Die Kräutersammlerin und der junge Flößer - Heidrun Hurst - E-Book + Hörbuch

Die Kräutersammlerin und der junge Flößer E-Book und Hörbuch

Heidrun Hurst

5,0

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Beschreibung

Ein mystischer Kriminalroman aus dem Mittelalter. Schiltach im Schwarzwald, 1344. Im Städtle geht der Teufel um. Das glauben zumindest die Bewohner, nachdem an der Kinzig eine junge Magd ermordet aufgefunden wurde. Als im Gasthaus »Hirschen« jede Nacht unheimliche Geräusche zu hören sind und eine weiße Gestalt gesichtet wird, die scheinbar durch Wände gehen kann, bricht Panik aus. Wird sich der Beelzebub weitere Opfer holen? Kräutersammlerin Johanna und Flößer Lukas versuchen die Wahrheit zu ergründen.

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Zeit:11 Std. 54 min

Sprecher:Fanny Bechert

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Heidrun Hurst, geboren 1966 in Kehl am Rhein, ging schon als Kind gern mit Hilfe von Büchern auf Reisen in fremde Welten. Ihr Verlangen nach geschriebenen Abenteuern wurde schließlich so groß, dass sie sich selbst dem Schreiben widmete. Seitdem veröffentlicht sie historische Romane. Sie ist Mitglied bei »HOMER«, »DELIA« und dem »AutorenNetzwerk Ortenau-Elsass« und verfügt über eine Facebook- und eine Instagram-Seite.

www.heidrunhurst.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen lehnen sich teilweise an historische Fakten an. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang befindet sich ein Glossar.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Nina Schäfer mit einem Motiv von Frischknecht Patrick/agefotostock.com

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-951-8

Historischer Schwarzwaldkrimi

Originalausgabe

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PROLOG

Ein schwerer grauer Himmel öffnete sich über Johanna, als sie auf die Lichtung des Bergwaldes trat. Die knorrigen Äste der uralten Bäume waren mit Schnee bedeckt, der so leicht und warm wie die Daunenfedern einer Gans aussah, obwohl er diesem Vergleich nicht standhalten konnte. Dichte Wolken gebaren ein weites Meer aus weißen Flocken. Flüsternd rieselten sie herab. Legten sich in die Spuren, die Johanna auf der freien Fläche hinterließ.

Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Es war nicht das richtige Wetter, um sich hier oben herumzutreiben. Aber dennoch hatte sie es getan. Hoffentlich hört es bald wieder auf. Ich will keine einzige Nacht hier verbringen. Sie blinzelte die feuchten Tröpfchen fort, die an ihren dunklen Wimpern klebten. Ein Ast, der unter der drückenden Schneelast ächzte, knackte in der winterlichen Stille. Außer ihrem keuchenden Atem und dem gelegentlichen Krächzen der Raben vernahm sie keinen Laut. Hier oben war es so einsam, als befände man sich auf dem Grund eines tiefen Sees, dessen gefrorene Eisdecke alles Leben in sich einschloss.

Der Weg war nicht nur beschwerlich gewesen, er hatte sie auch ein gutes Stück von Schiltach weggeführt. Doch nun lag das kleine Bauernhaus vor ihr. Wie ein geducktes Reh stand es am Rand der Lichtung, fast verschmolzen mit der Bergkuppe hinter ihm. Kräuselnder Rauch durchbrach die dicke weiße Decke auf dem weit nach unten gezogenen Dach. An der Giebelseite stach das Holz der Wände dunkel und klamm darunter hervor. Die Läden hatte man zum Schutz gegen die Kälte verschlossen.

Mit tauben Fingern klopfte Johanna an die Tür und freute sich auf die Wärme des Feuers, das sie drinnen erwartete.

»Wer ist da?«, erklang die zittrige Stimme der Hausherrin.

»Ich bin’s, Johanna. Deine Tochter hat nach mir geschickt.«

»Komm herein.«

Warme, abgestandene Luft mit einem Aroma aus feuchter Wolle und Rauch schlug Johanna entgegen, als sie der Aufforderung nachkam. Ein leises Flattern fuhr durch ihren Magen, streifte sie wie die Erinnerung an einen Nachtmahr nach dem Erwachen. Sie kannte es von früheren Besuchen. Angestrengt schluckte sie. Die Düsternis des Raumes ließ sie kaum etwas erkennen.

Niemand kam, um sie zu begrüßen. Ihre Augen wanderten umher und entdeckten den Umriss einer weiblichen Gestalt, die sich vor dem Herdfeuer die Hände wärmte.

»Gott zum Gruße, Gertrud. Was fehlt dir?«

Eigentlich hatte Johanna damit gerechnet, die Frau krank darniederliegend auf ihrem Lager anzutreffen. Ihre Tochter war nicht sehr gesprächig gewesen, und so hatte sie vorsorglich die Dinge in ihren Beutel getan, die ihr sinnvoll erschienen. Ist es erneut geschehen? Johanna zwang den Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals zu bilden begann.

Gertrud sagte nichts, wandte ihr nur schweigend das Gesicht zu.

Mit der zunehmenden Schärfe ihrer Augen, die sich an das dämmrige Licht gewöhnten, erkannte Johanna die geschwollenen Gesichtszüge der Frau, die sie voller Wehmut ansah. »Du lieber Himmel! Hat er dir das angetan?«

Gertruds Blick war nüchtern. »Wer denn sonst?«

»Schon wieder?«

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Johanna kannte Etzels Brutalität, mit der er Frau und Tochter zu demütigen pflegte. In letzter Zeit schien sich die überwältigende Art seiner Zuwendung allerdings zu häufen. Wiederholt hatte sie einen gebrochenen Knochen richten und Salbe für die Striemen herstellen müssen, die seine Schläge hinterlassen hatten. Hier oben war er der unangefochtene Herrscher seiner Familie, und niemand störte ihn bei dem, was er für richtig hielt.

»Wo ist er jetzt?«, fragte sie, während ein pelziger Schauder ihren Rücken hinaufkroch, als ob eine fette Ratte zwischen ihren Schultern säße.

»Fort. Holz machen, nachdem er einen Teil seiner Wut an mir ausgelassen hatte. Vermutlich wird er erst wiederkommen, wenn die Nacht anbricht.«

Johanna atmete leise auf. »Und deine Tochter?«

»Ist im Stall bei den Tieren.«

Die Familie hielt ein paar Kühe, einen Zugochsen und eine Herde der anspruchsloseren Ziegen. Gertrud und ihre Tochter Martha, ein Mädchen von vierzehn Jahren, kümmerten sich um sie, während Etzel für die Holzwirtschaft zuständig war. Sie verrichteten die Stallarbeit, trieben die Tiere im Sommer auf die Weiden, holten das Heu für den Winter ein, molken und stellten Käse her. Ab und an kamen sie in der warmen Jahreszeit ins Städtle, wie die Schiltacher ihre kleine Stadt liebevoll zu nennen pflegten, und verkauften ihn dort. Auch den Garten mit Gemüse, etwas Obst und Kräutern bestellten sie. Ihre abgelegene Lage zwang sie, das meiste, was sie aßen, selbst anzubauen. Nur das Korn gedieh hier oben nicht. An und für sich wäre es ein gutes Leben. Doch die Umstände schienen nicht nur für das Getreide eine Herausforderung zu sein. Einen Knecht oder eine Magd gab es schon lange nicht mehr. Sie waren samt und sonders davongelaufen, nachdem sie die ungezügelte Wut ihres Herrn kennengelernt hatten.

Johanna trat näher und begutachtete Gertruds Gesicht. »Deine Nase ist gebrochen.«

Die Frau seufzte. »Ich weiß. Kannst du sie richten?«

»Ich werde es versuchen. Setz dich neben das Feuer. Dort ist das Licht am besten.«

Johanna legte ihren Mantel ab und schüttelte die feuchten goldbraunen Locken aus. Behutsam strich sie mit den Fingern über Kiefer, Jochbeine und Stirn der etwa dreißigjährigen Frau. Das Tuch, unter dem sie ihr schönes volles Haar verbarg, ließ die geschwollenen Verfärbungen deutlich hervortreten. Die Knochen darunter fühlten sich beruhigend fest an. Gertruds Oberlippe war aufgeplatzt. Johanna entdeckte das Fehlen eines Schneidezahns, der vermutlich Etzels Faust zum Opfer gefallen war. Die Nase hatte es ebenfalls arg erwischt. Trotz der Schwellung erkannte sie deutlich den Vorsprung, der sie verunzierte, außerdem stand sie ein wenig schief. Gertrud zuckte mit einem schmerzerfüllten Zischen zurück, als Johanna mit den Fingerkuppen die scharfe Kante des Bruchs ertastete. So blieb ihr nichts anderes übrig, als unverhofft an der Nasenspitze zu ziehen, bis ein leises Knirschen ertönte.

Gertrud schrie auf. Sie konnte es ihr nicht verdenken.

»Schon gut, nun ist alles an seinem richtigen Platz«, sagte sie, während ihre Finger noch einmal flugs über das Nasenbein huschten. »Bald wirst du wieder so hübsch sein wie zuvor.« Auch wenn dies in ihrem derzeitigen Zustand kaum vorstellbar war.

»Das wird mir kaum etwas nützen«, näselte Gertrud. Resigniert senkte sie den Kopf.

