen Ländern mit westlichem Lebensstil (Fälle / 100 000 Personen / Jahr). Aus Loftus (2004).

Das Beispiel der Allergien

Der Anstieg von Entzündungskrankheiten in Industrieländern lässt sich am besten anhand von Allergien nachverfolgen. Diese Leiden eignen sich besonders gut, um die Kopplung von westlichem Lebensstil und Zunahme von Entzündungskrankheiten aufzuzeigen, weil hier die umfangreichsten Daten vorliegen.

Meist denkt man beim Stichwort Allergie zuerst an Heuschnupfen. An diesem Übel, hervorgerufen durch Pollen von Gräsern und anderen Pflanzen, leidet in Deutschland jeder siebte Erwachsene und jedes zehnte Kind (Bergmann et al. 2016). Betroffene reagieren auf Pollenkontakt mit Niesen, geschwollenen Nasenschleimhäuten, tränenden Augen, Bindehautentzündung und Husten, ganz zu schweigen von einer damit einhergehenden Benommenheit. Und: Allergien, die als Heuschnupfen in der Nase begonnen haben, können im Lauf der Zeit auch die unteren Atemwege betreffen und sich zu Asthma entwickeln. Diese Abfolge ist so typisch, dass man sie als »Etagenwechsel« bezeichnet.

An Heuschnupfen hat man sich so gewöhnt, dass man ihn mittlerweile meist für naturgegeben hält. Dieses Übel kam aber überhaupt erst mit der Industrialisierung und den damit einhergehenden Änderungen von Lebensgewohnheiten auf. Die erste Beschreibung geht auf den englischen Arzt John Bostock zurück, der 1809 der Medizinischen und Chirurgischen Vereinigung in London einen Fall von »Catarrhus aestivus« oder Sommerkatarrh bei dem Patienten JB beschrieb, der eine periodische Erkrankung von Augen und Brustraum aufwies. Dieser Patient JB (der Autor selbst) litt seit dem 8. Lebensjahr von Mitte Juni an unter tränenden, geröteten und brennenden Augen. Sein Zustand verschlimmerte sich regelmäßig bis hin zu heftigem Jucken und Entzündung der Augen mit Bildung von Schleim, begleitet von Niesen und verengten Atemwegen mit Reizungen von Luftröhre und Schlund. Die angewendeten Therapien wie Aderlass, Hungern, kalte Bäder oder Verabreichung von Chinin, Opium (!), Quecksilber, Abführmitteln, Eisenpräparaten oder Digitalis halfen nicht. Die einzig lindernde Maßnahme bestand darin, das Haus nicht zu verlassen. Eine perfekte Beschreibung, die jeder Pollenallergiker nachvollziehen kann. Im Verlauf der nachfolgenden neun Jahre sammelte Bostock noch 28 weitere Fälle von »Catarrhus aestivus«, präsentierte sie der wissenschaftlichen Gesellschaft in einem Aufsatz und gilt damit als der Erstbeschreiber des Heuschnupfens (Ramachandran und Aronson 2009).

In Deutschland wurde Heuschnupfen erstmals von dem Badearzt Dr. Alfter in Bad Oeynhausen erwähnt, der 1855 von einem Patienten berichtet, der seit seinem 7. Lebensjahr regelmäßig »zu der Zeit, wo der Roggen blüht« unter Schnupfen, Bindehautentzündung und Atemenge litt. Er bemerkte dazu: »Die Seeluft … war nur von wirklichem Effekt, wenn der Wind von der See her kam.« 1862 wurden von Philipp Phoebus in Gießen in einem ersten Standardwerk Fälle aus ganz Europa zusammengetragen und als Besonderheit erwähnt, dass die Häufigkeit »auffallend gering« sei und die Krankheit »häufiger bei Wohlhabenden, Gebildeten …« vorkäme (zitiert nach Bergmann 2019).

