Die Kunst der Fotografie - Bruce Barnbaum - E-Book

Die Kunst der Fotografie E-Book

Bruce Barnbaum

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Beschreibung

Bruce Barnbaums Buch hat einen festen Platz in der kleinen Sammlung der "wichtigsten Bücher zum Thema Fotografie" eingenommen. Das ist die einhellige Meinung vieler Fotografen und Publizisten. In den letzten Jahren war "The Art of Photography" eines der meistverkauften Fotografiebücher weltweit. "Die Kunst der Fotografie" gibt dem ambitionierten Fotografen Anregungen auf seinem Weg zu kreativer, anspruchsvoller Fotografie. Diese Anregungen gehen weit über technische Themen hinaus, sie sollen dem anspruchsvollen Fotografen helfen, sich über die eigene "fotografische Identität" klar zu werden und den Weg zu einer eigenen Bildsprache zu finden. In der vorliegenden zweiten Auflage nimmt das Thema "Digitale Techniken" einen deutlich größeren Raum ein. Zudem hat Bruce Barnbaum das aufwändig illustrierte Buch durch neues Bildmaterial ergänzt. Barnbaums Workshops sind legendär, das Buch zeigt seine Leidenschaft für die Fotografie und sein didaktisches Talent. Ein Buch, das nicht nur als Lehrbuch, sondern auch als Bildband besticht. Aus dem Inhalt: • Fotografie als Mittel der Kommunikation • Elemente der Komposition • Visualisierung • Licht und Farbe • Filter • Das Zonensystem analog und digital • Der Abzug • Die Werkzeuge zur digitalen Bildbearbeitung • Analog und digital, Kunst und Technik • Die Zerschlagung fotografischer Mythen • Präsentation • Fotografischer Realismus, Abstraktion und Kunst • Der intuitive Zugang zur Kreativität

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BRUCE BARNBAUM

Die Kunst der Fotografie

Der Weg zum eigenen fotografischen Ausdruck

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Bruce Barnbaum, www.barnbaum.com

Übersetzung: Dr. Volker HaxsenLektorat: Miriam Metsch, Gerhard RossbachCopy-Editing: Alexander Reischert, Redaktion ALUANLayout und Satz: Petra Strauch, BonnHerstellung: Susanne BröckelmannUmschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.deUmschlagfoto: Bruce BarnbaumDruck und Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, 39240 Calbe (Saale)

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:Print 978-3-86490-458-5PDF  978-3-96088-274-9ePub 978-3-96088-275-6mobi 978-3-96088-276-3

2. Auflage 2017Copyright © 2017 dpunkt.verlag GmbHWieblinger Weg 1769123 Heidelberg

Authorized translation of the English edition of »The Art of Photography«, 2nd edition © 2017 by Bruce Barnbaum. This translation is published and sold by permission of Rocky Nook, Inc., the owner of all rights to publish and sell the same.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.

Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Es wird darauf hingewiesen, dass die im Buch verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, marken- oder patentrechtlichem Schutz unterliegen.

Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buchs stehen.

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Meiner Mutter und in Gedenken meinem Vater gewidmet.

So lange ich denken kann,haben sie mich darin bestärkt,zu unterrichten.

Inhalt

DANKSAGUNGEN

1FOTOGRAFIE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION

Begeisterung

Bewertung der eigenen Reaktion

2WAS IST KOMPOSITION?

Wie das Auge sieht

Grundgedanke

Einfachheit

Ihren eigenen Standpunkt ausdrücken

Einfachheit versus Komplexität

3ELEMENTE DER KOMPOSITION

Kontrast und Tonwerte

Linien

Formen

Linien, Formen, Kontraste und Emotionen

Muster

Balance

Bewegung

Positiver/negativer Raum

Struktur

Kameraposition

Brennweiten und Bildausschnitte

Schärfentiefe

Verschlusszeit

Beziehungen

Anteilnahme am Motiv

Regeln, Erfolgsrezepte und andere Tücken

4VISUALISIERUNG

Schritt 1: Fotografisches Schauen und Sehen

Schritt 2: Bildkomposition

Schritt 3: Ihre Vorstellung des fertigen Bildes

Schritt 4: Vorschläge zum Vorgehen bei Problemen, sich das fertige Bild vorzustellen

Schritt 5: Strategieplanung bis zum fertigen Bild

Wie sich das Auge von der Kamera unterscheidet

Alternative Ansätze

5LICHT

Das Licht betrachten

Übungen, um das Licht exakter wahrzunehmen

Das Licht bestimmt die Form

Arten des Lichts bzw. der Lichtqualitäten

Wie das Licht vom Auge, Film oder Sensor wahrgenommen wird und das Quadratabstandsgesetz

6FARBEN

Der Farbkreis und die Farbkugel

Farbkomposition

Farbfamilien, Farbkontraste und ihre emotionalen Effekte

Subjektivität und Farbstimmung

Digitales Arbeiten in Farbe

Analoges Arbeiten in Farbe

Resümee

7FILTER

Filter für die analoge Schwarz-Weiß-Fotografie

Beispiele anhand einer hypothetischen Landschaft

Kontraststeuerung durch Filter

Infrarotfilm und -filter

Farbkorrekturfilter für die analoge Farbfotografie

Graufilter und Polarisationsfilter

Probleme in Verbindung mit Polfiltern

Digitale Polfilter

Digitale Filterung in der Schwarz-Weiß-Fotografie

Digitale Filterung in der Farbfotografie

8DAS ZONENSYSTEM FÜR AUFNAHMEN AUF SCHWARZ-WEISS-FILM

Ein kurzer Überblick

Wie der Film auf Licht reagiert – der Aufbau des Zonensystems

Die Übertragung von Negativdichten in die Tonwerte des Abzugs

Wie ein Belichtungsmesser arbeitet

Rückblick auf den Vorgang der Negativbelichtung

Einsatz des Zonensystems, um von der Realität abzuweichen

Das Zonensystem mit Farbnegativfilm

Das Zonensystem und das Quadratabstandsgesetz

Resümee

9DIE STEUERUNG DES KONTRASTS VON SCHWARZ-WEISS-NEGATIVEN – DAS ERWEITERTE ZONENSYSTEM

Übersicht über das Kapitel 9

Das Negativ während der Entwicklung

Die Balgen-Analogie

Die Ausnutzung der höheren Zonen

Schwarzschildeffekt

Beispiele für Verminderung und Steigerung des Kontrasts

Die Belichtungs- und Negativdichtenkurve und Platzierung der Schatten in Zone 4

Unterschiede zwischen Fotografie und Sensitometrie: Zeichnung versus Tonwert und die Zone 4 für die Schatten

Die Entwicklung des belichteten Negativs

Erläuterungen zur Ausgleichsentwicklung

Zweibad-Ausgleichsentwicklung für Negative

Entwicklungsverfahren für Plan- und Rollfilme

Das Zonensystem bei Kleinbild- und Rollfilmen

Filme und Entwickler

10DER ABZUG

Schwarz-Weiß-Fotopapiere

Kontrastwandel- versus Festgradationspapiere

Barytpapiere versus PE-Papiere

Schwarz-Weiß-Papierentwickler

Die Erstellung von Kontaktabzügen

Vorarbeiten für den fertigen Abzug

Erstellen Sie Probeabzüge, keine Probestreifen!

Abwedeln und Nachbelichten

Integration des ganzen Prozesses: Visualisierung, Belichtung, Entwicklung und Abzug

Nachbelichten bei Kontrastwandelpapieren

Fortgeschrittene Dunkelkammertechniken

Begutachtung, Bewertung und der Mythos des »Dry-down«-Effekts

Bleichen

Abschließendes Fixieren des Bildes

Kontrolle von Lokal- versus Gesamtkontrast

Bildformate

Selentonungen

Andere Toner

Chemische Färbung

Verarbeitung zu archivfesten Abzügen

Das Tonen, Verstärken und Abschwächen von Negativen

Kalt-, Neutral- und Warmtonpapiere

Übersicht über die Möglichkeiten der Kontraststeuerung

Grenzenlose Kontraststeuerung nach der Entwicklung von Schwarz-Weiß-Filmen

Farbvergrößerungen

Am Schluss zählt das Endprodukt

Scannen des Films

11DAS DIGITALE ZONENSYSTEM

Grundlagen der digitalen Aufnahme

Der nutzbare Dynamikumfang des Sensors

Von der Theorie zur Praxis hervorragender Digitalaufnahmen

Das Histogramm – Herzstück des digitalen Zonensystems

Das RAW-Konvertierungsprogramm – die Entwicklung der RAW-Aufnahme

High-Dynamic-Range (HDR)-Bilder – das erweiterte Zonensystem der digitalen Fotografie

Panoramen und andere zusammengesetzte Bilder

12DIE WERKZEUGE ZUR DIGITALEN BILDBEARBEITUNG

Der Werkzeugkoffer von ACR

Zusammenfassung von ACR

Der Werkzeugkoffer von Photoshop

Schlussbemerkungen

13ANALOG UND DIGITAL, KUNST UND TECHNIK

Kunst, Technik und deren Relevanz

Analog oder digital fotografieren

Schlussgedanken

14DIE ZERSCHLAGUNG FOTOGRAFISCHER MYTHEN

Mythos #1

Mythos #2

Mythos #3

Mythos #4

Mythos #5

Mythos #6

Mythos #7

Mythos #8

Mythos #9

Mythos #10

15PRÄSENTATION

Aufziehen von Abzügen mit Heißklebefolie

Herstellung von Positionierungshilfen für den Abzug

Ausflecken, Radieren und Beheben von kleinen Schäden

Der letzte Schliff für den Abzug

16FOTOGRAFISCHER REALISMUS, ABSTRAKTION UND KUNST

Fotografie als Kunst

Fotografie und Malerei – ihre gegenseitige Beeinflussung

Einige persönliche Beispiele

Die Kraft der Abstraktion

Nach außen und nach innen gerichtete Fragen

Die Macht der Fotografie

17DER INTUITIVE ZUGANG ZUR KREATIVITÄT

Intuition in der Wissenschaft

Vermeidung der Intuition

Das Verstehen und Missverstehen der Intuition

Beispiele für einen intuitiven Ansatz

Die Anwendung der Intuition in Ihrer Fotografie

Schlussfolgerungen

18IN RICHTUNG EINER PERSÖNLICHEN PHILOSOPHIE

Flexibilität

Bildende Kunst

Jenseits der bildenden Künste

Bestimmung und Erweiterung Ihrer Interessen

Grenzen der Fotografie

Entwicklung eines persönlichen Stils

Selbstkritik, Austausch und Studium

ANHANG A

TESTEN VON MATERIALIEN UND AUSRÜSTUNG IN DER ANALOGEN FOTOGRAFIE

Filmempfindlichkeitstest

Kontrastentwicklungstest

Objektivschärfe- und Bildkreistest

Balgentest

Dunkelkammerbeleuchtungstest

Vergrößerer-Ausleuchtungstest

Vergrößerungsobjektiv-Schärfetest

ANHANG B

VERGRÖSSERER-LICHTQUELLEN

INDEX

Danksagungen

NUR WENIGE BÜCHER sind das Werk von Einzelpersonen unter Ausschluss der restlichen Menschheit. Und so bildet auch mein Buch in dieser Hinsicht keine Ausnahme, sodass ich gleich mehreren Personen und Organisationen danken möchte, die mir dabei geholfen haben, es zu verfassen.

