Die Kräutersammlerin und der zweifache Tod - Heidrun Hurst - E-Book

Die Kräutersammlerin und der zweifache Tod E-Book

Heidrun Hurst

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Beschreibung

Ein mysteriöser Fall zwischen Familiengeheimnissen und Kräutermedizin. Schwarzwald, 1347. Das beschauliche Örtchen Schiltach wird von mehreren Verbrechen erschüttert: Stallbesitzer Merckel liegt ermordet in der Schweinesuhle, Heilerin Johannas junge Freundin Ida wird entführt, und in einer verborgenen Hütte im Wald wird eine tote Frau gefunden. Wie hängen all diese Ereignisse zusammen? Johanna und Flößer Lukas setzen alles daran, die Fälle aufzuklären – doch je tiefer sie graben, desto verworrener wird das Geflecht aus Missgunst und Geheimnissen, auf das sie stoßen ...

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Seitenzahl: 554

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Heidrun Hurst, geboren 1966 in Kehl am Rhein, hat sich auf das Schreiben historischer Krimis und Romane konzentriert. Zu ihrer Spezialität gehören gut recherchierte Geschichten, die unter die Haut gehen und sich einfühlsam mit dem Schicksal der einfachen Leute beschäftigen. Dabei verbindet sie fiktive Charaktere mit historischen Tatsachen. Von Rezensenten werden ihre Romane als ergreifend, atemberaubend und abseits des Klischees beschrieben. Sie ist Mitglied bei »HOMER« und dem »AutorenNetzwerk Ortenau-Elsass«.

www.heidrunhurst.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: arcangel.com/Elisabeth Ansley, shutterstock.com/cesu39

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-183-6

Historischer Schwarzwaldkrimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Mühlhausen-Ehingen.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Nur wer die Vergangenheit kennt,

kann die Gegenwart verstehen

und die Zukunft gestalten.

PROLOG

Isbert stieß gähnend die Fensterläden auf, sog frische Morgenluft in seine Lungen und lugte hinaus. Ein rosiger Schimmer vertrieb die Dunkelheit über den Berggipfeln im Osten. Der liebliche Farbton erinnerte ihn an die Blüten der Hundsrosen, deren Hecken seinen Garten begrenzten. Kein Wölkchen trübte das Rot. »Scheint ein schöner Tag zu werden«, bemerkte er gut gelaunt.

»Das will ich doch meinen. Schließlich haben wir Sommer«, erwiderte Lene in seinem Rücken.

Dass die Jahreszeit kein Versprechen für gutes Wetter war, hatte Isbert in der Kindheit erfahren. In seinem sechsten Sommer hatte es zur Zeit der Heuernte so ausdauernd geregnet, dass Mensch und Vieh von Kälte und Nässe krank wurden und das Korn auf den Feldern verdarb. Wochenlang hingen bleierne Wolken am Himmel, die außer einer Unmenge an Wasser nur selten etwas Sonne durchließen. Im darauffolgenden Winter war der Tod wie ein Schnitter durch die Häuser gefahren. Zwei seiner Schwestern hatte er durch ein Fieber geraubt, dem die entkräfteten Mädchen nicht trotzen konnten. Doch er widersprach Lene nicht. Sie war zu jung, um davon zu wissen, und er wollte sie nicht unnötig ängstigen.

Lene kniete vor der Feuerstelle in der Mitte des Raumes, wo sie frisches Holz auflegte. Flammen fraßen sich knisternd durch die Scheite, als er zu ihr trat. Darüber hing ein Kessel, in dem es zu köcheln begann. Er hauchte einen Kuss auf Lenes Scheitel. Sie roch nach Schlaf, trockenem Stroh und der Lust, die letzte Nacht die seine entfacht hatte.

Doch nun galt es, das Tagwerk zu vollbringen. Wie üblich hatten sie sich vor dem ersten Hahnenschrei von ihrem Lager erhoben. Lene sah lächelnd zu ihm auf. Ihre blauen Augen erfüllten sein Herz mit Wärme. Sie war ihm ein gutes Weib, zufrieden mit dem bescheidenen Leben, das er ihr bot, obwohl niemand sie gefragt hatte, ob sie die Frau eines Hirten werden wollte, der zu den unehrlichen Leuten zählte. Isbert liebte sein Amt. Mit Freuden hatte er den Hirteneid vor den Stadtoberen geleistet: »Dem Vieh getreu und wohl zu warten.« Und genau dies tat er Tag für Tag.

Ihr Hungerleider von Vater konnte seine Begeisterung über einen Esser weniger an seinem Tisch kaum verhehlen, als Isbert um sie gefreit hatte. Und so war es schnell beschlossene Sache gewesen, dass Lene die Munt des Vaters verließ, um die Mutter seiner Kinder zu werden. Sie hatten sich als Ehepaar zusammengerauft. Dass Liebe daraus entstehen würde, konnte anfangs keiner wissen.

Vielleicht war dies seiner ungebrochenen Lebensfreude zu verdanken, die Lene über seine Mängel hinwegsehen ließ, denn im Gegensatz zu ihr war er weder stattlich noch schön. Sie war mehrere Jahre jünger als er, hatte makellose Haut und ein freundliches Gesicht, das von hellen Haaren umrahmt wurde. Es floss fast bis zu ihren Hüften, wenn sie es für ihn öffnete, und umschmeichelte ihre weiblichen Rundungen, die genau so waren, wie er es mochte. Einzig der ausbleibende Nachwuchs gab ihm zu denken, obwohl sie sich redlich darum bemühten.

»Lass uns essen.« Mit einem Kuss verscheuchte Lene die kurze Sorge und drückte ihm ein Schälchen mit Haferbrei in die Hand, das sie mit Walderdbeeren verfeinert hatte.

Nach dem Frühmahl brach Isbert auf. Der Brei hinterließ ein angenehm sättigendes Gefühl in seinem Magen. Lene reichte ihm die Hirtentasche, in der sich Proviant und eine Steinschleuder befanden. Bei der Abwehr von Wölfen oder Luchsen leistete sie ihm gute Dienste. Bei Bären allerdings blieben außer wedelnden Armen und Geschrei oft nur der Hirtenstab und ein inbrünstiges Gebet, um sie in die Flucht zu schlagen.

Isbert hängte sie über die Schulter, nahm den Stab und öffnete die Tür. Mit langen Schritten, die seiner großen, hageren Gestalt entsprachen, durchmaß er die langsam zum Leben erwachende Vorstadt. Ein herzhaftes Gähnen dehnte seinen Mund derart, dass eine ganze Hühnerkeule darin Platz gefunden hätte. Leider kam er selten in deren Genuss. Mit einem Lächeln auf den Lippen grüßte er Gerber und Flößer, die sich den Anforderungen des neuen Tages stellten. Ein tiefer Atemzug glitt in seine Lungen. Jetzt war die Luft noch frisch. Doch sobald die Gerber damit anfingen, rohe Häute zu bearbeiten, und in ihren Lohgruben rührten, würde sich ein faulig bitterer Geruch über die Häuser legen, der sich in der sommerlichen Wärme zu üblem Gestank entwickelte. Wie gut, dass er nicht den ganzen Tag hier verbringen musste.

Bald darauf erreichte er die Stadtmauer Schiltachs. Die Wächter hatten das untere Tor geöffnet, durch das ihm Kühe und Kälber entgegentrotteten. Er grüßte den Kuhhirten, der mit seinem Stab eine Färse antrieb, die stehen geblieben war, um neugierig an einer Pfütze zu schnüffeln. Das Tier stob bockspringend davon. Isbert trat rasch zur Seite und passierte den steinernen Bogen, sobald der Weg frei war, um in den ummauerten Stadtkern zu gelangen. Der Austrieb der Tiere aus der Stadt geschah nach einer genau einzuhaltenden Reihenfolge. Zuerst kamen die Rinder, danach die Schweine und schließlich Schafe und Ziegen.

Ein paar Schritte vor ihm quälte sich Heintzlin den ansteigenden Weg hinauf. Schwer auf seine Krücken gestützt kämpfte er sich, das lahme Bein hinterherziehend, voran. Er war einer der wenigen Bettler im Städtle. Der Schwarzwald war eine harte Gegend, die nicht allzu viele Betuchte hervorbrachte, die in der Lage waren, reichlich Almosen zu verteilen. Entweder konnte man arbeiten, oder man starb des Hungers. Der eine früher, der andere später. Isbert beschlich ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, dass auch ihn dieses Los ereilen könnte, sollte er mit einer Krankheit oder einem schweren Unfall geschlagen werden.

Ein krampfhaftes Schlucken bewegte seinen Kehlkopf, der sich deutlich von seinem sehnigen Hals abhob. Dann wandte er sich den Horbknechten zu, die mit ihren Reisigbesen den dreieckigen Marktplatz fegten, dessen Fläche zur Steige hin steiler wurde. Es machte keinen Sinn, über Dinge nachzugrübeln, die vielleicht niemals eintraten. Einer der Knechte fluchte laut über die Menge an dampfenden Kuhfladen, die der Austrieb der Rinder hinterlassen hatte. Isbert grinste. Es war durchaus möglich, dass sich bald weitere, noch unangenehmere Ausscheidungen hinzugesellten.