Johanna fühlte, wie heiße Wut in ihr aufstieg. »Du solltest ihn verlassen«, zischte sie. »Nimm deine Tochter und lauf davon.«

»Und was käme dabei heraus?« Gertruds Stimme klang schroff. »Abgesehen davon, dass er uns überall finden wird. Von was sollen wir leben?«

Johanna kannte Gertruds Bedenken. Für sie ging es lediglich darum, zwischen zwei Übeln zu wählen – wobei das größere ihrer Ansicht nach immer noch Etzel war. »Wenn du hierbleibst, schlägt er dich eines Tages tot.«

In diesem Moment quietschten die Angeln der Haustür. Der Schneefall hatte aufgehört, und die Sonne lugte schüchtern zwischen einem Spalt in den Wolken hervor. In der unerwarteten Helligkeit, die das blendende Weiß reflektierte, zeichnete sich Etzels kräftige Gestalt im Rahmen ab. Doch es war der Ausdruck in seinem Gesicht, der Johannas Herz stocken ließ. Er war immer noch wütend wie ein Bär, den man aus dem Winterschlaf geweckt hatte, und nicht weniger imposant. Das Blut schoss in ihre Glieder. Jede Faser ihres Körpers drängte sie zur Flucht.

»Was hat dieses Weib hier zu schaffen?« Der Hüne warf Johanna einen vernichtenden Blick zu. Mit jedem Schritt, der die Distanz zwischen ihm und den beiden Frauen verringerte, wurde er zorniger. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du dein Maul halten sollst? Dass es niemanden etwas angeht, was in meinen eigenen vier Wänden geschieht? Was ist es, das dich einfach nicht gehorchen lässt? Bist du dumm oder taub?« Sein tiefer Bass hallte bedrohlich durch den Raum.

»Sie hat nur nach der Hilfe verlangt, die sie benötigt.« Mutig trat Johanna zwischen ihn und Gertrud, obwohl sie am ganzen Leib zitterte.

Etzels Antwort bestand aus einer Bewegung seines Armes, mit der er sie wie eine Schmeißfliege zur Seite wischte. Sie prallte mit dem Rücken so heftig gegen die Wand, dass das langstielige Kochgeschirr schepperte, das dort an mehreren Haken hing. Den Schmerz, den das harte Eisen verursachte, spürte sie kaum. Atemlos beobachtete sie, wie Etzel über seinem Weib aufragte und erneut auf sie eindrosch. Wenigstens schlug er ihr dieses Mal nicht ins Gesicht.

Doch es waren nicht nur die brutalen Schläge, die auf Gertrud niedergingen. Es war die Demütigung, die Johannas Blut zum Kochen brachte. Blind vor Zorn griff sie nach hinten. Eine schiere Wut auf alle Männer, die ihre Frauen mit gefühlloser Härte zu beherrschen versuchten, schoss durch ihre Adern – und sie hatte weiß Gott schon genug gesehen!

Im Nu hatte Johanna eine langstielige Pfanne in der Hand. Mit dem Schrei einer Kriegerin sprang sie vor und schlug das harte Eisen auf Etzels Schädel, der ihr immer noch den Rücken zudrehte.

Der bullige Mann hielt abrupt inne. Sein Kopf drehte sich in ihre Richtung, und ein erstaunter Blick traf sie. Er schien vergessen zu haben, was ihn in Rage versetzt hatte, was seinen Körper auf den Beinen hielt. Seine Knie gaben nach. Dann brach er zusammen.

Dies und der spitze Aufschrei in ihrem Rücken brachten Johanna zur Besinnung. Er stammte von Martha, die den Aufruhr im Stall gehört haben musste. Die Pfanne glitt aus Johannas Hand. »Du lieber Gott, was habe ich getan!« Rasch beugte sie sich über den Verletzten. Schlaff und ohnmächtig lag er auf den Dielen. Blut troff aus einer Wunde an seinem Hinterkopf, doch er atmete in gleichmäßigen Zügen. »Er lebt!«, hauchte sie erleichtert.

Gertrud stand wie versteinert da. Johannas Worte ließen sie aus ihrer Starre erwachen. Nach einem Moment der Sprachlosigkeit ergriff sie den Pfannenstiel. Ihre geschwollenen Lippen pressten sich trotz des Risses entschlossen zusammen. Sie schien die Pein nicht zu spüren. Stattdessen holte sie aus und schmetterte das schwere Kochgerät mit einem wuchtigen Schlag auf Etzels Kopf.

Johannas Herz tat einen erschrockenen Satz. »Was tust du?« Sie merkte nicht, dass sie schrie. Ihre Stimme überschlug sich vor Entsetzen.

Gertrud hörte sie nicht. Noch einmal schlug sie kräftig zu. Ihr zerschlagenes Gesicht verzerrte sich zu einer wütenden Grimasse.

Martha kam zögernd näher. Wortlos nahm sie die Pfanne aus der Hand ihrer Mutter. Ein stummes Einverständnis lag in den Augen der beiden. Ihr schlanker Körper streckte sich und versetzte dem Mann, der sie gezeugt hatte, einen letzten gnadenlosen Hieb.

Johannas Kiefer klappte nach unten. »Das könnt ihr nicht machen«, flüsterte sie. »Ihr bringt ihn um!«

»Er ist bereits tot«, stellte Martha fest. Ihr Fuß stieß in die Seite ihres Vaters, der all seiner Kraft beraubt auf dem Boden lag.

Johanna erkannte, dass sie recht hatte. Etzels Augen starrten blicklos ins Leere. Sein Hinterkopf war eine unförmige Masse, und das Blut, das aus ihm herausströmte, schwoll zu einer beängstigend großen Pfütze an. Mit einem Mal wirkte er alles andere als gefährlich.

»Was habt ihr getan?«, krächzte Johanna. Sie konnte es nicht fassen. Fast glaubte sie zu träumen. Doch nichts erlöste sie von der grauenvollen Wirklichkeit.

»Du hast damit angefangen«, verteidigte sich Gertrud. »Erinnere dich an den Rat, den du mir erteilt hast. Es war der einzige Weg, uns von seiner Tyrannei zu befreien.«

»Aber ich wollte ihn nicht töten!« Was hat mich nur zu diesem Irrsinn getrieben?, tönte es in ihr. Im Grunde wusste sie es ganz genau. Es war die Ungerechtigkeit dieser Welt, die sie erzürnte. Das abgrundtiefe Unrecht, das sich viel zu oft gegen das weibliche Geschlecht richtete. Dennoch hätte sie Etzel niemals vorsätzlich umgebracht – auch wenn sie zugeben musste, dass sie für einen kurzen Moment die Kontrolle verloren hatte. »Ihr – ihr wart es!« Anklagend hob Johanna den Finger. »Ihr habt ein fürchterliches Verbrechen begangen!«

»Wer weiß schon, welcher Streich tödlich gewesen ist«, stellte Gertrud mit kalter Stimme fest. »Vielleicht genügte bereits der erste, um ihm das Licht auszublasen?«

»Danach hat er noch gelebt«, flüsterte Johanna.

»Für wie lange? Kannst du beschwören, dass er nicht daran gestorben wäre? Womöglich nach einem qualvollen Siechtum, das ihm auf diese Weise erspart geblieben ist?«

Johanna schluckte hart. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf wie Herbstlaub im Wind. Eine unendliche Schwere erfüllte ihre Brust. Alles in ihr schrie danach, diesem unglückseligen Ort zu entfliehen.

Gertrud stemmte die Hände in ihre Hüften. »Du bist genauso schuldig wie wir«, erklärte sie pragmatisch. »Falls du vorhast, uns zu verraten und der Schlinge des Henkers zu übergeben, wirst du ebenfalls hängen. Es wird keine da sein, die für dich spricht.« Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Doch du musst dich nicht ängstigen. Niemand wird von Etzels Tod erfahren – und du wirst uns helfen, ihn zu beseitigen.«

Johanna wusste, was das bedeutete: Der Pakt war besiegelt. Falls jemals herauskäme, was sich in dem Bauernhaus abgespielt hatte, würden sie alle die Verantwortung dafür tragen.

1. KAPITEL

Schiltach, 1344

Ein Geräusch riss Johanna aus dem Schlaf. Abrupt öffnete sie ihre Augen. Sie schlief nicht tief in letzter Zeit. Das erste graue Licht des Morgens kroch durch die Fugen der Läden und durchbrach nur unzureichend die Dunkelheit. Sie horchte in die Stille, die von den gleichmäßigen Atemzügen Idas durchbrochen wurde. Ihr kindlicher Leib lag warm und tröstlich neben ihr. Das Mädchen schlief wie ein Stein. Die Wölfin war fort.

Johanna erinnerte sich, wie sie ihr heute Nacht die Tür geöffnet hatte, damit sie zum Jagen in den Wald gehen konnte. Nur wenn sie Hunger hatte, verließ sie Ida, deren treue Gefährtin sie war.

Ein weiteres Geräusch drang von draußen herein. Es klang wie ein kurzes Schaben oder ein leises Scharren, das von Krallen stammen mochte. Das Tier ist gewiss zurückgekehrt, dachte Johanna, während sie ihre Beine aus dem Bett schwang. Ihre Haut zog sich fröstelnd zusammen. Die Luft in dem kleinen Häuschen, in dem sie wohnte, war kalt. Das Feuer der gemauerten Herdstelle in einer Ecke des Raumes war über Nacht zu einem Häufchen Glut zusammengeschrumpft. Es war Ende März, und obwohl der Winter seine Kraft verlor, klammerte sich seine Schärfe an jeden Stein in der nächtlichen Finsternis. Beherzt stellte sie ihre Füße auf den Boden, der sich lausekalt anfühlte.