Erstens möchte ich mich bei meinen vielen Workshop-Teilnehmern bedanken, die meine ersten Abhandlungen und Manuskripte gelesen, mich bei der Weiterentwicklung der niedergeschriebenen Konzepte ermutigt und zusätzliche Themen angeregt haben. Andere Teilnehmer machten mich auf Fehler und auf beim ersten Lesen schwer verständliche Passagen aufmerksam. Zusammengenommen gründet sich die Qualität dieses Buchs auf Hunderte oder gar Tausende »Co-Lektoren«, die mein Schreiben in den letzten 35 Jahren verbessert haben.

Zweitens muss sich eine ganze Reihe von Leuten erwähnen, die mir bei dem Einstieg in die digitale Fotografie geholfen haben. Besonderer Dank gilt Bennett Silverman für seine großartige Hilfe und des Verfassen des Kapitels über digitale Fotografie in der ersten Ausgabe dieses Buchs. Neben Ben danke ich Rajmohan Murali, Ron Reeder, Don Rommes und Franz Messenbaeck für ihre wundervolle und benötigte Hilfe mich ins digitale Boot zu hieven.

Eine ganze Reihe von Personen war mir über die Jahre eine große Hilfe und Inspiration. Das sind vor allem:

Jay Dusard, der mich in das Bleichen mit Kaliumhexacyanoferrat eingeführt und all die Jahre mit neuen Ideen versorgt hat. Er ist ein guter Freund von mir, ein fabelhafter Workshop-Mitarbeiter und mein bester, ehrlichster Kritiker;

Ray McSavaney, der mir bei dem Aufbau meines ersten eigenen Workshop-Programms, den Owens Valley Photography Workshops, geholfen und die Idee des extrem verdünnten Negativentwicklers (Ausgleichsentwicklung) nahegebracht hat, um große Negativkontraste beherrschen zu können. Seine künstlerische Weise das Leben anzugehen hat mich stets inspiriert und ich werde Ray für immer als Freund und vollkommenen Künstler vermissen;

Don Kirby, der nicht nur mit mir gemeinsam viele Workshops geleitet hat, sondern mit mir auch gewandert ist, sich mit mir in den Lower Antelope Canyon abgeseilt hat, bevor dieser durch und durch kommerzialisiert wurde, und mit mir überall im unübertroffenen Utah-Canyon-Gebiet gecampt hat. Daneben lieferte er mir auch wertvolle Erkenntnisse über den Wert der Negativmaskierung und hat mich dabei unterstützt, meine kreativen und pädagogischen Fähigkeiten auszubauen;

Heike Maskos, eine Workshop-Teilnehmerin, die mit mir bei früheren Auflagen dieses Buchs eng zusammengearbeitet hat, sodass es sich besser las, besser aussah … womit Heike sich als eine viel größere Hilfe erwies, als sie es jemals zugeben würde;

Alexander Ehhalt, der dieses bis dahin nur im Selbstverlag erschienene Buch Gerhard Rossbach, dem Verlagsgründer von Rocky Nook, vorgestellt, mit mir an diesem und weiteren Büchern gearbeitet hat und mir ein verlässlicher Freund und Mitdozent von Workshops geworden ist;

Reed Thomas, ein wunderbarer Freund und gelegentlicher Mitdozent, der mir die Augen geöffnet und meinen Horizont in Richtung alternativer Sichtweisen eines jeden Motivs erweitert hat;

Morten Krogvold, der mich mit seinen kraftvollen Bildern und seiner Fähigkeit Fotografen dazu zu animieren, das Beste aus sich heraus zu holen und sie tief im Innern zu berühren, sehr inspiriert hat; und, allen voran, meine Frau Sonia Karen, die die ganzen herrlichen Dinge im Verlauf meiner fotografischen Laufbahn überhaupt erst ermöglichte, indem sie mich nach Kräften unterstützt und mir in allen Phasen meiner Unternehmungen geholfen hat. Sie ist die ruhige, großartige Perle meines Lebens!

Jedem von ihnen und jedem anderen, der mir Ideen, Techniken und Tipps jeder Art geliefert hat, möchte ich ein ausdrückliches Dankeschön für seinen Beitrag zu diesem Buch sagen.

Abb. 1-1: What Was … What Is

Ein Riesen-Lebensbaum von vier Metern Durchmesser im Regenwald der North Cascade Mountains im Bundesstaat Washington. Vor einem Jahrhundert gefällt, haben Dutzende hoher dünner Bäume seinen Platz eingenommen, die aber in der Summe weniger Festmeter Holz aufweisen. Keiner der nachgewachsenen Bäume ist ein Riesen-Lebensbaum. Da weder Farne noch Büsche oder Moos den Waldboden bedecken, ist hier der Lebensraum für das Wild sehr eingeschränkt. Die Forstbetriebe verkünden, dass es in Amerika noch nie so viele Bäume gegeben habe. Das ist zwar sachlich richtig, verzerrt aber die tatsächlichen Verhältnisse aufs Ärgste, handelt es sich doch vielfach um ziemlich trostlose Wälder, regelrechte Baumplantagen. Die Aufnahme in der Nähe meines Wohnortes soll den Schaden durch den kommerziellen Kahlschlag verdeutlichen, den man dort beschönigend »Ernte« nennt. Keine andere Kunstform kann solch eine Aussage drastischer darstellen als die Fotografie.

KAPITEL 1

Fotografie als Mittel der Kommunikation

DIE FOTOGRAFIE IST EINE FORM NONVERBALER KOMMUNIKATION. In ihrer höchsten Ausprägung überträgt sich der Gedanke einer Person, des Fotografen, auf eine andere, den Betrachter. Diesen Aspekt teilt sich die Fotografie mit anderen künstlerischen nonverbalen Ausdrucksformen wie der Malerei, der bildenden Kunst und der Musik. Eine Sinfonie von Beethoven etwa kann den Hörer unmittelbar ansprechen, ein Bild von Rembrandt übermittelt dem Betrachter womöglich eine Botschaft und eine Statue von Michelangelo vermag mit ihren Bewunderern zu kommunizieren. Auch wenn Beethoven, Rembrandt und Michelangelo nicht mehr unter uns weilen, um ihre Werke zu erläutern: Diese Art von Kommunikation findet auch weiterhin so statt.

Fotografie ist eine Form nonverbaler Kommunikation.

Fotografie kann auf die gleiche Weise kommunikativ wirken. Für mich hat schon das Wort Fotografie eine viel tiefere Bedeutung als allgemein geläufig. Eine echte Fotografie erhebt sich mit ihrer ganz universellen Qualität über das jeweilige Motiv oder die Geschehnisse hinaus. Wenn ich mir Porträts der Fotografen Arnold Newman oder Diane Arbus anschaue, stellt sich bei mir das Gefühl ein, die Porträtierten zu kennen, obwohl ich ihnen doch nie persönlich begegnet bin. In gleicher Weise betrachte ich Landschaftsaufnahmen von Ansel Adams, Edward Weston oder Paul Caponigro und bin von der Wuchtigkeit der Felswände, der Zartheit der kleinen Blumen, der geheimnisvollen Stimmung des nebligen Waldes überwältigt. Und das, obwohl ich doch selbst nie dort vor Ort war, wo sie ihr Stativ aufgebaut hatten. So geht es mir auch mit der Straßenfotografie eines Henri Cartier Bresson, wenn ich in seinen Bildern das mitreißende Gefühl jenes entscheidenden Augenblicks miterlebe, der für immer festgehalten wird – und doch habe ich ihm in diesem Moment nicht über die Schulter geschaut. Selbst bei einem von Jerry Uelsmann fotografierten Baum, der im Raum zu schweben scheint, stellt sich bei mir jenes dem Bild innewohnende surrealistische Kribbeln ein. Dies alles spüre ich, weil mich der Künstler mit seiner Aussage erreicht hat. Das Foto sagt alles, Weiteres erübrigt sich.

Ein bedeutsames – und damit erfolgreiches – Foto hat mindestens eine der folgenden Wirkungen: Es ermöglicht oder erzwingt sogar Dinge zu erkennen, die der Betrachter schon oft angeschaut hat, ohne sie jedoch wirklich wahrzunehmen. Es zeigt ihm etwas, was er noch nie gesehen hat. Es wirft Fragen auf – mitunter mehrdeutig oder unbeantwortbar – und wirkt daher geheimnisvoll, lässt Zweifel aufkommen oder erzeugt ein Gefühl von Unsicherheit. Mit anderen Worten: Das Foto erweitert unseren Blickwinkel und den eigenen gedanklichen Horizont. Es ruft Bewunderung, Erstaunen, Erheiterung, Mitgefühl, Erschrecken oder eine von vielen anderen möglichen Emotionen hervor. Es lässt die Realität in einem anderen Licht erscheinen, regt neue Fragen an und schafft seine eigene Welt.

