Die Krankheitsermittler - Jürgen Schäfer - E-Book

Die Krankheitsermittler E-Book

Jürgen Schäfer

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Viele Menschen leiden an "unerkannten" Krankheiten. Zum Teil handelt es sich dabei tatsächlich um "seltene" Erkrankungen, zum Teil wird die wirkliche Ursache aber auch einfach nicht erkannt. Nicht selten werden die Beschwerden dieser Patienten dann als psychisch bedingt abgetan. Um diesen Patienten eine Anlaufstelle zu bieten sind spezielle Diagnostik-Zentren notwendig, - solche wie das von Prof. Jürgen Schäfer an der Universitätsklinik Marburg gegründete "Zentrum für unerkannte Krankheiten". Dieses ist das einzige seiner Art in Deutschland. Jürgen Schäfer, der 2010 zum besten Medizinprofessor (Ars legendi) und 2013 zum Arzt des Jahres (Pulsus Award) gewählt wurde, leitet ein Team hochqualifizierter Spezialisten, die mit den modernsten Diagnosemethoden einer modernen Universitätsklinik gemeinsam rätselhafte Erkrankungen diagnostizieren. In "Der Krankheitsermittler" schildert Schäfer seine detektivische Arbeit am Beispiel seiner spannendsten Fälle.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 294

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jürgen Schäfer

Die Krankheitsermittler

Wie wir Patienten mit mysteriösen Krankheiten helfen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Viele Menschen leiden an »unerkannten« Krankheiten. Zum Teil handelt es sich dabei tatsächlich um »seltene« Erkrankungen, zum Teil wird die wirkliche Ursache aber auch einfach nicht erkannt. Nicht selten werden die Beschwerden dieser Patienten dann als psychisch bedingt abgetan. Um diesen Patienten eine Anlaufstelle zu bieten sind spezielle Diagnostik-Zentren notwendig - solche wie das von Prof. Jürgen Schäfer an der Universitätsklinik Marburg gegründete »Zentrum für unerkannte Krankheiten«. Dieses ist das einzige seiner Art in Deutschland.

Inhaltsübersicht

VorwortEinleitungBiss mit FolgenMedizin – oftmals wie ein KrimiBegegnung im WaldDie Zeichen deutenKonkurrenz aus dem NetzBewegung hilft nicht immerVerzweiflungEine neue alte SpurLabor gegen PatientinAm Essen liegt es nichtUrsachenforschungWohin geht nur all das KaliumEin Fall für die ToxikologieHeiße SpurModelmaßeMaschine statt MenschDer etwas andere UrlaubDas elfenhafte KindDiagnoseunterstützungsmaschinenAußer AtemEs ist nie zu spätDer perfekte CappuccinoErfolg stellt sich einKodierer statt ÄrzteKräutertee und unsympathische ÄrztePlötzlich schizophrenPartyopferSchwere Zeiten für KrankenhäuserWann gilt eine Krankheit als selten?Weiterbildung lohnt sichDie Wurzel des ÜbelsGefährliche EindringlingeTeamarbeit hilftHochmut kommt vor dem FallBlutfarbenKein Haus wie die anderenDie Nadel im HeuhaufenBauchschmerzen kommen und gehenDie Krankheit, die schon die Römer kanntenVergiftung im BadSchwere GeburtMeistens ist es ein Pferd, nur selten ein ZebraWas lange währt …Im falschen FilmUmzugsbeschwerdenAbschied und NeuanfangEin klassischer DiagnostikerIn besten HändenKaiser ohne KleiderBurn-out oder Burn-inVergebliche MüheDiskretion und wenig WartezeitSpurensucheBöses ErwachenVom Straßenköter zum SchoßhundDas Gewissen schmerztVertraute ÖrtchenDiäten und DiagnosenLetzte Hoffnung MarburgFalsche FreundeNiere auf WanderschaftStigma PsychoNiere auf WanderschaftDie Macht der MedienBlind, taub und herzschwach – warum nurUnglaublich, aber wahrWichtige Hinweise zum SchlussDank
[home]

Vorwort

Es ist faszinierend zu beobachten, welch eine Dynamik manch noch so kleines Projekt entwickeln kann. Manchmal bedarf es nur einer Idee, um einiges zu bewirken. Dass so etwas immer wieder möglich ist, das möge auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, motivieren, zu Ihren Ideen zu stehen, auch wenn diese von einigen anfangs völlig durchgeknallt angesehen werden. So wie in meinem Fall.

Bei mir begann alles mit einem kleinen, freiwilligen Seminar für Medizinstudenten. Als Medizinprofessor begann ich im Jahre 2008 ein Seminar mit dem Titel »Dr. House revisited – oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt?« anzubieten. Mein Ziel war, unsere Studentinnen und Studenten in ein ganz besonderes Seminar zu locken. In ein Seminar, bei dem wir extrem seltene und komplexe Krankheiten auf unterhaltsame Art und Weise detailliert besprechen. Die medizinisch-fachlichen Themen sind dabei zum Teil so selten, dass man objektiv nur einen geringen Nutzen für die anstehenden Examina erwarten durfte. Medizin-didaktisch führt dieses Seminar aber in die Denkstrukturen eines (mehr oder weniger) erfahrenen, altgedienten Klinikers ein, zeigte an den Beispielen von Dr. House, wie wir in Marburg konkret vorgegangen wären und wie wir die Diagnose schneller und für die Patienten in aller Regel schonender stellen könnten.

Insofern bietet dieses Seminar weit mehr an, es dreht sich um Diagnosefindungsstrategien, die wir detailliert besprechen. Als Lehrer freut es mich ganz besonders, dass immer wieder mal ehemalige Seminarteilnehmer anrufen, die jetzt bereits als »fertige« Ärzte tätig sind, und freudig von aufgeklärten, extrem seltenen Erkrankungsfällen berichten, die sie nur dank unseres kleinen Dr.-House-Seminars lösen konnten (was so ja ganz bestimmt nicht stimmt, das hätten sie gewiss auch so gelöst, stolz macht es mich aber trotzdem).