Die Wärme des Bettes vermissend, eilte Johanna zur Tür und entriegelte sie, während sie an ihre erste Begegnung mit der weißen Wölfin dachte, die ihr deutlich vor Augen stand. Damals hatte sie es nicht fassen können, dass das wilde Tier einfach so hereinspaziert war, als wäre es nichts Besonderes.

Ein leichter Wind hauchte die feuchte Morgenluft durch das dünne Gewebe ihres Hemdes. Doch war es nicht das, was ihr eine heftige Gänsehaut über den Rücken jagte. Johanna fuhr erschrocken zurück. Der Türsturz vor ihren Augen begann zu wanken. Sie schloss die Lider, um den Schwindel zu beschwichtigen, der in ihrem Kopf wirbelte.

Als Johanna sie erneut öffnete, um einen zweiten Blick in das eisengraue Zwielicht zu wagen, das nun deutlich die Oberhand gewann, war die Krähe, die auf der Höhe ihres Gesichts baumelte, immer noch da. Sie erkannte sofort, dass der Vogel tot war. Seine Federn wirkten struppig und stumpf. Der Schnabel hing kraftlos nach unten. Jemand hatte dem Tier einen dünnen Strick um den Hals gebunden und es an den Nagel über der Tür gehängt, an dem Johanna am Johannistag einen Strauß aus Beifuß, Gundermann und anderen Kräutern befestigt hatte. Sein Kopf war derart verdreht, dass das Genick gebrochen sein musste.

Johanna durchfuhr es heiß und kalt. Krähen waren Todesboten, und diese hier hatte man wie einen Unhold gehenkt. Was hatte das zu bedeuten? Wollte man ihr drohen, dass ihr Leben ebenfalls gewaltsam enden könnte? Ihr Herz zog sich vor Angst zusammen. Wie versteinert stand sie da. Nur ihre Augen huschten umher, auf der Suche nach dem Quell dieses Schreckens. Sie konnte niemanden entdecken. Wahrscheinlich waren der oder die Übeltäter längst über alle Berge. Oder war es der Streich dummer Jungen, die nun in den Büschen hockten und krampfhaft ihr Lachen unterdrückten?

Die Gedanken trippelten wie Mäuse auf einem Heuboden durch ihren Kopf. Und ehe sie sich’s versah, begannen sie dort einen wilden Reigen zu tanzen. Konnte es sein, dass man ihnen auf die Schliche gekommen war? Etzels Tod, der sich etliche Wochen zuvor zugetragen hatte, saß wie ein Stein in ihrer Brust. Immer wieder krochen die schrecklichen Bilder in ihrem Innern empor: die Gnadenlosigkeit, mit der Gertrud und Martha zugeschlagen hatten. Etzels grässlich lädierter Kopf. Sein dunkles Blut, das sich in einer klebrigen Pfütze gesammelt hatte. Der leere, starre Blick – und sie hatte damit angefangen!

Die Schuld lag wie ein schwerer Mantel über Johanna, dessen unsichtbares Gewicht sie schier zu erdrücken drohte, obwohl sie sich damit tröstete, dass sie es nicht gewesen war, die ihn getötet hatte. Wieder und wieder bemühte sie sich, jeden einzelnen jener schicksalhaften Augenblicke in dem Bauernhaus heraufzubeschwören, und erinnerte sich daran, dass Etzel nach ihrem Schlag noch gelebt hatte. Aber konnte sie mit Gewissheit sagen, dass er die Folgen überstanden hätte? Dass der Hieb, den sie ihm in ihrer blinden Wut versetzte, am Ende nicht doch zu seinem Tod geführt hätte? Sie würde es nie erfahren.

Damals war sie kaum in der Lage gewesen, darüber nachzudenken, wie man den verräterischen Leichnam am besten beseitigte. Ganz im Gegensatz zu Gertrud und Martha, die äußerst nüchtern dabei vorgegangen waren. Schließlich hatte man sich darauf geeinigt, den Toten zu verbrennen. Es schien fast eine Fügung zu sein, dass der Schneefall aufgehört hatte. In aller Eile hatten sie mit einem Teil des Holzes, das sich im Schutz der Seitenwände des Hauses unter dem herabgezogenen Dach stapelte, einen Scheiterhaufen errichtet.

Johanna war nicht wohl dabei gewesen, aber Gertrud hatte sie beruhigt. Um diese Jahreszeit kam selten jemand den Berg herauf. Der Weg, der zu dem einsamen Haus führte, war anstrengend, und im Winter nahm man ihn nur auf sich, wenn es einen triftigen Grund dafür gab. Trotzdem hatte Johanna während der Zeit, in der Etzels Kleidung Feuer fing, mit ängstlichen Augen die Umgebung abgesucht. Sie hatte niemanden bemerkt. Hatte sie sich getäuscht? Vielleicht ist doch jemand zufällig des Weges gekommen und hat sich versteckt, als ihm schwante, was dort oben vor sich ging?

Es dauerte lange, bis der Leichnam richtig brannte. Noch bevor Etzel zu Asche zerfiel, hatte sie sich auf den Heimweg gemacht, um halbwegs bei Tageslicht das Tal zu erreichen. Die beiden Frauen hatten ihr versprochen, sich um alles zu kümmern und die Überreste an einem sicheren Ort zu vergraben. Johanna wollte gar nicht wissen, wo sie sie hingebracht hatten. Bisher hatte sie jede weitere Begegnung mit den beiden vermieden.

Als der Schnee schmolz und sich das Ende des Winters abzeichnete, hatte sie im Städtle das Gerücht aufgeschnappt, dass Gertrud seit Wochen ihren Mann vermisste. Eines Tages sei er in den Wald gegangen und nicht mehr zurückgekehrt.

Die tragische Geschichte wurde in Schiltach zum Stadtgespräch, bei dem man den Hinterbliebenen großes Mitgefühl entgegenbrachte. Vermutlich kannte kaum einer Etzels wahres Gesicht, das in der Einsamkeit des Einödhofes ein anderes war als unten im Tal. Und Johanna zog es vor, darüber zu schweigen. Doch Unfälle geschahen immer wieder. Man stellte sogar einen Suchtrupp zusammen, um wenigstens Etzels Gebeine zu finden. Alle gingen davon aus, dass ihm beim Holzmachen etwas zugestoßen sei und sein Leichnam unter der Last eines gefällten Baumes oder eines schweren Astes, der den großen Mann erschlagen hatte, begraben lag. Doch niemand fand ihn. Und kein Einziger kam auf den Gedanken, dass er kaltblütiger Rache zum Opfer gefallen sein könnte. Man tröstete sich damit, dass eine unwegsame Stelle den Toten verbarg. Eventuell hatten sich wilde Tiere an seinem Fleisch gütlich getan und seine Glieder in alle Winde verschleppt. Das Leben auf den Höhen hatte seine Tücken. Es war durchaus möglich, dass er für immer verschwunden blieb.

Johanna hoffte inständig, dass diese Vermutung sich erfüllte und ihr Geheimnis niemals aufgedeckt würde. Auch wenn sie seinen Tod nicht verschuldet hatte, hatten Gertrud und Martha sie skrupellos zur Mittäterin gemacht.

Der Vogel an ihrer Tür konnte durchaus darauf hindeuten, dass es einen weiteren Mitwisser gab, der sie bei der Beseitigung der Spuren beobachtet hatte. Auch wenn sie sich dessen nicht sicher war. Wütend und ängstlich zugleich nahm sie das Tier ab. Noch einmal sah sie sich um. Der kleine Hof aus gestampfter Erde, die Büsche, die ihn begrenzten, selbst der Weg, der zu ihm führte, waren menschenleer. Nicht einmal die Wölfin, an deren Gegenwart sie sich gewöhnt hatte, war zurückgekehrt. Sorgsam schloss sie die Tür und trug das tote Tier nach drinnen. Sein kleiner Körper fühlte sich kalt und steif an.

Ida drehte sich murmelnd auf die Seite und schlief weiter. Erleichtert atmete Johanna auf. Sie konnte jetzt keine Gesellschaft gebrauchen. Sie musste erst einmal nachdenken.

Die weiße Wölfin streifte durch den Wald. Es kümmerte sie nicht, dass es langsam hell wurde. Sie war ruhelos. Sie blutete, und sie wusste, dass sie anders roch. Das Mädchen, das sie normalerweise begleitete, war vergessen. Sie brauchte einen Rüden! Jeder paarungswillige männliche Wolf im Umkreis würde sie wittern. Würde ihrer Fährte nachgehen, bis er sie gefunden hatte – nur um sich danach abzuwenden, sobald er sie sah.

Etwas schien sie zu verstören und dafür zu sorgen, dass sie zur Fortpflanzung nicht in Frage kam. Sie wusste nicht, dass es an ihrer Farbe lag, die ihre Artgenossen dazu veranlasste, sie zu meiden. Doch der Ruf der Natur war stark, und so machte sie sich auf. Jedes Jahr aufs Neue, um einen Vater für ihre ungeborenen Welpen zu finden. Ihr blieb nicht viel Zeit. Bald würde der drängende Wunsch, der ihr ganzes Sein ausfüllte, an Intensität verlieren, bis er schließlich verschwand, um am Ende eines jeden Winters erneut hervorzubrechen.