Darüber hinaus ist es der Aspekt des »Realismus«, der Millionen von Menschen für Schnappschüsse und Selfies zu Smartphones, Digitalkameras und gelegentlich noch Kleinbildkameras greifen lässt. Und dieser unmittelbare Alltagsbezug verleiht der Fotografie eine Bedeutung, die sie wesentlich von anderen Kunstgattungen unterscheidet. Beleuchten wir dieses Phänomen mit ein paar Beispielen aus der Geschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts hat Lewis Hine mit seinen Studien über Kinder in der Fabrikarbeit eine Brücke zwischen künstlerischer Fotografie und sozialer Gerechtigkeit geschlagen, als diese Bilder das Inkrafttreten von Gesetzen zum Schutz vor Kinderarbeit beförderten. In den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts schärften Ansel Adams, Edward Weston und einige mehr mit ihren Landschaftsaufnahmen das öffentliche Bewusstsein für die Umwelt. Es war im Wesentlichen die Macht der Bilder, die von Mitte bis Ende es vorigen Jahrhunderts eine ganz Reihe von Nationalparks, Parks von Bundesstaaten und ausgewiesenen Naturschutzgebieten hat entstehen lassen. Und zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise waren es neben anderen Margaret Bourke-White, Walker Evans und Dorothea Lange, die mittels ihrer Kunst der amerikanischen Öffentlichkeit jene von Sand- und Staubstürmen geprägten Lebensbedingungen in den großen Getreideanbaugebieten nahegebracht haben. Heutzutage ermöglicht der Vergleich von Gletscheraufnahmen mit denen aus dem letzten Jahrhundert den sichtbaren Beweis für den Klimawandel und seine damit verbundenen weitreichenden Probleme. (Leider ist der Widerstand gegen diese offensichtlichen Fakten zu groß, um auf diesem Gebiet schnelle Fortschritte zu erzielen.) Dennoch lässt sich festhalten: Bei gekonnter Nutzung kann die Fotografie die einschlägigste aller Kunstformen sein (siehe Abb. 1-1).

In diesem Buch befassen wir uns mit der Fotografie als ausdrucksstarke Kunstgattung und deren Funktion der Dokumentation und weniger mit der alltäglichen Spaßfotografie der reinen Erinnerungskultur. Für die »bildliche Formulierung« einer wirklich bedeutenden Aussage muss der Fotograf über das normale Maß der persönlichen Beteiligung hinaus in die betreffende Welt eintauchen, sei sie nun real oder künstlich geschaffen. Er muss in sie hineinwachsen, um ein tiefes Verständnis von ihr zu erlangen – von ihrer Struktur im Großen sowie den Nuancen im Detail. Diese Grundsätze gelten für alle Bereiche der Fotografie gleichermaßen.

Doch wie findet der Fotograf den Weg dahin, starke Bildaussagen von emotionalem Gehalt mit seinen Bildern zu transportieren? Eine komplizierte Frage – ohne die Möglichkeit einer eindeutigen Antwort. Und doch ist es die entscheidende Frage, welche sich jeder ernsthafte Fotograf während allen Phasen seines Schaffens stellen und für sich individuell beantworten muss. Meiner Meinung nach spielen dabei sowohl persönliche als auch praktische Aspekte zentrale Rollen. Auf der persönlichen, inneren Ebene stellen sich insbesondere zwei Fragen:

Was sind meine Interessen?

Wie reagiere ich innerlich auf meine Interessen?

Die erste Frage zielt darauf ab, was mir wichtig ist. Es ist höchst unwahrscheinlich, gute Fotografie abzuliefern, wenn einen das Motiv nicht ernsthaft interessiert. Die zweite Frage geht dem nach, wie ich mich persönlich ausdrücken möchte und wie andere meine Werke wahrnehmen sollen. Anders ausgedrückt: Wie sollen meine Fotos aussehen, damit andere meine Intention der Bildaussage erfassen können? Auf der rein praktischen Ebene stehen deshalb Entscheidungen zu Bildgestaltung und -komposition, Belichtung, Lichtführung, Kameraausrüstung, Dunkelkammer- und Digitaltechniken, Präsentation des fertigen Bildes und dergleichen an, die das persönliche Konzept umsetzen sollen.

Beginnen wir mit der ersten der zwei persönlichen Fragen, jener nach den Interessen: Nur Sie selbst können diese Frage beantworten. Und es ist von fundamentaler Bedeutung, dass Sie dies auch tun. Sie werden nur in dem Ausmaß bedeutende Fotografie hervorbringen, wie Sie sich persönlich für Ihr fotografisches Sujet interessieren. Aber nicht nur das: Sie müssen sich auf solche Bereiche fokussieren, die Ihnen wirklich am Herzen liegen.

Warum? Stellen Sie sich doch einmal folgende Frage: Ist es Ihnen im Rahmen eines gewöhnlichen Gesprächs jemals gelungen, etwas Bedeutsames hervorzubringen, wenn Sie das Thema nicht einen Deut interessierte und Sie keine persönliche Meinung dazu hatten? Es ist schier unmöglich! Sie haben einfach nichts zu sagen, weil es Sie schlichtweg kalt lässt. In der Regel hält dies die meisten Leute allerdings trotzdem nicht davon ab, den Mund aufzumachen. Und genau wie diese Leute dann über Themen reden, die sie nicht wirklich interessieren, machen sie auch Bilder von Dingen, die sie nicht wirklich interessieren – die Ergebnisse sind dann auch erwartungsgemäß durch die Bank langweilig.

Lassen Sie uns bei dieser Analogie bleiben. Nehmen Sie irgendeinen großen Redner, sagen wir Winston Churchill oder Martin Luther King, und bitten diesen dann eine flammende Rede etwa über das Sticken zu halten. Er könnte es nicht – denn er hätte nichts dazu zu sagen. Es wäre nicht sein Gebiet, nicht seine Passion. Nur auf seinem Gebiet kann die ganze Rede- und Überzeugungskraft zur Geltung kommen. Den großen Fotografen ist bewusst, was sie fesselt und was sie langweilt. In gleichem Maße wissen sie um ihre Vorzüge und ihre Grenzen. Sie konzentrieren sich auf ihre Interessen und Stärken. Sie mögen sich vielleicht gelegentlich auf anderen Gebieten versuchen, um ihren Horizont zu erweitern oder an ihren Schwächen zu arbeiten – und das sollte ein jeder tun! Aber sie verwechseln nicht Experimentieren mit pointierter Aussage.

Weston hat keine flüchtigen Momente in Sekundenbruchteilen eingefangen, Newman keine Landschaftsaufnahmen gemacht. Uelsmann fotografierte keine sozial Benachteiligten, Arbus verzichtete auf surrealistische Bildeffekte durch Sequenzen. Jeder dieser großen Fotografen hat sich auf seine Interessengebiete und Fähigkeiten konzentriert. Es ist durchaus denkbar, dass jeder von ihnen auch in anderen Bereichen ganz anständige Werke hervorgebracht hätte, aber diese wären vermutlich weder von jener großen Konstanz noch ähnlich beeindruckend wie ihr zentrales Schaffen. Sie wie alle anderen großen Fotografen zeichnet aus, dass sie sich nahezu ausschließlich im Rahmen ihrer größten Stärken bewegt haben.

Begeisterung

Das wichtigste Indiz für Ihr Interesse ist Begeisterung. Die Wichtigkeit von Begeisterung kann ich gar nicht genug betonen. Vielleicht kennen Sie die Sentenz, dass die wichtigsten menschlichen Eigenschaften für Erfolg auf jedem Gebiet Begeisterung, Talent und Arbeit seien, aber auch zwei dieser Eigenschaften ausreichen, wenn nur die Begeisterung dazu zähle. Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Im Bereich der Fotografie äußert sich diese Begeisterung für mich in einer unmittelbaren emotionalen Reaktion auf ein Motiv. Diese zeigt sich darin, dass wenn mich ein Motiv visuell fasziniert, ich es sofort fotografiere oder aber zumindest einen prüfenden zweiten Blick darauf werfe, ob sich ein Foto lohnt. Das ist natürlich rein subjektiv. Diese positive gefühlsmäßige Reaktion ist mir außerordentlich wichtig. Ohne sie fehlt es mir an Spontaneität und schon wird das Fotografieren anstrengend. Mit ihr ist die Fotografie pure Freude.

Ich habe in der Dunkelkammer schon bis 3, 4 oder gar 5 Uhr morgens gearbeitet. Das mache ich nicht für Geld, sondern aus Hingabe.

Begeisterung äußert sich auch darin, dass man immer weitermachen möchte, trotz aller Müdigkeit oder Erschöpfung. Begeisterung und Enthusiasmus vermögen das zu überspielen und tragen Sie bei Ihrer Tätigkeit weiter. Auf Rucksacktouren habe ich häufig noch weiterfotografiert, als sich die anderen schon zur Ruhe gelegt hatten, weil mich die Umgebung derart faszinierte. Auf einer Sierra-Club-Reise 1976 kamen wir nach einer langen und schwierigen Bergwanderung endlich am Biwak an. Alle waren erschöpft. Als aber das Abendessen auf dem Feuer war, bin ich noch eben auf einen nahegelegenen Grat geklettert, um den Mount Clarence King (3950 Meter) im späten Abendlicht zu erleben. Es war eine komponierte Fuge aus Granitgestein (Abb. 1-2). Ich habe die anderen aus der Gruppe von oben herbeigerufen, um diesen faszinierenden Anblick zu teilen. Doch selbst ohne Rucksack oder Fotoausrüstung zeigte sich niemand gewillt hochzuklettern. Ich war somit der Einzige, der diese Aussicht genossen hat!

Genauso habe ich schon bis 3, 4 oder 5 Uhr morgens in der Dunkelkammer an neuen Bildern gearbeitet, weil das jeweils nächste Negativ immer so vielversprechend aussah, dass ich herausfinden wollte, ob es einen tollen Abzug hergibt. Ebenso habe ich kürzlich viele Stunden am Computer damit verbracht, meine RAW-Dateien in fertig bearbeitete TIFFs zu verwandeln, obwohl es schon reichlich spät geworden war. Ich konnte einfach nicht bis zum nächsten Tag damit warten. So ist das eben mit Dingen, die man nicht für Geld, sondern aus Hingabe tut.

Wenn ich draußen während des Fotografierens bei einem Motiv keine initiale Regung verspüre, sehe ich mich eben nach etwas anderem um. Ich zwinge mich nie zum Fotografieren, etwa um eine kreative Hürde zu überspringen. Einige Kollegen raten in derlei Fällen dazu, einfach irgendetwas abzulichten, damit so der Bann gebrochen werde. Das ist reiner Blödsinn. Warum Zeit vergeuden und Material verschwenden im Wissen, dass nichts Gutes dabei herauskommt? Schließlich ist das Betätigen des Auslösers kein sportlicher Akt, für den man sich warmmachen müsste. Deshalb sollten Sie es auch nicht tun.