Die medizinischen Fälle der TV-Serie sind in der Fachliteratur oft nur Fußnoten und würden beim Examen wohl kaum abgefragt werden. Dennoch kamen die Studentinnen und Studenten mit großer Begeisterung und lernten alles über Zinkvergiftungen, Kawasaki-Syndrom, Zystizerkose durch Schweinebandwurm und alles andere mögliche Gewürm. Es war die Begeisterung für ein Seminar, bei dem man mit Infotainment Dinge lernt, die man vielleicht nur bei einem einzigen Patienten in seiner beruflichen Laufbahn anwenden muss, für den wird es dann aber das ganze Leben ändern.

Dabei war ich in Deutschland sicherlich nicht der Einzige, der die Idee hatte, mit Dr. House als Türöffner unsere Studenten in den Hörsaal zu locken und damit die Lehre zu beleben. Doch offenbar war ich der Einzige, der das Copyright sehr ernst nimmt und daher vorab bei den Rechteinhabern um die Nutzungsfreigabe der »Dr. House«-Folgen nachfragte, die mir dankenswerterweise sowohl von Universal Deutschland als auch von RTL gewährt wurden. Es war aufgrund dieser Anfrage bei RTL, dass eine Reporterin vom Focus aufmerksam wurde und einen sehr gut recherchierten Bericht rund um Dr. House schrieb. Letztendlich führte der Bericht zu einer regelrechten Medienlawine, und wir hatten stellenweise mehr Journalisten in unserem Seminar als Studierende.

Nachdem ich dann selbst im angesehenen Deutschen Ärzteblatt den etwas fragwürdigen Titel »deutscher Dr. House« zugesprochen bekam, kam es dazu, dass sich immer mehr verzweifelte Patienten mit der Bitte um Hilfe an mich wandten. Einigen Patienten konnten wir – und ich betone immer wieder »wir«, weil ich das in der Regel nie alleine schaffe, sondern unser ganzes Team – auch sehr gut helfen, was dann aber dazu führte, dass ich nur noch mehr Anfragen erhielt. Die Auszeichnung mit dem »Ars legendi«-Preis als bester Hochschullehrer Deutschlands im Jahre 2010 und die Verleihung des »Pulsus Awards« als bester Arzt des Jahres 2013 führten dazu, dass sich so viele Verzweifelte an uns wandten, dass ich nicht mehr ein noch aus wusste.

Waren es anfänglich zwei bis drei Patienten die Woche gewesen, so waren es jetzt plötzlich fünfzig Anrufer pro Tag, die sich Hilfe erhofften. Stellenweise brach unser Telefonnetz zusammen, und die Post musste mit einem Einkaufswagen abgeholt werden. Es wurde einfach alles zu viel, es war und ist immer noch unmöglich, all dies zu schaffen und den Hilfesuchenden nur annähernd gerecht zu werden.

In dieser Situation kam mir dann unsere Geschäftsführung zu Hilfe, und wir eröffneten in Windeseile ein spezielles »Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen« (ZusE) an unserem Universitätsklinikum.

Fortan war ich nicht mehr alleine, sondern ein ganzer Mitarbeiterstab ist heute damit beschäftigt, die unzähligen Anfragen, die uns täglich erreichen, nach bestem Wissen und Gewissen zu bearbeiten. So unterstützen mich neben dem Sekretariat und der Projektplanungsgruppe noch zehn Fachärzte aus unterschiedlichen Schwerpunkten, mehrere Assistenzärztinnen sowie ein ZusE-Forschungslabor, in dem wir »unmet needs« bearbeiten, um so doch noch Lösungen für scheinbar unlösbare Probleme zu finden.

Dieses neugegründete Zentrum wurde von unserer Geschäftsführung in einer Zeit ins Leben gerufen, in der es um die Finanzierung der Universitätsmedizin alles andere als rosig bestellt ist. Wir haben dies auch nicht ganz freiwillig getan, letztendlich wurden wir durch die Not von Hunderten, ja Tausenden Patienten zu diesem Schritt getrieben. Dass solche Zentren wie das unsere in Zukunft aber auch in allen anderen Universitätskliniken eine Heimat finden, sind wir meines Erachtens den Patienten schuldig. Marburg allein kann dieses Problem trotz allen Engagements und aller Unterstützung nicht meistern, hier ist die Gesundheitspolitik gefordert. Beeindruckend ist die Tatsache, dass eine Fernsehserie aus Hollywood die Strukturen unserer altehrwürdigen, fast 500 Jahre alten Universitätsklinik grundlegend verändert hat. Wer hätte so etwas jemals für möglich gehalten?

Doch trotz allen Engagements, auch wir in Marburg sind nur ganz normale Ärzte. Wir sind nicht besser als andere, und wir lösen nicht alle Fälle. Aber wir versprechen, uns sehr viel Mühe zu geben und unvoreingenommen zu versuchen, Probleme zu lösen.

Einige der spannendsten Fälle aus den vergangenen Jahren ärztlicher Praxis habe ich hier zusammengefasst. Um die Vertraulichkeit zu wahren, haben wir Name, Alter, Geschlecht, Beruf und Begleitumstände der Patienten verändert.

Dieses Buch möchte erreichen, dass anhand der hier geschilderten Fälle vergleichbare Schicksale verhindert werden können. Es soll auf unterhaltsame Art und Weise für ungewöhnliche Krankheiten sensibilisieren, von der Borreliose bis zur Kobaltvergiftung.