Plötzlich blieb sie stehen, duckte sich. Horchte, witterte. Etwas bewegte sich vor ihr im Unterholz. Schlich mit leisen Pfoten heran. Ihre Muskeln spannten sich, während sie mit den Ohren dem Rascheln folgte. Der Rückenwind verwehrte ihr, eine Fährte aufzunehmen, doch die Geschmeidigkeit der Schritte deutete auf einen Artgenossen hin.

Und dann sah sie ihn. Einen mächtigen Wolf, zweifellos ein Rüde. Stumm musterte sie sein grau geflecktes Fell, die langen, kräftigen Beine, den großen Kopf und den unergründlichen Blick seiner gelben Augen. Bewachte jede seiner Bewegungen. All ihre Sinne schärften sich. War er ihr freundlich gesinnt? Oder war er gekommen, um sein Territorium zu verteidigen? Normalerweise vermied sie es, in fremde Gebiete einzudringen, doch vielleicht hatte sie in ihrer Hitze eine Grenze aus Kot und Urin nicht bemerkt, die ein Rudel aufrechterhielt. Dazwischen gab es Bereiche, auf die keiner ein Vorrecht hatte. Wölfe ohne Rudel durften sie durchwandern, ohne dass ihnen Gefahr drohte.

Langsam kam der Rüde näher. Er schien sich nicht an ihrer Fremdartigkeit zu stören. Mit neugierig aufgestellten Ohren trat er dicht an sie heran. Er blieb wachsam, doch nichts deutete auf ein aggressives Verhalten hin. Bedächtig umkreisten sie sich, schnüffelten ausgiebig aneinander. Er roch ausnehmend gut, und die Signale, die er sendete, gefielen ihr. Sein Interesse schien echt zu sein.

Bevor Ida erwachte, hatte Johanna bereits ihre hellbraune Cotte samt grünem Surcot über das Hemd gezogen. Das frisch entfachte Feuer verbreitete eine angenehme Wärme. Johanna verdrängte den Gedanken an duftende Hafergrütze mit etwas Milch oder Butter und einer Handvoll getrockneter Beeren, die vom Winter übrig waren. Es war immer noch Fastenzeit. Ein überdrüssiges Seufzen kam über ihre Lippen. Die vierzig Tage, an denen zur Vorbereitung auf das Osterfest weder Milch, Fleisch oder Eier gegessen werden durften und der kärgliche Rest nur einer abendlichen Mahlzeit diente, kamen ihr unendlich lang vor. Ein Kräutersud, der ein wenig den Hunger dämpfte, musste reichen.

Sie schob ihr lockiges Haar in den Nacken und wand es dort zu einem Zopf, bevor sie Wasser in einen kleinen Kessel füllte und ihn über die Flammen hängte.

Von draußen drang Vogelgezwitscher herein. Ein Hahn begrüßte mit lautem Krähen den Tag, und zwei Hunde stimmten heulend mit ein. Alles ging seinen gewohnten Gang, wenn man von ihren erfolglosen Überlegungen einmal absah. Bisher war sie zu keinem Ergebnis gekommen, wer hinter dem üblen Schelmenstreich stecken mochte. Sie würde abwarten müssen, was als Nächstes geschah.

Johanna streckte ihren Rücken und schickte sich an, die Fensterläden zu öffnen. Helles Licht flutete in den Raum. Als sie zum Feuer zurückkehrte, sah sie, wie Idas Hand über das Schaffell fuhr, das ihr als Unterlage diente. Verblüfft hielt das Mädchen inne und setzte sich auf. Sie mochte wohl an die neun Jahre zählen. Ihr genaues Alter kannte selbst Ida nicht.

Eines Tages hatte man sie verletzt im Wald gefunden. Johannas Freundin Elen hatte sich keinen anderen Rat gewusst, als das stumme Kind zu ihr zu bringen. Ida hatte fürchterlich ausgesehen. Die speckige, zerlumpte Cotte, die von ihren Schultern hing, konnte man kaum noch als Kleidung bezeichnen. Ihr struppiges Haar und der Dreck, der sie wie einen kleinen bösartigen Waldgeist aussehen ließ, machten es nicht besser. In ihrem ganzen Leben hatte Johanna kein derart verwahrlostes Geschöpf gesehen, das offensichtlich in der Wildnis lebte. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Noch in derselben Nacht war die Wölfin bei ihr aufgetaucht. Sie hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass die beiden zusammengehörten. Die folgende Zeit hatte ihre Tücken. Doch als die große Wunde an Idas Schenkel verheilt war, hatte sich ein zartes Band der Zuneigung zwischen ihnen gebildet. Und so blieben das Mädchen und die Wölfin bei ihr.

Idas schwarze, vom Schlaf zerzauste Haare hingen wirr um ihr Gesicht, dessen Züge in den letzten Wochen etwas weicher geworden waren. »Wo ist Wölfin?« Noch immer fiel es ihr schwer, in ganzen Sätzen zu sprechen.

Johanna zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Auch sie war beunruhigt. In all der Zeit, in der Ida und die Wölfin bei ihr lebten, war das Tier spätestens im Morgengrauen zurückgekehrt.

Noch eine Sorge mehr, dachte sie bekümmert. Sie hoffte inständig, dass der Fähe nichts zugestoßen war. Schon einmal hatte es wegen ihrer Anwesenheit in der Schiltacher Vorstadt einen Aufruhr gegeben. Nur mit Mühe war es Johanna damals gelungen, ihre aufgebrachten Nachbarn zu beruhigen. Seither hatten sich die Leute an das Tier gewöhnt. Jedenfalls hatte sie dies angenommen. Vielleicht war das Maß nun voll, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte? Hatten sie die Wölfin getötet? Ein eisiger Schauder zog über ihren Rücken. Diente die Krähe an meiner Tür als Warnung, in Zukunft die Finger von wilden Tieren zu lassen?

Allerdings hatte Johanna bemerkt, dass die Wölfin blutete. Es war durchaus möglich, dass sie dem Ruf der Natur gefolgt war. So oder so würde es Ida das Herz brechen, wenn ihre treue Freundin nicht mehr da wäre. In den vergangenen Monaten waren sie sich nähergekommen. Im Grunde ähnelte ihre kleine Gemeinschaft der einer Familie. Aber es war offensichtlich, dass Ida und das Tier eine besondere Verbindung zueinander hatten, die sie außen vor ließ. Und es entsprach nicht ihrem Wesen, sich dazwischenzudrängen.

»Ich suchen gehen.« Mit einem Satz war Ida auf den Beinen. Energisch streifte sie das kittelförmige Hemdkleid über ihren Kopf. Noch immer schlief sie nackt und schien kaum zu frieren. Das Kleid, das sie trug, war – außer einem dicken Umhang im Winter – das Einzige, was sie an ihrem sehnigen Körper duldete.

»Das dachte ich mir.«

Johanna wusste, dass sie Ida nicht davon abhalten konnte. Das Mädchen war von jeher sonderbar gewesen. Ihre wahre Identität lag weiter im Dunkeln. Sie erzählte nichts über ihre Vergangenheit. Manchmal war sich Johanna nicht sicher, ob sie ihr früheres Leben vergessen hatte oder es bewusst verschwieg. Man musste Ida eben so nehmen, wie sie war. Außer ihrer Freundschaft zu der Wölfin schaffte sie es nur selten, sich auf jemanden einzulassen. Selbst auf sie, obwohl Johanna wusste, dass Ida sie mochte.

»Du solltest wenigstens einen heißen Sud trinken, bevor du dich auf den Weg machst.«

Idas Blick huschte zu dem Kessel hinüber. Ihr Mund verzog sich zu einem halben Lächeln, ehe sie nickte.

»Ich gehe rasch die Ziege melken.«

Johanna warf ein paar Kräuter in den Kessel, schnappte sich den Melkkübel und den restlichen Vorrat an Wasser. Dann ging sie in den Stall, der durch eine Holzwand vom Hauptraum des Häuschens getrennt wurde. Zwei braune Ziegen, Mutter und Tochter, meckerten ihr freudig entgegen. Sie kannten das, was sie erwartete, von unzähligen Malen zuvor. Johanna goss frisches Wasser in den Trog, legte der Zicke einen Strick um den Hals und band sein Ende um einen in der Wand eingelassenen eisernen Ring. Seufzend setzte sie sich auf den kleinen dreibeinigen Melkschemel und ließ die Milch aus dem Euter in den Kübel strömen, während das Tier soff.

Das karge Winterfutter sorgte für einen dünnen, schaumig weißen Strahl. Trotz der Fastenzeit musste die Mutterziege gemolken werden, damit ihre Milch nicht versiegte. Ihre Tochter war nun schon über ein Jahr alt und würde bald selbst ein oder zwei Zicklein bekommen. Johanna hatte sie decken lassen. Ein wachsender Haushalt erforderte mehr Milch und Käse. Auch um etwas Fleisch wäre sie froh gewesen. Doch zuerst musste der Nachwuchs auf der Welt sein, dann würde man sehen, ob es Mehrlinge waren und welches Geschlecht sie hatten.

Bald war sie fertig. Johanna warf etwas Heu in die Krippe. Die Tiere meckerten unwillig, sie wollten nach draußen. Doch es war noch zu früh im Jahr, um sie auf die Weide zu lassen.

Sobald die Ziegen versorgt waren, verließ Johanna den Stall und trug ihre Ausbeute zu einem eingefassten Geviert im Boden des Raumes, in dem sie wohnten. Dort ließ sie sich auf die Knie nieder, räumte die Dielen beiseite und enthüllte einen gemauerten Hohlraum unter der Erde. Hier war es stets kühl, weshalb ihre Vorräte länger frisch blieben. Sie wuchtete ein irdenes Gefäß nach oben und goss die Milch hinein. Wenn sie genug beisammenhatte, würde sie den Rahm abschöpfen und Butter herstellen. Das Osterfest rückte näher. Bald würden sie davon essen können.

