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Ernste und lustige Kurzgeschichten über die verschwiegenen Leiden der Scheidungskinder; eine verdrängte Wirklichkeit.
Kinderschutz ist eine große bunte Torte, von der viele ein großes süßes Stück abschneiden, aber nicht um es den Kindern, sondern sich selbst in den Mund zu stecken.
Warum fehlt uns die Erinnerung an unsere ersten Jahre? Verdrängen wir sie?
„Kinder sind (nur) Kinder und bedürfen eines besonderen Schutzes, eines besonderen Schutzes im Namen des Kindeswohls.“
Oder sind Erwachsene unfähig, ihre Unzulänglichkeit, Kinder in ihrer schwersten Zeit, wenn sie durch die Trennung von Mama und Papa ihr persönliches Hiroshima erleben, alleinzulassen, zu ertragen?
Wie sollen Kinder Familienrechtsverfahren verstehen, mit ihnen fertigwerden, wenn nicht einmal wir, die wir diese Verfahren führen, sie verstehen und mit ihnen fertigwerden?
Wir verpflichten Kinder, wie Erwachsene zu leiden, aber wir räumen ihnen keine Rechte ein, wie Erwachsene damit fertigzuwerden.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Das Kindeswohl ist nur ein Gleichnis
das Unzulängliche, hier wird`s Ereignis
das Unbeschreibliche, hier ist`s getan
das große Schweigen schützet den Wahn
„Wir verstehen uns nicht mehr, aber dich werden wir immer lieben“, haben sie gesagt.
Dann zog Papa aus. Er nahm die bunten Bücher, die wir so oft gemeinsam anschauten, mit. Ich suchte die Bilder aus und er erklärte sie.
Am meisten fehlen mir seine großen Schuhe im Vorzimmer. Die mit den lustigen, roten Schuhbändern. Es waren Zauberschuhe, sagte er. Sie würden ihn, egal wohin er mit ihnen ginge, immer auf einen Spielplatz führen.
Auf den Spielplatz kommen wir nun nur mehr selten. Mama und ich. Sie sagt, ich wäre ja schon groß und sie müsse nun auch Papas Aufgaben machen. Ich weiß noch immer nicht, warum Papa auszog. Wenn er nicht mehr mit Mama in einem Zimmer wohnen will, hätte er ja zu mir ins Kinderzimmer ziehen können. Wir schliefen oft in meinem Bett. Zuerst lasen wir Winneh Pooh, dann kitzelte er die Traumzwerge unter der Tuchent bis sie zu mir flüchteten. Ich vermisse seinen Geruch. Seine Wärme.
Mama und Papa stritten zum Schluss so viel. Ich hatte Angst. Wie gern hätte ich meinen Namen gehört. Oder Bärli, Häschen, ja sogar Zwerg. Sie sprachen aber immer nur vom Kind. Von Egoismus, Geld, Schulden und Kind. Laut. Zu laut. Als ob ich weit weg wäre. Dabei saß ich in der Ecke. Sie hätten mich berühren können. In den Arm nehmen können. Aber sie sahen mich nicht einmal.
Gestern zog Mamas neuer Freund ein. Sie stellten das Wohnzimmer um. Sie nahmen auch die Bilder von den Wänden, die ich mit Papa gemalt hatte. Wir werden neue, schönere malen, sagten sie. Auch dass ich ja jetzt schon zu groß für so was sei.
Dabei will ich gar nicht groß werden. Großwerden tut so weh.
Meinen Winneh-Pooh-Klositz nahmen sie auch weg. Wie Papa gesagt hat, ging alles ganz leicht. Ich musste mich nur an den beiden Griffen festhalten. Die Klobrille der Erwachsenen ist so kalt.
Als ich klein war, durfte ich immer ins Bett zu Mama und Papa. Der Neue will das nicht mehr.
Groß werden tut so weh.
Sind Erwachsene deshalb so komisch?
Es gab eine Zeit, da hatte ich ein Zimmer, einen Teddy, eine Großmutter. Und einen Namen. Ich hatte ein Leben.
Wann das war, weiß ich nicht mehr. Mir wurde die Zeit geraubt.
Ich weiß nur mehr, wie alles begann. Es war ein ganz normaler Tag. Ich war aufgestanden und zu Großmutter in die Küche gegangen, wo mein Frühstück wartete. Es war mein Frühstück, mit dem Kipferl, das ich mag und der heißen Schokolade, wie ich sie mag. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war. Mir war zum Lied, das ich gestern erfand, der Schluss eingefallen. Ich wollte es mit Großmutter singen und dazu tanzen. Ich wollte nur schnell aufs Klo gehen, da schlugen sie gegen die Tür. Ich zuckte zusammen. Als Großmutter aufmachte, stürmten Leute in die Wohnung. Einer stellte sich zwischen Großmutter und mich, ein anderer packte mich und schrie: „Zugriff! Ich hab es.“
Wie es weiter ging, verschwimmt mir immer mehr. Oft versuche ich, mich daran zu erinnern. Aber es ist eben der Tag, an dem mir die Zeit geraubt wurden: das Gestern, das Heute und das Morgen.