[home]

Einleitung

Das Johannesevangelium beginnt mit dem Satz »Im Anfang war das Wort«. Und jedem Medizinlehrbuch sollte vorangestellt werden: »Am Anfang steht die korrekte Diagnose.« Dabei ist das Diagnostizieren meist ein durchaus dynamischer Prozess. Von einer ersten Auffassung her abgeleitet, wird zunächst eine Arbeitsdiagnose als Verdachtsdiagnose gestellt. Das weitere Bemühen der Diagnostiker ist es dann, durch weitere Befunde diese Arbeitsdiagnose zu bestätigen oder zu widerlegen. Dieser Prozess muss ergebnisoffen sein. Eine Arbeitsdiagnose kann und muss man ändern, um am Schluss eine korrekte und belastbare Abschlussdiagnose zu erhalten. Diese entspricht dann der Entlassdiagnose und sollte immer alle Befunde in sich vereinen können. Wenn einzelne Befunde nicht mit der Diagnose in Einklang gebracht werden können, dann sollte dies auch so vermerkt werden. Es kann sein, dass durch neuere Erkenntnisse und Möglichkeiten diese Hinweise wichtig werden und die Diagnose erneut verändern.

Überhaupt haben wir heutzutage diagnostische Möglichkeiten, von denen wir vor wenigen Jahren so nie zu träumen gewagt hätten. Und diese Möglichkeiten reichen von einer verbesserten Bildgebung über bessere Laborverfahren bis hin zu besseren EDV-Systemen und -Programmen.

Der Ultraschall gibt uns Einblicke in ungeahnter Bildqualität, zeigt Funktionen und Blutflüsse in Echtzeit und kann Strukturen dreidimensional darstellen. Beim Röntgen sowie mit modernen Computertomographie-(CT-)Geräten können wir mit einem Bruchteil der früher üblichen Strahlenbelastung Strukturen nachweisen, die im Millimeterbereich zur Darstellung kommen. In Kombination mit bestimmten Tracertechnologien können wir heute sogar Stoffwechselaktivitäten räumlich zuordnen. Mit der Magnetresonanztomographie (MRT) verfügen wir über strahlungsfreie Geräte, die weitreichende Informationen zusätzlich zu den röntgenologischen Verfahren liefern und uns – zum Beispiel bei der Fragestellung Myokarditis – weiterführende invasive Verfahren ersparen können.

Aber auch im Laborbereich sind in den letzten Jahren geradezu revolutionäre Techniken entwickelt worden, die unser diagnostisches Vorgehen in den kommenden Jahren grundlegend ändern werden. Wir können heute messen, was noch vor wenigen Jahren im Grundrauschen der Assays lag. In unserem ZusE-Labor, das wir wie ein kriminaltechnisches Labor zur Lösung komplexer Fälle vorhalten, sind wir in der Lage, in Stuhl-, Urin- und Blutproben nach Parasiten, Würmern, Bakterien und Viren zu suchen, deren Namen ich zum Teil noch nicht einmal gehört habe. Durch massenspektrometrische Verfahren können wir Spurenelemente, Schwermetalle oder Schadstoffe nachweisen, die früher ein Vielfaches an Probenmaterial, Zeit und Geld benötigt hätten. Es werden hochqualitative, spezifische Antikörper entwickelt, dank deren Hilfe völlig neuartige Krankheitsbilder entdeckt werden können, auch Krankheiten, bei denen wir noch vor wenigen Jahren geglaubt haben, dass es rein psychiatrische seien. Hier ist Demut angebracht, und wir müssen uns immer wieder eingestehen, dass es eben viele Dinge gibt, bei denen wir noch weit davon entfernt sind, diese zu verstehen, geschweige denn zu heilen.

[home]

Biss mit Folgen

Der Morgen dämmerte, als Sauerle auf die Kreuzung der beiden Waldwege zulief. Die Luft war kühl, hinter den Bäumen schimmerte es hellgrau. Er passierte eine kleine Holzhütte, neben dem Eingang lagen Weinflaschen und Zigarettenstummel auf dem Boden. An einem Ast hing eine alte Daunenjacke.

Bis zum Waldausgang waren es kaum noch fünfhundert Meter. Dahinter begann der Feldweg, und er war schon fast zu Hause. Außer seinem Keuchen und dem Geräusch seiner Sportschuhe, die auf den lehmigen Boden traten, hörte er nichts.

Doch. Tiefer im Wald krachte ein Zweig durchs Geäst hindurch zu Boden. Vögel flatterten auf und zwitscherten. Und hinten, ganz in der Ferne, war noch etwas, kaum hörbar. Ein Klappen, das dem Rhythmus seiner eigenen Schritte glich. Jemand folgte ihm.

Sauerle wurde automatisch schneller. Panik füllte ihn plötzlich ganz aus, dumpf hämmerte der Atem in seinem Kopf. Er wagte nicht, sich umzudrehen oder anzuhalten. Im Laufen langte er in seine Hosentasche, zog den Schlüsselbund heraus, ballte die Faust und ließ den Haustürschlüssel wie einen Dorn zwischen Zeige- und Mittelfinger hervorstechen.

Nach ein paar Schritten war der Anfall vorüber, und er hatte sich wieder unter Kontrolle. Er lief bewusst gleichmäßig, langsamer und ließ den Schlüssel zurück in die Tasche gleiten. Wie idiotisch. Was sollte schon sein. Er stoppte, lief einen Moment lang auf der Stelle. Atmete tief ein und aus und ließ die Arme locker von den Schultern baumeln. Er hörte, wie die Schritte hinter ihm näher kamen. Er schüttelte seine Beine aus, sah auf den weißen Strich an einem Baumstamm, der den Weg markierte. Dann kam der Schmerz.

Er krümmte sich unwillkürlich zu Boden und fasste sich an den Rücken, aber da war nichts. Der Schmerz kam von innen. Er stöhnte in die morgendliche Stille, ließ sich auf den Waldweg fallen und drehte sich auf den Rücken.

Der Boden war kalt. Sand klebte an seinen vom Schweiß feuchten Knien. Er versuchte, sich flach hinzulegen, doch der Schmerz ließ nicht nach. Eine Kapuze war über ihm, ein Gesicht. In den Baumwipfeln sah er einzelne Knospen, hellgrün. Sie würden wahrscheinlich erfrieren. Es war Ende Februar.