Der Rauch des Feuers hing in der Luft. Nur langsam zog er nach oben durch die Luke ab, doch er hielt auch die Schädlinge fern, die das Holz des Häuschens zerstören würden. Nichts deutete auf ein zwischenzeitliches Erscheinen der Wölfin hin. Dafür hatte Ida die tote Krähe entdeckt, die neben dem Feuer lag. Johanna hatte sie vergraben wollen, es bisher aber nicht fertiggebracht. Irgendetwas hinderte sie daran, das arme Tier zu beseitigen. So lag es immer noch da, ein gebrochenes schwarzes Auge anklagend auf die Flammen gerichtet.

»Totenvogel«, bemerkte Ida. Ihre Miene war so unergründlich wie die Tiefe eines Brunnenlochs.

Die Härchen auf Johannas Unterarmen stellten sich auf. Bestimmt hatte die Kleine den Begriff irgendwo aufgeschnappt. »Hast du eine Ahnung, wer ihn vor unsere Tür gehängt haben könnte?«

Ida schüttelte den Kopf.

Johanna holte tief Luft, um die Schwere in ihrer Brust zu vertreiben. »Nun gut, dann lass uns etwas trinken.« Nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten, der von zwei Bänken flankiert wurde, sprach Johanna ein Dankgebet und schloss im Stillen die Bitte um Schutz und Hilfe mit ein. Ida war dergleichen inzwischen gewohnt. Sie wusste, dass sie so lange warten musste, bis sie zugreifen konnte.

»Wirst du allein zurechtkommen?«, fragte Johanna, nachdem der Kräutersud das flaue Gefühl in ihrem Magen vertrieben hatte. »Ich muss im Städtle nach den Kranken sehen.«

Schiltach war in der Tat nicht groß. Umrahmt von bewaldeten Höhen lag es an der engsten Stelle des Kinzigtales, einem wichtigen Knotenpunkt für Reisende. In den Behausungen sowohl vor als auch hinter der Mauer, die lediglich den inneren Stadtkern umschloss, gab es einige, die zurzeit von quälenden Leiden geplagt wurden. »Mette, die junge Magd des Wagners, liegt mit Fieber darnieder und hustet Blut. Elens Mutter hat es ebenfalls erwischt. Und den Flößer Leutwin plagen Schmerzen in den Händen, die es ihm kaum noch ermöglichen zu arbeiten.«

»Ich allein zurechtkommen«, echote Ida. Im Grunde kannte sie sich im Wald besser aus als Johanna. Schließlich hatte sie einige Zeit darin gelebt.

Johanna schenkte ihr ein dankbares Lächeln. »Dann geh und such deine Freundin. Ich hoffe, du findest sie.« Verdutzt hielt sie inne. »Da fällt mir ein, ich wollte die Salbe für Leutwin fertigstellen, bevor ich ihn besuche. Das hatte ich in all der Aufregung ganz vergessen!« Ihr Blick huschte zu der Feuerstelle, an deren Rand aus gemauerten Feldsteinen eine Pfanne mit fettigem Inhalt stand. Als sie den Kopf wendete, sah sie gerade noch Idas Rücken, die ohne ein Wort verschwand. Johanna schaute ihr mit verkniffenen Lippen hinterher. Ob sie wohl jemals ihre Wildheit ablegen und ein normales Leben führen wird?

Dann glitten ihre Gedanken zu den Arzneien, die sie heute benötigte, und Ida war vergessen. Zum Glück galten die Speisevorschriften nicht für die Kranken, obwohl man ihnen kaum etwas Besseres vorsetzte.

2. KAPITEL

Ida überquerte den breiten gerodeten Streifen aus Wiesen und Feldern, den man rings um das Städtle angelegt hatte. Tief sog sie die klare Luft in ihre Lungen, während ihre Augen die angrenzenden Berge hinaufwanderten. Ein frostig weißer Schimmer überzog die Höhen. Dort oben lag noch Schnee. Hier unten war es milder. Wie Flaum auf dem Kopf eines Säuglings lugten die Schösslinge der Wintergerste aus der schweren braunen Erde hervor. Sanfte Sonnenstrahlen verliehen ihnen eine sattgrüne Farbe. Die Wärme würde den jungen Pflanzen guttun, obwohl gestern noch ein kurzer Schneeschauer über sie hinweggezogen war.

Ein paar Schritte vor Ida lief ein Schweinehirte, der sich mit dem Rest derer, die nicht der winterlichen Schlachtung zum Opfer gefallen waren, zu einem der brachliegenden Felder aufmachte. Sie ging dem Mann aus dem Weg, so gut sie konnte. Aufatmend stellte sie fest, dass er sie kaum beachtete. Er hatte alle Hände voll zu tun, damit die Tiere nicht durch die Hecken brachen, die die Felder umzäunten, um sich an dem saftig sprießenden Grün der neuen Saat zu laben. Nach der langen, harten Winterzeit gelüstete es auch sie nach der zarten Frische jungen Lebens.

Bald darauf erreichte Ida den Saum des Waldes und tauchte in sein grünes verborgenes Reich ein. Etwas Befreiendes strömte durch ihren Körper. Sie wusste, dass in der kaum gezähmten Wildnis aus unzähligen Bäumen und Pflanzen, die sich über die schroffen Berge zogen, Gefahren lauerten. Doch im Vergleich zu den Häusern des Städtle, und obwohl es ihr bei Johanna gut ging, fühlte sie sich hier wohler. Nach wie vor kam sie mit der Natur besser zurecht als mit anderen Menschen. Die Feuchtigkeit, die von den Bäumen tropfte, machte ihr nichts aus. Sie war Nässe, Kälte und Dreck gewöhnt. Zwar wusch sie sich, wenn Johanna es von ihr forderte, und hielt gehorsam still, sobald diese ihr Haar kämmte. Aber dies tat sie nur, um ihre Freundin nicht zu erzürnen. Es war nicht wichtig.

Das Fernbleiben der Wölfin hingegen war etwas, das ihre Gedanken mehr als alles andere beschäftigte. Sie war ihr sehr zugeneigt. Außer ihr und Johanna gab es nichts, das in Idas Leben eine größere Bedeutung gehabt hätte. Zwar kam es immer wieder vor, dass das Tier sich von ihr trennte, um einer Fährte nachzugehen oder zu jagen. Doch jedes Mal kam es nach einer Weile zurück. Nie war die Wölfin derart lange fortgeblieben. Idas kleines Herz zog sich vor Furcht zusammen. Die Vorstellung, dass sie verletzt oder gar getötet worden war, raubte ihr den Atem. Ihre Augen hefteten sich auf den weichen Untergrund unter ihren nackten Füßen, auf der Suche nach einer Spur.

Überall dort, wo das Geäst der Laubbäume genug Licht hindurchließ, war der Boden mit einem Teppich aus Scharbockskraut und Buschwindröschen übersät. Die kleinen Blüten reckten zum ersten Mal ihre Köpfchen und leuchteten wie gelbe und weiße Sterne. An anderen Stellen lagen die verstreuten Zapfen von Fichten und Tannen in einem Bett aus abgestorbenen Nadeln. Sie war weit gewandert, als Stimmen sie plötzlich aufhorchen ließen. Alles Leben um sie herum erstarrte, genau wie sie. Behutsam hob Ida den Kopf und lauschte. Spähte in die Richtung, aus der nun auch das Knarzen von Karrenrädern zu vernehmen war. Etwa dreißig Schritte vor ihr beschrieb der Weg eine Biegung und verschwand hinter einer mit Moos und Bäumen bewachsenen Erhebung. Überall lagen dicke Gesteinsbrocken umher. Ihr moosiger Überzug sah aus wie ein Bart, der ihnen im Lauf der Zeit gewachsen war.

Auf dem Pfad dahinter schienen sich mehrere Leute zu unterhalten. Bald verstand sie jedes Wort. Kein Zweifel. Sie kamen geradewegs auf sie zu. Mit geübtem Blick sah Ida sich um. Sie verspürte nicht die geringste Lust auf Gesellschaft. Hastig schlüpfte sie hinter einen mächtigen Felsbrocken, der ihre kleine Gestalt vollkommen verdeckte. Gerade noch rechtzeitig, denn schon hörte sie die Stimmen nur wenige Schritte entfernt. All ihre Sinne schärften sich. Sie war wie ein Tier vor dem Sprung. Jederzeit bereit, sich davonzumachen, falls es nötig sein sollte.

»Wie ich diese verfluchte Plackerei hasse«, maulte eine Frau. »Hoffentlich finden wir bald einen geeigneten Lagerplatz.«

»Nichts lieber als das«, seufzte eine jüngere. »Ich bin schrecklich müde.«

»Du und müde?«, wies sie eine weitere weibliche Stimme streng zurecht. »Vielleicht solltest du die Nacht mit Schlafen zubringen, anstatt etwas anderes zu treiben. Das hat schon so mancher geholfen.«

Der erdige Geruch des Mooses vor ihrem Gesicht kitzelte Ida in der Nase. Doch sie hielt ganz still. Erst als die Geräusche sich entfernten, lugte sie hinter dem Felsbrocken hervor. Sie entdeckte eine Gruppe Fahrender, die den holprigen Weg entlangschritt. Zerlumpte Gestalten, die mit zweirädrigen Karren unterwegs waren. Zwei mit dicken Bündeln beladene Gefährte wurden von einem Gespann aus großen zotteligen Hunden gezogen, deren Fell sie wie mächtige Schafe wirken ließ. Drei weitere von Frauen und Kindern, die vorn und hinten mit anpackten, während die Männer müßig hinterdreinschlenderten. Plötzlich drehten die beiden letzten sich um, als ob sie ahnten, dass man sie beobachtete.

