Die Lady und der Leibwächter - Elizabeth Everett - E-Book

Die Lady und der Leibwächter E-Book

Elizabeth Everett

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Beschreibung

Hier stimmt die Chemie: Eine clevere Lady und ihr unwiderstehlicher Bodyguard ...

Lady Violet hütet einige Geheimnisse: Sie ist nämlich nicht die schüchterne Witwe, für die sie alle halten. Nein, Violet ist eine geniale Wissenschaftlerin - so genial sogar, dass sie die Krone bei einer vertraulichen Mission unterstützt. Und auch Violets Ladies‘ Club mitten in London ist keineswegs nur ein Ort zum Tratschen und Teetrinken. Hinter verschlossenen Türen werden dort Experimente durchgeführt, es raucht und qualmt, und gelegentlich fliegt auch mal etwas in die Luft, denn dieser Club ist die Zufluchtsstätte für Englands brillanteste Wissenschaftlerinnen.
Der zu ihrem Schutz engagierte Bodyguard Arthur kommt Violet also äußerst ungelegen. Doch noch viel ungelegener kommen der Wissenschaftlerin ihre Gefühle für eben diese attraktiven Mann, dessen anziehende Wirkung sich nicht einmal die clevere Violet erklären kann …

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Buch

Lady Violet hütet einige Geheimnisse: Sie ist nämlich nicht die schüchterne Witwe, für die sie alle halten. Nein, Violet ist eine geniale Wissenschaftlerin –so genial sogar, dass sie die Krone bei einer vertraulichen Mission unterstützt. Und auch Violets Ladies’ Club mitten in London ist keineswegs nur ein Ort zum Tratschen und Teetrinken. Hinter verschlossenen Türen werden dort Experimente durchgeführt, es raucht und qualmt, und gelegentlich fliegt auch mal etwas in die Luft, denn dieser Club ist die Zufluchtsstätte für Englands brillanteste Wissenschaftlerinnen.

Der zu ihrem Schutz engagierte Bodyguard Arthur kommt Violet also äußerst ungelegen. Doch noch viel ungelegener kommen der Wissenschaftlerin ihre Gefühle für ebendiesen attraktiven Mann, dessen anziehende Wirkung sich nicht einmal die clevere Violet erklären kann …

Die Autorin

Elizabeth Everett lebt mit ihrer Familie in Upstate New York. Sie unternimmt gern lange Spaziergänge oder (sehr) kurze Läufe zu nahegelegenen Orten, die in der Geschichte der Bürgerrechte und des Frauenwahlrechts eine wichtige Rolle spielen. »Die Lady und der Leibwächter« ist ihr erster Roman, und darin kommt nicht nur ihre Vorliebe für Regelbrecher zur Geltung, sondern auch ihr Glaube an die Macht der Liebe, die Welt zu verändern.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Elizabeth Everett

Die Lady und der Leibwächter

Roman

Deutsch von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »A Lady’s Formula for Love« bei Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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All rights reserved including the right of reproduction

Copyright der Originalsausgabe © 2021 by Elizabeth Everett

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Алена Ган, korkeng, milanares, prapann) Shutterstock.com (KathySG, Vasya Kobelev) und © Lee Avison/Trevillion Images

LA · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28835-8V002 

www.blanvalet.de

Für meinen Ehemann,

einen romantischen Helden im wahren Leben.

1. KAPITEL

London, 1842 

Erst nach der zweiten Explosion machte sich Violet allmählich Sorgen.

Da sie sich bereits für die Nacht zurückgezogen, nach ihrer Zofe geklingelt und sich ein Glas Brandy eingeschenkt hatte, hatte Violet Hughes, Lady Greycliff, die erste Explosion einfach ignoriert. Sie versuchte, auch die zweite nicht zu beachten, doch dann stellte sie sich die Reaktion ihrer Haushälterin vor.

Violet bezahlte Mrs Sweet ein kleines Vermögen, um die Wände, Böden und Möbel von Beacon House und dem angrenzenden Gebäude von einer erstaunlichen Vielfalt chemischer Zutaten zu reinigen. Und sie hatte weder Zeit noch Lust, überall auf den Britischen Inseln nach einer anderen Haushälterin zu suchen, die Brandflecken aus Damast entfernen konnte.