Kurz darauf erreichte er den Brunnen. Er stellte sich daneben, stützte sich auf seinen Hirtenstab und pfiff scharf durch die Zähne. Sein Blick fiel auf den »Hirschen«, eine Wirtschaft, in der vor drei Jahren ein schreckliches Verbrechen stattgefunden hatte. Der Hirte erinnerte sich mit Schaudern daran. Auch er hatte damals geglaubt, dass der Teufel und seine Dämonen ihr Unwesen im Städtle trieben. Die Täter waren längst gefasst und ihrer gerechten Strafe zugeführt worden, was man vor allem der Heilerin Johanna und ihrem Mann Lukas zu verdanken hatte, die in seiner Nachbarschaft wohnten. Er mochte die beiden und hatte schon so manches Mal um Rat gefragt, wenn ihn ein Zipperlein drückte.

Das wiederholte Pfeifen rief seine Schützlinge herbei. Mit den Sprösslingen der Städter im Gefolge trippelten sie grunzend und quiekend heran. Freude erhellte sein schmales Gesicht, in dem eine ausgeprägte Nase prangte. Er begrüßte jedes einzelne Tier und neckte mit gutmütigen Scherzen die mit Gerten bewaffneten Überbringer. Seine Zuneigung zu Schweinen teilten nur wenige. War es doch so sicher wie das Amen in der Kirche, dass sie früher oder später im Kochtopf landeten und es daher besser war, nicht allzu sehr an ihnen zu hängen. Isbert war dennoch der Meinung, dass sie sich bis zu jenem verhängnisvollen Tag sauwohl fühlen durften. Zumindest tat er alles, was hierfür in seiner Macht stand. An den strengen Geruch der rotbraunen Borstentiere hatte er sich längst gewöhnt. Oft nahm er ihn gar nicht mehr wahr.

Als er alle beisammenhatte, durchmaß er mit seiner Herde ein weiteres Mal die Vorstadt, um dort den Rest einzusammeln. Auch seine eigenen Tiere, eine Sau mit sechs prächtigen Ferkeln, entließ er aus der Dunkelheit des Stalles. Er warf Lene eine Kusshand zu, bevor er mit seiner stattlichen Herde den gerodeten Streifen rund um Schiltach passierte. Schmale Wege führten an Feldern und Wiesen vorbei. Isbert achtete in ständiger Hut darauf, dass keines der Schweine durch eine Begrenzungshecke brach und sich an Gerste, Hafer und manch anderem Grün labte, das schon beachtlich hoch stand.

Eine Gänseschar, hinter der ein Mädchen hertrottete, das noch halb zu schlafen schien, kreuzte schnatternd und fauchend ihren Weg. Isbert ließ sie vorbei und schlug den Weg zu der Suhle am Waldrand ein. Wie quirlige Kinder eilten die Schweine voraus. Ein freudiges Grunzen drang zwischen den langen Rüsseln hervor. Die klugen Tiere wussten längst, wo es hinging, und waren begierig darauf, sich im Morast zu aalen. Und er hatte begriffen, dass dies ihre Art, sich zu reinigen, war. Der trocknende Schlamm bildete eine Schutzschicht gegen das Ungeziefer auf ihrer Haut. Blutsaugende Zecken, die sich nicht daran störten, sammelte er ab.

Ein Liedchen summend überquerte er die saftige Wiese, die sich vor dem abfallenden Bachufer erstreckte. Alles um ihn herum erstrahlte in satten Farben, war grün, golden und leicht. Er erreichte als Letzter die Suhle, die zugleich als Rastplatz diente. Hier würden sie eine Weile bleiben, bevor er sich zum Wald aufmachte, damit seine Schützlinge sich dort durch die weiche Erde wühlen und sattfressen konnten. Sein Blick streifte träge über den munteren Wasserlauf bis hin zum morastigen Ufer, das bohrende Rüssel und scharrende Hufe zu einer großen Kuhle verbreitert hatten. Doch was er zwischen den gestreiften Leibern der Ferkel und den massigen Körpern ihrer Geschwister und Mütter fand, ließ seinen Atem stocken.

Dort lag ein Mensch, die Arme wie Christus am Kreuz weit von sich gestreckt!

»Gütiger Gott«, stieß Isbert hervor. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Energisch schwang er seinen Stab und trieb die Schweine auseinander, die schon an den dreckverschmierten Beinlingen zerrten. Mit verhaltenen Schritten trat Isbert näher. Der Gefällte lag auf dem Bauch, das Gesicht abgewandt, seine Kleider waren mit Schlamm besudelt. Ohne Zweifel war es ein Mann.

Die Gedanken rasten wie ein wild gewordener Wespenschwarm durch Isberts Kopf. Was war geschehen? Lebte er noch? Vielleicht ist ihm das Herz stehen geblieben? Einfach so. Aber ausgerechnet hier? In einer morastigen Schweinesuhle, in die sich normalerweise niemand verirrte?

Angst schnürte seine Kehle zu. Er fürchtete sich vor dem, was ihn erwartete: dem Anblick des Todes in einer bekannten Miene. Seiner Statur nach war der Mann nicht ganz jung, eher in mittleren Jahren. Noch konnte Isbert seine Züge nicht sehen, aber er ahnte, wer es sein könnte. Dunkler, feuchter Schmutz verklebte das helle, leicht ergraute Haar am Hinterkopf. Ist das Blut oder ein besonders übel aussehender Mistklumpen?

Zögernd beugte Isbert sich weiter hinab. Horchte auf mögliche Atemgeräusche. Vor lauter Aufregung hielt er selbst die Luft an. Konzentriert ließ er seine Augen über den darniedergestreckten Leib wandern. Doch sosehr er auch schaute, kein Muskel regte sich. Weder das Heben und Senken seines Leibes noch ein anderes Zeichen ließ darauf schließen, dass der Mann lebte. Die lastende Stille, die von ihm ausging, wurde nur von den Geräuschen der Schweine durchbrochen. Isberts Nackenhaare sträubten sich. Endlich riskierte er einen Blick in das Gesicht des Toten. Ein entsetztes Keuchen drang aus seinem Mund. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen, er wusste, um wen es sich handelte!

»Ich muss Hilfe holen.« Isberts Stimme überschlug sich bei den Worten, die aus seinem Mund schlüpften, ohne dass er es bemerkte. Hier lag ein geachteter Bürger der Stadt, gesegnet mit Münzen und Ansehen. Selbst vor dem Hintergrund einer stinkenden Suhle würde Isbert ihm nie das Wasser reichen können. »Ihr bleibt gefälligst weg von ihm! Habt ihr verstanden?«, wandte er sich an die Schweine, die ihn nicht aus den wachen Augen ließen. Sein Stab zischte drohend durch die Luft. »Ich bin gleich wieder da!«

Die Tiere, die solch rüdes Verhalten von ihrem Hirten nicht gewohnt waren, quiekten beleidigt, bevor sie sich trollten. Ein weiterer warnender Blick traf sie.

Dann nahm Isbert die Beine in die Hand und rannte, so schnell ihn seine Füße trugen.

1. KAPITEL

Schiltach, 1347

»Bist du dir sicher, dass er tot ist?«, fragte Johanna, kurz bevor sie das Ufer erreichten. Ihr Atem ging keuchend vom schnellen Laufen. Isbert, der befürchtete, die Schweine könnten sich über den vermeintlichen Leckerbissen hermachen, hatte es eilig, zurückzukehren. Immerhin fraßen sie fast alles, was zwischen ihre gierigen Rüssel geriet.

»Gewiss!« Entrüstung machte sich in der Miene des Sauhirten breit. »Meine Augen sind immer noch scharf genug. Sein Brustkorb bewegte sich kein bisschen. Nicht ein Schnaufer war zu hören. Aber sieh selbst. Noch immer liegt er reglos da.«

Johannas Blick schweifte über die Suhle, die sich wenige Lidschläge später vor ihnen ausbreitete, und blieb an der kräftigen Gestalt eines Mannes hängen. Isbert hatte nicht übertrieben. Wie ein gefällter Baum lag er dort. Reglos und mit Schlamm beschmiert, als ob er selbst eines der Borstentiere wäre. Sogar sein Haar besudelten feuchte Klumpen. Vermutlich hatte er sich, gepeinigt von einer unbekannten Qual, darin gewälzt.

Lukas, der Johanna begleitete, stieg behände hinab, gefolgt von Isbert, der, schreiend den Stab schwenkend, die ihm anvertrauten Vierbeiner vertrieb. Johanna ging mit verhaltenen Schritten hinterher. Ihr Magen rebellierte, und der Geruch der Schweinesuhle machte es nicht besser. Dennoch zwang sie sich, neben Lukas in die Knie zu gehen, und scheuchte die Schmeißfliegen fort, die sie beharrlich umsummten.

Die beiden Männer drehten den Toten auf den Rücken.

»Es ist tatsächlich Merckel«, bemerkte Lukas. Er hatte den Namen kaum ausgesprochen, als die raumgreifende Bewegung etwas gänzlich Unerwartetes hervorrief: Ein lang gezogenes Stöhnen drang jäh zwischen den starren Lippen des Niedergestreckten hervor. Der Schreck ließ sie alle zurückspringen, als ob ein Wiedergänger aus seinem Grab gestiegen wäre. Bei Merckel konnte das jedoch kaum der Fall sein, denn in einem solchen hatte er bisher nicht gelegen.

»Der lebt ja noch«, keuchte Isbert. Ungläubiges Erstaunen trat in sein langes Gesicht, vermischt mit leichter Beschämung. Schließlich hingen die Worte, mit denen er vollmundig behauptet hatte, dass er genau wisse, in welchem Zustand sich der Entdeckte befinde, noch in der Luft.