Schnell wie eine Schlange zuckte Ida zurück und duckte sich tief hinter das Gestein. Doch sie hatte den Ausdruck in den Gesichtern der Kerle gesehen. Es lag keine Freundlichkeit darin. Hoffentlich ziehen sie rasch weiter, dachte sie beklommen. Zum Glück hatte sie den Pelz der Wölfin nirgends entdeckt. Der Gedanke erleichterte sie ein wenig, obwohl sie immer noch keine Spur von ihr gefunden hatte. Jetzt, wo die Truppe vorüber war, konnte sie endlich ihre Suche fortsetzen.

Ein Geräusch ließ Ida nach hinten blicken. Der Schreck fuhr wie ein Blitz durch ihre Glieder. Nur ein paar Schritte entfernt bewegte sich ein magerer halbwüchsiger Bursche auf sie zu. Sein dunkles struppiges Haar und die Kleidung, die er trug, machten denselben Eindruck wie die der Fahrenden. Es war offensichtlich, dass er zu ihnen gehörte. Der Junge sah tief in Gedanken versunken zu Boden. Offenbar hatte er sie noch nicht bemerkt. Doch dann stutzte er. In dem Moment, in dem er den Kopf hob, sprang Ida auf. Seine Lider weiteten sich ebenso erschrocken wie ihre. Er sagte kein Wort, starrte sie nur an. Sie hätte ihre Beine in die Hand nehmen und davonrennen sollen, aber etwas hielt sie zurück. Vielleicht waren es seine Augen, so grün wie das tiefe Wasser eines Bergsees, die ihr das Gefühl gaben, auf den Grund seiner Seele blicken zu können. Vielleicht der verletzliche Zug um seinen Mund. Sie wusste es nicht. Ein paar Herzschläge lang stand sie einfach nur da und betrachtete ihn mit der gleichen Intensität, mit der er sie musterte. Dann drehte sie sich weg und hastete davon.

Johanna schickte sich an, die Salbe anzufertigen, die sie Leutwin geben wollte, band sich eine Schürze um und wendete sich der Feuerstelle zu. Das sanfte Licht, das durch die geöffneten Fensterläden hereinfiel, beleuchtete die tote Krähe, die wie ein stummer Wächter danebenlag. Ein ungemütliches Gefühl stieg in ihr auf.

Lass dich nicht beirren!, tönte plötzlich die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. Erlaube es nicht, dass man dich einschüchtert, sonst wirst du Fehler machen, weil du nicht recht bei der Sache bist. Konzentriere dich auf das Wesentliche!

Mutter war ebenfalls eine Heilerin gewesen. Die Menschen hatten ihr vertraut, bis sie vor über einem Jahr gestorben war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie Johannas gesamte Familie dargestellt. Ohne viel Aufhebens hatte sie Johanna durch ihre Kindheit getragen und den Vater ersetzt, der sie sitzen gelassen hatte. All ihr Wissen stammte von dieser tapferen, unerschütterlichen Frau, die lange Zeit der Mittelpunkt ihrer Welt gewesen war. Im Grunde hätte sie sich kein besseres Vorbild wünschen können. War es ihre eigene Phantasie, die ihr das Gefühl gab, dass ihre Mutter zu ihr sprach? Inzwischen geschah es immer seltener, aber dennoch zu Zeiten, in denen sie nach einer Lösung suchte oder nicht weiterwusste. Und den Worten in ihrem Innern mangelte es nie an Weisheit. Auch dieses Mal hatte sie recht.

Johanna atmete aus tiefster Seele ein, packte den Vogel bei seinen Federn und ging hinaus, um ihn im Garten zu begraben. Zufrieden klopfte sie die Erde von Schürze und Händen. Jetzt würde sein Anblick sie nicht mehr stören.

Von neuem Mut erfüllt widmete sie sich ihrer Aufgabe. Leutwin hatte ihr ein Töpfchen mit Schmalz mitgegeben, in der Hoffnung, er würde am nächsten Tag die fertige Arznei erhalten. So hatte sie vor dem Zubettgehen zwei Beinwellwurzeln zerkleinert – sie waren ein Teil der gesammelten Schätze des vergangenen Herbstes – und diese in ein wenig Fett geröstet. Manche nannten die Pflanze Wallwurz, weil mit ihrer Hilfe gebrochene Knochen und Wunden besser zusammenwuchsen.

Doch es gab Dinge, die gewöhnlichen Menschen verborgen blieben. Wissen, das von einer Heilerin an die nächste weitergegeben wurde. Vermutlich versuchte jede, die Methode zu verfeinern, so wie sie selbst. Und es gab noch so viel mehr, das sie gern erforscht hätte. Johannas Stirn kräuselte sich. Die Spanne ihres Lebens würde nicht ausreichen, um alle Geheimnisse der Schöpfung zu verstehen.

Wenigstens hatte sich die Salbe als gut erwiesen. Nach dem Rösten hatte sie den Rest des Schmalzes löffelweise hinzugetan und so lange mit der Masse verrührt, bis sich alles verbunden hatte. Nun, da sie über Nacht gezogen war, erhitzte sie diese ein zweites Mal.

Während sie darauf wartete, dass das flüssige Fett ein wenig abkühlte, trat sie zu den Regalborden an der Wand. Tiegel, Spanschachteln und kleine Säckchen voller Kräuter befanden sich hier, die sie zuvor sorgsam getrocknet hatte. Etwas mehr als die Hälfte davon hatte sie schon verbraucht, doch sie fand die Sommertriebe des Schachtelhalms, dessen Wuchs an junge Tannenbäumchen erinnerte. Ein Sud würde Leutwin gute Dienste leisten. Johannas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Als Kind hatte sie die Pflanze Katzenschwanz genannt, und sie war längst nicht die Einzige gewesen.

In einem weiteren Säckchen fand sie Brennnesselsamen. Die Kuppe ihres Zeigefingers betastete sanft die braungrünen Körnchen. Immer wieder erstaunte es sie, dass die winzigen Kügelchen nicht dieselbe Feindseligkeit wie der Rest der Pflanze zeigten. Und obwohl sie so kümmerlich wirkten, kräftigten sie den Körper, wenn man sie zu sich nahm. Würden sie Mette das zurückgeben, was sie bereits verloren hatte?

Die junge Magd bereitete ihr die größte Sorge. Vor ein paar Tagen hatte sie ihr getrocknete Salweidenblätter vorbeigebracht und einen Sud daraus zubereitet. Sie konnte nur hoffen, dass er angeschlagen hatte. Für Elens Mutter würde sie jungen Spitzwegerich pflücken. Auch er war ein gutes Mittel gegen Krankheiten der Atemwege, woran diese ebenfalls litt. Obwohl es ein anderes Leiden als bei Mette war. Vorsorglich packte sie noch ein Säckchen zerstoßene Weidenrinde in ihren Korb.

Nachdem sich das Schmalz derart abgekühlt hatte, dass es noch flüssig, aber nicht mehr kochend heiß war, seihte Johanna es durch ein Leintuch in Leutwins Töpfchen zurück und presste das Gewebe gut aus. Endlich lag alles in ihrem Korb, und so machte sie sich auf den Weg.

Johannas Häuschen befand sich am Rand der Vorstadt, ein wenig abseits von den anderen. Die Wohnstätten der Flößer, Gerber und Müller schlossen sich in einiger Entfernung an. Rauch kräuselte sich über den Dächern und zog in einen freundlichen Himmel empor. Weiden, Holunder, Ebereschen und Walnussbäume, deren Blattknospen sich in unterschiedlichen Stadien der Reife befanden, umstanden sie wie Wächter. Bald würde ihnen ein dichter grüner Schopf wachsen, der im Sommer für angenehm kühlen Schatten sorgte.

An die meisten der einfachen Behausungen grenzte ein Gemüsegarten an, der von Hagebutten- und Schlehenhecken gesäumt war, die die Pflanzen vor unliebsamen Räubern schützten. Johanna mochte die sommerlichen rosafarbenen Blüten der Hagebutten. Darüber hinaus würde bald ein weißes Blumenmeer an den weitverzweigten Ästen der Schlehen prangen, das sie harmloser aussehen ließ, als sie waren. Der Kontakt mit ihren langen, mit einem Widerhaken versehenen Dornen führte oft zu entzündeten Wunden.

Das beständige Glucksen von im Dreck scharrenden Hühnern drang an ihre Ohren. Ein stattlicher Hahn stand auf der Spitze eines Misthaufens, reckte seinen Kopf und krähte stolz, während seine Hühnerschar friedlich vor sich hin pickte. Kinder rannten einem bellenden Hund hinterher.