Ich weiß noch, dass ich nur eine Jacke überziehen durfte und von den Leuten aus der Wohnung gebracht wurde. Großmutter durfte mir nur mein Liederbuch mitgeben. Meinen Teddy rissen sie ihr aus den Händen und schmissen ihn auf den Boden.
Vor dem Haus war ich plötzlich allein mit einem Mann. Er drängte mich in ein Auto und sagte: „Du kannst nicht flüchten. Hinten gehen die Türen nicht auf.“
Ich drehte mich noch einmal um und sah kurz mein Haus, ich sah auch Großmutter davor, dann bogen wir ab.
Wie lange die Fahrt dauerte weiß ich nicht mehr. Sie dauerte lange. Sehr lange. Einmal sagte der Mann: „Jetzt sind wir in Deutschland.“ Aber danach dauerte es immer noch sehr lange.
Wir mussten oft tanken. Jedes Mal nach dem Tanken fuhr der Mann auf einen abgelegenen Platz, parkte und holte mich zu sich nach vorne. Er wollte wissen, ob ich traurig sei. Er sagte, er sei gut zu mir und wolle mir helfen. Er würde mich trösten. Er begann mich zuerst zu streicheln. Großmutter streichelte nie meine Beine. Schon gar nicht so weit oben. Dann drückte er mich an sich und seinen Mund auf meinen. Mit der Zunge wollte er in meinen Mund. Ich begann zu weinen, zu schreien, da hörte er auf. Er stank. Er hatte schmutzige Hände, seine Fingernägel waren schwarz. Er setzte mich wieder nach hinten und fuhr weiter.
Ich versuchte zu singen. Großmutter sagte, singen hilft, wenn man traurig ist. Aber es half nicht. Oft brach ich mitten im Lied ab. Ich wollte auch mein neues Lied singen. Von dem ich Großmutter den Schluss vorsingen wollte, aber ich habe ihn vergessen.
Schlimm war, wenn der Mann sagte: „Jetzt ist der Tank bald leer. Wir müssen wieder tanken.“
Erst als ich mich nass machte, hörte er mit dem Trösten auf.
Wo ich dann ankam, weiß ich nicht mehr. Das Haus sah wie eine verhexte Geisterburg aus. Mit Großmutter zeichnete ich oft Fantasiesachen. Früher lachte ich immer über verhexte Geisterburgen. Drinnen roch es auch komisch. Die Leute waren alle komisch. Niemand sprach mich mit meinem Namen an. Ich war die Abgenommene, die Neue, das Kind. Aber ich hatte keinen Namen mehr. Ich war die mit der nassen Hose.
Ich bekam Tee und Brot. Das Brot war alt, der Aufstrich ekelig und der Tee schal.
Dann schlief ich nach der langen Fahrt sofort ein. Ich weiß nicht mehr, wo.
Ab hier verschwimmen mir die Erinnerungen. Ich weiß noch, was geschah, aber nicht mehr, wann es geschah.
Im ersten Haus, in das sie mich steckten, waren auch andere Kinder. Später lernte ich, überall, wohin sie mich brachten, waren Kinder. Wir sind Kinder, die niemand will. Die ins Heim kommen.
Heim bedeutet, dass Kinder, die sich nicht leiden können, zusammenwohnen müssen und von Leuten, die sie auch nicht leiden können, beaufsichtigt werden. Eigentlich kann niemand niemanden leiden. Nur manchmal finden sich zwei Kinder, die in ihrer Not versuchen, sich zu zweit gegen die anderen zu wehren. Zu zweit. Aber nie gemeinsam.
Niemand hat ein Zimmer. Das Klogehen ist fürchterlich. Besonders in der Früh. Waschen ist auch anders. Beim Baden sind Buben schon schauen gekommen. Als ich mich beim ersten Mal beschwerte, sagten sie: „Die schauen dir schon nichts weg. Das sind jetzt deine Brüder.“ Weil aber die Buben trotzdem bestraft wurden, rächten sie sich an mir. Seither dusche ich schnell und nur mehr, wenn die Buben mit anderem beschäftigt sind.
So wie Duschen, musste ich auch alles andere neu lernen.
In der verhexten Geisterburg bekamen wir täglich Unterricht. Ich saß zwar mit am Tisch. Aber ich hörte nicht zu. Ich dachte an Großmutter und was ich jetzt mit ihr machen würde.
Ich konnte keine Frage beantworten. Ich wollte auch nicht.
Daher musste ich mit einer Frau sprechen, die mich zuerst untersuchte. Sie schaute, ob ich mich bewegen könne und schlug dann mit einem Hammer auf mich ein. Sie strich mit dem Hammer auch über meine Fußsohlen und Arme und Beine. Mich erinnerte das an die Autofahrt. Dann fragte sie mich, was ich früher gemacht hätte. Als ich ihr sagte, ich hätte Lieder erfunden, sagte sie nur: „Ja, ja“