Die dritte Explosion veranlasste Violet schließlich, hastig ihr Schlafgemach zu verlassen und über die Hintertreppe hinabzuhuschen.

Die ehemaligen Nebengebäude waren jetzt mit Beacon House verbunden und bildeten ein einziges Bauwerk, dessen Haupteingang in der nächsten Straße lag. Nachdem Violet den größten Teil ihres Vermögens in den Bau dieses Anbaus gesteckt hatte, hatte sie Londons ersten Gesellschaftsclub für Damen, Athenes Refugium, gegründet. Doch noch mehr lag ihr der kleine Club innerhalb des Clubs am Herzen. In den Augen der Öffentlichkeit war das Refugium ein Treffpunkt für Damen mit einem eher flüchtigen Interesse an den Naturwissenschaften. Hinter verschlossenen Türen jedoch machten ebendiese Damen Entdeckungen, welche die Entwicklungen in den Fachbereichen der Mathematik, Biologie und Chemie, um nur einige zu nennen, erheblich vorantrieben.

Gelegentlich jedoch waren es laute und rauchgeschwängerte Entdeckungen.

Die dicke Eichentür des Verbindungskorridors vor ihr stand offen und gab den Blick auf den ersten Stock des Clubs und die dort untergebrachten Labore frei. In der Luft hing der Geruch von Schwefel und Käse, zusammen mit einer beunruhigenden Menge wabernden grünen Rauchs.

»Kein Grund zur Sorge«, rief eine belegte Stimme, gefolgt von einem Hustenanfall. »Habe mich leicht verrechnet. Kein Grund zur Besorgnis.«

Violet stieß eine Verwünschung aus, als Mildred Thornton und ihre Partnerin, Wilhelmina Smythe, aus dem Raum, der offenbar die Quelle des Qualms war, auftauchten. Die beiden Damen, liebevoll Milly und Willy genannt, hatten ihr hoch und heilig versprochen, nicht mehr mit instabilen Flüssigkeitsverbindungen zu experimentieren.

»Sie haben mir gesagt, Sie erforschen die Eigenschaften von Pulvern!«, rief Violet. »Wie haben Sie es geschafft, mit Talkum eine Explosion zu erzeugen?«

»Pardon. Haben wir tatsächlich Talkum gesagt? Verzeihung«, krächzte Milly. Ein feiner Schleier aus Ruß überzog ihr silbernes Haar und hing wie schwarze Perlen in ihren Augenbrauen.

»Wir erforschen tatsächlich alle möglichen Pülverchen, Liebes«, mischte sich Willy ein. Sie war einen Fuß größer als Milly und halb so breit und schüttelte gerade eine Aschewolke aus ihren Röcken. »Talkumpulver, Reispulver …« Sie senkte die Stimme und schien etwas höchst Interessantes in der Nähe ihrer Schuhe zu inspizieren. »… Schießpulver …«

Violet half Milly, ein paar Glutnester auf ihrem linken Ärmel zu ersticken. »Wie auch immer, was haben Sie sich dabei gedacht?«, stöhnte sie.

»Wir dachten daran, wie weit uns diese unausstehlichen Italiener an der Universität von Turin in der Entwicklung von Pyroglycerin voraus sind«, antwortete Milly. »Obwohl wir unsere Arbeit nicht mit der Welt teilen können, sind doch einige Männer in unsere Forschung eingeweiht und nehmen uns ernst. England kann es sich einfach nicht leisten, auf diesem Gebiet das Nachsehen zu haben.«

Die Stimme von Mrs Sweet drang nun laut durch den Anbau, aber ihr weicher, westindischer Akzent milderte die Strenge ihrer lauten Evakuierungsbefehle. Die Türen im Korridor öffneten sich, und Frauen in unterschiedlichen Stadien der Aufregung stürzten aus ihren Laboren. Viele trugen Leinenschürzen über ihren Kleidern, andere dicke gepolsterte Handschuhe.