Medizin – oftmals wie ein Krimi

Ein medizinischer Fall ist wie ein Verbrechen, eine ärztliche Diagnose wie das Ergebnis einer Ermittlung. Die Beschwerden und Symptome eines Patienten sind die Indizien, denen ein Arzt nachgehen muss, um den Fall aufzuklären. Nur geht es eben nicht darum, einen Täter zu finden, sondern einen Erreger, ein Virus, eine Krankheit oder ein Syndrom.

Bei Kriminalfällen kommt es nicht selten vor, dass die Ermittler dem Täter bis auf eine Handbreit nahe kommen, dann die Spur aber plötzlich nicht mehr weiterverfolgen, weil etwas, das sie nicht weiter in Frage stellen, dagegen spricht.

Es kann sein, dass die Beschreibung eines Täters in den Akten verschwindet, weil ein Zeuge als wenig glaubwürdig eingestuft wird, und später übersieht man, diese Beschreibung mit anderen Hinweisen zu verknüpfen. Es kommt auch vor, dass eine Spur aus den falschen Gründen kategorisch ausgeschlossen wird. Dann wird viel Energie darauf verwendet, in die völlig falsche Richtung zu ermitteln.

Wichtige Hinweise können übersehen werden, und manchmal wird deshalb der Falsche verdächtigt. Ein guter Ermittler darf sich weder zu schnell festlegen noch zu früh aufgeben. Er sollte sich wie ein Terrier in den Fall verbeißen und erst lockerlassen, wenn er gelöst ist.

Das Gleiche gilt für einen Arzt. Die Medizin ist kein Evangelium der Götter in Weiß, das mit den Worten beginnt: »Am Anfang war die korrekte Diagnose.« Im Gegenteil. Jede Diagnose ist ein dynamischer Prozess. Zuerst kommt der Verdacht, also die Arbeitsdiagnose, dann geht es darum, diese Arbeitsdiagnose durch weitere Befunde zu bestätigen. Oder eben zu widerlegen.

Der Prozess der Diagnosefindung muss ergebnisoffen sein. Die erste Diagnose darf nie wie in Stein gemeißelt dastehen. Hält sie weiteren Befunden nicht stand, dann muss sie eben geändert werden. Nur so erhält man am Ende eine belastbare Abschlussdiagnose.

Ein guter Arzt gibt nicht auf, bis er eine belastbare Diagnose erarbeitet hat. Denn nur mit der richtigen Diagnose kann er die richtige Therapie durchführen. Allerdings muss auch dies mit Augenmaß erfolgen – denn eine allzu aggressive Diagnostik bis hin zur »Ganzkörperstanze« kann den Patienten auch gefährden – sowohl physisch als auch psychisch. Daher wird man nie umhinkommen, gelegentlich auch Therapien »ex juvantibus« durchzuführen – hier wird dann auf Verdacht behandelt, und der Therapieerfolg bestätigt oder widerlegt die Verdachtsdiagnose. Die Regel sollte dies allerdings nicht sein. Leider passiert es immer wieder, dass Mediziner ohne eine korrekte Diagnose irgendeine Behandlung anordnen. Gute Ärzte wissen aber: Vor die Therapie hat der liebe Gott die richtige Diagnose gesetzt. Am wichtigsten aber: Der Patient steht stets im Mittelpunkt.

 

Manche der Puzzles, die man als »medizinischer Ermittler« zu lösen hat, sind ganz einfach. Sie haben wenige, große Teile, ein simples Bild und können bereits von Vorschulkindern zusammengesetzt werden.

Die Symptome »Brustschmerz«, »Todesangst«, »Schweißausbruch« und »kalkweißes Gesicht« wären so ein einfaches Puzzle. In diesem Fall könnte bereits unser Klinikpförtner die korrekte Arbeitsdiagnose stellen: akuter Herzinfarkt.

Ob es am Ende doch kein Infarkt, sondern ein Blutgerinnsel in der Lunge ist, eine Herzmuskelentzündung oder ein Riss in der Hauptschlagader, muss natürlich erst mit den entsprechenden Untersuchungen gezeigt werden. Bei der Arbeitsdiagnose gibt es in diesem Fall jedoch keinen großen Spielraum – aber auch wenig Zeit. Hier muss es rasch gehen oder man/frau verliert.

Andere Puzzles haben viele kleine Teile und erfordern schon etwas Übung. Die Symptome »ständige Müdigkeit«, »Depression«, »Antriebslosigkeit«, »Lustlosigkeit«, »Schwindelanfälle« und »ständig Appetit auf salziges Essen« könnten selbst unsere sehr fitten Mitarbeiter der Klinikpforte nicht ganz so einfach einordnen. Vor allem, wenn der Patient dann noch braungebrannt ist und so fidel aussieht, als sei er ständig mit dem Segelboot unterwegs, was so gar nicht zu »Müdigkeit« und »Depression« zu passen scheint.

Unsere Studenten in den höheren klinischen Semestern könnten die Diagnose jedoch höchstwahrscheinlich schnell stellen: Morbus Addison. Bei dieser Krankheit produzieren die Nebennieren keine Hormone mehr. Die Krankheit ist zwar sehr selten – sie betrifft nur vier von 10000 Menschen –, aber die Kombination der Symptome ist so eindeutig, dass kaum eine Alternative in Frage kommt. Und es ist einfach unglaublich wichtig, dass man dieses Krankheitsbild erkennt, um dem Patienten ein normales Leben zurückgeben zu können.

Die schwersten Puzzles haben nicht nur viele kleine, ähnliche Teile, man weiß auch vorher nicht, wie viele davon man eigentlich braucht. Manchmal kann man die einzelnen Teile erst nach mehrmaligem Drehen, Wenden und Ausprobieren zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen, und Teile, die man gleich zu Anfang schon weggelegt hatte, stellen sich erst im Laufe des Prozesses als unverzichtbar heraus.