Johanna fühlte Erleichterung in sich aufsteigen. Merckels Verfassung schien nicht ganz so dramatisch zu sein, wie Isbert angenommen hatte. »Mach dir nichts draus. Jeder kann sich mal irren. Wobei es im entgegengesetzten Fall weitaus schlimmer gewesen wäre. Es war gut, dass du uns geholt hast. Vielleicht gelingt es mir, ihn wieder vollständig ins Leben zurückzubefördern.« Sie schenkte Isbert ein aufmunterndes Lächeln.

Merckels schwache Lebensgeister entließen derweil einen Schwall geräuschvoller Ausdünstungen aus seinem Mund. Ein bierseliges Aroma, das mit beißendem Schweinemist um die Vorherrschaft kämpfte.

Johanna schluckte. Mit einem Mal war ihr sterbensübel. »Tu mir den Gefallen und bring ihn dazu, zu erbrechen«, wandte sie sich an Lukas. »In seinem Bauch muss jede Menge starkes Gebräu sein. Mehr, als ihm guttut.«

Johanna sah weg, als Lukas ihrer Bitte nachkam und Merckel den Finger in den Hals steckte, bis dieser den Inhalt seines Magens in einem großen Schwall erbrach. Danach schien der vermeintliche Tote etwas wacher zu sein. Lukas half ihm, sich aufzusetzen. Mit flackernden Lidern beäugte Merckel die Gegend. Anscheinend konnte er sich nicht daran erinnern, wie er hierhergekommen war.

»Was … was ist geschehen?«, keuchte er.

»So wie es aussieht, hast du dir einen tüchtigen Rausch angesoffen«, antwortete Johanna ohne Erbarmen in der Stimme. Immer noch kämpfte sie gegen ihre Übelkeit an. »Du hast den guten Isbert zu Tode erschreckt und solltest froh sein, dass er Hilfe geholt hat.«

»Ja, gewiss. Das bin ich«, krächzte Merckel, dessen Hals so rau wie die Bruchkante eines Felsens sein musste.

»Er braucht Wasser«, bemerkte Johanna. Sie schickte sich an, aufzustehen.

»Warte, ich habe etwas dabei.« Isbert kramte in seiner Tasche und förderte eine bauchige hölzerne Trinkflasche zutage. Er löste den Zapfen vom Mundstück, das er mit etwas Wachs abgedichtet hatte, und hielt ihn Merckel an die Lippen. Der trank gierig.

»Frisches Brunnenwasser«, erklärte der Sauhirt grinsend, als er Johannas gerunzelte Stirn entdeckte. »Obwohl leichtes Bier nach einem Rausch nicht zu verachten ist.«

»Nicht so schnell«, mahnte Johanna, die dies bezweifelte. »Sonst kommt dir alles wieder hoch.«

Danach saß Merckel, alle viere von sich streckend, wie eine betäubte Kröte im Matsch. Sie ließen ihn eine Weile gewähren.

Was hat ihn nur dazu getrieben, sich so vollzusaufen?, überlegte Johanna. Es passte nicht zu Merckel, derart die Kontrolle zu verlieren, dass er nicht mehr wusste, was er tat. Gerade jetzt, wo es ihm besser ging als je zuvor, sollte es obendrein keinen Grund dafür geben. Sein Geschäft florierte, was mit Sicherheit daran lag, dass es ihm vor Jahren gelungen war, den Burgherren eine große Gefälligkeit abzuschwatzen. Herzog Hermann III., der Sohn des alten Teckers, und Herzog Reinhold von Urslingen, der mit Hermanns Schwester Beatrix verheiratet war, bewohnten die über Schiltach thronende Burg. Das trutzige Bauwerk symbolisierte bildhaft, wem die Stadtherrschaft oblag. Dennoch war der Urslinger vor einigen Jahren nach Venedig gegangen, um dort als Soldritter zu dienen. Es war wenige Tage vor seinem Aufbruch gewesen, als Merckel sein Geschäft auf dem Grund eines verstorbenen Nachbarn erheblich zu vergrößern begann. Da der Verschiedene keine Nachkommen hatte, war nach dessen Tod ein heftiges Gerangel um den frei gewordenen Besitz ausgebrochen. Der eng bebaute Raum innerhalb von Schiltachs Mauern war heiß begehrt. Merckel hatte nicht lange gezögert, zu tun, was nicht einmal dem Schultheißen Lenz gelungen war: Mit der Gunst der Edlen eignete er sich das Gelände an und ließ die marode Behausung niederreißen, um sie für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Wie man so hörte, war der Kaufpreis erträglich gewesen.

Nun stand ein großer Stall für mehrere Zugochsen und die Tiere der Reisenden dort. Und der rechtschaffene Lenz musste sich mit Merckels Konkurrenz herumplagen, was dem so gar nicht gefiel. Der Bauernschläue des Mietstallbesitzers war er nicht gewachsen.

Im Moment sah Merckel jedoch alles andere als gerissen aus. Er japste wie ein Fisch auf dem Trockenen, schien aber so weit wiederhergestellt, dass sie es wagen konnten, ihn mit vereinten Kräften auf die Beine zu ziehen.

»Kannst du gehen?«, fragte Johanna. »Du solltest deinen Rausch im eigenen Bett ausschlafen.«

Merckel nickte träge, doch bei den ersten Schritten torkelte er in einer Weise, dass sie ihn stützen mussten. Der Boden unter seinen Füßen schien ihn förmlich anzuziehen.

»Das wird wohl allein nichts werden«, bemerkte Lukas mit rollenden Augen. »Am besten bringen wir ihn zum Waschen an den Bach, sonst sehen wir hinterher nicht besser aus.«

Das schien einfacher gesagt als getan. Schließlich war Merckel einigermaßen sauber und durch die Kühle des Wassers so weit erfrischt, dass sie ihn nach Hause schleppen konnten. Ihre eigenen Kleider wiesen jedoch ebenfalls nasse Flecke auf und hatten eine ganze Reihe von Schlammspritzern abbekommen. Johanna seufzte innerlich bei dem Gedanken, dass sie sich der Schmutzwäsche baldmöglichst annehmen musste.

Dass Isbert ihnen bei Merckels Transport nicht helfen konnte, lag auf der Hand. Sinnend blickte er dem seltsamen Gespann hinterher, dem eine Horde Schmeißfliegen, dunkel wie eine drohende Gewitterwolke, auf den Fersen war.

»Lass dich nicht so hängen«, beschwerte sich Johanna, die mit ihrer eigenen Unzulänglichkeit zu kämpfen hatte. »Du bist schwerer als ein Hackklotz.«

»Na, na«, bemerkte Merckel verschnupft. »Hast schließlich einen starken Kerl … an deiner Seite.«

Lukas prustete angestrengt. Und so schleppten sie sich dahin, den bierseligen Trunkenbold in ihrer Mitte.

Nachdem sie die Wiese überquert hatten, wurde Merckel wacher. »Warum nur habe ich mich derart vollgesoffen?«, grübelte er laut. »Dieser Rausch muss gewaltig gewesen sein … So sehr, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat. Selbst jetzt … fehlt mir jegliche Erinnerung.« Seine Zunge war so schwerfällig wie seine Schritte.

»Man sollte halt wissen, wann man aufhören muss«, bemerkte Lukas.

»Nun, das sagt gerade der Richtige«, widersprach Johanna mit einem beißenden Lächeln. Auch die Flößer waren, was das Saufen betraf, keine Lämmchen.

»Das wüsste ich aber, wenn du mich jemals in solch einem Zustand gesehen hättest.«

»Oh, mir fallen da durchaus eine ganze Reihe von Nächten ein, in denen du in unser Bett gewankt bist.«

»Immerhin fand ich es alleine – und wusste noch, was ich tat«, rechtfertigte sich Lukas.

»Aber geschnarcht hast du wie ein Ochse«, neckte ihn Johanna.

Plötzlich blieb Merckel abrupt stehen und zwang so den gesamten Tross zum Anhalten. »Du lieber Gott! Jetzt fällt mir alles wieder ein!« Seine Augen weiteten sich. »Wie konnte ich das nur vergessen!«

»Wovon sprichst du?«, fragte Johanna.

Für einen Augenblick schien es Merckel die Sprache verschlagen zu haben. Seine Kiefer arbeiteten, während er sich auf die verkniffenen Lippen biss. Seine Knie knickten ein. Schwerer denn je hing er zwischen ihnen. Johanna hielt sein Gewicht kaum noch aus.

»Ich … ich muss mich setzen.« Merckel löste seine Arme von den Schultern der beiden und sank auf den Boden.

Johanna, froh darüber, die Last des kräftigen Mannes wenigstens für eine Weile los zu sein, beugte sich zu ihm hinab. Nicht ohne Lukas zuvor bedeutsam anzusehen. »Was ist denn Schlimmes geschehen? Können wir dir irgendwie helfen?«

Die mütterliche Besorgnis, die in ihrer Stimme lag, ließ Merckel aufhorchen. Nachdenklich fuhr er über das pflaumengroße Muttermal, das dunkel und leicht erhoben auf seiner rechten Wange prangte. Eine Weile grübelte er noch, dann riss er sich zusammen.

»Also gut. Vielleicht ist es besser so. Doch ich brauche euer Wort, dass das, was ich nun preisgebe, unter allen Umständen unser Geheimnis bleibt.« Er setzte eine bedeutsame Miene auf. Ohne Zweifel war es ihm ernst damit. »Keiner darf davon erfahren. Schwört es!«

Erneut kreuzten sich Johannas und Lukas’ Blicke. Kurz hielten ihre Augen einander fest, dann zuckte Lukas mit den Schultern. »Wir schwören.«

Merckel atmete aus. »Ich vertraue darauf, dass ihr haltet, was ihr versprecht!«

»Jetzt sag schon«, drängte Johanna ihn. »Du kannst dich auf uns verlassen.«

Merckel nickte einigermaßen beruhigt und wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich dort in glasigen Perlen gesammelt hatte. »Ich brauche dringend Hilfe. Es muss eine göttliche Fügung sein, die euch im rechten Augenblick zu mir schickt. Wahrscheinlich gibt es niemanden, der besser dafür geeignet wäre.«

Lukas’ helle Brauen zogen sich zusammen, während er seine haselnussbraunen Augen auf Merckel richtete.