»Müssen wir wirklich hinausgehen? Meine Arbeit ist gerade in einem sehr heiklen Stadium«, beschwerte sich eine feinknochige Frau in einem schlichten, aber fachmännisch geschneiderten blauen Wollkleid. »Wer war es denn dieses Mal?«

»Letty«, begrüßte Violet die zierliche Mathematikerin. »Helfen Sie mir, alle aus den Labors in die Salons zu bringen, damit wir entscheiden können, was zu tun ist.«

Miss Letitia Fenley, die Clubsekretärin von Athenes Refugium, machte sich sofort an die Arbeit, und Violet schickte ein Dankgebet für ihre Effizienz gen Himmel.

Zwanzig Minuten später stand Violet im Gemeinschaftsraum des Clubs. Die Einrichtung erinnerte an die der Männerclubs in der St. James’s Street. Die untere Hälfte der Wände war mit Eichenholz verkleidet, die obere Hälfte leuchtete in einem fröhlichen Cranberry-Ton. An einem Ende des Raumes loderte ein Feuer in einem großen Kamin, der von einem Sims aus gemustertem Marmor eingerahmt wurde.

»Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte!«, rief Violet.

Etwa zwanzig Frauen im Alter von achtzehn bis fünfundachtzig Jahren wandten sich Violet zu. Trotz der unglücklichen Umstände hob ihr Stolz über das, was sie hier geschaffen hatten, ihre Stimmung. Diese Mitglieder des wahren Athenes Refugium waren zur Verschwiegenheit verpflichtet, gebunden von etlichen Regeln, die die Weitergabe von Wissen untereinander und den Schutz der anderen Mitglieder förderten.

Violets Freude sank jedoch beim Anblick von Mrs Sweet sofort wieder in sich zusammen. Sie hatte die Arme verschränkt und die Lippen missbilligend gespitzt. Violet winkte zaghaft in Richtung der Haushälterin.

Mrs Sweet winkte nicht zurück.

Verflixt.

»Es gab heute Abend ein kleines Missgeschick«, verkündete Violet.

»Sie wollen sagen, Milly und Willy haben mal wieder Mist gebaut.« Die trockene, kultivierte Stimme durchdrang das amüsierte Gemurmel.

»Also …« Violet warf der Sprecherin, Lady Phoebe Hunt, einen warnenden Blick zu. Violet hatte gehofft, eine Diskussion über Millys und Willys Neigung, Schäden zu verursachen, vermeiden zu können. »Ein Vorteil der Verbindung von Athenes Refugium mit meinem Anwesen Beacon House ist die Möglichkeit, einige Phänomene, die sich hier ereignen, meiner Küche zuzuschreiben.«

»Ihrer Köchin wird das aber nicht gefallen«, bemerkte Letty.

»Vielen Dank für diesen Hinweis, Miss Fenley«, gab Violet zurück. »Als Präsidentin des Clubs delegiere ich es an Sie, eine alternative Erklärung für die Explosion zu finden und diese Erklärung in unser Clubtagebuch einzutragen.«

Letty blinzelte konsterniert, aber Violet hatte andere Sorgen. »Wir müssen unsere Aktivitäten für heute Abend leider beenden«, fuhr sie fort. »Sonst riskieren wir, die Wahrheit darüber aufzudecken, was jenseits der öffentlichen Räume passiert.«

»Ist die Gefahr einer Explosion gebannt?« Lady Phoebe lehnte sich zurück, platzierte ihren von einem teuren Stiefel bedeckten Fuß auf einen Hocker und wedelte mit einer Hand in Millys Richtung. »Ich will nicht, dass meine Arbeit in Flammen aufgeht, weil diese beiden leichtsinnigen …«

»Leichtsinnig? Doch wohl eher brillant«, widersprach Willy. »Eines Tages wird unsere Arbeit die Wirtschaft von ganz Großbritannien verändern.« Ihre Schutzkappe, die sie zum Arbeiten trug, hing wie ein verkokelter Zopf an ihrem Haarknoten herunter und schwang hin und her, als wollte sie Willys Empörung unterstreichen, die nachdrücklich mit den Armen wedelte. »Sie hingegen erscheinen lieber in den Klatschblättern, als Ihre Arbeit zu beenden. Ich habe bislang nicht die Spur irgendwelcher Fortschritte im sogenannten Elektrolyseverfahren zu Gesicht bekommen.«

Violet unterbrach diesen Wortwechsel, bevor er in einen handfesten Streit ausartete. »Wie dem auch sei, können wir alle Experimente, die die Gefahr einer Explosion in sich bergen, stoppen? Bitte denken Sie daran, dass wir in einem Monat unsere erste öffentliche Veranstaltung abhalten. Miss Fenley hat sie als ›Abend der Aufklärung und Anleitung‹ angekündigt.«

»Das sind entsetzliche Alliterationen«, raunte Phoebe.