So ein Puzzle hat man zum Beispiel vor sich, wenn ein Patient depressiv ist und gleichzeitig über Bauchschmerzen klagt, die er nicht genau lokalisieren kann. Hier gibt es sofort Unklarheiten.

Ist die Depression eine Folge der ständigen Bauchschmerzen? Oder leidet der Mann unter einer anderen Krankheit, die sowohl zu Depressionen als auch zu Bauchschmerzen führt? Hier sind weitere Informationen notwendig. Hängen die Bauchschmerzen zum Beispiel mit der Nahrungsaufnahme zusammen? Gibt es für die Depressionen einen Auslöser wie die Trennung von einem Partner? Mit einzelnen Untersuchungen werden dann die verschiedenen Puzzleteile durchprobiert: Ultraschall vom Bauch, Magen-Darm-Spiegelung, umfassende Blutuntersuchungen etc.

Beim Puzzlespiel gibt es allerdings einen entscheidenden Vorteil: Passen die Teile partout nicht zusammen, wirft man sie einfach entnervt zurück in den Karton und beschäftigt sich mit etwas anderem. Für einen kranken Menschen kann es jedoch fatale Folgen haben, wenn man die Ursache nicht findet.

Falsche, vorschnelle oder scheinbar eindeutige Diagnosen können sehr gefährlich sein und Patienten manchmal jahre- oder sogar lebenslang quälen. Eine falsche Diagnose ist wie eine falsche Verdächtigung: Sie kann ratlos machen oder verzweifelt, wütend, hilflos, einsam. Oder buchstäblich wahnsinnig. Beziehungen können an nicht entdeckten Krankheiten zerbrechen, und nicht wenige Menschen verlieren aufgrund von nicht richtig diagnostizierten Beschwerden ihre Arbeit und manchmal auch ihren Lebensmut und im Extremfall gar ihr Leben.

Deshalb sind ärztliche Ermittlungen nicht weniger brisant als polizeiliche. Denn es geht tatsächlich um Leben oder Tod.

Begegnung im Wald

Auch Hans Sauerle hätte seinen Jogginglauf beinahe mit dem Leben bezahlt.

Er krümmte sich auf dem Waldboden und ächzte. Er spürte eine Hand auf der Schulter, eine junge Frau sah ihn erschrocken an. In einer Hand hielt sie ihr Telefon.

»Hallo? Brauchen Sie Hilfe?«, fragte sie.

Sauerle konnte sich kaum bewegen. Er mochte es nicht, bedürftig auszusehen und von anderen abhängig zu sein, deshalb antwortete er nicht und konzentrierte sich stattdessen auf seine Atmung.

»Brauchen Sie Hilfe?«, wiederholte die Frau.

Er schüttelte den Kopf, so energisch es ging. Die Frau tippte auf ihr Telefon.

»Können Sie aufstehen? Soll ich einen Arzt rufen?«, rief sie noch einmal. Sie hatte die Kapuze ihres Jogginganzugs zurückgezogen, darunter kam ein dunkler Zopf zum Vorschein.

Sauerle versuchte aufzustehen, zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm. Die Frau war beinahe ebenso groß wie er selbst.

»Nein«, sagte er schließlich, »nein danke. Ist nett von Ihnen, aber gar nicht notwendig.«

»Was haben Sie denn? Was war denn los?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin wohl auf irgendwas ausgerutscht.« Er sah auf den Boden, als suche er etwas. »Jetzt geht es schon.«

Er fasste sich wieder an den Rücken. Der Schmerz war jetzt erträglich, Bewegungen wieder möglich. Um sechs Uhr morgens mit einer ihm völlig unbekannten Frau im Wald zu stehen kam ihm auf einmal unangemessen vor.

»Vielleicht ein Hexenschuss?«, versuchte sie.

»Blödsinn. Nein, nein. So was hatte ich noch nie. So alt bin ich nun auch noch nicht.«

»Soll ich wirklich keinen Notarzt rufen?«

»Nein danke. Kommen Sie.« Langsam humpelte Sauerle den Waldweg entlang und bemühte sich, dabei nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Die Frau neben ihm schien sich nicht sicher zu sein, ob sie ihn allein lassen konnte, und ging deshalb langsam neben ihm her.

Sie schwiegen, bis hinter dem Feldweg die ersten Häuser zu erkennen waren.

»Das war schon etwas gruselig«, sagte die Frau, »wie Sie da gerade zusammengeklappt sind.«

»Papperlapapp, das war gar nichts«, erwiderte Sauerle. Er konnte sich auf kaum etwas anderes konzentrieren als seinen Rücken. Er spürte, dass der Schmerz bald wiederkommen würde. Bis dahin wollte er zu Hause sein, am liebsten im Bett. Er wollte sich ausruhen.

»Schon gut. Schaffen Sie es von hier aus?« Sie standen an der Straßenecke, von der es zur kleinen Hauptstraße ging.

»Ich glaube schon. Ist nicht mehr weit.« Sauerle deutete nach rechts, wo sein Häuschen stand, mit dem kleinen Garten davor.

»Dann also noch gute Besserung. Hoffentlich ist es nichts Ernstes.«

»Danke. Hoffe ich auch.«

Sie war schon zwei Schritte gegangen, blieb dann aber noch mal stehen und wandte sich ihm wieder zu. »Sie haben diesen urigen kleinen Elektroladen vorne im Ort, oder? Radio Sauerle.«

»Stimmt. Woher wissen Sie das?«

»Früher habe ich mir dort im Schaufenster die Fernseher angeguckt. Unglaublich, dass es solche Läden noch gibt. Meine Mutter kauft heute noch bei Ihnen ein. Ich heiße Vlanden. Ich bin für eine Woche zu Besuch aus München.«

Sauerle dachte einen Augenblick nach. »Ach so, du bist die Tochter von Elke? Simone?«

»Katharina. Simone ist meine Schwester.«

Er musterte sie, glaubte dann tatsächlich das kleine Mädchen wiederzuerkennen, das ein paarmal bei ihnen im Garten gespielt hatte. »Richtig. Jetzt sehe ich es. Genau. Du bist mit Thorsten zur Schule gegangen.«

»Stimmt.«

»Ist ja schon lange her.«

Sauerle freute sich über das Wiedersehen. Aber er mochte es überhaupt nicht, wenn man seinen Laden als »urig« bezeichnete. Schlagartig fielen ihm die Schmerzen wieder ein.