Bis auch die Ursache des Heuschnupfens gefunden war, dauerte es nochmals ein Jahrzehnt: In seinem Buch »Experimental Researches on the Causes and Nature of Catarrhus Aestivus« (1873) beschreibt der britische Arzt Charles Blackley, auch er ein von Heuschnupfen geplagter Allergiker, eine Vielzahl von Experimenten zur Auslösung der allergischen Reaktion im Laborversuch. Mit Pollen erzielte er die zuverlässigsten Ergebnisse. Er prüfte Pollen von nicht weniger als 74 Pflanzenarten und fand, dass er mit Gräserpollen die heftigsten Reaktionen auslösen konnte. Sonne und Hitze hatten dagegen keine Wirkung. Darüber hinaus bemerkte er auch, dass die Erkrankung noch 15 bis 20 Jahre früher wesentlich seltener vorkam und davor so gut wie unbekannt war. Er stellte fest, dass Heuschnupfen vor allem in der gebildeten Klasse der Bevölkerung auftreten würde, besonders bei Juristen und Theologen. Im Gegensatz dazu sei kaum ein Bauer daran erkrankt, obwohl diese doch den Pollen am meisten ausgesetzt seien. Seine Schlussfolgerung: Wahrscheinlich sei der Zustand, den man durch geistige Arbeit erwirbt, eine Voraussetzung für die Entwicklung von Heuschnupfen. Der Anstieg würde mit der zunehmenden Verstädterung zusammenhängen, die Zivilisation und Bildung befördern würde. Tatsächlich war England in Europa Vorreiter der Industrialisierung und Verstädterung, während die anderen Länder Europas in den 1850er-Jahren noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt waren.

Heuschnupfen als Krankheit der Gebildeten: Diese Sichtweise hielt sich in England lange Zeit. Man litt zwar, fühlte sich aber auch als »den einfachen Schichten überlegen«. Sir Morell McKenzie, ein berühmter englischer Mediziner, stellte in der Schrift »Hay Fever and Paroxysmal Sneezing« (1889) fest, dass die Krankheit fast ausschließlich auf kultivierte Personen beschränkt sei und die Tendenz zum Heuschnupfen verknüpft sei mit dem intellektuellen Niveau. Das passte aus seiner Sicht auch gut zu der Tatsache, dass Männer deutlich häufiger betroffen sind als Frauen, was er den Verfechtern der Gleichberechtigung zu bedenken gab. Dass Heuschnupfen fast ausschließlich in England und den USA bekannt war, hielt er für ein Anzeichen der Überlegenheit der »englischen Rasse«. Er fabulierte sogar, dass das Niesen ein Test zur »Unterscheidung der Erwählten von der gemeinen Herde« werden könne.

Betuchte Pollenallergiker konnten ihrer Krankheit wenigstens zeitweise entfliehen, indem sie die Pollensaison in Kurorten an der See oder in den Bergen verbrachten. So entwickelte sich in manchen Regionen ein regelrechter Tourismus, wo man in »hayfever holidays« seinesgleichen in gehobenem Ambiente traf. Bei reichen Briten war unter anderem Helgoland ein beliebter Fluchtort, das ja bis 1890 britische Kronkolonie war und bis heute als »allergikerfreundliche Kommune« mit seiner pollenarmen Luft wirbt.

Eine Erhebung aus der Schweiz aus dem Jahr 1926 zeigte eine Heuschnupfen-Häufigkeit von damals nur ca. 1 %. Ganz im Ton seiner englischen Kollegen, spricht auch der Autor dieser Studie (Rehsteiner 1926) von einer Krankheit der Gebildeten, bei der »auf die ›Kopfarbeiter‹ prozentual zwanzigmal mehr Heufieberkranke entfallen als auf die Gesamtbevölkerung«. Eine Studie aus dem Jahr 1958 zeigt in der Schweiz bereits eine Prävalenz von ca. 5 %. Dieser Trend setzte sich fort mit einem Anstieg auf 9,5 % (1985) und auf ca. 14 % im Jahr 1991. Eine 2017 veröffentlichte Zusammenstellung nennt für die Schweiz eine Heuschnupfen-Prävalenz von etwa 20 % (Ballmer-Weber und Heibling 2017).

Die Rate von Heuschnupfen in der Schweiz hat sich also in knapp 100 Jahren verzwanzigfacht! Aus einer seltenen Erkrankung ist ein Leiden geworden, das jetzt etwa jeden fünften Bürger betrifft. Ähnlich ist die Situation in Deutschland, wo das Robert Koch-Institut 2017 von einem »Tsunami, der uns überrollen wird« sprach.

Abbildung 2. Anstieg der Häufigkeit (Prävalenz) von Heuschnupfen in der Schweiz, in % der Bevölkerung. Kombiniert aus verschiedenen Quellen (Rehsteiner 1926; Schnyder 1958; Wüthrich 1985; SAPALDIA 1991; Ballmer-Weber und Heibling 2017).