»Immerhin habt ihr den Mord an Wernher aufgedeckt, auch wenn du fast dabei gestorben wärst.«

»Was faselst du da? Das ist Jahre her – und soweit ich weiß, ist seither niemand auf diese Weise zu Tode gekommen. Mir scheint, du erlaubst dir einen Spaß mit uns. Außerdem muss ich dringend zur Arbeit. Es ist wohl das Beste, wenn du erst einmal deinen Rausch ausschläfst. Wenn du danach immer noch gerettet werden musst, kannst du dich gern ein weiteres Mal an uns wenden.«

Mit diesen Worten zog Lukas Merckel in die Höhe, hängte einen seiner Arme um seine Schultern und wandte sich in die Richtung des Städtles, wie Schiltach von seinen Bewohnern liebevoll genannt wurde. Johanna beeilte sich, auf der anderen Seite das Gleiche zu tun. Merckel, der wie ein schlaffer Sack dazwischenhing, dachte nicht daran, mit ihnen Schritt zu halten. Störrisch wie ein Ochse versteifte er sich und stemmte die Füße in den Boden.

»Bei Jesus Christus und allen Heiligen! Hast du den Verstand verloren?« Lukas schien langsam der Geduldsfaden zu reißen.

»Du verstehst nicht«, zischte Merckel. »Die Lage, in der ich mich befinde, ist äußerst ernst.«

Beschwichtigend legte Johanna eine Hand auf Lukas’ Arm. Der Muskel darunter war kräftig, wie es sich für einen Flößer gehörte. »Lass ihn ausreden. Ich glaube nicht, dass Merckel uns aufziehen will. Er erscheint mir nüchtern genug, um Wirklichkeit und Phantasie zu unterscheiden.« Falls nicht, würde ihr die Pause guttun. »Also sprich, was wolltest du uns sagen?«

»Kein Wort – zu niemandem!«, mahnte Merckel erneut.

Beide nickten und sahen ihn erwartungsvoll an.

»Vor ein paar Tagen vertraute mir jemand eine größere Geldsumme an. Ich hatte die Münzen sorgfältig versteckt. Doch als ich sie hervorholen wollte, waren die Geldkatzen verschwunden. Einfach so, als ob sie niemals da gewesen wären. Man hat mich bestohlen!« Echte Verzweiflung umwölkte seine Miene. »Was soll ich nur machen? Mein Geldgeber bringt mich um, wenn ich ihm das gestehe.«

»Wer? Und wofür hat er dir das viele Geld gegeben?«, wollte Lukas wissen.

Merckel klappte den Mund zu wie ein Frosch, der eine Fliege schnappt. »Das tut nichts zur Sache.«

Johanna hob bedeutungsvoll die Brauen und gab Lukas damit zu verstehen, dass es besser war, ihn erst einmal reden zu lassen. Nachbohren konnte man später noch. »Wo hattest du es versteckt?«

Merckel druckste eine Weile herum. »Ich verrate nur ungern, wo ich meine Wertgegenstände verwahre.«

»Na, hör mal!« Lukas, dem es nun doch zu bunt wurde, stemmte erbost seine freie Hand in die Hüfte. »Wie sollen wir dir helfen, wenn du uns nützliche Informationen vorenthältst? Hattest du es in dein Bettstroh getan?«

»Nein«, erwiderte Merckel entrüstet. »Für wie blöd hältst du mich?«

Lukas presste die Lippen aufeinander, als ob er seinen Mund daran hindern müsste, etwas ganz und gar Unflätiges zu sagen.

Merckel gab seufzend auf. »Das spielt nun auch keine Rolle mehr. Ich hatte die Geldkatzen unter den Fußbodendielen in meiner Schlafkammer in Sicherheit gebracht.«

Johanna blies grübelnd ihre Wangen auf. »Könnte dein Weib sie genommen haben?«

Merckel stieß ein kurzes, höhnisches Lachen aus. »Wohl kaum. Du kennst Duretta doch. Mein holdes Weib ist nicht das, was ich klug nennen würde. Genau genommen ist sie dumm wie die Nacht finster. Sie hat es noch nie bemerkt, wenn ich mir dort zu schaffen gemacht habe. Darüber hinaus schiebe ich jedes Mal die schwere Kleidertruhe darüber. Und die stand noch immer an Ort und Stelle.«

»Nun gut«, entgegnete Johanna, die nicht viel über Merckels Weib wusste, selbst wenn er davon auszugehen schien. »Bringen wir dich erst einmal heim. Morgen beginnt der Peter-und-Paul-Markt. Bis dahin bist du wieder nüchtern, und wir können uns dort ein wenig umsehen. Vielleicht finden wir in all dem Treiben jemanden, der über mehr Geld verfügt, als ihm zusteht.«

Merckel erwachte mit schrecklichen Kopfschmerzen. Mit halb geöffneten Lidern setzte er sich auf und erkannte, dass das trübe Licht der Abenddämmerung durch das offene Fenster kroch. Er hatte den ganzen Tag verschlafen! Kein Wunder. Er hatte kaum einen Fuß vor den anderen bekommen, als Johanna und Lukas ihn über die Schwelle seines Hauses schleppten. Danach war er mit Durettas Hilfe in die Schlafkammer gestolpert und in sein Bett gefallen. Vermutlich hatte sie ihm die schmutzigen Kleider ausgezogen. Merckel hob den Arm und schnüffelte. Wie es schien, hatte sie ihn sogar gewaschen. Seine Haut roch nach Seife, verdeckte aber nur unzureichend den Geruch der Schweinesuhle. Nicht einmal das macht sie richtig, dachte er grollend.

Anders als am Morgen erinnerte Merckel sich auf Anhieb, weshalb er sich so fürchterlich betrunken hatte. Sein Rausch war purer Verzweiflung entsprungen. Seufzend bedeckte er mit der Hand die Augen, als das ganze Ausmaß des Elends erneut über ihm zusammenschlug. Was sollte er nur tun? Reiß dich zusammen und denk nach, ermahnte er sich. Es wäre doch gelacht, wenn dir nicht etwas einfallen würde. Bisher hast du dich immer am eigenen Schopf aus dem Übel gezogen.

Stöhnend schwang er die Beine aus dem Bett. Seine nackten Füße berührten die Holzdielen des Fußbodens. Sengender Durst verklebte ihm den Hals. Seine Hand fuhr an seine Kehle. Er brauchte dringend etwas zu trinken. Der Gedanke an Bier oder Wein ließ Übelkeit in ihm aufsteigen und verschlimmerte das Pochen in seinen Schläfen. Er war besser, für eine Weile die Finger davon zu lassen. Ein klarer Kopf konnte gerade jetzt über Leben und Tod entscheiden.

Sein Blick fiel auf die schwere Kleidertruhe, unter der die Münzen gelegen hatten. Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Sollte ich mich getäuscht haben? Vielleicht liegt das Geld immer noch dort, und ich habe es nur übersehen? Ein missbilligendes Zischen drang durch seine Zähne. Das ist ganz und gar unmöglich. So blind kannst du nicht sein. Dennoch stieg ein Fünkchen Hoffnung in ihm auf. Ob mir jemand einen Streich gespielt und die Geldkatzen zurückgelegt hat?

Mit einem Satz war er aus dem Bett, schob unsanft die Truhe zur Seite und störte sich nicht an dem schabenden Geräusch, das er dabei verursachte. Jetzt war es ohnehin egal. Duretta wusste inzwischen Bescheid. Er hatte sie sich gestern zur Brust genommen – bevor er sich besoffen hatte. Natürlich hatte das tumbe Weib nicht die leiseste Ahnung, wer sich in ihrer Schlafkammer zu schaffen gemacht hatte. Mit zitternden Fingern hob er die Dielen an – und hielt enttäuscht inne. Der Hohlraum darunter war leer. Wie hatte er nur etwas anderes erwarten können?

Dass mir das ausgerechnet jetzt passieren muss! Wo ich es so weit gebracht habe! In den letzten Jahren hatte er mehr geleistet, als sein Vater es in seinem ganzen Leben vermocht hatte. Doch das war keine Überraschung. Der Alte hatte nichts getaugt. Obendrein war er ein Rohling gewesen, der sich nur dann für seine Brut interessierte, wenn ihnen ein Missgeschick widerfahren war, für das er sie strafen konnte. Oder wenn er ihrer bedurfte, was ein unausgesprochenes Geheimnis geblieben war, das dennoch stets wie eine bedrohliche Gewitterwolke seine Schatten vorausgeworfen hatte. Denn diese Art der Aufmerksamkeit war nur schwer zu ertragen gewesen.

Merckel hatte früh gelernt, dass es besser war, sich zu verstellen. Ein säuerliches Lächeln verzog seine Lippen. Wenigstens etwas Gutes ist aus den Lehren des Alten erwachsen in all den Jahren, die ich bei ihm ausharren musste. Auch wenn dies nicht in seiner Absicht lag. Er hatte sich eine Strategie ausgedacht, um dem Schmerz zu entgehen. Keiner hatte hinter seine Maske aus falscher Freundlichkeit gesehen. Er war nur ein harmloser Junge gewesen, der niemandem etwas zuleide tat. Seine Schwester hatte sich nicht so schlau angestellt. Sie hatte sich gewehrt. Und das war ihr zum Verhängnis geworden.