Ein jedes ging seinen gewohnten Gang, und sie alle vereinte das Leben vor den Toren der Stadtmauern, nur ein paar Schritte von der Kinzig entfernt. Das Wasser des Flusses gurgelte leise, als Johanna an seinem Ufer entlangschritt. Sie grüßte ihre Nachbarn, die ihr freundlich zunickten. Hier und da bückte sie sich, um die schmalen, lanzenförmigen Blätter des Spitzwegerichs zu pflücken und in ihren Korb wandern zu lassen. Er wuchs an jedem Wegesrand und war ein wahrer Meister der Heilung vieler Krankheiten. Besonders jener der Lunge. Jetzt waren seine Triebe noch jung, und sie musste genau hinsehen, um sie an den langen, geradlinigen Adern zu erkennen. Doch die Wirkung würde umso kräftiger sein. Ich werde Mette auch etwas davon bringen, beschloss sie. Selbst wenn die Salweide angeschlagen hat. Eine Kombination der beiden Kräuter wird nicht schaden. Man sollte nichts unversucht lassen.

Auch die kleinen glänzenden Blätter des Scharbockskrauts sammelte Johanna, das zu den ersten Pflanzen gehörte, die sich nach dem Winter aus der Erde wagten. Hier und da griff sie beherzt zu, um junge Brennnesseltriebe zu pflücken, deren Bisse weniger brannten, wenn man nicht allzu zaghaft mit ihnen umging. Auch Gänseblümchen, Gundermann, Schafgarbe und Vogelmiere landeten in ihrem Korb. Sie würde eine Suppe daraus kochen, die neue Kraft gab und die bleierne Müdigkeit vertrieb, die nach dem Winter in ihren Gliedern nistete.

Der Geruch faulenden Fleisches und bitterer Lohe stach ihr in die Nase. Mit dem Einsetzen des Frühjahrs hatten die Gerber ihre Arbeit nach draußen verlegt, doch das Wasser der Kinzig, das sie zum Waschen und Spülen ihrer Häute verwendeten, war eiskalt. Die karge Kost des Winters und das anschließende Fasten taten ein Übriges. So blieb es nur eine Frage der Zeit, bis weitere Kranke ihre Hilfe beanspruchten. Den Scharbock, den die kalte Jahreszeit hervorbrachte, wussten sie selbst zu bekämpfen. Die gleichnamige Pflanze mit den gelben sternförmigen Blüten eignete sich hervorragend dazu, und auch die Suppe, die sie für sich und Ida kochen würde, war den meisten bekannt.

Leutwin saß vor seinem Haus und ließ sich von der Sonne bescheinen. »Johanna! Wie gut, dass du kommst.« Der etwa vierzigjährige hagere Mann, dessen hellbraunes Haar in letzter Zeit immer dünner wurde, schien auf sie gewartet zu haben. Seine ledrige Gesichtshaut warf zahlreiche Fältchen, als er lächelte.

Johanna erwiderte seine freundliche Miene. »Ich grüße dich. Wie geht es dir heute?«

Das Lächeln in Leutwins Gesicht verschwand, während er einen tiefen, bekümmerten Atemzug nahm. »Nicht gut. Meine Hände schmerzen fürchterlich.« Er betrachtete seine knotigen Finger, von denen einige deutliche Fehlstellungen aufwiesen. Besonders die Gelenke der Ring- und Mittelfinger waren betroffen. Leutwin seufzte, während Sorge in seine Augen trat. Wie die meisten Flößer arbeitete er im Winter als Holzhauer in den ausgedehnten Waldgebieten des Schwarzwaldes. Die Kälte hatte ihm nicht gutgetan. Seine Krankheit plagte ihn schon seit Jahren, und das Wasser der Kinzig verstärkte sie noch. Doch in den letzten Monaten hatte sie sich deutlich verschlechtert. »Wenn das so weitergeht, werde ich nicht mehr arbeiten können.«

Johanna verzog beklommen den Mund. Sie verstand, was ihn bedrückte. Glücklicherweise hatte er zwei erwachsene Söhne, die ebenfalls Flößer waren und die Eltern unterstützen konnten, falls er dazu nicht mehr in der Lage war. Dennoch würden sie alle den Gürtel enger schnallen müssen.

»Am besten tust du gleich Salbe darauf. Sie ist noch warm. Spare nicht damit. Ich habe genügend Beinwell übrig.«

Sie holte das Säckchen mit dem Schachtelhalm aus ihrem Korb. »Ich habe dir noch Kräuter für einen Sud mitgebracht. Dein Weib soll sie zerkleinern und einen guten Löffel davon mit zwei Bechern kaltem Wasser ansetzen. Danach muss das Ganze eine Weile kochen. Wenn der Sud etwas abgekühlt ist, trinkst du ihn schluckweise. Tu dies zweimal am Tag. Er sollte jedes Mal frisch zubereitet werden.« Sie schenkte ihm einen aufmunternden Blick. »Ich hoffe, deine Beschwerden werden dadurch gelindert.«

Leutwin nickte. »Geh nur hinein und sag es ihr selbst. Sie wartet schon auf dich.«

Nachdem dies getan war, machte sich Johanna in die Richtung des Stadttores auf. Der Himmel leuchtete in einem hellen Blau, in dem ein paar harmlose Schäfchenwolken träge dahinzogen. Trotz des Leids, dem sie sich stellen musste, schenkte ihr sein Anblick einen Moment tiefen Friedens. Wärme und die Geräusche von Vögeln und den ersten Insekten erfüllten die Luft. Das Wetter würde nicht halten, aber endlich war der Winter vorüber. Der Kreislauf der Natur begann von Neuem. Nach all der Entbehrung würde bald eine Zeit der Fülle folgen.

Kurz darauf schritt sie durch die geöffneten Flügel des unteren Tores, das in einem steinernen Bogen die hohe Wehrmauer durchbrach. Die ansteigende Gasse führte sie direkt zu dem dreieckigen Marktplatz, der von den Gebäuden der Gaststätten und Handwerker gesäumt war. Ihr Fachwerk bildete einen hübschen Kontrast zu den meist frisch geweißten Wänden. Alles stand für die Neuankömmlinge bereit.

Schiltach war schon immer eine ideale Rast für Reisende gewesen, die vom Kinzigtal ins Neckartal unterwegs waren oder umgekehrt. Auch heute sah sie Menschen, zumeist mit trittsicheren Maultieren, obwohl der Hochbetrieb noch nicht begonnen hatte. Auf den Höhen lag immer noch Schnee. Mit schweren Wagen konnte man sie nicht passieren. Selbst zu Fuß oder zu Pferd war es nicht nur beschwerlich, sondern auch ebenso gefährlich. Nur wenige wagten den frühzeitigen Aufstieg.

Vom Marktplatz stieg der Weg steil an und führte an der Burg vorbei, die hoch über der Stadt auf dem Sporn des Schlossbergs thronte. Johannas Augen glitten die Steige hinauf. Von hier unten war die Feste gut zu sehen. Hermann III., Herzog von Teck, wohnte hinter den dicken Mauern, ohne dass man ihn jemals zu Gesicht bekäme. Nicht dass sie etwas dagegen gehabt hätte. In den allermeisten Fällen bedeutete es nichts als Ärger, wenn man auf die Burg gerufen wurde. Darauf verzichtete sie gern. Seine Schwester Herzogin Beatrix, deren Kinder und ihr Gatte Reinhold von Urslingen lebten ebenfalls dort. Der alte Tecker war vor Kurzem gestorben.

Ein leiser Schauder jagte über Johannas Rücken, als sie an ihre Begegnung mit dem Urslinger im letzten Jahr dachte. Er war nicht das, was man als angenehmen Menschen bezeichnen konnte. Auch seinem Schwiegervater hatte es an jenem Edelmut gemangelt, den man von einem Mann seines Standes erwartete. Sie schätzte, dass Beatrix erleichtert aufgeatmet hatte, nachdem ihr Gatte vor Monaten als Soldritter nach Italien gezogen war. Gewiss hatte er sie spüren lassen, dass sie ihm dieses Mal nur eine Tochter geboren hatte. Obwohl auch er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht immer erfüllte. Man munkelte, dass er des Öfteren knapp bei Kasse war. Bisher war er nicht zurückgekehrt. Ein aufwendiger Lebensstil hatte eben seinen Preis.

Bald werden die Einnahmen wieder fließen, dachte Johanna grimmig. Der Zoll wird eine gewaltige Menge Münzen in die leeren Truhen spülen.

Allzu lange würde es nicht mehr dauern. An Georgi, dem 23. April, begann nicht nur die Flößerei aufs Neue. In aller Regel war dann der letzte Schnee geschmolzen und machte die Höhen zugänglicher. Bis dahin liefen die Geschäfte im Städtle eher gemächlich. Die Wirtshäuser hatten nur wenige Gäste und die Handwerker nicht viel zu tun.

Mette, die Nächste auf ihrer imaginären Liste, arbeitete bei Roland und seinem Weib Hille. Seine Werkstatt lag ebenfalls am Rand des Marktplatzes. Im Grunde war sie Mädchen für alles, wobei ihr Zustand im Moment nicht einmal die einfachsten Tätigkeiten erlaubte.

Sie entdeckte den Wagner bei dem benachbarten Schmied, dessen Tor zu seiner Esse weit offen stand. Mit großen Zangen holten die beiden gerade einen mächtigen eisernen Reif aus dem Feuer. Johanna blieb stehen und beobachtete fasziniert, was dort vor sich ging. Wagner und Schmied ließen sich davon nicht stören. Mit konzentrierten Mienen legten sie das rot glühende Eisen über die hölzerne Felge eines fertigen Wagenrades. Es schien kaum größer als der äußere Rand des Radkranzes zu sein, und es bedurfte flinker, geschickter Hände, bis es ihn ordentlich umschloss. Gekonnte Hammerschläge trieben es an die richtige Stelle. Ruprecht, Rolands Geselle, half ihnen dabei.