Entzündung und Immuntoleranz

Das Problem von Allergikern ist, dass bei ihnen Kontakt mit an sich harmlosen Stoffen eine Entzündung auslöst. Der Begriff »Entzündung« oder »Inflammation« sagt im Wesentlichen aus, dass das Immunsystem die Muskeln spielen lässt: Immunzellen werden durch einen Reiz aktiviert und locken mit Botenstoffen andere Immunzellen an, die dann in Aktion treten und angreifen. Entzündungen sind lebensnotwendig, um Krankheitserreger abzuwehren, aber sie schädigen gleichzeitig auch immer den eigenen Körper. Das Spektrum von Entzündungen reicht von potenziell tödlichen Blinddarm- oder Lungenentzündungen bis hin zur unterschwelligen Reaktion, die auch der Arzt nur anhand von Markern im Blut erkennt.

Ebenso wichtig wie Entzündungsvorgänge sind Mechanismen, die dafür sorgen, dass die angelaufenen Prozesse wieder abgestellt werden, dass sozusagen eine Ent-Entzündung stattfindet. Dabei werden Reaktionskaskaden aktiv durch Botenstoffe und Kontakte zwischen Zellen herabreguliert. Man könnte von einer Bremse sprechen, die dafür sorgt, dass harmlose Reize nicht zu einer Kettenreaktion und den damit einhergehenden Zerstörungen führen.

Die Immunologie fasst diese Vorgänge mit dem Begriff »Immuntoleranz« zusammen. Dieses Wort ist ein Schlüsselbegriff für das Verständnis von Entzündungskrankheiten und einer der inhaltlichen Schwerpunkte dieses Buches. Einflüsse des westlichen Lebensstils haben bei vielen Menschen die Immuntoleranz geschwächt. Dadurch entstehen unterschiedliche Krankheiten, denen aber ein ähnlicher Auslöser zugrunde liegt, nämlich eine erhöhte Bereitschaft zu Entzündungen. Diese Entzündungskrankheiten entwickeln sich weniger dramatisch als zum Beispiel COVID-19 und sie töten nicht direkt, aber sie beeinträchtigen die betroffenen Personen stark und sind Wegbereiter für viele andere Leiden.

Jeder kennt akute Entzündungen, wie sie durch einen Fremdkörper, etwa einen Holzsplitter verursacht werden, den man sich eingerissen hat. In der Umgebung wird die Haut rot, schwillt an und schmerzt. Was passiert im Einzelnen? Zellen des Immunsystems, die im Gewebe patrouillieren, werden durch Verletzungssignale und durch Moleküle von Bakterien, die am Splitter anhaften, alarmiert und aktiviert. Diese molekularen Gefahrsignale haben eine Schlüsselfunktion: Sofort geben die Zellen Botenstoffe ab, die andere Immunzellen aus dem umgebenden Gewebe und aus Blutgefäßen anlocken. Diese kriechen herbei, schütten einen ganzen Cocktail aggressiver Chemikalien aus und produzieren unter anderem auch freie Radikale, die die Bakterien abtöten. Weitere Zellen werden angelockt und der Prozess schaukelt sich auf. So resultiert ein Großangriff, bei dem auch viele Körperzellen sterben. Der Angriff kommt erst zum Erliegen und Reparaturmechanismen springen an, wenn der Splitter entfernt ist und die letzten Bakterien vernichtet sind.

Eine ähnliche Aktivierung des Immunsystems startet zunächst auch, wenn Immunzellen auf schwächere Reize reagieren. Solche schwach aktivierenden Ereignisse gibt es jeden Tag mehr als genug: Kontakt mit Fremdstoffen wie Pollen oder Nahrungsbestandteilen, aber auch veränderte körpereigene Substanzen oder einfach Immunzellen, die Fehlalarm auslösen. Wenn bei dieser beginnenden Aktivierung des Immunsystems allerdings starke Gefahrsignale fehlen, wie etwa Bestandteile von Krankheitserregern, kommen bremsende Antworten der Immuntoleranz zum Zuge und stoppen die Reaktion, bevor großer Schaden entsteht.