Aber in dem Moment, wo ich diesen Adrenalinstoß verspüre, suche ich penibel nach der besten Kameraposition, dem passendsten Objektiv, wähle Filter für die optimale Wirkung, nehme Belichtungsmessungen vor bzw. überprüfe sorgsam das Histogramm und belichte mit größter Sorgfalt bei optimaler Blende und Verschlusszeit. All diese Dinge sind wichtig und erfordern Konzentration sowie Einsatz. Die initiale Reaktion auf das Motiv ist spontan, die folgenden Schritte sind es dagegen nicht!

Ich bin der Überzeugung, dass dieser Ansatz für Fotografen jeder Qualifikation gilt, vom Anfänger bis zum Experten. Wenn man auf etwas Wichtiges trifft, wird es sich auch offenbaren. Es wird einen packen und man wird es sofort spüren! Sie müssen sich dann nicht erst fragen, ob es Sie wirklich interessiert oder die Begeisterung ausreicht, um zur Kamera zu greifen. Wenn Sie diese spontane Regung nicht verspüren, haben Sie eben auch kein Bedürfnis, die Botschaft des Motivs zu vermitteln. Meiner Meinung nach liegen die Beweggründe für die meisten Schnappschüsse darin, dass man entweder jemand anderem damit einen Gefallen tun möchte oder aber zeigen will, wo man gewesen ist. Keiner dieser Gründe ist von persönlicher Interpretation und Ausdruck getragen, noch zeugt er von jenem inneren Drang. Fotos vor dem Hinweisschild des Yellowstone-Nationalparks belegen bestenfalls, dass man dort gewesen ist, und dienen wie fast 100 % aller Selfies dem reinen Vergnügen und der Erinnerung, ohne den geringsten künstlerischen Anspruch zu erheben.

Abb. 1-2: Mt. Clarence King

Dieses große Crescendo aus Granit erhebt sich geradezu lyrisch im Abendlicht, das jeden einzelnen Grat, jeden Stützpfeiler herausstellt. Um sämtlichen Dunst zu eliminieren und die Wolken durch das Abdunkeln des Himmelsblaus zu betonen, habe ich einen Rotfilter benutzt.

Es hat mich immer wieder berührt, wie Menschen mit ihren kreativen Tätigkeiten – wissenschaftlich, künstlerisch oder sonst wie – wegen fehlender Begeisterung ohne Chance auf Erfolg blieben. Begeisterung kann nicht aus sich heraus geschaffen werden. Man hat sie … oder eben nicht! Man kann sich sicherlich zunehmend für eine Sache interessieren und auch begeistern, aber zu erzwingen ist dies nicht. Wenn Sie keine Begeisterung für eine Unternehmung entwickeln, dann probieren Sie lieber gleich etwas anderes. Sind Sie hingegen von etwas begeistert, dann gehen Sie ihm nach! Seien Sie einfach ehrlich zu sich selbst, wenn es darum geht, was Sie wirklich zu begeistern vermag.

Abb. 1-3: Morten Krogvold

Einer der wahrhaft großen Fotografen dieser Welt, Morten Krogvold, hat mich wegen seiner starken Wikinger-Gesichtszüge zu einem Porträt animiert. Ich fragte mich, aus welchem Winkel man ihn am besten fotografiert und welche Art von Licht diesen Eindruck am besten wiedergibt. Ich habe mich schließlich für das Beinahe-Profil entschieden. Unter dem schwachen Licht eines Kronleuchters legte er an jenem Abend sein Kinn auf die Hände, während die Ellenbogen bei der 25-Sekunden-Belichtung auf einen niedrigen Tisch gestützt waren. Die dunklen Bildtöne um ihn herum unterstreichen das Gefühl von Stärke.

Es hat mich immer wieder berührt, wie Menschen in ihren kreativen Tätigkeiten wegen fehlender Begeisterung ohne Chance auf Erfolg blieben.

Fragen Sie sich, wo es Sie hinzieht, was Sie bewegt. Sehr wahrscheinlich werden Sie die besten Aufnahmen in Ihrem Interessengebiet machen, wo Sie zunächst noch ohne Kamera unterwegs sind. Wenn Sie aufrichtig an Menschen interessiert sind, sodass Sie sie ausgiebig kennenlernen und ihre Eigenheiten ergründen wollen, dann sind wahrscheinlich Porträts Ihre größte Stärke. Wenn Sie in der persönlichen Begegnung die äußere Fassade von Menschen zu hinterfragen bestrebt sind, wird es so kommen, dass Sie auch mit der Kamera in der Hand tiefer vordringen und die »wahre« Person zeigen können. Auch wenn ich mich selbst nicht als Porträtfotografen bezeichnen würde, so habe ich doch einige Personen aufgenommen, die ich kenne und schätze und die mir etwas bedeuten (Abb. 1-3).

Faszinieren Sie Ereignisse oder aktionsgeladene Veranstaltungen wie etwa im Sport? Sind Sie gerne live dabei, wenn es um die Ecke gekracht hat, ein Feuer gelöscht werden muss oder ein Prominenter in die Stadt kommt? Wenn dem so ist, dürfte vermutlich Fotojournalismus oder Straßenfotografie Ihre Sache sein. Der letztgenannte Aspekt umfasst den großen Bereich der unbeobachteten Schnappschüsse, die von Henri Cartier-Bresson, Weegee und anderen zu einer Kunstform erhoben wurden. Ihr Ansatz unterscheidet sich vom formellen Porträt dadurch, dass das Foto in der Regel ungestellt und mitunter ohne Wissen des Porträtierten entsteht. Dieser Zweig der Fotografie (die sicherlich anspruchvollste Form der Dokumentarfotografie) zieht diejenigen an, die das Unerwartete und Flüchtige fasziniert.

Lassen Sie uns diesbezüglich noch einen Aspekt berücksichtigen: Die eindrücklichsten Werke dieses Genres lenken nicht so sehr auf das Geschehen als solches, sondern auf die Auswirkungen auf die Beteiligten oder Beobachter. Oftmals verrät die menschliche Reaktion und Interaktion sehr viel mehr über uns und unsere Welt als die Begebenheit selbst. Schlichter Bildjournalismus ist allzu oft vom Ereignis an sich gelenkt und selten genug kommt er über eine reine Wiedergabe der Geschehnisse hinaus … und wird damit echte Kunst.

Fühlen Sie sich von reinem Design oder Farbarrangements angezogen? Vielleicht wäre dann die abstrakte Fotografie etwas für Sie. Brett Weston war ein Paradebeispiel für einen technisch klassisch orientierten Fotografen, der schlichte Silbergelatine-Abzüge gemacht hat, aber dennoch fast jedem seiner Motive eine abstrakte Note verlieh. Experimentelle Techniken wie Mehrfachbelichtungen, Fotomontagen, Doppel- und Mehrfachabzüge, Solarisationen, alternative Bildverfahren, die fast grenzenlosen Möglichkeiten der Digitaltechnik für minimale bis zu radikalen Manipulationen und alle anderen vorstellbaren Ansätze sind hier willkommen. Die einzigen Hürden sind mangelnde Vorstellungskraft oder geringe Experimentierfreude.

Abb. 1-4: Ghost Aspen Forest

Weiches Sonnenlicht durch Dunst hat diese Aufnahme erst ermöglicht. Ohne Dunst wäre das Licht viel zu hart für die zarten Zwischentöne gewesen, die ich darstellen wollte. Der ausgeblichene Ast unten rechts im Wasser nimmt die Linien und die Bewegungsanmutung der diagonalen Stämme auf. Das leicht aufgewellte Wasser fand ich von der Reflexion interessanter als eine spiegelglatte Wasseroberfläche, da auf diese Weise nur die vertikalen Stämme gespiegelt werden und nicht die diagonalen.

Möglicherweise liegen Ihre Interessen auch ganz woanders. Gehen Sie auf die Suche. Wenn Sie sie nicht festmachen können, probieren Sie einfach ein paar Genres aus. Ich habe meine Interessen mittlerweile diesbezüglich sortiert. Heutzutage fotografiere ich ein breit gefächertes Spektrum, habe aber auch mit einem eher begrenzten Gebiet begonnen: der Natur. Nach und nach kam die Architekturfotografie hinzu, von der aus sich weitere Themengebiete mit gelegentlichen Ausflügen in gänzlich unbekannte Terrains ergaben. Von Frederick Sommer stammt das Zitat: »Subject matter is subject that matters!« (»Die Thematik ist das Thema, das wirklich zählt!«) Mir wurde klar, dass es keinen Grund gibt, sich unnötig zu beschränken.

Mein ursprüngliches Interesse an der Natur war allumfassend. Ich fühlte mich zu Bäumen, Bergen, Wiesen, reißenden Flüssen, winzigen Tautropfen bei Sonnenaufgang und Millionen anderer Naturerscheinungen hingezogen … und so ist es heute noch. Witterung und die Gewalt von Stürmen, das Wechselspiel von Klima und Landschaftsformationen sowie der Friede einer ungestörten Stille verzaubern mich. Geologie finde ich sehr spannend und jene Kräfte, die Berge und Schluchten erzeugen, versetzen mich in Erstaunen. All diese Phänomene finden sich bei meinen Fotografien in meiner Interpretation mit meiner Empathie und Begeisterung wieder. Auch ohne die Kamera würde ich innerlich jubeln, aber mit ihr kann ich diesen Jubel zum Ausdruck bringen, meine Begeisterung mittels meiner Interpretation teilen.

1976 kam ich in der Nähe des Yosemite-Nationalparks an einer Gruppe Pappeln vorbei. Sie waren abgestorben infolge der Flutung durch einen Biberdamm. Die Formation dieser toten Bäume war einzigartig, das Licht allerdings viel zu hart für ein gutes Foto. Aufgrund meiner Vertrautheit mit dem Wetter in der Sierra Nevada verriet mir der Blick zum Himmel anhand der Wolkenformationen, dass sich für die nächsten beiden Tage ein Sturm ankündigte. Wenn ich also am Folgetag zurückkäme, könnte ich mit etwas Glück weiches Sonnenlicht durch Dunst oder leichte Bewölkung erwarten. Wie erwartet fand ich dort am nächsten Mittag eine dünne Wolkenschicht vor, die Vorstufe eines unmittelbar bevorstehenden Sturms, und ich konnte meine Aufnahme machen. Mein Wissen über das Wetter hat sehr geholfen, jenes Bild zu realisieren, das mir vorschwebte (Abb. 1-4).