Nach einem Nicken des Wagners goss er den Inhalt der bereitgestellten Wasserkübel darüber. Es zischte, brodelte und dampfte. Rasch verlor das Metall seine leuchtende Farbe, die sich in ein stumpfes schwärzliches Grau verwandelte. Roland nahm ein Tuch von seinem Gürtel und trocknete sich die schweißtriefende Stirn. »Der Reif zieht sich ordentlich zusammen«, stellte er nach einer kurzen Überprüfung fest. Anscheinend war er zufrieden mit seiner Arbeit.

Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf Johanna, die immer noch das dampfende Rad betrachtete. Entgegen ihrer Befürchtung war es nicht verbrannt. Doch ihr leuchtete ein, dass das Eisen einen beträchtlichen Schutz für das weichere Holz des Rades darstellte. Mit seiner Hilfe würde es gegen die Widrigkeiten der Straße besser gewappnet sein. »Sei mir gegrüßt, Johanna«, riss der Wagner sie aus ihren Überlegungen. »Geh nur hinein. Hille erwartet dich bereits.«

Sie schlenderte die wenigen Schritte zu dem schmalen zweistöckigen Gebäude hinüber, das wie alle Häuser, die an den Marktplatz grenzten, von einigem Wohlstand kündete. Ein mit prächtigen Schnitzereien verzierter Türsturz umrahmte den Eingang. Johanna ergriff den schweren Klopfer und musste nicht lange warten, bis die Hausfrau öffnete.

»Wie gut, dass du kommst.« Hille, eine dralle Frau, die ihrem Mann schon etliche Kinder geboren hatte, wirkte besorgt.

»Wie geht es Mette?«

»Schlecht.« Hille runzelte bedeutungsvoll die Stirn. »So wird sie jedenfalls nicht arbeiten können. Dabei gäbe es eine Menge zu tun.« Wie zur Bestätigung erklang ein erboster Aufschrei von oben, der von Getrappel und den lautstarken Stimmen zweier Jungen abgelöst wurde, die alles andere als freundlich klangen. Schließlich kreischte ein Mädchen schmerzerfüllt auf.

Hille warf einen nervösen Blick die Treppe hinauf. Die Decke über ihnen erbebte. Nur einen Atemzug später polterte es, als ob eine wilde Rauferei im Gange wäre. »Geh schon einmal vor. Du weißt ja, wo sie liegt.« Sie raffte die Röcke ihres Gewandes und eilte die Stufen hinauf.

Auf dem Weg zur Küche, wo man der Magd ein Lager neben dem Feuer bereitet hatte, fragte sich Johanna, ob es ihrer Herrin mehr um ihre Arbeitskraft als um ihr Leben ging. Normalerweise schlief Mette in einer Dachkammer, wo es im Winter kalt und im Sommer heiß war. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie das Mädchen dort oben angetroffen und sofort veranlasst, dass man sie an einen wärmeren Ort brachte. Die dünnen Schindeln, die die Holzkonstruktion des Daches bedeckten, boten nicht viel Schutz. Als sie allein waren, hatte Mette ihr zugeflüstert, dass oft der Wind durch die Ritzen ziehe und die oberste Schicht ihrer Zudecke im Winter nicht selten gefroren sei, sobald sie erwache. Ein Gefühl der Empörung regte sich in Johannas Brust, als sie daran dachte. War es da ein Wunder, wenn Mette erkrankte? Nicht einmal sie musste unter solchen Bedingungen leben.

Wenigstens jetzt hatte das Mädchen es warm, obwohl Hille es nun ein wenig übertrieb. Johanna brach der Schweiß aus, als sie die Küche betrat. Die junge Magd lag auf einem Strohsack in der Nähe der Feuerstelle und keuchte. Ihre Zudecke hatte sie von sich geschoben. Die Beckenknochen, die sich unter dem Hemd abzeichneten, stachen erschreckend scharf hervor. Sie war siebzehn und viel zu mager für ihr Alter. Sie bedeckte sich hastig, als sie Johanna bemerkte. Dies löste einen Hustenanfall aus. Das Tuch, dass sie mit zitternder Hand vor den Mund hielt, verhüllte nicht das Blut, das daraus hervorquoll.

Johanna verbarg mit Mühe ihre Sorge, die bei diesem Anblick in ihr aufstieg. »Ich grüße dich, Mette. Wie geht es dir heute?«

Das Mädchen rang nach Luft. Ihre aschfahle Haut ließ ihre hellblauen Augen noch größer erscheinen. Das hübsche Gesicht wirkte ausgezehrt. Eine kleine Stupsnase ragte spitz daraus hervor. Schließlich zuckte sie mit den Schultern, die ebenso knochig wie ihr Becken waren. »Nicht besonders gut. Ich fürchte, es geht mit mir zu Ende.«

Tränen brannten plötzlich in Johannas Augen. Fast war es um ihre Beherrschung geschehen, als sie begriff, dass diese Vermutung nicht abwegig war. Offensichtlich verfiel Mette mit jedem Tag mehr. Und obwohl die junge Magd beharrlich darüber schwieg, wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie schon eine ganze Weile unter dieser Krankheit litt und sie, aus Angst, ihre Stellung zu verlieren, bisher verheimlicht hatte. Sanft legte sie eine Hand auf Mettes Stirn. »Du darfst nicht aufgeben, hörst du?« Ihre Haut fühlte sich unverändert an. Das Fieber war nicht hoch, aber immer noch da. »Haben die Salweidenblätter geholfen?«

Mette schüttelte deprimiert den Kopf.

»Ich habe dir frische Spitzwegerichblätter mitgebracht. Wir werden einen Sud daraus zubereiten, den du abwechselnd mit dem Salweidensud trinkst.« Um ihren Kummer zu vertreiben, fischte sie eifrig einen Teil der Blätter aus dem Korb an ihrem Arm.

Hille kam derweil mit hochroten Wangen zur Tür hereingerauscht. »Diese beiden Bengel bringen mich noch um den Verstand!«, schimpfte sie.

Johanna quittierte ihren Ausbruch mit einem mitleidlosen Lächeln. Sie konnte froh sein, dass die fünf- und sechsjährigen Buben vor Leben sprühten. Mette hätte vermutlich nichts lieber getan, als den Disput der beiden Streithähne zu schlichten, anstatt todkrank darniederzuliegen. Doch sie würde ihr nicht helfen, wenn sie ihre Herrin verärgerte. So verbarg sie ihr Temperament, das hin und wieder für Ärger sorgte, und erklärte Hille, was sie mit dem Spitzwegerich anstellen sollte.

»Hast du noch Weidenrinde gegen das Fieber?«

»Keine einzige Krume.«

»Ich habe frische mitgebracht. Nimm dir ein paar Löffel davon. Den Rest sollte ich wieder mitnehmen. Oh, und noch etwas.« Sie wandte sich an Mette. »Wie steht es mit deinem Appetit?«

»Sie isst wie ein kleines Vögelchen«, antwortete Hille statt ihrer.

Johanna drehte den Kopf in die Richtung der Frau. »Versuche es mit warmer Milch und Honig. Für Mette gelten die Fastengebote nicht«, erklärte sie, obwohl sie davon ausging, dass Hille genug Münzen in ihrem Beutel hatte, um die verbotenen Speisen durch gleichwertige zu ersetzen. Wieder kramte sie in ihrem Korb und förderte die Brennnesselsamen zutage. »Gib täglich zwei Löffel voll davon hinein. Das wird sie stärken.«

Zum Abschied beugte sie sich noch einmal über Mette und drückte die schlaffe Hand. »Es ist wichtig, dass du alles zu dir nimmst, was ich mitgebracht habe, verstehst du?«

Die Miene des Mädchens verkrampfte sich.

»Du darfst jetzt nicht die Hoffnung verlieren. Ich schaue morgen wieder vorbei.«

Mette verzog die Lippen zu einem pflichtschuldigen Lächeln und nickte wie ein Kind, dem man befahl, einen Regenwurm zu essen.

Hille begleitete sie hinaus. »Wird sie wieder gesund?«

Johanna bemühte sich, nicht allzu bekümmert dreinzublicken. »Ich weiß es nicht. Hoffen wir, dass die Arznei anschlägt. Wenn nicht, kann nur ein Wunder sie heilen.«

Hilles Augen füllten sich mit Tränen. Zum ersten Mal gewann Johanna den Eindruck, dass ihr etwas an dem Mädchen lag. »Sie ist doch noch so jung. Kann ich denn gar nichts tun?«

»Bete für sie, ermuntere sie zu essen und gib ihr regelmäßig ihre Arznei. Am Ende ist es der Herr, der das letzte Wort hat.«

Dies zu akzeptieren fiel Johanna ebenso schwer wie Hille. Auch sie hatte begreifen müssen, dass sie nicht allen helfen konnte. Selbst wenn sie es noch so sehr wollte. Das Leben konnte grausam sein, und nicht gegen jedes Leiden war ein Kräutlein gewachsen, obwohl ihre Mutter in dieser Hinsicht eine andere Meinung hatte. Gott lässt keine Krankheit entstehen, ohne ein entsprechendes Kraut dafür wachsen zu lassen. Es muss nur gefunden werden, war ein gern zitierter Spruch von ihr. Und doch war sie ebenfalls gestorben wie schon so viele vor ihr.

Draußen stieß Johanna auf Genefe, die Schankmagd des »Hirschen«, einem Gasthaus, das auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes lag.