Ein optimal eingestelltes Immunsystem gibt also Gas bei starken Reizen wie etwa Krankheitserregern, tritt bei schwachen Reizen wie Pollen oder Nahrungsbestandteilen aber auf die Bremse und bringt die Reaktion zum Erlöschen. Beim gesunden Menschen versetzen deshalb nur relevante Auslöser das Immunsystem in Aufruhr. Fällt die Immunbremse bei gestörter Immuntoleranz allerdings aus, schwelen Entzündungen vor sich hin und können bei weiteren Reizen leicht aufflackern und sich zu einer akuten Entzündung entwickeln. Wo diese »stillen Entzündungen« sich abspielen bestimmt darüber, welche Krankheiten entstehen. So sind etwa bei Allergien und Darmentzündungen die Schleimhäute betroffen, bei Rheumatoider Arthritis die Gelenke, bei Typ-1-Diabetes die Bauchspeicheldrüse oder bei Multipler Sklerose das Nervensystem.

Die Werbebotschaft vieler Pharmafirmen, dass ein starkes Immunsystem der beste Weg zur Gesundheit sei, ist in dieser simplen Form also nicht richtig. Wie das Beispiel der Allergien zeigt, sind starke Immunantworten längst nicht immer positiv, viele Patienten wären froh, wenn sie wenigstens in der Pollensaison schwächere Entzündungsantworten hätten. Es kommt nicht auf ein starkes, sondern auf ein sehr gut ausgewogenes Immunsystem an. Eine funktionierende Immuntoleranz ist enorm wichtig!

Der Quantensprung der Biomedizin

Ereignisse wie die Entdeckung des Penicillins oder die Entzifferung des menschlichen Genoms sind so bedeutend, dass sie nicht nur die Medizin geprägt, sondern auch die gesamte Gesellschaft beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen. Meist unbemerkt erleben wir in der Biomedizin gegenwärtig Umwälzungen, die ebenso weitreichende Folgen haben werden.

Einerseits wurden in den 2000er-Jahren neue Techniken der DNA-Sequenzierung verfügbar und eroberten rasch den Markt. Im Vergleich zu alten Methoden kann man heute mit der 200-millionenfachen Geschwindigkeit per Hochdurchsatz-Sequenzierung Gene analysieren. Hatte die Sequenzierung des ersten menschlichen Genoms zehn Jahre gedauert und 10 000 Forschende in Atem gehalten, brauchen Automaten dafür mittlerweile weniger als einen Tag. Mit ihren neuen Techniken stürzte sich die Wissenschaft vehement auf das Mikrobiom, eine Fragestellung, die man zuvor wegen der extremen Komplexität nicht anpacken konnte. Was man fand, war atemberaubend: Die Haut, die Schleimhäute und vor allem der Darm des Menschen sind von Hunderten von Mikrobenarten dicht besiedelt. Mittlerweile beginnt man auch zu verstehen, mit welchen Molekülen einzelne Arten von Bakterien Immunantworten, den Stoffwechsel und sogar Stimmungen beeinflussen.

Andererseits hat sich in den letzten Jahrzehnten die Immunologie zu einer molekularen Wissenschaft entwickelt. Wo man früher darauf beschränkt war, Immunzellen im Mikroskop anzuschauen und zu zählen, lassen sich heute ihre Interaktionen auf molekularer Ebene exakt beschreiben und moderne Medikamente erlauben zielgenaue Eingriffe in diese Abläufe. War man früher auf die Behandlung von Symptomen beschränkt, packt man inzwischen dank der Erkenntnisse der modernen Immunologie Entzündungen direkt an der Wurzel. Blockiert man etwa gezielt bestimmte Kommunikationswege zwischen den Immunzellen, so werden Entzündungssignale abgeschaltet und das Geschehen beruhigt sich. Immunologie und Mikrobiomforschung gehen damit erstmals den Ursachen von Entzündungskrankheiten auf den Grund. Es findet ein Paradigmenwechsel statt: Wo man früher beobachtete und beschrieb, kann man heute molekulare Details ergründen und in Abläufe eingreifen.

Die neuen Techniken der Biomedizin zeigen, dass der Mensch und seine Mikroben miteinander eng verflochten sind, dass beide Partner nur zusammen gut funktionieren. Das Mikrobiom beeinflusst in vorher nie geahntem Ausmaß die Entzündungsneigung und viele andere unserer Eigenschaften. Bakterien und andere Mikroorganismen balancieren unser Immunsystem so aus, dass Entzündungsantworten gegen Nahrungsbestandteile und andere harmlose Stoffe herabreguliert werden, während gleichzeitig gefährliche Krankheitserreger attackiert werden können. Dieses Zusammenspiel funktioniert, weil der Mensch und seine Mikroben über Millionen von Jahren eine gemeinsame Evolution durchlaufen haben, von der beide Seiten profitieren.