Seine Hand fuhr zu dem großen Muttermal auf seiner rechten Wange, ohne dass er es bemerkte. Nie hatte der Alte etwas auf die Reihe bekommen. Sie hatten in bitterer Armut gelebt, oben im Gebirge, am Rand einer Sandgrube. Das bohrende Gefühl eines nur unzureichend gefüllten Magens stieg bei diesem Gedanken in Merckel auf. Schon als Halbwüchsiger hatte er sich geschworen, dass mehr aus ihm werden sollte als ein armer Hungerleider, der mit einer Hundekarre durch die Gegend zog, um den Sand zu verkaufen, den Bergmänner als brüchigen Sandstein aus der Grube brachen. Es war die Aufgabe der Frauen und Kinder gewesen, die zerkleinerten Gesteinsbrocken mit schweren Holzknüppeln zu zerstampfen, bis sie fein genug waren, sie zu sieben, nach Größe zu sortieren und in Maltersäcke zu füllen. Ihr Inhalt diente als Polier-, Scheuer- oder Putzsand. Der feinste wurde zum Löschen von Tinte benutzt, obwohl Merckel damals nichts davon verstand, wie man Worte auf Pergament bannte. Er konnte weder lesen noch schreiben und hatte keine Vorstellung vom Leben auf einer Burg, in einer Stadt oder in einem Kloster.

Viel war bei diesen Fahrten, die seinen Vater zu jenen Stätten führten, nicht herausgekommen. Doch er hatte sich als weit gereisten Mann gegeben, der die Welt gesehen hatte und wusste, wo es langging. Man musste nicht besonders schlau sein, um zu begreifen, dass das nicht stimmte. Sein Vater war nie lange unterwegs gewesen, und das Einzige, wovon er wirklich eine Ahnung gehabt hatte, waren die Wirtshäuser. Den größten Teil des Geldes hatte er regelmäßig dort versoffen. Dennoch hatte die ganze Familie aufgeatmet, sobald sie ihn und die mächtigen Hirtenhunde von hinten gesehen hatten, die den Karren voller prall gefüllter Säcke zogen. Die beiden Köter waren genauso bösartig wie ihr Herr gewesen, aber das konnte man ihnen vermutlich nicht anlasten. Schließlich hatten sie nichts anderes gelernt.

Nie wollte Merckel so enden. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, allen zu beweisen, dass er es im Leben zu etwas brachte. Dass Gutes in ihm steckte, trotz des Dunkels, das in ihm wohnte. Nur hatte er damals noch nicht gewusst, wie. Als es ihm endlich gelungen war, seinem Elternhaus zu entfliehen, das ihn wie ein Käfig schier erdrückt hatte, verdingte er sich zunächst als Stallbursche auf der Schiltacher Burg. Weit genug vom Zugriff des Grundherrn entfernt, dessen Herrschaft er sich entzogen hatte.

Bald stellte sich heraus, dass er gut mit Pferden umgehen konnte. Besonders mit dem Schlachtross des Urslingers gab er sich große Mühe. Es hatte ihm Freude bereitet, den wertvollen Hengst zu pflegen, sich nützlich zu machen, wenn er gegen den Lärm einer Schlacht abgehärtet wurde. Das tägliche Wiederholen der Kommandos, die dem Ritter im entscheidenden Moment das Leben retten konnten, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Ansonsten hatte er getan, was er am besten konnte: sich bei dem Urslinger einzuschmeicheln und unentbehrlich zu machen.

Herzog Reinhold von Urslingen hatte ihm von Anfang an imponiert, und der hatte seinen Wert schnell erkannt. Merckel war stets treu zur Stelle gewesen, sobald es einen seiner Aufträge zu erledigen galt. Am Ende war er vom einfachen Knecht zum Stallmeister aufgestiegen. Er wäre gern auf der Burg geblieben, doch der Herzog hatte andere Pläne gehabt. Ihm verdankte er den kleinen Mietstall im Städtle, mit dem er angefangen hatte. Selbst dessen Erweiterung war durch die Gnade des Urslingers geschehen, als Gegenleistung für den Gefallen, den er ihm getan hatte. Was machte es da schon, dass er auch jetzt noch hin und wieder etwas erledigte, zu dem sich sonst niemand herabließ?

2. KAPITEL

Johanna stand am Feuer und rührte in einem Kessel mit Gerstengrütze. Der markante Duft kochender Ziegenmilch, die sie hinzugegeben hatte, bereitete ihr Übelkeit. Nie war ihre Nase empfindlicher gewesen als in den letzten Tagen. Das Aroma des Feuers, der Felle, auf denen sie nachts lagen, den Duft der Ziegen und Menschen in ihrer Nähe nahm sie um ein Vielfaches deutlicher wahr. Genau genommen fühlte sich jeder Geruch wie ein persönlicher Angriff an, der ihr den Magen umdrehte. Vor allem morgens, wenn sich in diesem überhaupt nichts befand. Allein der Gedanke verursachte ein unangenehmes Ziehen in ihrem Bauch. Brennende Säure schoss hinter ihrem Brustbein hoch und versengte ihr fast die Kehle.

Rasch legte sie den Kochlöffel mit dem langen Stiel beiseite und stürzte in den Garten. Sie schaffte es gerade noch zum Misthaufen, bevor ihr ein Schwall Galle zwischen den Lippen hervorschoss. Würgend erbrach sie den Rest. Sie war eine Heilerin. Und nun brachte sie es nicht fertig, sich selbst zu helfen.

Eine Hand legte sich beruhigend auf ihren Rücken. Lukas war ihr gefolgt. »Geht es?« Ein besorgter Ton lag in seiner Stimme.

Johanna schluckte die scharfe Erwiderung hinunter, die ihr auf der Zunge lag, schließlich war er für ihren Zustand genauso verantwortlich wie sie. Obwohl ihm rein gar nichts fehlte. Stattdessen pumpte sie Luft in ihre Lungen, um das Unwohlsein zu vertreiben.

»Nicht wirklich«, erwiderte sie, nachdem sich der Drang, ihr Inneres nach außen zu kehren, gelegt hatte. »Aber das ist wohl der Preis, den man bezahlen muss, wenn man ein Kind erwartet.«

Ihre morgendliche Übelkeit war ein weiterer Hinweis darauf, dass das, was Eheleute gemeinhin miteinander taten, von Erfolg gekrönt war.

Ein freudiges Blitzen trat in Lukas’ Augen. »Und du bist dir vollkommen sicher?«

Johanna nickte. »Ich wüsste nicht, was es sonst sein sollte.«

»Es ist tatsächlich wahr«, flüsterte er. »Ich werde Vater!«, fügte er voll überschwänglicher Freude hinzu.

Lukas’ warmer Ton hinterließ ein Gefühl der Geborgenheit in Johanna, und seine Sanftheit verleitete sie dazu, sich an seine breite Brust zu schmiegen. Er schlang die Arme um sie und drückte sie so behutsam an sich, als wäre ihre Haut so zerbrechlich wie die Schale eines rohen Eies. Sie hieß die fürsorgliche Geste willkommen. Ihre Knie zitterten. Sie war schwach wie ein neugeborenes Küken. Die andauernde Übelkeit und ihre Folgen kosteten Kraft. Es fühlte sich jedes Mal wie ein kleiner Tod an, wenn sie sich erbrach. Dennoch empfand auch sie Freude bei dem Gedanken an ein eigenes Kind. »Ich hätte niemals gedacht, dass es so schnell gehen würde.«

Eigentlich konnte davon keine Rede sein. Immerhin waren Johanna und Lukas seit drei Jahren verheiratet. So manch rauer Scherz hatte schon darauf abgezielt, dass sie nach der langen Zeit immer noch nicht guter Hoffnung war. Sie hatten niemandem erzählt, dass dies anfangs gar nicht in ihrer Absicht gelegen hatte. Manch einer ahnte es vielleicht, aber der Rest konnte nicht wissen, dass Johanna ein kleines, fingerdickes Gebilde aus Bienenwachs benutzt hatte. Die runde, gewölbte Barriere verhinderte, dass der männliche Same sein Ziel fand und bis in den Mutterschoß vordrang. Unter einigen Frauen war dies längst kein Geheimnis mehr. Dennoch erschien es vernünftiger, den Mund zu halten. Schon einmal war sie deswegen in große Schwierigkeiten geraten, denn die Kirche verbot jegliche Mittel, die eine Empfängnis vereitelten. Doch der kleine, ungefährliche Handgriff, der ihr Inneres für kurze Zeit verschlossen hatte, hatte für glückliche Ehejahre gesorgt, in denen sie in aller Ruhe ihre Körper erforschen konnten. Auch wenn der Priester sie nach ihrer Hochzeit ermahnt hatte, dass das eheliche Beilager nur der Zeugung von Kindern und nicht der Wollust diente.

Ida, die ebenfalls in dem Häuschen am Rand der Schiltacher Vorstadt wohnte, trübte zwar die Zweisamkeit ein wenig, vor allem, da das Haus nur aus einem einzigen Raum bestand. Aber die daraus entstandene Not sorgte für kreative Lösungen. Sie hatten sich auf so manche Heimlichkeit oder ein rasches Verschwinden in die Natur verlegt. Manchmal hatte der Ziegenstall für ihre Bedürfnisse herhalten müssen, und bisweilen hatten sie gewartet, bis Ida sich in den Wald aufgemacht hatte. Sie hatten die Zeit wahrlich genossen.