Abb. 1-5: Raccoon Tracks

Die durch Austrocknung aufgebrochene Schlammschicht eines Flussbetts zeigt Spuren von Waschbärtatzen. Es war das erste Lebenszeichen, das ich in dieser verbrannten Landschaft sah, und es trieb mir die Tränen in die Augen. Es war das erfreuliche Zeichen, dass einige der Tiere das Feuer überlebt haben mussten.

Eine fremdartige Landschaft und mein Faible für Naturgeschichte motivierten mich Ende 1978/Anfang 1979 zu einer Reihe von Ausflügen, täglich ein bis zwei Wanderungen, in das weitläufige Gebiet der südkalifornischen Santa Monica Mountains. Die Gegend war damals von Buschfeuern heimgesucht worden. Zwei Wochen nach dem Feuer führten mich meine Wanderungen zu spektakulären Aussichtspunkten, durch die seidenartige Schwärze der Berge und Täler – und mit der Zeit erlebte ich die spektakuläre Wiederbelebung der Region (Abb. 1-5). Aus dieser viermonatigen Schaffensperiode habe ich zehn Bilder für ein limitiert aufgelegtes Portfolio namens »Aftermath« erstellt. Daraus wurde ein großes fotografisches Projekt, das sich bei mir aus meinem Faible für Naturgeschichte dieser Region unter diesen speziellen Bedingungen entwickelt hat.

1978 begann ich mit der Fotografie in den engen, gewundenen Sandsteinschluchten im Norden von Arizona und im Süden von Utah. Mein lebenslanges Interesse und mein akademischer Hintergrund in Mathematik und Physik haben meine visuellen Interpretationen dieser Schlitzschluchten reichlich genährt. Ich sehe in ihnen geschwungene Kurven wie in Galaxien und andere, im Werden begriffene Himmelskörper. Das Wechselspiel von Formen und Linien zieht mich genauso in den Bann wie Darstellungen von Gravitations- und elektromagnetischen Kraftfeldern, die Staub und Gase im Weltraum anziehen und dadurch Planeten, Sterne und Galaxien entstehen lassen. Oder aber auch jene subatomaren Kräfte, die Atome und Kerne zusammenhalten. Für mich ist jeder Gang durch die Schlitzschluchten ein Gang durch die Milliarden Jahre des Raum-Zeit-Kontinuums. Eben dieses versuche ich durch meine Fotos zu vermitteln (Abb. 1-6).

Mit der Zeit wurde mir klar, dass sich einiges dessen, was mich an der Natur faszinierte, in der Architektur wiederfand. Architektur kann etwas Erhabenes und Überwältigendes an sich haben. Sie kann wunderbare Abstraktionen, Linien und Muster aufweisen. Sie kann ohne Zuhilfenahme weiterer Lichtquellen fotografiert werden und ähnelt in dieser Hinsicht stark der Landschaftsfotografie. Diese Hinwendung zu menschengemachten Strukturen war also eine logische Weiterentwicklung meiner Interessen.

Nach zehn Jahren kommerzieller Architekturfotografie unternahm ich 1980/81 meinen ersten ernsthaften Anlauf einer persönlichen Interpretation von Architektur – mit den Kathedralen Englands. Vor meiner ersten Begegnung mit einer Kathedrale hatte ich religiöse Strukturen generell gemieden, sie waren einfach nicht mein Ding. Als ich die Kathedrale von Ely jedoch das erste Mal sah, war ich von ihrer Erhabenheit regelrecht überwältigt. Meine tiefe Verbundenheit mit der klassischen Musik erschien mir in den Strukturen der Kathedrale wie kristallisiert: Harmonien, Kontrapunkt, Rhythmus und Melodien in Stein gemeißelt. Auch sah ich in dieser Architektur mathematische Gleichungen, quasi Allegorien der Unendlichkeit, in der nahegelegene Säulen und Bögen die dahinterliegenden einrahmten, welche die wiederum dahintergelegenen umgaben und so zu einer scheinbar endlosen Reihe werden ließen. Ich habe meinen flexiblen Reiseplan so gestaltet, dass ich möglichst viele Kathedralen innerhalb meines zweiwöchigen Aufenthalts besichtigen konnte. 1981 bin ich dann für fünf weitere Wochen zurückgekehrt, um diese herrlichen Zeugnisse der Zivilisation zu fotografieren und in ihnen aufzugehen (Abb. 1-7).

Abb. 1-6: Hollows and Points, Peach Canyon

In den kunstvoll geschwungenen Linien innerhalb der Schlitzschluchten sehe ich Metaphern der kosmischen Kräfte. Es ist, als erkenne man hier Gravitations- oder elektromagnetische Kraftlinien. Wenn wir statt der Himmelskörper selbst (Sterne, Galaxien, Planeten etc.) die sie formierenden Kräfte wahrnehmen könnten, sähen sie vermutlich so aus. Ich finde, dass gerade dieses Bild ein ebenso passendes wie mysteriöses Beispiel für diese Anmutung abgibt. Die Linien sind derart lyrisch geformt, dass sie einen Michelangelo oder Henry Moore vor Neid erblassen lassen würden.

Abb. 1-7: Nave From North Choir Aisle, Ely Cathedral

Eine Folge von Blendsäulen, Bögen und Gewölben rahmt die hinteren Segmente der Kathedrale ein, die wiederum Bögen und Säulen beinhalten und noch weitere um die Ecke erahnen lassen – wo sich auch tatsächlich welche befinden. Die Einheit der Formen inmitten der architektonischen Komplexität ist ein gelungenes Beispiel für das Goethe-Wort von Architektur als »verstummter Tonkunst« oder dem Schopenhauer-Zitat »Architektur ist gefrorene Musik«. Gleichzeitig liefert das Bild ein Beispiel für positiven und negativen Raum, indem die nahen Säulen und Bogengänge den positiven, die entfernten den negativen Raum stellen.

Abb. 1-8: Chicago, 1986

Sieben einzelne moderne Wolkenkratzer, zusammengepfercht im Zentrum Chicagos. Sie ergeben dabei trotz ihrer geometrischen Sterilität eine interessante Wechselwirkung. Irgendwie wirken diese Betonklötze visuell anregend, wenn man sie in Beziehung setzt.

Mit der Zeit hat sich mein Interesse an der Architektur, vor allem an großen Industriebauten, zu einer fortwährenden Studie über die Zentren der Metropolen entwickelt. Auch diese Serie fußt auf meinem mathematischen Hintergrund, da ich die geometrischen Verhältnisse zwischen den Gebäuden und ihre verwirrende Wirkung auf das Raumgefühl durch die visuelle Interaktion sehr mag. Diesen Aspekt der urbanen Strukturen finde ich höchst spannend (Abb. 1-8).

Mein Verhältnis zur Architektur ist allerdings ambivalent: Denn außer den Kathedralen gefällt mir – mit Ausnahme einiger weniger Industriebauten – sonst fast keine Architektur. Sie erscheint mir in der Regel kalt, abweisend, unpersönlich und grundhässlich. Die meisten dieser riesigen Betonklötze sind rein funktional ohne jeden Sinn für Ästhetik erbaut worden. Für mich drücken sie das kollektive Desinteresse der modernen Gesellschaft an der Menschheit und der Natur aus. Diesem Gefühl habe ich in meinen Bildkompositionen mit ihren übertriebenen Geometrien Ausdruck zu verleihen versucht.

Mit den Jahren sind meine Arbeiten zunehmend abstrakter geworden. Sie wurden gewagter in der Formensprache, subtiler in der Bildtechnik. Meine Motivbereiche werden sich vermutlich zukünftig erweitern und zugleich werde ich mich mit Motiven aus der Vergangenheit näher befassen, um neue Einsichten zu gewinnen, die mir zuvor entgangen sind. Solche Wandlungen und Weiterentwicklungen sind für jeden Künstler enorm wichtig, um Stagnation und künstlerischer Senilität zuvorzukommen.

Eines ist mir im Laufe der Jahre überraschend klar geworden: Das Motiv als solches wird schlussendlich mit der fortschreitenden Entwicklung von individueller künstlerischer Sehweise, Vorstellung und (fotografischer) Lebensphilosophie zweitrangig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Natur des Motivs völlig unbedeutend wäre. Ganz im Gegenteil! Schließlich hat sie ja aufgrund der persönlichen Relevanz Sie überhaupt erst dazu bewogen, zu fotografieren. Dann einmal in ihren Bann geraten, wird deutlich, dass Ihre persönliche Sichtweise (z. B. aufgrund Ihrer Art der Bildgestaltung) einzigartig ist. So entsteht eine direkte Entsprechung zwischen dem Künstler und seiner Kunst. Die Sichtweise des Fotografen ist ein Widerhall seiner gesamten Lebensauffassung, ganz gleich, um welches Motiv es sich handelt. Nur Edward Weston konnte Edward Westons Fotos machen, nur W. Eugene Smith die Bilder eines W. Eugene Smith, nur Imogen Cunningham die Bilder einer Imogen Cunningham … ganz einfach weil jeder große Fotograf seine ihm eigene Sichtweise hat, die sich durch sein ganzes Schaffen zieht.

Es wäre daher für jeden ernsthaften Fotografen von Wert, sich zu fragen, warum die eigenen Interessen dort liegen, wo sie sind, oder warum sie sich eventuell wandeln. Die daraus resultierende Selbsterkenntnis hilft die Interessen besser zu verstehen und ist auch Bestandteil einer gelungenen visuellen Kommunikation. Beginnen Sie mit Ihren Hauptinteressengebieten und bleiben Sie erst einmal dabei. Es ist unerheblich, ob Ihr Themengebiet eng oder weit gefasst ist. Sie werden sich in andere Bereiche hineinentwickeln, wenn Sie den inneren Drang dazu verspüren – wenn also Ihr Inneres Sie dazu drängt, ein bestimmtes Foto zu machen, das aus Ihrem bisherigen Werk heraussticht.