Aufregende Perspektiven

Entzündungskrankheiten sind ein gewaltiges, aber in seiner Gesamtheit von der Gesellschaft noch kaum erfasstes Problem. Die Industrie dagegen hat ihre wirtschaftliche Bedeutung bereits seit langer Zeit verstanden. »Wenn ich alle Autoimmunstörungen zusammenfasse, (…) stellt das Feld dieser Krankheiten den größten Pharmamarkt der Welt dar. Das weltweit am besten verkaufte Medikament, der monoklonale Antikörper Humira, der sich gegen das entzündungsfördernde Zytokin TNF-α richtet und gegen ein halbes Dutzend Autoimmunerkrankungen eingesetzt wird, erzielt jährlich mehr als 15 Milliarden Dollar Umsatz«, sagt Stephane Boissel, Chef der in Frankreich ansässigen Firma TxCell. Das ist die Perspektive der Industrie. Das Präparat erzielte 2021 tatsächlich einen Umsatz von 20,69 Milliarden US-Dollar (Statista 2021). Der Markt für die gesamte Gruppe der Biologika, der modernen Mittel gegen Entzündungskrankheiten, ist jedoch viel größer. Zusammengenommen beträgt ihr jährlicher Umsatz etwa 221 Milliarden US-Dollar (Statista 2020). Die Medikamente für einen Patienten kosten dabei bis zu 20 000 Euro pro Jahr.

Da die chronischen Entzündungskrankheiten meist lebenslang behandelt werden müssen, sind die Medikamente für die Pharmafirmen, die sie entwickeln und vermarkten, eine stetig sprudelnde Quelle von Gewinnen. Aus der Perspektive des Patienten und des Steuerzahlers wäre es viel attraktiver, die durch unser modernes Leben gestörte Immunbalance dauerhaft wiederherzustellen. Eine erfolgreiche Prophylaxe bringt Gesundheit zu einem Bruchteil der Kosten, die von der Krankheit verursacht werden. Wenn es gelänge die Häufigkeit von Entzündungskrankheiten zu senken, würde es vielen Menschen besser gehen und die gestressten Gesundheitssysteme wären mit einem Schlag massiv entlastet.

Weshalb gibt es in der Öffentlichkeit trotzdem kaum ein Bewusstsein für die Entzündungskrankheiten? An mangelnder ökonomischer Bedeutung kann es nicht liegen. Eine Schwierigkeit liegt wohl darin, die verschiedenen Entzündungskrankheiten als eine Einheit zu sehen, denn trotz gemeinsamer Wurzel sind sie ja sehr unterschiedlich. Wer realisiert denn, dass Leiden wie zum Beispiel Allergien und Multiple Sklerose als gemeinsamen Nenner Entzündungen haben? Wem ist klar, dass die mehr als 100 verschiedenen Entzündungskrankheiten trotz aller Unterschiede gemeinsame Grundzüge haben? Selbst in der Medizin ist dieses Bewusstsein nicht allzu stark ausgeprägt, weil man diese Leiden erst ungefähr seit den 2000er-Jahren zusammendenkt. In den Statistiken werden die einzelnen Krankheiten jeweils für sich allein geführt, aber nicht zusammengefasst. So schaffen es selbst die Allergien, die größte Gruppe von Entzündungskrankheiten, nicht in die Liste der zehn wichtigsten Gründe für einen Arztbesuch in Deutschland (die übrigens von Rückenleiden angeführt wird). Würde man hingegen die Entzündungskrankheiten als eine Einheit verstehen, weil ihre gemeinsame Ursache eine überzogene Entzündungsbereitschaft ist, wäre ihre Bedeutung wesentlich klarer.

Auch wenn man bisher erst einzelne Facetten der Interaktion von Mikrobiom und Immunantwort versteht, wächst das Verständnis rasant, nicht zuletzt wegen der technischen Fortschritte in der Molekularbiologie, der Biomedizin und der Datenverarbeitung. Die Reichweite dieser neuen Erkenntnisse ist enorm und es wird klar, dass sich in der Medizin ein neues Tor auftut, mit neuen Chancen für Vorsorge und Heilung. Der Trend zur personalisierten Medizin eröffnet auch hier ganz neue Perspektiven. Viele Forschende haben die Zielvorstellung, Patienten aufgrund individueller Genomdaten mit einem maßgeschneiderten Mikrobiom auszustatten. Personalisierte Cocktails von kommensalen Bakterien zusammen mit weiteren Gesundheitsdienstleistungen könnten ein neues, lukratives Betätigungsfeld für die boomenden Gesundheits- und Wellnessindustrie schaffen. Darauf sollten wir aber nicht warten, sondern die gestörte Zusammenarbeit mit unseren Kommensalen durch gesunde Ernährung und Lebensweise selbst wieder verbessern!