»Also bis bald mal.«

»Jaja«, brummte Sauerle.

Anstatt in die Dusche zu steigen, setzte er sich zu Hause vorsichtig auf das gemütliche Sofa. Er fand es jedoch auf einmal zu weich, also legte er sich auf den Teppich davor und schloss die Augen. Vielleicht hatte er sich nur etwas verrenkt. In ein paar Stunden würde es besser sein. Dann konnte er nach der Mittagspause wieder im Laden stehen.

Die Zeichen deuten

Ob jemand ein Verbrechen begangen hat, kann man ihm normalerweise nicht auf einen Blick ansehen. Ob er krank ist, manchmal schon.

Kein Wunder – denn bei einer medizinischen Ermittlung ist der Körper des Patienten schließlich so etwas wie der Tatort. Ein geübter Ermittler erkennt auf einen Blick bereits vieles, was für die Lösung des Falles wichtig ist. Eine »Diagnose auf den ersten Blick« ist auch in der Medizin hilfreich – aber alles andere als die Regel. Dennoch sollte kein Arzt diese Möglichkeit einer schnellen Diagnose und damit auch raschen Therapieeinleitung ungenutzt lassen.

Ein bläulicher, metallisch schimmernder Ring um die Pupille – diesen bezeichnet man auch als Kaiser-Fleischer-Kornealring – kann beispielsweise auf eine Kupferspeichererkrankung hinweisen, den sogenannten Morbus Wilson.

Ein weißlicher Ring um die Pupille, ein sogenannter Arcus lipoides, der meist an der unteren Hälfte des Auges beginnt und – wenn man das Auge als Zifferblatt sieht – zwischen vier und acht Uhr auftritt, ist oftmals ein Hinweis auf eine schwere Hypercholesterinämie, also eine Erhöhung des Cholesterinspiegels. Auch weißliche, erhabene Hautveränderungen an beiden Augeninnenwinkeln, die vom Nasenrand meist in Richtung Oberlid reichen, eine verdickte Achillessehne oder Verdickungen der Sehnen auf dem Handrücken sind oftmals ein Hinweis auf erhöhtes Cholesterin.

Diesen Anzeichen Beachtung zu schenken ist deshalb so wichtig, weil eine Erhöhung der Blutfettwerte im schlimmsten Fall einen Herzinfarkt auslösen, aber normalerweise sehr gut und effizient behandelt werden kann. Aber nur wenn man früh genug auf solche Stoffwechselstörungen aufmerksam wird, kann ein Herzinfarkt auch verhindert werden.

An Hautveränderungen lässt sich vieles ablesen. Die Haut ist so etwas wie das Fenster des Körpers, auf ihr zeigt sich oft, was im Innern vorgeht.

Leidet eine Patientin zum Beispiel seit Wochen unter einem roten, schuppenden Ausschlag im Gesicht, dann denke ich – wie wohl die meisten Ärzte – im ersten Moment an eine Hautkrankheit, eine Allergie auf Kosmetika oder eine Reaktion auf Medikamente. Doch hinter den Hautveränderungen stecken in ungefähr fünf von hundert Fällen weitreichende körperliche Krankheiten. Nicht umsonst verbrachten viele Hautärzte früher ein ganzes Weiterbildungsjahr in der Inneren Medizin (und umgekehrt).

Rote Wangen allein sehen zum Beispiel harmlos aus. Zusammen mit anderen Hautveränderungen wie Pilzinfektionen in Hautfalten oder schlecht heilenden Wunden muss man aber vor allem bei Übergewichtigen an Diabetes mellitus und Bluthochdruck denken. Jedes Jahr stellen Hautärzte mehrere Diabetes-Diagnosen, ohne dass dem Patienten oder seinem Hausarzt zuvor etwas aufgefallen wäre.

Hat ein Erwachsener einen Ausschlag auf Wangen, Stirn und Kinn mit eitrigen Pickeln, spricht das für Rosazea, welche man früher als Kupferrose bezeichnete. Im späten Stadium kommt es typischerweise zu einer roten, blumenkohlartigen Vergrößerung der Nase. Viele halten die Betroffenen aufgrund dieses Aussehens sofort für Alkoholiker – ein Stigma, unter dem die Patienten natürlich sehr leiden.

Die Palette von Hautveränderungen bei Organkrankheiten ist so groß, dass es dafür dicke »bebilderte Lehrbücher« gibt.

Da ist zum Beispiel das aufgedunsene Mondgesicht mit den roten Wangen, das auf einen Überschuss an Kortison im Körper hinweist – entweder aufgrund einer lang dauernden Kortisontherapie oder aber eines Tumors, der Kortison produziert.

Rötlich blaue Wangen gelten als Zeichen für Sauerstoffmangel im Körper, wenn eine Herzklappe, oftmals die Mitralklappe, nicht richtig funktioniert. Darum nennen wir diese Veränderung auch »Mitralisbäckchen«.

Und bei der Sklerodermie ist die Haut im Gesicht zu straff und unbeweglich. Die Betroffenen sehen aus, als hätten sie sich ihr Gesicht mit Botox aufgespritzt, und leiden häufig auch unter Schluckstörungen. Zudem ist oft das Zungenbändchen verkürzt, so dass die Zunge nicht nach hinten umgeschlagen werden kann.