Bewertung der eigenen Reaktion

Die zweite der an sich selbst zu stellenden Fragen ist schwieriger, nämlich jene, wie man auf seine Interessen reagiert und die eigene Bildaussage fotografisch vermittelt. Es mündet in der tiefschürfenden persönlichen Frage: »Was interessiert mich?« Die Antwort darauf muss also nicht nur beinhalten, was mich interessiert, sondern auch wie es mich berührt und wie die Betrachter meiner Bilder auf diese reagieren sollen. In den soeben angesprochenen Beispielen aus meinem Werk habe ich versucht, den zweiten Aspekt zu beleuchten. Die Schlitzschluchten interessieren mich auf ihre spezielle Weise – als Analogien des Kosmos oder von Kraftfeldern – und meine Bilder versuchen eben dies zu vermitteln. Gleichermaßen ziehen mich die Kathedralen wegen ihrer Größe, der Musikalität und den scheinbar endlosen wunderschönen Formen in den Bann. Auch dort habe ich versucht, diese Qualitäten in meinen Bildern zu verdichten. Ich bin nicht einfach dahergegangen und habe aus einer initialen Begeisterung heraus drauflosfotografiert, sondern sehr spezifische Qualitäten aufgegriffen und dargestellt. Ich bin das Thema angegangen mit dem Ziel, meine intensivsten Eindrücke fotografisch auszudrücken.

Wenn Sie das nächste Mal fotografieren, dann spüren Sie dem nach, wie Ihre Reaktion auf das Motiv ausfällt. Wollen Sie vielleicht gerade ein beschönigendes Porträt von jemand anfertigen, den Sie unattraktiv oder einfach nur hässlich finden? Wenn Sie nicht gerade in einem kommerziellen Fotostudio arbeiten, täten Sie besser daran, sich treu zu bleiben und nicht zu fotografieren. Oder aber erscheint das Motiv für Sie gewitzt? Wenn ja, dann stellen Sie dies heraus. Ist der Wochenmarkt farbenprächtig wie der Karneval oder einfach nur schmuddelig? Betonen Sie in den Bildern, was Ihr stärkster Eindruck ist. Erliegen Sie nicht der Versuchung, das herausstellen zu wollen, was andere womöglich erwarten oder sehen wollen – bleiben Sie bei Ihrer Sichtweise! Sie mögen zwar anfangs einige Leute irritieren, aber nach und nach werden auch diese die Aufrichtigkeit, Kraft und Überzeugung Ihrer Bilder zu schätzen wissen. Aber dafür müssen Sie Ihren Standpunkt für sich klären. Das mag nicht immer leicht sein, da man auf widersprüchliche Standpunkte in sich trifft, aber es ist wichtig, diese Widersprüche wahrzunehmen und sich für den stärksten und ehrlichsten Standpunkt zu entscheiden.

Nicht sehr lange nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt der Porträtfotograf Arnold Newman den Auftrag, Alfred Krupp, den Industriemagnaten und Waffenlieferanten der Nationalsozialisten, zu fotografieren. Newman war Jude. Er brachte Krupp dazu, auf einer kleinen Empore oberhalb des Bodens einer seiner Fabrikhallen mit all den Fließbändern zu posieren. Die Halle wurde von Neonröhren im Hintergrund erhellt und Newman hat sie in der Wirkung noch deutlich gesteigert, indem er ein Hilfslicht unter Krupps Gesicht und fast von hinten einsetzte. Auf eine Filterkorrektur zur Beseitigung des Farbstichs der Neonröhren verzichtete er. Weil sich die beiden oben auf der Empore befanden, konnte niemand anderes sehen, was sich dort abspielte – und Krupp hatte keine Ahnung vom Fotografenhandwerk. Das Resultat war das Porträt eines grässlichen, grüngesichtigen Monsters mit bedrohlichen Schatten, die das Gesicht diagonal von unten durchziehen – die Personifizierung des Teufels. Newman wusste, was er abbilden wollte, und verstand sein Handwerk. Allerdings muss ich auch gestehen, dass die Schwarz-Weiß-Aufnahme diese Stimmung noch besser vermittelt, einfach weil diese kranke grüne Gesichtsfarbe fehlt. Für mich geht der Reiz der Farbe hier verloren, weil ihr Einsatz überzogen wurde.

Ein hypothetisches Beispiel könnte hier ebenfalls hilfreich sein. Während ich also so durch die Schluchten des King River im Kings Canyon National Park streife, betrachte ich ehrfurchtsvoll die sich auftürmenden Granitkliffe und tosenden Wasserfälle. Gleichzeitig berührt mich die Zartheit der saftigen Wiesen und der Wälder im Streiflicht.

Wenn ich also nur ein Foto in diesem Gebiet machen könnte, würde ich denjenigen Aspekt auswählen, den ich vor allem herausstellen möchte: das Spektakuläre der Gegend oder die Zartheit im Detail. Ich glaube kaum, dass beides gleichzeitig innerhalb eines Bildes zur Geltung käme. Reizt mich mehr das Spektakuläre oder die Stille? Ich würde mir die Felsen und Wasserfälle noch einmal genauer ansehen und entscheiden, ob sie dem ersten Eindruck standhalten. Sind auch die Wälder und Wiesen wirklich so ruhig, wie sie anfangs erschienen? Suche ich womöglich das Spektakuläre und bemühe mich, es darzustellen, obwohl es gar nicht vorhanden ist? Muss ich mich, um es mit anderen Worten zu sagen, extrem strecken, um das Bild so hinzubekommen? Mit diesen Fragen sollte ich mich konfrontieren, um wirklich ein bedeutendes Bild zu erzeugen, das meine Eindrücke zu transportieren vermag.

Sobald ich festgelegt habe, was mich am meisten berührt und wie ich darauf reagiere, muss ich alle Elemente betonen, die diesen Eindruck stärken, und all jene Elemente ausschließen, die ihn schwächen.

Sobald für mich klar ist, auf was ich am stärksten und wie ich reagiere, kann ich mein Sinnen und Trachten darauf richten, alles auszuschließen oder wenigstens zu minimieren, was diesen Eindruck schmälern könnte. Wenn ich also auf eine Stimmung reagiere, die das Motiv und seine Umgebung in mir auslösen, muss ich mir überlegen, wie sie fotografisch umzusetzen ist. Der Eindruck, den mein Bild beim Betrachter hinterlässt, ist mein persönlicher Kommentar dieses Motivs. Wenn es also das übermittelt, was ich mir vorgestellt habe, war diese visuelle Kommunikation erfolgreich. Wenn der Eindruck dagegen vollkommen gegensätzlich ist, mag ich zwar ein wenig enttäuscht sein, aber immerhin folgt daraus, dass es eine echte Aussage vermittelt hat. Wenn mein Bild dagegen rein gar nichts beim Betrachter auslöst, bin ich kläglich gescheitert.

Beim nächsten Mal komme ich vielleicht an den gleichen Ort und stelle einen ganz anderen Aspekt heraus. Warum? Weil sich meine Wahrnehmung mit der Zeit einfach ändert, und mit ihr auch deren Interpretation. Ich werde anders »sehen« und anderes »mitteilen« wollen.

Auch Sie werden sich zweifellos mit der Zeit verändern und mit Ihnen Ihr fotografischer Ansatz. Wenn es Ihnen dabei so geht wie mir, werden Ihre früheren erfolgreichen Arbeiten dadurch jedoch nicht wertlos. Ein gutes Foto hat einfach Bestand. Beethoven hätte sicherlich nicht seine erste, zweite oder dritte Sinfonie genauso komponiert, hätte er die nächsten sechs schon abgeschlossen gehabt. Das aber stellt das frühere Werk nicht infrage.

Auch wenn Ihre Wahrnehmung sich wandeln wird, so ist es umso wichtiger, dass Sie mit ihr ständig in enger Verbindung stehen. Ihre Wahrnehmung und inneren Regungen bestimmen die Richtung Ihres fotografischen Schaffens, Ihren visuellen Beitrag. Lassen Sie sich auf diese inneren Reaktionen ein, lernen Sie sich gut kennen. An dieser Stelle aber auch ein Wort der Warnung: Analysieren Sie sich nicht über Gebühr. Es gibt ein gesundes Maß für diese Selbstbeobachtung. Statt sich darin zu verzetteln, kommunizieren Sie lieber fotografisch.

Machen Sie sich klar, was und wie Sie es ausdrücken wollen! Und dann stellen Sie es ohne Kompromisse dar.

Die erfolgreiche Übermittlung Ihrer Botschaft macht kreative Fotografie aus. Das Motiv einfach nur abzulichten, heißt, sich um diese Verantwortung zu drücken. Das Motiv zu interpretieren, bedeutet hingegen, die Herausforderung anzunehmen. Wenn auch das Motiv selbst nicht Ihr Werk ist, das Foto davon ist es in jedem Fall (Abb. 1-9)! Geben Sie sich also nicht mit dem zufrieden, was Sie gesehen haben. Lassen Sie Ihren Standpunkt, Ihre Gefühle, Ihre Aussage in das Bild einfließen und stehen Sie für Ihr Bild ein. Überzeugen Sie den Betrachter von der Richtigkeit Ihres Standpunkts.

Die meisten Künstler trachten weniger nach der Wahrheit als nach dem Weg, die Wahrheit so auszudrücken, wie sie sie sehen.

Da gibt es natürlich immer jene Fraktion, die behauptet, dass ein Künstler grundsätzlich auf der Suche nach der Wahrheit sein sollte und es daher unbegreiflich sei, wie man unverrückbar optimistisch diesen Ansatz vertreten könne. Auch wenn dieser Standpunkt in Teilen nachvollziehbar ist, so verbirgt sich doch in den meisten Fällen hinter dieser »Suche nach der Wahrheit« eine sehr romantisch verklärte Vorstellung. Ich bin der Überzeugung, dass jeder Mensch, ob Künstler oder nicht, seine eigene Weltsicht hat: wie sie ist, wie sie sein sollte und wie man sie verbessern kann. In dieser Hinsicht sehen Künstler sich daher auch nicht so sehr als Wahrheitssuchende, sondern als Suchende nach dem persönlichen Ausdruck ihrer eigenen Wahrheit. Es sollte daher völlig klar sein, dass es Lewis Hine in seinen Bildern nicht um die Realität schlechthin, sondern um die Offenlegung der harten Realität in den Fabriken mit Kinderarbeit gegangen ist. Auf gleiche Weise hat Ansel Adams nicht nach der Realität in seinen Naturaufnahmen gesucht, sondern seine persönliche Wahrheit von der Schönheit und Größe der Natur zum Ausdruck gebracht.