Doch dann hielt es Lukas für angebracht, dem Tratsch der Klatschweiber, die Johanna schon eine ganze Weile misstrauisch beäugten, keine weitere Nahrung zu geben. Unfruchtbarkeit war ein großes Übel, und man würde es allein ihr zur Last legen, wenn sie nicht bald einen dicken Bauch vorwiese. Eigentlich war Johanna ganz froh darum gewesen, denn auch in ihr gewannen mütterliche Gefühle immer mehr die Oberhand. Inzwischen war sie dreiundzwanzig und Lukas um ein Jahr älter. Es war schon ein wenig spät, um zum ersten Mal Eltern zu werden. Vor noch nicht einmal drei Monaten hatten sie sich darauf geeinigt, das Wachs wegzulassen. Und nun war ihre Blutung schon zweimal ausgeblieben. Das morgendliche Erbrechen bestätigte die Vermutung, dass in ihr neues Leben entstand, das seinen Tribut forderte. Denn nach all dem Würgen verspürte sie großen Hunger.

»Ich sollte etwas essen«, murmelte sie an Lukas’ Brust gewandt.

Er schob Johanna ein wenig von sich und sah sie forschend an. »Bist du sicher?«

Sie schenkte ihm ein halbes Lächeln. »Zumindest ist mir jetzt etwas wohler.«

»Dein Gesicht ist immer noch grau wie der Bauch eines toten Fisches«, bemerkte Lukas trocken.

Johanna zog eine Schnute, was ihn dazu veranlasste, ihr einen raschen Kuss auf den kleinen Leberfleck knapp über ihrem rechten Mundwinkel zu drücken, den er so sehr mochte. »Was man von deinem nicht behaupten kann. Du strotzt nur so vor Manneskraft, obwohl dein Anteil an dieser Sache genauso groß ist wie meiner. Das ist nicht gerecht«, schmollte sie.

In Wahrheit entzückte sein Anblick sie immer wieder aufs Neue. Seine kräftige, hochgewachsene Gestalt, die sie fast um Haupteslänge überragte. Die sanften haselnussbraunen Augen, umkränzt von dichten Wimpern. Die vollen Lippen, die zum Küssen einluden. Sie hob ihre matte Hand und strich zärtlich über seine kantige Wange, auf der frische Bartstoppeln kratzten. Fuhr mit den Fingern durch das kurze helle Haar, in dem ein goldener Schimmer lag. Die weiche Jungenhaftigkeit in Lukas’ Miene war schärferen Zügen gewichen. Immer mehr war sie wie ein zerschlissenes Kleid von ihm abgefallen. Die neue Männlichkeit stand ihm gut. Gepaart mit seinem freundlichen, aufrechten Wesen hätte sie sich keinen besseren Ehemann vorstellen können.

»Lass uns hineingehen. Ida wird sich schon Sorgen machen.«

Ida rührte in der köchelnden Grütze, als sie das Häuschen betraten. Ein besorgter Blick traf Johanna.

»Es ist alles gut«, beruhigte sie das Mädchen, das, gemessen an der Entwicklung seines Körpers, etwa dreizehn Jahre alt sein musste. Genau wusste es niemand, nicht einmal Ida selbst, aber vermutlich war sie älter, als Johanna anfangs angenommen hatte. »Ist die Grütze bald fertig? Ich habe großen Hunger.«

Ida hob zweifelnd die Brauen, als könnte sie dies nach den Geräuschen, die sie aus dem Garten vernommen hatte, nicht ganz glauben. »Gleich. Setz dich. Der Tisch ist bereits gedeckt.«

Johanna war ihr unendlich dankbar. In den vergangenen Jahren war Ida zugänglicher geworden. Was lange eine Angelegenheit mit ungewissem Ausgang gewesen war, wurde letzten Endes von Erfolg gekrönt. Zur Erleichterung aller war sie nicht mehr so wild wie früher und passte sich den menschlichen Gepflogenheiten an. Sie hatte sogar gelernt, in ganzen Sätzen zu sprechen, was sie nicht zuletzt Caspar und Pius zu verdanken hatte, bei denen sie fast täglich für ein paar Stunden verweilte.

Der Mönch Pius, der als Einsiedler in einer Höhle im Wald hauste, hatte zugestimmt, den stocktauben Jungen bei sich aufzunehmen. Genau genommen duldete er Caspars Nachbarschaft. Der hatte sich in Clewins Wagen häuslich eingerichtet, jenem Spielmann, der Johanna einst an den Schiltecker Ritter ausgeliefert hatte und dem sie dennoch ihr Leben verdankte. Caspar schien ein wenig älter als Ida zu sein, doch auch hierfür gab es keine eindeutigen Beweise. Ida hatte sich mit dem Jungen angefreundet, der bis vor einigen Jahren mit einer Gruppe Fahrender umhergezogen war. Unter ihren Fittichen hatte er als Pferdebändiger gearbeitet. Es war faszinierend, dabei zuzusehen, wie er sich den Pferden auf einfühlsame Weise näherte und durch die Bewegungen seines Körpers eine Verständigung zuwege brachte, als ob er mit ihnen spräche. Die Sprache der Menschen war weitaus schwieriger für ihn. Er brauchte jemanden, der hören und reden konnte, um von seinen Auftraggebern nicht übers Ohr gehauen zu werden. Diese Rolle hatte Ida übernommen, denn auch im Kinzigtal hatte man die Arbeit des Jungen schätzen gelernt. Was aber nicht bedeutete, dass seine Kundschaft gedachte, ihn anständig zu bezahlen. So war sie ständig in Übung, und das Ergebnis konnte sich hören lassen. Inzwischen feilschte sie wie ein Marktweib, wie Caspar ihr lächelnd zu verstehen gegeben hatte.

Während Ida einen Löffel Grütze in den Mund nahm, um zu prüfen, ob sie weich genug war, ging Lukas in den Stall. Lautes Gepolter und der Klang einer weiteren Stimme, die von freudigem Gemecker übertönt wurde, zeigte an, dass er die Ziegen herausließ und sie dem Hirten übergab.

Ergeben setzte sich Johanna auf eine der Bänke, die den Tisch flankierten, und ließ die beiden machen. Ihr Blick glitt durch das beengte Innere des Häuschens: das große Ehebett und ein schmaleres für Ida, so weit wie möglich von ihrem eigenen entfernt. Beide bestanden aus einfachen Holzkästen, die mit Strohsäcken gefüllt waren. Die zusätzlichen Felle und Decken ergaben ein warmes nächtliches Nest. Eine Truhe stand an einer Wand. An einer anderen hingen Regalborde, wo sie ihre Kräuter und Arzneien aufbewahrte. In letzter Zeit hatte sich dort ein mächtiges Durcheinander eingeschlichen.

Wieder einmal, wie Johanna resigniert feststellte. Ordnung war nicht ihre Stärke. Zudem war Sammelzeit, und die in Tiegeln, Spanschachteln und Säckchen verwahrten Pflanzen, Wurzeln und Beeren stapelten sich. Immerhin behielt sie den Überblick.

Die gemauerte Herdstelle in der Ecke diente als Koch- und Wärmequelle. Um Platz zu sparen, vor allem aber, weil es dort erheblich kühler war, lagerten verderbliche Lebensmittel in einer in den Boden eingelassenen Vorratsgrube. Diese befand sich in entgegengesetzter Richtung. So weit wie möglich von der Hitze des Feuers entfernt.

Alles in allem war es ein bescheidenes Heim mit einem Ziegenstall, der sich direkt an die Wohnung der Menschen anschloss. Und obwohl es nicht mit den geräumigen Häusern im Städtle konkurrieren konnte, war Johanna hier glücklich.

Ihre Augen wanderten zu Ida, die ihren Posten vor dem gemauerten Herd nicht verlassen hatte. Offenbar verlangte die Grütze nach etwas mehr Zeit. Langstielige Kochgeräte hingen neben dem Mädchen an der Wand. Obwohl Ida weder mit ihr noch mit Lukas verwandt war, gehörte sie ganz selbstverständlich zur Familie. Ihr Äußeres hatte sich verändert in den Jahren, die sie mit ihnen verbracht hatte. Das Gesicht mit den tiefdunklen Augen hatte an Härte und Wildheit verloren. Ein geflochtener Zopf bändigte ihr dichtes schwarzes Haar, das sie zuvor sorgfältig gekämmt hatte. Etwas, das zu Beginn ihres Zusammenlebens wie die Pflege des gesamten Leibes nur unter Zwang erledigt werden konnte. Ein schlichtes Kleid war dem Hemd gewichen, dem einzigen, was sie anfangs geduldet hatte. Heute trug Ida ihre Sonntagskleidung. Die ungefärbte Cotte und der blaue Surcot umspielten die sanften Rundungen eines Mädchens, das zur Frau erwachte. Immer mehr glich sie dem Bild einer zarten Jungfer.

Merckel öffnete die Augen und stellte erleichtert fest, dass die Kopfschmerzen verschwunden waren und er sich frisch und ausgeruht fühlte. Gestern Abend war er lediglich dazu in der Lage gewesen, etwas zu trinken und seinen leeren Magen mit trockenem Brot zu füllen. Danach war er wieder in sein Bett gekrochen. Er hatte die ganze Nacht wie ein Stein geschlafen. Nun schien die morgendliche Sonne durch das Fenster. Einer der Ochsen im Stall brüllte. Leises Klappern und Poltern drang von draußen herein. Die Vorbereitungen für den Peter-und-Paul-Markt waren in vollem Gange.