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Wie sich unser Leben verändert hat

Der Eiserne Vorhang — Ticket zu einer Zeitreise

Die Wissenschaft hat die alarmierende Zunahme von Entzündungskrankheiten lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen. Das überrascht nicht allzu sehr, denn Unterschiede erkennt man am besten, wenn man Vergleiche anstellen kann. Kontraste springen ins Auge, aber ein kontinuierlicher Anstieg von niedrigem Niveau aus, wie bei den Entzündungskrankheiten, entgeht leicht der Aufmerksamkeit. Entzündungskrankheiten waren ja lange Zeit so selten, dass man sie nicht auf dem Schirm hatte. Sie sind außerdem nicht direkt tödlich und nicht ansteckend, sodass sie auch aus diesem Grund unter dem Radar der Mediziner blieben.

Der Anstieg der Entzündungskrankheiten zwischen 1960 und 1980 in vielen Ländern war dann aber so stark, dass er kaum noch zu übersehen war. Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel und die Teilung Europas endete, fiel auf, dass Entzündungskrankheiten in der ehemals sowjetischen Einflusssphäre längst nicht so häufig waren wie im kapitalistischen Westen. Im Osten war die wirtschaftliche Entwicklung wesentlich langsamer vorangegangen als im Westen und der Lebensstandard war dementsprechend niedriger. Dort war die Zeit sozusagen stehen geblieben. Der Eiserne Vorhang hatte die Möglichkeit einer Zeitreise zwischen den 1990er-Jahren (im Westen) und den 1960er-Jahren (im Osten) geschaffen! Vergleiche der Lebensweise in West und Ost konnten Hinweise auf die Ursachen des Anstiegs geben. Man begann also, die Lebensbedingungen in West und Ost miteinander zu vergleichen und auf ihre Relevanz für Entzündungskrankheiten abzuklopfen.

Besonders gute Bedingungen für derartige Vergleiche fanden sich in Nordeuropa: Finnland, lange Zeit ein Spielball politischer Interessen, war früher zeitweise von Russland beziehungsweise von Schweden okkupiert. Ein Teil der ehemals finnischen Halbinsel Karelien, unweit von St. Petersburg, verblieb im Verlauf des Pokers der Besatzungsmächte um die Gebietsverteilung bei der Sowjetunion und ist heute Teil Russlands. Die Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze hat dieselben Wurzeln, sodass genetisch bedingte Unterschiede im Auftreten von Krankheiten keine Rolle spielen. Auch das Klima und die Umweltbedingungen sind in beiden Teilen Kareliens vergleichbar.

Allerdings könnten die Lebensumstände in beiden Gebieten unterschiedlicher kaum sein: Während Finnland eine hoch entwickelte Infrastruktur und eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Europa hat, lebte die Bevölkerung im russischen Teil Kareliens beim Fall des Eisernen Vorhangs unter ähnlich ärmlichen Bedingungen wie in der Nachkriegszeit. Auf der skandinavischen Seite hatte die Urbanisierung rasche Fortschritte gemacht, während im russischen Teil der Region die Menschen ihren kleinbäuerlichen Lebensstil beibehielten. Während die Skandinavier ab den 1960er-Jahren Zugang zu allen Errungenschaften des modernen Lebens und der Konsumgesellschaft hatten, war auf der anderen Seite der Grenze im Sozialismus der Mangel die Norm. Kaum eine Zahl kann das besser ausdrücken als das Bruttosozialprodukt: Im Jahr 2001 betrug auf der finnischen Seite die jährliche Wirtschaftsleistung 25 130 US-Dollar pro Person, während es auf der russischen Seite 1660 US-Dollar waren, also weniger als ein Zehntel. Auch heute noch ist dort das Leben bescheidener: Die Versorgung mit Lebensmitteln erfolgt zum Teil aus dem Hausgarten, es wird selbst gekocht, man wohnt mit mehreren Generationen in bescheidenen Häusern und hält mehr Haustiere. In dieser Grenzregion treffen also das Computerzeitalter und Subsistenzwirtschaft auf engstem Raum aufeinander.