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Und selbst wenn wir weit in die Geschichte der Kunst zurückblicken, finden wir eher Beispiele für die Suche nach persönlichem Ausdruck als nach der Realität. Michelangelo hat einige lokale Würdenträger auf seinen Riesengemälden dargestellt, wie sie zur Hölle fahren. Das waren sehr unverblümte Botschaften – und das hat man ihn dann auch spüren lassen. Auch andere berühmte Künstler, Komponisten und Schriftsteller waren derart direkt mit ihren persönlichen Realitätsdarstellungen.

Darüber hinaus gibt es in unserer immer komplexer werdenden Welt ohnehin nicht »die Wahrheit«, sondern sehr viele Wahrheiten, von denen einige aneinander reiben oder sich sogar komplett widersprechen. Von daher ist die Wahrheit im besten Fall trügerisch, im schlimmsten Fall schlicht gar nicht existent. Jedes meiner Motive, das ich je fotografiert habe, hat verschiedene Facetten der Welt beleuchtet, die ich beachtenswert fand. Wenn meine Bilder auch nicht die Wahrheit zeigen, so drücken sie doch in jedem einzelnen Fall meinen persönlichen Standpunkt aus. Ich kann nur hoffen, dass Sie bei anderen Interesse auslösen, eine Bedeutung gewinnen und Einsichten bieten.

Abb. 1-9: Grass and Juniper Wood

Moskitogras wird kaum über 12 cm hoch und ist auf den wüstennahen Böden Utahs meist in einem eher sichelförmigen Büschel vorzufinden. Ich entdeckte dann dieses hier mit einem runden Kringel. Da es der Wind stark bewegte, habe ich es zum späteren Fotografieren gepflückt. Wenige Schritte davon entfernt fand ich ein kleinen gespaltenen Wacholderast. Ich wusste genau, was ich mit diesen Objekten anfangen wollte. Als zwei Tage später die Winde nachließen, habe ich zwei Eistruhen vor meinen Geländewagen gestellt, in dem ich campte. Den Stängel habe ich in die Holzspalte gesteckt und meine 4 × 5-Zoll-Kamera fokussiert. Das nicht mehr benötigte Einstelltuch habe ich mit der dunklen Seite an den Kühlergrill des Wagens gehängt und so als Hintergrund genutzt.

Abb. 2-1: Leaves, Big 4 Mountain Trail, Washington

Blätter am Wegesrand ergeben einen rhythmischen Mix aus metallisch wirkenden Formen, durchsetzt von tiefen schwarzen Löchern (den Zwischenräumen), die für sich genommen schon interessante Formen ergeben. Die Zwischenräume dienen als negative Räume gegenüber den positiven Räumen durch die Blätter. Es gibt keinen Mittelpunkt, sondern vielmehr ein Muster, das das Auge innerhalb des Bildes wandern lässt.

KAPITEL 2

Was ist Komposition?

BEVOR SIE WEITERLESEN, sollten Sie Ihre Bilder sorgfältig im Hinblick auf die Fragestellungen des vorangegangenen Kapitels analysieren. Auf diese Weise erhalten Sie eine gute Grundlage, um Ihr Werk einzuschätzen. Dies ist außerordentlich hilfreich und sollte regelmäßig stattfinden.

Anschließend können wir uns nun der Frage zuwenden, wie wir unsere Gedanken fotografisch umsetzen. Die jeweils beste Vorgehensweise hängt sehr stark von den einzelnen Motiven und der Person des Künstlers ab. Allgemeine Regeln gibt es nicht. Überhaupt kennt die Kunst keine Regeln.

Eine Grundregel gilt dann aber doch für jede künstlerische Arbeit: Sie muss eine gute Komposition aufweisen. Sei das Motiv ein Porträt, ein Landschaftspanorama, eine Gasse in den Slums, ein Stillleben oder sonst etwas: Nur mit einer guten Komposition bekommt es Aussage und Gewicht. (Tatsächlich lässt sich dieser Sachverhalt auf alle Kunstformen inklusive der nichtvisuellen ausdehnen. Oder wer wollte behaupten, Musik käme ohne eine gute Komposition aus?)

Aber, werden Sie sich fragen, was ist denn eine »gute Komposition«? Und was bedeutet »Komposition« überhaupt? Der Begriff wird häufig verwendet, aber selten definiert oder erörtert, kaum verstanden und nie infrage gestellt. Versuchen Sie selbst einmal, »Komposition« zu definieren; Sie werden merken, wie schwierig das ist.

Mein Lexikon versteht darunter »eine Anordnung von Elementen eines Kunstwerks, sodass daraus ein geeintes, harmonisches Ganzes entsteht«. Das ist schon mal ein hervorragender Einstieg. »Ein geeintes, harmonisches Ganzes« – das ist die Kernphrase. Wenn die Fotografie Ihr Ausdrucksmittel ist, so ist die Komposition der Weg, über den Sie sich klar, verständlich und direkt ausdrücken. Die Komposition sorgt dafür, dass die Aufmerksamkeit der Betrachter so lange auf Ihr Bild gelenkt wird, bis diese Ihre Botschaft empfangen und selber emotional Stellung genommen haben.

Bevor wir tiefer in die lexikalische Definition der Komposition eintauchen, lassen Sie uns einen Ausflug in die Physiologie des Sehens unternehmen, um diese Definition auf die Fotografie anwenden zu können.

Wie das Auge sieht

Das Auge nimmt eine fantastische Aussicht nicht vollständig auf einmal wahr. Es speichert vielmehr die Welt in Bruchstücken ab und setzt dann diese Teile zusammen, um das ganze Bild zu erzeugen. Der Sehwinkel, der wirklich scharf wahrgenommen wird, ist mit drei Grad sehr klein. Um sich das einmal konkret vor Augen zu führen, probieren Sie einfach Folgendes aus: Halten Sie Ihren Arm nach vorne gestreckt und dabei die Finger nach oben mit dem Handrücken zu Ihnen, als ob Sie eine Wand abstützen würden. Jetzt blicken Sie auf den Daumennagel. Während Sie das tun, wird Ihr kleiner Finger unscharf erscheinen und Sie müssen Ihre Augen bewegen, um ihn scharf zu sehen, obwohl er doch gar nicht so weit vom Daumen weg ist. Tatsächlich erscheinen sogar die anderen Finger dazwischen unscharf, weil der Sehwinkel so klein ist.

Da nur jeweils kleine Bereiche scharf wahrgenommen werden, muss das Auge mit hoher Geschwindigkeit permanent das ganze Motiv abtasten. Dies tut es nicht so systematisch wie ein zeilenweise arbeitender Scanner, sondern eher zufällig und sprunghaft hoch, runter, links, rechts. Dabei nimmt es Details auf und sendet die Signale in einer enormen Geschwindigkeit an das Gehirn. Dort werden diese Signale wie ein Mosaik oder Puzzle zusammengesetzt. Beim Erfassen eines Motivs verweilt das Auge an markanten Punkten und sieht diese besonders deutlich, während der Rest eher ungenau erfasst wird. Das Bild wird also nicht als Ganzes mit gleich bleibender Genauigkeit und Aufmerksamkeit erfasst. Der Begriff »zufällig« ist nicht ganz so streng zu verstehen, da das Auge in Wirklichkeit bereits bei erhöhter Aufmerksamkeit länger auf bestimmten Objekten verweilt. Zufällig ist dieses Abtasten des Auges jedoch dahingehend, dass es nicht wie ein Scanner streng systematisch vorgeht, sondern jede Szenerie auf eine andere Weise erfasst. Jeder Mensch sieht so. Die Wissenschaft hat es bewiesen und mehrfach bestätigt – eine unbestreitbare physiologische Tatsache!

Lassen Sie uns mit diesem Wissen wieder zum Thema zurückkehren und folgende Definition festlegen: Eine gelungene Komposition ist die Art, wie es dem Künstler gelingt, den Blick des Betrachters in geordnete, geführte Bahnen zu lenken.

Bei einer gut komponierten Fotografie wird der Blick des Betrachters zuerst kontrolliert auf diejenigen Elemente gelenkt, von denen der Künstler will, dass sie am deutlichsten wahrgenommen werden und am längsten im Gedächtnis bleiben sollen. Es gibt dabei keine Beliebigkeit. In manchen Fällen bringt sie dabei interessante Beziehungen innerhalb des Bildes zum Vorschein, häufig solche, die nur in einem bestimmten Blickwinkel auftreten. In einem gut gestalteten Foto gibt es nichts Willkürliches (genauso wie es in einem gut komponierten Musikstück, einem gut strukturierten Roman, Theaterstück, Film oder sonst einem gut gestalteten Kunstwerk keine Willkür gibt). Die Komposition ist somit der Weg des Künstlers, Struktur in eine unstrukturierte Welt zu bringen. Genau das ist es, was die Definition im Lexikon verlangt.

Diese Definition erklärt auch das Phänomen, warum sich ein großartiges Motiv manchmal nur schwer fotografisch ansprechend erfassen lässt. Das Motiv ist möglicherweise in sich sehr komplex – und unser Auge hat damit kein Problem, denn es sucht sich einfach die interessanten Details heraus und füllt den Rest inhaltlich aus. Ein Foto und jede andere Form visuell erfassbarer Kunst ist hingegen gezwungen, diese komplexe Information zu ordnen. Das Motiv wurde also nicht gestaltet, sondern bestenfalls ausgewählt. Und das Foto ist dann kein Kunstwerk, sondern gerade mal eine Wiedergabe des Motivs, ohne dessen Wesen erfasst zu haben.

Abb. 2-2: Oak Tree, Sapelo Island

Die riesige Eiche steht eindeutig im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Bäume im Hintergrund bilden den rhythmischen Gegenpol. Das Bildthema hier ist der Nebel. Die entfernten Baumwipfel links unten im Bild machen den Reiz aus. Ohne diese hätten die Bäume im Nebel zwar immer noch eine angenehme Rhythmik, aber mit ihnen wird das Bild sehr viel interessanter.