Oft gibt schon die Hautfarbe einen entscheidenden Hinweis. Leberkrankheiten äußern sich häufig durch eine gelbe Verfärbung von Gesicht und Bindehäuten. Gräulich glänzend wird die Haut bei einer Vergiftung mit Metallen wie Silber oder Aluminium.

Konkurrenz aus dem Netz

Sauerle erwachte von dem spitzen Schrei, den seine Frau Eva ausstieß, als sie ihn im Wohnzimmer liegen sah.

»Schrei nicht so rum«, grummelte er im Liegen, »ich hab mich nur ein bisschen verrenkt. Ist nichts Ernstes.«

In den zwanzig Jahren ihrer Ehe war es noch kein einziges Mal vorgekommen, dass Sauerle einfach so auf dem Boden lag. »Soll ich dir einen Arzt rufen?«, fragte Eva besorgt.

»Blödsinn. Ich brauche keinen Arzt. Ich bin nur beim Laufen ausgerutscht.«

»Ach, Hänschen. Dann setz dich doch wenigstens aufs Sofa.«

»Hier unten ist es bequemer.«

Sie wusste, dass ihr Mann bei Schmerzen stets untertrieb. »Vielleicht machst du einfach zu viel Sport«, sagte sie. »Das kann doch nicht gesund sein, wenn du dich jeden Tag so überanstrengst. Ich rufe dir einen Arzt.«

»Nein, lass. Bitte lass. Ist doch nichts Ernstes. Und mit dem Sport hat das schon mal gar nichts zu tun. Warten wir erst mal ab. Geh lieber in den Laden und mach einen Zettel an die Tür, dass ich erst nachmittags wieder da bin. Aber schreib bloß nicht ›wegen Krankheit‹. Nicht dass die Leute denken, bei uns geht es abwärts.«

Eva nickte, wenig überzeugt.

»Stell dir vor, wen ich vorhin getroffen habe: Simone Vlanden. Studiert anscheinend in München. Sie hat gesagt, ihre Mutter kauft immer noch bei uns ein.«

»Elke?«

»Genau. Wann war die das letzte Mal im Laden?«

»Ist bestimmt schon fünf Jahre her.« Eva nickte.

»Geht lieber online«, sagte Sauerle bitterer als beabsichtigt.

Seit einigen Jahren teilte er den Vorort in drei Gruppen ein: diejenigen, die ihre Elektrogeräte immer noch bei »Radio Sauerle« kauften, und diejenigen, die sie online bestellten. »Online gehen« war für ihn und Eva das Synonym für die aus der zweiten Gruppe. Am schlimmsten war aber die dritte Gruppe: Das waren diejenigen, die in den großen Elektromarkt in der Stadt gingen, bloß weil die Geräte da manchmal ein bisschen billiger waren. Oft aber, das wusste Sauerle, waren sie sogar teurer. Der Elektromarkt gehörte zu einer großen Kette, und Sauerle hasste diese Kette. Immer wenn Werbung dafür im Fernsehen kam, schaltete er mit einem Stöhnen um.

Seitdem das Geschäft bei ihm immer schlechter lief, hatte er sich in die Vorstellung hineingesteigert, jemand von der großen Elektrohandelskette spioniere ihn aus und verfolge seine Gewohnheiten.

Um ihm einen Gefallen zu tun, ging Eva jedes Mal auf Sauerles Vermutungen ein und behauptete auch manchmal, in der Nähe des Ladens treibe sich eine verdächtige Person herum. Dass sie manchmal selbst schon darüber nachgedacht hatte, in das große Geschäft in der Stadt zu fahren, nur um sich mal umzuschauen, erzählte sie ihm lieber nicht.

Bewegung hilft nicht immer

Am Nachmittag stand Sauerle wieder im Laden, obwohl die Schmerzen nicht nachgelassen hatten. Sie hatten sich in seinem Körper verteilt, waren jetzt auch in der linken Schulter und im linken Oberarm. Sie schienen direkt aus seinen Knochen zu kommen.

Verkaufen konnte auch seine Frau, reparieren nicht. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur eine Reparaturanfrage zu versäumen. Der Service war sein großer Trumpf. Wenn die Leute Probleme mit ihren Geräten hatten, kam er vorbei und schaffte schnell Abhilfe. In der Nachbarschaft gab es einige alleinstehende, ältere Damen, die sich nicht trauten, ihren Fernseher selbst anzuschließen, und denen es wichtig war, dass dies von jemandem übernommen wurde, dem sie vertrauen konnten. Wenn er dann nicht ständig verfügbar war, konnte er das Vertrauen schnell verlieren.

Seine Frau hatte im Bad eine alte Wärmesalbe gefunden und sie ihm auf den Rücken geschmiert. Jetzt brannte es dort, aber der Schmerz ließ nicht nach. Wenn er sich hinsetzte, wurde es schlimmer, also stand er die meiste Zeit vor dem großen Fenster und sah auf die Hauptstraße. Simone ging einmal mit schnellen Schritten vorbei, ohne hineinzusehen.

Die Geschäfte liefen schlecht, obwohl es im Ort keine Konkurrenz gab. Manchmal half es ihm, sich vorzustellen, eine mächtige, überregionale Firma plane seinen Ruin und wolle ihm schaden.

Sauerle konnte defekten Fernseh- oder Radiogeräten etwas abgewinnen, doch er hasste den Gedanken, dass sein Körper plötzlich defekt sein könnte.

Er beschloss, am nächsten Morgen noch früher aufzustehen und noch etwas länger zu laufen. Vielleicht war er nur eingerostet. Bewegung hatte bisher immer geholfen.

 

Doch er schlief nicht gut und schaffte es dann kaum bis zum Waldanfang. Die Schmerzen waren jetzt auch in seinen Beinen. Sie waren in allen Muskeln und Gelenken. Es war kaum auszuhalten. Er verbrachte den Vormittag unter großen Qualen im Laden, ging schließlich in der Mittagspause zum Hausarzt um die Ecke.