Diese Voraussetzungen in Karelien, eine genetisch ähnliche Bevölkerung mit ganz unterschiedlichen Lebensbedingungen, waren wie geschaffen für detaillierte Untersuchungen über die Ursache von Entzündungskrankheiten. Auch am Reißbrett hätte man kaum ein besseres Design für eine Studie gefunden. In Zusammenarbeit von finnischen und russischen Medizinern wurden deshalb 1989, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, Kohorten von Kindern gebildet, die man über Jahre hinweg in Bezug auf ihre Lebensweise und das Auftreten von Typ-1-Diabetes, Zöliakie, chronischen Darmentzündungen und Allergien verfolgte. Die Unterschiede, die man fand, könnten kaum drastischer sein: Finnland hatte das höchste Pro-Kopf-Vorkommen von Typ-1-Diabetes in Europa, während die entsprechende Häufigkeit im russischen Teil Kareliens nur etwa 15 % dieses Wertes betrug. Ebenso unterschied sich die Rate an Zöliakie, die durch Unverträglichkeit des Gluten-Eiweißes von Getreide bedingt wird: Hier lagen die Krankheitsraten im finnischen Teil der Region etwa fünfmal höher als im russischen Teil. Auch die Tests auf allergische Reaktionen verliefen ähnlich, indem im finnischen Gebiet drei- bis fünfmal mehr Kinder IgE-Antikörper aufwiesen, einen Marker für eine allergische Sensibilisierung (Kondrashova et al. 2012). Heuschnupfen und Erdnussallergie, die häufigsten allergischen Erkrankungen in Finnland, gab es im russischen Teil Kareliens so gut wie nicht (Rukolainen et al. 2017).

Was war der Grund für diese Unterschiede? Schützten in Russland bestimmte Bedingungen vor Entzündungskrankheiten oder bewirkten in Finnland Risikofaktoren das Auftreten dieser Leiden? Als Quelle möglicher Gefährdungen durch den westlichen Lebensstil kamen Ernährung, Hygiene, Medikamentengebrauch und viele weitere Faktoren infrage, aber man konzentrierte sich zunächst auf Infektionen. Tatsächlich zeigten die Krankheitsgeschichten der Kinder einen Zusammenhang mit Infektionen: Zum Beispiel hatten 73 % der russischen Kinder eine Infektion mit Helicobacter pylori, einem Bakterium, das meist keine Krankheiten bedingt und Entzündungsantworten herabreguliert, aber Magengeschwüre und Magenkrebs hervorrufen kann. Im Gegensatz dazu waren nur 5 % der finnischen Kinder mit dem Erreger infiziert. Ähnlich verhielt es sich mit Infektionen durch das Hepatitis-A-Virus, durchfallerregende Viren und dem Parasiten Toxoplasma gondii. Auch Infektionen mit parasitischen Würmern waren im russischen Teil wesentlich häufiger als in Finnland.

Damit lag nahe, dass entweder die Infektionen selbst einen schützenden Effekt hatten oder die Lebensbedingungen, unter denen man Infektionen erwirbt, waren verantwortlich für den Schutz. Weitere Studien wiesen auf die Wichtigkeit solcher Begleitumstände hin: Staub aus Haushalten im russischen Teil hatte eine andere Zusammensetzung von Bakterienarten, unter anderem auch einen siebenmal höheren Anteil an Bakterien, die auch in oder an Tieren leben (Kondrashova et al. 2012). Zudem zeigten Mikrobiom-Studien Unterschiede in der Zusammensetzung der Darmflora von Kleinkindern im finnischen beziehungsweise russischen Teil Kareliens. Man vermutete, dass die Darmflora der russischen Kinder einen beruhigenden Einfluss auf deren Immunsystem ausübte, sodass sie seltener Immunantworten gegen harmlose Substanzen entwickelten als die kleinen Finnen (Vatanen et al. 2016). Diese Karelien-Studie wird weiter hinten im Zusammenhang mit Typ-1-Diabetes noch einmal ausführlicher angesprochen, weil man hier erstmals Mechanismen aufzeigte, die im frühen Kindesalter zu Immuntoleranz führen und damit das Krankheitsrisiko im späteren Leben prägen.