Er sah zur Seite. Duretta war auch schon auf den Beinen. Jäh fiel ihm ein, wie er sie das erste Mal gesehen hatte. Es war auf der Schiltacher Burg gewesen, wo sie als Magd gedient hatte. Wie schön sie damals gewesen war! Selbst der Urslinger hatte den Hals nach ihr verrenkt. Inzwischen deutete nichts mehr auf das straffe Hinterteil, die wohlgeformten Schenkel und die sanften Rundungen ihrer Brust hin. Alles an ihr war plump und unförmig und raubte ihm jegliche Lust. Mit Schaudern dachte er an den dicklichen Hals, das feiste Gesicht und den vom Stillen ausgeleierten Busen.

Als der sich noch fest und rund unter ihrem schlichten Kleid abgezeichnet hatte, war sie unerreichbar für ihn gewesen. Der Herzog hatte Duretta in sein eigenes Bett geholt. Bis heute wusste Merckel nicht, ob sie ihm schöne Augen gemacht hatte oder ob es allein der Wille des Urslingers gewesen war, sich mit ihr zu vergnügen. Als Magd blieb ihr ohnehin keine Wahl. Sie musste tun, was der Edle von ihr forderte. Das entsprach der natürlichen Ordnung zwischen Herr und Knecht.

Nach etlichen Monaten war der Spuk vorbei. Duretta musste von der Burg verschwinden, und der Ritter bot sie Merckel zur Frau an. Er zögerte keinen Augenblick. Sie war das begehrenswerteste Weib, das er kannte. Er musste nicht gezwungen werden, sie zu heiraten, obwohl die Verbindung einen Makel hatte. Was das betraf, hätte er sie sogar genommen, wenn sie hässlich gewesen wäre, denn die Abmachung brachte ihn seinen Träumen ein ganzes Stück näher. Der florierende Mietstall in der hervorragenden Lage am Rand des Schiltacher Marktplatzes wäre ohne diese Heirat nie Wirklichkeit geworden.

Zu Beginn ihrer Ehe waren sie gut miteinander ausgekommen, aber dann kamen die Kinder und ihr Geschrei. Alles schien sich nur noch um die Bedürfnisse der Bälger zu drehen. Er kam dabei regelmäßig zu kurz. Seine anfängliche Schwärmerei für Duretta hatte sich mit der Veränderung ihrer Gestalt gewandelt. Nun saß sie wie ein Stachel in seinem Fleisch, dessen er sich nicht so einfach entledigen konnte. Der Urslinger hatte ein Auge auf sie.

Und nun das! Zorn stieg in ihm auf. Sein Blick wanderte wie von selbst zu der Truhe. Wer hat mir das angetan?, grübelte er. Wer hasst mich so sehr, dass er mir schaden will? Lenz? Gewiss, er neidete ihm den größeren Stall. Aber Lenz hatte darüber hinaus eine Wirtschaft, die überaus gut lief. Außerdem war er der Schultheiß und sollte sich nichts zuschulden kommen lassen. Im Grunde war Lenz viel zu anständig für diese Art von Ränkespielerei. Oder erweckte er nur den Anschein von Rechtschaffenheit? Stille Wasser sind bekanntlich tief. Merckel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Vielleicht war es auch der Knochenhauer, den er vor Kurzem einen geldgeilen Hundsfott genannt hatte. Ulrich hatte ihm einen viel zu hohen Betrag für das Notschlachten eines Ochsen abgeknöpft, der auf der Steige ausgerutscht und danach nicht mehr auf die Beine gekommen war. Kälte spiegelte sich in Merckels Miene. Für diese Frechheit hatte der Narrenesel tags darauf bezahlt.

Oder war es Conrad, der Kranzwirt, der ebenfalls nach dem Grundstück geschielt hatte, weil er darauf eine größere Wirtschaft hatte bauen wollen?

Sie alle kamen in Betracht. Aber waren sie verwegen genug, um ihn zu bestehlen? Er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen.

Nach dem Frühmahl ging es Johanna besser, was ihren alten Tatendrang aus dem Schneckenhaus in ihrem Innern lockte, in das er sich verzogen hatte.

Kurz darauf klopfte es an der Tür. Ida war sofort zur Stelle und öffnete. Ein breit grinsender Caspar stolperte herein, dessen dunkles Haar stets ein wenig zerzaust aussah. Johanna beobachtete belustigt, mit welch rasanter Geschwindigkeit Idas Züge beim Anblick des schlaksigen Jungen zu leuchten begannen. Ein Schwall von Begrüßungsworten flog durch die Luft. Wie immer klangen sie kehlig, abgehackt und ein wenig zu laut. Für Caspars Taubheit hatte eine Krankheit gesorgt, die ihn in jungen Jahren befallen hatte. Bald darauf hatte er keinen einzigen Ton mehr vernommen. Trotz Idas Bemühungen gelang es ihm nicht gänzlich, die Melodie der Sprache aus dem Kerker seiner Erinnerungen zu befreien. Doch das störte hier niemanden. Es gab ihm eine ganz eigene Note.

»Lasst uns aufbrechen«, bemerkte Lukas gut gelaunt. »Ich schätze, wir sind vollzählig. Pius wird wohl nicht kommen.«

Caspar schüttelte den Kopf. Der Mönch fühlte sich im Wald am wohlsten. Eine Menschenansammlung, wie sie der Peter-und-Paul-Markt bot, war ihm zuwider. Die Menschen kamen zu seiner Behausung, wenn sie seinen Rat benötigten. Das genügte ihm.

Die vier sahen dem jährlichen Ereignis mit freudiger Erwartung entgegen, brachte es doch etwas Abwechslung in den eintönigen Alltag. Bereits vor zwei Tagen waren die ersten Gaukler und Krämer angereist. Sie lagerten auf einer Brache vor Schiltach, um rechtzeitig mit dem Aufbau auf dem Marktplatz beginnen zu können. Inzwischen mussten sie ihn in Beschlag genommen haben.

Das Läuten der Kirchenglocke ließ alle außer Caspar aufhorchen.

»Wir sollten uns beeilen, sonst kommen wir zu spät zur Messe«, stellte Johanna fest.

Das Hochfest von Petrus und Paulus, nur wenige Tage nach Johanni, war ein kirchlicher Feiertag. Anders als üblich, markierte er nicht das Todesdatum der Heiligen, sondern die Ankunft ihrer Reliquien in Rom. Während der Christenverfolgung waren diese in einer der Katakomben der Stadt heimlich verehrt worden, wie in dieser besonderen Messfeier jedes Jahr aufs Neue versichert wurde. Ihr Besuch war Pflicht und würde unangenehme Fragen vonseiten des Priesters nach sich ziehen, sollte man sich fernhalten. Selbst die Marktleute legten eine Pause ein, um dabei sein zu können.

Ein kurzer Spaziergang, begleitet von hellem Glockengeläut, führte sie zur Kirche auf dem Ausläufer des nach ihr benannten Kirchbergs. Ebenso wie die Vorstadt lag das Gotteshaus, das Johannes dem Täufer geweiht war, außerhalb der Stadtmauern. Nun ragte der geradlinige Bau mit dem schlichten Satteldach, dem Glockenturm und den spitzbogigen Fenstern über ihnen auf. Eine Menge Volk strömte durch das Portal. Sie schlossen sich an und wurden, eingezwängt zwischen Nachbarn und Freunden, in ihrer Sonntagskleidung hindurchgeschoben. Auch Johanna und Lukas hatten ihre besten Kleider an. Obwohl ihre hellbraune Cotte und der darüber getragene grüne Surcot sowie Lukas’ schwarzer Kittel, das weiße Hemd und die dunklen Beinlinge nur eine jüngere Ausgabe dessen waren, was sie immer am Leibe trugen. Dem Anlass entsprechend verbarg Johanna ihre goldbraunen Locken unter einer schlichten Rise aus feinem Leinen. Als verheiratete Frau war es ihr nicht mehr gestattet, ihre Haare offen zu zeigen. Selbst Ida musste sich der Forderung der Kirche beugen und eine Kopfbedeckung während der Messe tragen. Sie befolgte dieses Gebot mit einem schlichten weißen Kopftuch, das gut zu ihrer Sonntagskleidung passte. Lediglich Caspar trug seine üblichen braunen Beinlinge unter einer gleichfarbigen Tunika, die ihm fast bis zu den Knien reichte. Ein einfacher Gürtel, dessen fleckiges Leder arg strapaziert aussah, zierte seine Mitte. Ida schien es nicht zu stören.

Das Innere der Kirche leuchtete in erhabenem christlichem Glanz. Herzogin Beatrix von Urslingen hatte dem kunstvoll gearbeiteten Wandteppich, auf dem Abraham von einem Engel daran gehindert wurde, seinen Sohn Isaak zu opfern, einen weiteren hinzugefügt. Der neue zeigte Josef und Maria mit dem kindlichen Christus, umgeben von den Heiligen Drei Königen und ihren reichen Geschenken. Einer der Könige war ein Mann mit schwarzer Haut und einem seltsamen Kopfputz. Der Priester hatte ihnen erklärt, dass es sich dabei um einen Mohren handele. Die Heiligen Könige seien Nachfahren der Söhne Noahs und verträten somit die drei Erdteile der gesamten Welt.