Mittels einer gelungenen Komposition führt der Fotograf den Blick des Betrachters auf kontrollierte Weise durch das Bild.

Er gibt einen sehr greifbaren Unterschied zwischen »alltäglichem Sehen« und »fotografischem Sehen«. Eine Person mag zwar ein interessantes Motiv aufspüren, aber deshalb noch längst kein gutes Foto davon machen können. Nur derjenige, der »fotografisch sieht«, ist in der Lage, das besondere, häufig übersehene Beziehungsgeflecht der Bildelemente eines Motivs zum Vorschein zu bringen. Bildkomposition zu verstehen und anzuwenden, unterscheidet den Künstler vom Knipser. Zwar kommt es vor, dass ein visuell äußerst reizvolles einzelnes Objekt für ein wundervolles Bild genügt, doch das ist eher selten der Fall. Meistens ist es das Zusammenspiel von Linien, Formen, Farben etc., das eine herausragende Bildkomposition und dadurch ein aussagekräftiges Foto ergibt. Der kluge Fotograf betrachtet daher sämtliche Bestandteile des Bildes, das er machen möchte, um unter ihnen Beziehungen zu entdecken, die dann ein außergewöhnliches Bild ergeben.

Zwei Aspekte einer gelungenen Komposition sind von fundamentaler Wichtigkeit: Das Konzept eines Grundgedankens ist das eine, Einfachheit das andere. Und beide sind eng miteinander verknüpft.

Abb. 2-3: Wings and Bubbles, Death Valley Dunes

In diesem Sandmuster gibt es keinen bildlichen Mittelpunkt des Interesses. Die gleichartigen Formen wiederholen sich von ganz unten bis oben, gepaart mit einem Muster von beinahe kreisförmigen Schatten im Hintergrund des oberen Bildteils. Der Grundgedanke des Bildes liegt also in diesen runden Mustern, wobei das Auge nicht auf einem einzigen Punkt des Hauptinteresses verharrt.

Grundgedanke

Der Begriff des »Grundgedankens« entstammt der lexikalischen Definition der Komposition (s. o.) und wurde dort »ein geeintes, harmonisches Ganzes« genannt. Dies bedeutet, dass alle Bildelemente des Fotos zusammenwirken, das Foto also auf einer Grundidee basiert (Abb. 2-1).

Lassen Sie uns den Unterschied zwischen einem Mittelpunkt des Bildinteresses und dem Grundgedanken anhand zweier Beispiele beleuchten. Das erste zeigt eine riesige Eiche mit dahinter stehenden Bäumen (Abb. 2-2). Ein wirkungsvolles Foto hätte man hier ebenso gestalten können, indem man den Baum vor dem Himmel statt vor einer Gruppe gleichartiger Bäume platziert hätte. Aber selbst vor diesen Bäumen ist er visuell derart dominant, dass er die Hauptaufmerksamkeit auf sich zieht und die restlichen Bäume nachgeordnet wahrgenommen werden. Eine solche Freistellung und Dominanz lenkt die Wahrnehmung: Der Baum ist das Objekt, welches genauer betrachtet werden soll, und steht damit im Mittelpunkt des Interesses.

Stellen Sie sich dagegen vor, das Bildthema sei Sand. Wie fotografieren Sie etwas, das so flach sein kann wie Sand, und vermitteln dabei noch eine besondere Stimmung? Eine Möglichkeit bestände in einem interessanten Muster, wie man es am Strand nach Rückzug der Flut vorfindet, oder aber in Form von Sanddünen, vor allem wenn der Wind sie vor Kurzem neu hat entstehen lassen (Abb. 2-3). In einem Sandkasten oder einem stark frequentierten Sandstrand an einem warmen Sommertag wird man ein solches wohl kaum vorfinden.

Wenn Sie sich auf einen Grundgedanken konzentrieren, gewinnen Ihre Bilder an Zusammenhalt – ähnlich als wenn Sie eine Rede halten und es Ihnen dabei gelingt, einzelne Aspekte und Episoden ohne große Abschweifungen kohärent im Hinblick auf ein Thema zu verbinden. Sie müssen dabei nur aufpassen, dass Ihre Grundidee nicht zu ausschweifend wird. Es wäre leicht zu sagen: »Das Ländliche ist mein Grundgedanke«, um damit zu rechtfertigen, dass Sie alles ablichten, was sich Ihnen dort in den Weg stellt!

Einfachheit

Für den Anfänger ist die Einfachheit oberstes Gebot. Je einfacher die Komposition, umso leichter lässt sich die Aufmerksamkeit des Betrachters lenken (Abb. 2-4). Das gilt im Grunde auch für den Fortgeschrittenen, aber mit zunehmender Übung und Erfahrung gelingt es dann auch, komplexere Motive in dieser Hinsicht zu beherrschen. Nicht nur für Fotografen, auch für Maler, Bildhauer und alle anderen visuell darstellenden Künstler gilt dieses Prinzip. Und mit dem Unterschied, dass es sich um Hörer statt Betrachter handelt, gilt es sogar für Komponisten.

Die Relevanz von Einfachheit kann gar nicht genug betont werden. Über die Jahre habe ich festgestellt, dass die Mehrzahl der misslungenen Fotos (technische Fehler einmal ausgeschlossen) zu kompliziert aufgebaut war – das Gegenteil ist hingegen selten der Fall. Der Fotograf kann dann seine Gedanken nicht klar und überzeugend vermitteln – und diese Unsicherheit sowie mangelnde Orientierung schlagen auf das Bild durch. In Einzelfällen mag das genau der gewünschte Effekt sein, meistens ist er es aber nicht.

Schauen Sie daraufhin einmal Ihre eigenen Fotos an und fragen sich, was Sie mit dem Bild zeigen wollten. Können Sie die Bildaussage präzise auf den Punkt bringen? Probieren Sie es aus. Legen Sie das Buch zur Seite und betrachten Ihre Fotos, als hätte jemand anderes auf den Auslöser gedrückt. Versuchen Sie objektiv zu bleiben. Eine weitschweifige Antwort auf die Frage der Kernaussage des Bildes zeugt dabei von Unentschlossenheit zum Zeitpunkt der Entstehung. Wirkt es klar, überzeugend und zeigt sich eher einfach im Aufbau? Oder ist es kompliziert, unklar, orientierungslos bzw. einfach unbedeutend? Womöglich war es aber auch Ihre Absicht, Ambivalenz oder Unentschlossenheit auszudrücken … oder das Gefühl von Komplexität oder Orientierungslosigkeit zu vermitteln? Wenn dem so ist, müssen Sie eventuell Ihren Ansatz grundlegend überdenken, um Ihre Ziele zu erreichen. Seien Sie sich Ihrer Absicht bewusst und vertreten Sie sie einfach und klar, selbst wenn sie lauten sollte: »Ich bin völlig verwirrt!« Das mag widersprüchlich klingen, ist es aber nicht.

Eingangs dieses Kapitels habe ich Ihnen nahegelegt, Ihre Bilder auf die Fragen aus Kapitel 1 hin sorgfältig zu untersuchen. Das möchte ich an dieser Stelle wieder tun. Auch wenn ich mich wiederhole, lege ich Ihnen das doch noch einmal nachdrücklich ans Herz. Wenn Sie sich nun schon entschlossen haben, dieses Buch durchzuarbeiten, dann sollten Sie auch die Früchte dieser Selbstverpflichtung ernten, indem Sie das Gelesene unmittelbar auf Ihre Fotografie anwenden. Dieser Prozess führt ganz automatisch zu einer tieferen (Er-)Kenntnis Ihrer Selbst, Ihrer Ziele und Ihrer Methoden.

Abb. 2-4: Pentstemon, Little Death Hollow

In einer der vielen Nebenschluchten des Escalante River im Bundesstaat Utah ragte eine Reihe Bartfäden (Penstemon barbatus) in weichem Sonnenlicht vor dem Hintergrund eines Felsüberhangs der Schlucht empor. Die Bartfäden sind hier der unbestrittene Schwerpunkt des Interesses, da kaum etwas anderes mit ihnen konkurriert. Mit der Aufnahme einer einzelnen Pflanze hätte man die Bildkomposition zwar vereinfachen können, doch die Wiederholung der leicht gebogenen Stängel sieht bei immer noch einfachem Bildaufbau interessanter aus.

Ihren eigenen Standpunkt ausdrücken

Grundsätzlich stellt sich die zentrale Frage, ob Ihr persönlicher Standpunkt erkennbar ist oder nicht. Ohne einen klaren Standpunkt haftet Bildern immer etwas Uneindeutiges an, was nicht durch Einfachheit wettgemacht werden kann. Schulabschlussporträts sind dafür ein perfektes Beispiel: Bei ihnen gibt es einfach keine Aussage oder keinen Standpunkt des Fotografen. Der Fotograf kennt den Schüler nicht, hat auch keine Zeit, ihn kennenzulernen – und ohnehin kein persönliches Interesse an ihm. Das Ergebnis ist erwartungsgemäß nichts Besonderes: eben ein Foto von einem Gesicht. Das Bild ist dabei zweifellos einfach und auch in sich geschlossen, aber künstlerisch unergiebig.

Der häufig auch in derlei Situationen vorhandene künstlerische Anspruch muss zwangsläufig unbefriedigt bleiben, wenn es keinerlei innere Beziehung – und wenn schon keine »Beziehung«, so doch zumindest einen vorherigen Kontakt mit gewissem persönlichem Tiefgang – zwischen Fotograf und Modell gibt. Der Fotograf sollte den Porträtierten also kennen, ein persönliches Interesse an und einen Eindruck von dessen Persönlichkeit haben. Diejenigen Merkmale, die ihn am meisten berühren, sollte er dann darzustellen versuchen (Abb. 2-5). Dabei muss sich der Fotograf häufig auf einen ersten Eindruck stützen, da ihm oft nicht mehr Zeit gegeben ist, das Modell näher kennenzulernen.

Abb. 2-5: Stu Levy in Waterholes Canyon

Stu ist ein guter Freund, ein großartiger Arzt, ein tiefschürfender Denker und ein hervorragender Fotograf. Während eines Workshops, den wir zusammen abhielten, habe ich um ein Porträt von ihm gebeten. Ich wollte ihn in einer Umgebung zeigen, die mindestens so gut zu ihm passt wie seine Arztpraxis.