Der Zusammenhang zwischen der Lebensweise und der Häufigkeit von Entzündungskrankheiten in der finnisch-russischen Grenzregion war ein Augenöffner für Kritiker, die den Anstieg der Erkrankungen in modernen Gesellschaften bezweifelten. Allerdings beschrieben die epidemiologischen Untersuchungen in Karelien nur Korrelationen von Krankheitshäufigkeit und Lebensweise, konnten aber keine ursächlichen Zusammenhänge herstellen. Schließlich beweist ja auch die große Dichte von Störchen in einem Gebiet mit hohen Kinderzahlen nicht, dass der Storch die Kinder bringt. Aber: Die epidemiologischen Daten lieferten den Anstoß, die Ursachen der Krankheitshäufigkeit experimentell in Tiermodellen zu untersuchen und die Zusammenhänge in molekularen Studien weiter zu vertiefen. Damit sind die Karelien-Studien entscheidend für das Verständnis der Entzündungskrankheiten. Sie zeigten, dass ein wesentlicher Faktor für deren Entstehung der westliche Lebensstil ist.

Ähnliche, wenn auch weniger stark ausgeprägte Unterschiede in der Häufigkeit von Entzündungskrankheiten zeigten sich nach der Wende auch in den Ost- beziehungsweise Westregionen des ehemals geteilten Deutschland. Auch hier hatten sich während der Teilung in zwei Staaten von 1945 bis 1989 die Gesellschaftssysteme auseinanderentwickelt und zu Unterschieden in der Lebensweise und den Konsumgewohnheiten geführt. Am deutlichsten waren die Unterschiede bei den allergischen Erkrankungen, das heißt bei Pollenallergie (= Heuschnupfen), Asthma und Neurodermitis.

Bei Personen, die vor 1960 geboren wurden (die zu Zeiten der Wende also 30 Jahre oder älter waren), unterschied sich die Häufigkeit allergischer Erkrankungen zwischen Ost- und Westdeutschen nicht signifikant. Diese Menschen hatten ihre Kindheit und Jugend unter ähnlich bescheidenen (und mikrobenreichen) Nachkriegsbedingungen verbracht und ihr Immunsystem war ähnlich programmiert worden. Bei nach 1960 Geborenen war der Trend dagegen eindeutig: Wer im sozialistischen Ostsystem aufgewachsen war, hatte deutlich seltener eine Pollenallergie oder Asthma als jemand, der seine Kindheit und Jugend im kapitalistischen Westen verbracht hatte (Krämer et al. 2014).

Offensichtlich führte also die seit den 1960er-Jahren entstehende Konsumgesellschaft des Westens zu einem höheren Risiko allergischer Erkrankungen. Wer dort geboren und aufgewachsen war, hatte im Vergleich zum ostdeutschen Durchschnittsmenschen ein höheres Krankheitsrisiko. Nach der Wiedervereinigung glich sich die Häufigkeit allergischer Erkrankungen in beiden Teilen Deutschlands langsam an. Bei nach der Wende geborenen Kindern aus Ostdeutschland, die mehr und mehr in die Konsumgesellschaft hineinwuchsen, stieg die Häufigkeit rasch an. Etwa zehn Jahre nach der Wende hatte sich der »westliche Lebensstil« auch im ehemaligen Osten so weit durchgesetzt, dass das Risiko der dann Geborenen in beiden Teilen Deutschlands gleich war (von Mutius et al. 1998).

Zwischen Überfluss und Stress: Der »westliche Lebensstil«

Was ist dieser »westliche Lebensstil«, der die Zahl der Entzündungskrankheiten ansteigen lässt? Eine allgemein gültige Definition des Begriffs gibt es nicht und eine Festlegung ist schwierig, denn man braucht ein Wort, das die typische Lebensweise von Menschen moderner, meist städtischer Gesellschaften charakterisiert. Aber gerade in hoch entwickelten Industriestaaten lebt man ja sehr unterschiedlich. Man stelle sich zum Beispiel Menschen in Großbritannien im Vergleich zu denen in Japan vor, mit ihren unterschiedlichen Essgewohnheiten oder ihrem Freizeitverhalten. Hinzu kommt, dass innerhalb einer Gesellschaft die individuellen Unterschiede gewaltig sind: Couch-Potatos und Sportfans, Vegetarierinnen und Karnivoren, Naturfreaks und Großstadtmenschen, all diese ganz unterschiedlichen Charaktere verwirklichen einen westlichen Lebensstil. Wo aber ist der gemeinsame Nenner, der zwar nicht auf jede einzelne Person, aber doch auf den größten Teil der Bevölkerung von Industrieländern zutrifft? Worauf kommt es an? Zwangsläufig bleibt der Begriff »westlicher Lebensstil« also eher vage.