Der Hausarzt hatte gleich eine Diagnose parat. Er hörte »Schmerzen in Muskeln und Gelenken«, dachte sofort an Rheuma und verschrieb Schmerzmittel. Vier Tage lang stand Sauerle jeden Morgen früh auf und flüsterte seiner Frau Eva, die noch im Bett lag, zu: »Ich gehe jetzt laufen.«

»Bist du sicher?«, murmelte sie verschlafen.

»Natürlich.«

Die ersten beiden Male schaffte er es noch bis zum Feldweg, musste sich dort aber auf eine Bank setzen, auf der ihm bald kalt wurde. Dann wurden die Schmerzen schon an der Haustür unerträglich. Er fluchte und legte sich in den Vorgarten hinter eine Tanne, wo man ihn vom Schlafzimmerfenster aus nicht sehen konnte. Dort blieb er eine halbe Stunde lang liegen und dachte an die großen Ketten in der Stadt, die ihm das Geschäft so schwer machten.

Als er schließlich aufstehen konnte, war Eva schon in der Küche und hatte die Kaffeemaschine angeworfen.

»Du Armer«, sagte sie, »du müsstest dich einmal richtig auskurieren. Ganz ohne Stress.«

»Mir geht’s gut«, erwiderte er ungehalten, »kann mich nicht beklagen.«

»Hans. Ich hab dich doch gerade im Garten liegen sehen.«

»Ach ja? Da war jemand im Garten? Ist ja noch schöner. Die spionieren uns aus! Jetzt ist es so weit. Jetzt sind die sogar schon im Garten.« Er schnaubte verächtlich, ging dann aber langsam nach oben, ohne das Thema zu vertiefen.

 

Mittags schleppte er sich mit Mühe in den Laden, schrie dort die Fernseher an. Die Schmerzmittel halfen überhaupt nicht. Ihm kam der Gedanke, dass die Schmerzen von dem Laden kamen. Vielleicht war er inzwischen so sehr damit verwachsen, dass es ihm in die eigenen Glieder ging, wenn der Laden nicht mehr gut lief.

Wieder ging er zum Hausarzt, der seine erste Diagnose nun überdenken musste.

»Sind Sie in letzter Zeit von Zecken gebissen worden?«, fragte er als Nächstes.

»Ja«, antwortete Sauerle, »das passiert mir häufiger.«

»Gab es an der Stelle des Zeckenbisses jemals einen Ausschlag oder eine kreisförmige Rötung?«

»Nein«, antwortete Sauerle wahrheitsgemäß, »und gegen Hirnhautentzündung habe ich mich erst kürzlich impfen lassen.«

»Gut«, sagte der Arzt und folgerte: Borreliose und Hirnhautentzündung waren ausgeschlossen.

Weil der Schmerz am unteren Rücken begann, kam der Hausarzt auf die Idee, es könne sich um eine Gürtelrose handeln. Das ist eine Folgekrankheit von Windpocken. Die Windpocken-Erreger, die sogenannten Varizella-Viren, bleiben nach einer Erstinfektion in der Kindheit lebenslang in den Nerven und »schlafen«. Durch Stress oder Abwehrschwäche können sie aber »aufwachen« und führen dann typischerweise zu einem schmerzhaften Ausschlag mit Bläschen, der an einen Gürtel erinnert.

Sauerle bestätigte, durch die Situation im Laden gestresst zu sein. Dies, folgerte der Hausarzt, könne die Viren »aufgeweckt« haben.

Er schickte Sauerle zur Abklärung zum Haut- und Nervenarzt. Beide waren sich einig: Eine Gürtelrose war es auf keinen Fall. Sauerle hatte nicht einmal Bläschen auf der Haut. Außerdem wechselten seine Schmerzen ständig den Ort.

Verzweiflung

Inzwischen war Sauerle krankgeschrieben, was ihm als Selbständigem jedoch wenig half. Mehrere Wochen lang blieb er zu Hause und grübelte vor sich hin, während er gleichzeitig versuchte, die Schmerzen zu ertragen. Er fühlte sich wütend und enttäuscht und legte die Rechnungen, die er noch zahlen musste, neben das Sofa auf einen Stapel.

Seine Frau half im Laden aus, konnte aber bei Reparaturen nur an einen Elektriker aus dem Nachbarort verweisen und hatte sich in das eben angelaufene Onlinegeschäft noch nicht richtig eingearbeitet.

Sauerle rief seinen Sohn Thorsten an, der weit weg, in Berlin, Physik studierte, bat ihn, ein bisschen auszuhelfen.

»Ich habe wirklich keine Zeit«, sagte Thorsten.

Sauerle wollte seinen Sohn nicht anbetteln, bettelte dann trotzdem, schließlich gerieten sie in Streit, bis Thorsten der Satz rausrutschte: »Irgendwann musst du den Laden sowieso dichtmachen.«

Sauerle lag die meiste Zeit auf dem Boden neben dem Sofa. Dort schien er die Schmerzen noch am ehesten ertragen zu können.

Acht Wochen vergingen, er konnte keinen einzigen Tag in den Laden. Seine finanziellen Rücklagen schwanden, er konnte den Kredit auf das Haus nicht mehr bedienen.

Eva sagte: »Ich habe es dir doch schon oft genug gesagt. Du hast zu viel Sport gemacht. Irgendwann halten die Gelenke das nicht mehr aus.«

Einmal sagte sie auch: »Das hast du nun davon.«

Nicht mehr laufen zu können quälte ihn am meisten. Beim Laufen bekam er den Kopf immer frei, doch neben dem Sofa beherrschten ihn Zweifel und Angst. Wie sollte er den Laden halten? Wer brauchte überhaupt noch einen Elektroladen? Wie sollte er diese Schmerzen noch länger ertragen?

Das Einzige, was ihm ein bisschen Erleichterung verschaffte, war die Vorstellung, irgendein mächtiger Konzern sei hinter ihm her und wolle ihn als Konkurrenten ausschalten.