Sträuße mit frisch gepflückten Blumen und kostbare Leuchter schmückten den Altar. Die kleinen Flämmchen der Bienenwachskerzen kämpften flackernd gegen den leichten Luftzug an, der durch die vergitterten Fenster hereinwehte. Ihr zitterndes Licht spiegelte sich in silbernen Messkelchen, einer Kanne für den Wein und beleuchtete das reinweiße, mit zarten Stickereien verzierte Tuch, das die Hostien auf einem silbernen Teller bedeckte.

Etwas seitlich davon stand Balduin, groß und schmal in einem weißen Habit. Stolz reckte er das Kinn. Johanna wusste, weshalb. Balduin hatte es endlich geschafft. Heute wurde er von Kuno, dem Pfarrherrn der Schiltacher Kirche, zum Priester geweiht.

Johanna seufzte stumm, während sie behutsam ein- und ausatmete. Der Geruch des Weihrauchs, der durch die Kirche zog, war ihr unangenehm und hinterließ ein nervöses Flattern in ihrem Magen. Davon abgesehen traute sie Balduin nicht über den Weg. Sie hatte gehofft, dass er weiterziehen würde, sobald er seine Weihe empfangen hätte. Doch Kuno verfiel zusehends. Innerhalb von Monaten war aus einem gesunden Mann ein ausgezehrter Greis geworden. Er brauchte jemanden, der ihn unterstützte, ihm die Sterbesakramente spendete und einsprang, wenn er stürbe. Allzu lange würde dies wohl nicht mehr dauern. Johanna ahnte, dass eine heimtückische Krankheit in Kuno schwelte. Genau wusste sie es nicht, denn der Priester nahm ihre Hilfe nicht in Anspruch. Stattdessen vertraute er auf die Gebete der Frommen und den Willen des Herrn. Vermutlich würde er lieber sterben, als eine Frau in die Nähe seines Leibes zu lassen.

Johanna ging mit Ida zur linken Seite der Kirche, die dem weiblichen Teil der Gläubigen vorbehalten war. Ihre Freundin Elen erwartete sie dort bereits. Lächelnd nickte sie ihr zu. Kurz darauf begann die Feier des Hochamts. Dies und die anschließende Priesterweihe dauerten so lange, dass nicht nur Johannas Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde. Ihre Eingeweide kämpften gegen ein Gemisch aus harzigem Weihrauch und Schweiß an. Ida tänzelte schon seit geraumer Zeit von einem Bein aufs andere, und Lukas sah von der Seite der Männer beunruhigt zu ihr herüber. Noch hielt sie tapfer den Inhalt ihres Magens an seinem Platz. Als es endlich geschafft war, strömte die Menge erleichtert dem Ausgang zu. Draußen holte Johanna tief Luft.

»Ich hatte schon befürchtet, du fängst an zu würgen und entweihst den kirchlichen Boden mit deinem Frühmahl.« Lukas, bei dem sie sich eingehakt hatte, atmete hörbar auf.

»Viel hätte nicht mehr gefehlt«, krächzte Johanna. Der klare, reine Odem des nahen Gebirgswaldes, der in ihre Lungen strömte, sorgte dafür, dass sie sich besser fühlte.

Sie schlenderten Ida und Caspar hinterher, denen es nicht länger gelang, ihre Neugier im Zaum zu halten, und die zielstrebig auf die Stadtmauer zuliefen. Mit einem Ruck glitt das Kopftuch von Idas Haar und verschwand in ihrer Gürteltasche. Johanna und Lukas schmunzelten. Die zwei wirkten wie ein junges, hübsches Paar. Ihre Körper waren schmal und dennoch kräftig, wie so oft in diesem Alter. Jenem kurzen Übergang, bei dem die kindliche Sanftheit noch sichtbar war, während eine reifere Form des Körpers unaufhaltsam in den Vordergrund drängte. Ida, deren langer geflochtener Zopf über ihren Rücken hing, wirkte graziler und dunkler als Caspar. Was ihre Größe betraf, so hatte sie inzwischen deutlich aufgeholt, doch ihr Freund überragte sie nach wie vor um Haupteslänge. Obwohl sie einander nicht berührten, spürte man dennoch die Verbundenheit, die zwischen ihnen herrschte.

Lukas warf Johanna einen bedeutsamen Blick zu. In seinen Augen las sie die gleichen Gedanken, die sich auch in ihr geformt hatten: Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie zu Liebenden würden.

Das untere Tor stand einladend offen. Sie passierten den steinernen Bogen und sahen schon von Weitem das geordnete Durcheinander aus Wagen und Buden, die von heute an vier Tage den Marktplatz bevölkerten und sich durch die angrenzenden Gassen zogen. Das Gefeilsche und Geschrei, mit denen die Marktleute ihre Waren anpriesen, drang an ihre Ohren. Rechts vom Tor stand Merckels Mietstall. So nahe daran, dass man fast darüber stolperte.

»Jetzt wollen wir mal schauen, ob es jemanden gibt, der über zu viel Geld verfügt«, wisperte Johanna Lukas ins Ohr. Merckel hatten sie seit jenem Zwischenfall nicht mehr zu Gesicht bekommen. Selbst in der Messe hatte sie ihn nirgends entdeckt, obwohl es gut möglich sein konnte, dass er im Gedränge der Gläubigen untergegangen war.

Lukas nickte eifrig. »Vergiss aber nicht, dich selbst ein wenig zu erfreuen.«

Rasch mischten sie sich unters Volk und bestaunten die dargebotenen Dinge: Brauchbares wie Töpfe, Kessel, Pfannen, Tuche, gefärbte Wolle und lederne Gürtel fand sich neben eitlem Tand, den Lukas für vollkommen unnütz hielt. Obwohl selbst er zugeben musste, dass die bunten Schnüre und Bänder, die Knöpfe aus Holz, Bein und Horn, die farbigen Perlen und gemusterten Borten hübsch anzusehen waren. Johanna konnte sich kaum sattsehen.

»Oh, sieh nur all diese Farben und Formen! Ist das nicht wundervoll?«, bemerkte sie entzückt.

»Wollt Ihr Eurer Liebsten etwas schenken?« Die schon etwas in die Jahre gekommene Frau, die hinter den Auslagen stand, musterte sie mit einem abschätzenden Blick. Die dunkle Haut in ihrem Gesicht sah aus wie gegerbtes Leder. Trotz ihres Alters hielt sie sich sehr gerade. Das Leben auf der Straße hatte sie hart gemacht und so widerstandsfähig wie eine alte Eiche. »Ein bisschen Farbe würde ihr gut zu Gesicht stehen.«

Johanna widersprach ihr nicht.

Schließlich ließ sich Lukas dazu hinreißen, ein aus bunten Bändern geflochtenes Halsband für Johanna zu erstehen, das er ihr sogleich anlegte. »Du siehst wunderhübsch damit aus«, entgegnete er stolz, nachdem er sie gemustert hatte.

»Meinst du?« Johanna strahlte.

Kesselflicker und ein Messerschärfer boten ebenfalls ihre Dienste an. Der Stand eines Spezereienverkäufers verbreitete einen intensiven aromatischen Duft. Bei ihm kaufte Johanna Ingwerwurzel gegen ihre Übelkeit und das getrocknete Kraut der Bärentraube, das sie bei Erkrankungen der Blase einsetzen konnte. Die seltene Pflanze wuchs hoch oben im Gebirge und war nur schwer zugänglich.

Johannas Freundin Elen hatte ebenfalls einen Platz ergattert. Nach dem Ende des Gottesdienstes hatte sie sich im Eilschritt dorthin begeben und alles aufgebaut. Inzwischen saß sie nicht mehr auf dem Boden und vertrieb ihre Ware auf einem Tuch. Sie besaß einen Tisch, der aus zwei kleinen Böcken und einer leichten Platte bestand, und einen Hocker. All dies konnte sie nachts im »Weißen Rössel«, dem Wirtshaus des Schultheißen Lenz, aufbewahren, das nur ein paar Schritte entfernt lag. Elen winkte ihnen freudig zu.

Ihre honigfarbenen Augen richteten sich auf Johanna und Lukas, die sich durch das Gedränge schoben. »Ist das nicht herrlich hier?«

Elens schlaffe Wangen waren gerötet. Ihr schlichtes, wenig anziehendes Gesicht leuchtete vor Eifer. Bisher hatte sich kein Mann dazu verleiten lassen, sie zur Frau zu nehmen, obwohl Elen dieser Umstand schmerzte. Vermutlich war dies nicht nur ihrem Äußeren geschuldet, sondern ebenso der Tatsache, dass sie bis auf eine ärmliche Hütte nichts vorzuweisen hatte. Ihre Mutter war vor ein paar Monaten gestorben. Ihr Vater schon vor Jahren durch einen Unfall beim Holzmachen zu Tode gekommen. Seitdem verkaufte Elen Brot an Reisende und verdingte sich im Winter auf einem der umliegenden Meierhöfe, um Wolle zu spinnen oder bei anderen Arbeiten zu helfen. Doch die Sehnsucht nach einem Ehemann blieb. Vermutlich fand sie den Markt deshalb so anregend. Er spülte Menschen ins Städtle, die nur gelegentlich von den Höhen herabkamen.

»Möchtet ihr meine Küchlein kosten? Sie sind ganz frisch. Ich habe die halbe Nacht damit zugebracht, das Fleisch klein zu hacken und mit würzigen Kräutern zu vermengen.«

»Kaufst du mir eines?«, schnurrte Johanna an Lukas gewandt, die bei Elens Worten sengenden Hunger verspürte. Statt des üblichen Brotes empfahl sie heute kleine Pasteten mit Schweinefleisch, um das sie beim Knochenhauer lange gefeilscht hatte.

Lukas zwinkerte verschwörerisch. »Mit Freuden.«