»Es ist ein Abend der Aufklärung und des Amüsements«, verbesserte Letty Violet.

»Das ist ja noch schlimmer«, flüsterte Milly.

Violet brauchte einen Moment, bis sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte und eine damenhaft ausdruckslose Miene zeigte. »Es gibt viel zu gewinnen, wenn wir weitere Mitglieder für unseren Club rekrutieren können, aber wir verlieren alles, wenn wir der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Für heute Abend wäre ein diskreter Abgang das Beste. Wollen Sie beginnen, Lady Phoebe?«

»Diskretion ist uns vielleicht nicht vergönnt, Mylady«, erwiderte Letty. »Wie es scheint, wartet draußen eine Handvoll Reporter, um mit Lady Phoebe zu sprechen. Es geht wohl um eine Wette mit Lord Henderson?«

»Er hat Althea Dertlinger gequält«, erwiderte Phoebe gespielt unschuldig. »Ich habe nur mit ihm gewettet, dass ich meinen Stiefel gänzlich in seinen …«

»Sie waren so laut, dass die Nachbarn die Wache alarmiert haben«, unterbrach Letty sie hastig und wandte sich an Violet. »Als ich Winthram bat, uns Mietdroschken zu rufen, berichtete er, dass sich vor dem Eingang eine Menschenmenge versammelt hat. Unter ihnen befindet sich auch Ihr Stiefsohn, Lord Greycliff.«

Doppelt verflixt.

Dutzende von Frauen umringten Violet, die sie zur Garderobe geleitete, wo Winthram, der Hausdiener, ihnen in ihre Mäntel und bei den Hauben half. Vor dem Clubeingang drängte sich die Reportermeute, die auf Phoebes Auftauchen und das der anderen Frauen wartete.

Nachdem schließlich die aufregenden nächtlichen Ereignisse ihren Abschluss gefunden hatten, war Violet erneut von Menschen umringt, als ihre Bediensteten sie bettfertig machten. Und doch hatte sich Violet Hughes trotz all dieser Menschen um sie herum noch nie so allein gefühlt.

*

Arthur Kneland war gern allein.

In seinem Metier waren Menschenmengen der ultimative Feind. Das Gaslicht in dieser kleinen Straße in Knightsbridge beleuchtete kaum den hölzernen Gehweg darunter. Schatten, groß und gedrungen, schlängelten sich zwischen der sich windenden Masse von Gestalten um ihn herum.

Ein Schwefelhauch drang aus dem Stadthaus, als eine Prozession von Damen das Gebäude verließ.

»So haben Sie sich Ihre erste Nacht in privaten Diensten nicht vorgestellt, was? Vom Beschützer von Staatsoberhäuptern zum Aufpasser meiner Stiefmutter.«

William Hughes, Viscount Greycliff – Grey für seine Freunde –, stocherte, während er sprach, mit seinem von einem goldenen Knauf verzierten Gehstock in einer Ritze im Gehweg herum. Man hätte den Stock für eine affektierte Marotte halten können, aber Arthur wusste, dass in diesem Stock ein langer Dolch steckte, mit dem Grey durchaus umzugehen verstand.

Sie hatten beide für eine kleine geheime Abteilung des Büros des Premierministers gearbeitet, die mit der Ausführung heikler Operationen betraut war. In Fällen, bei denen es für die britische Regierung nicht opportun gewesen wäre, offiziell involviert zu sein, hatte Grey die Rolle des unterkühlten Aristokraten gespielt, während er insgeheim Informationen sammelte.

Arthur arbeitete nur selten mit anderen Agenten zusammen. Die einzige Ausnahme war jene grässliche Nacht in Brüssel mit Grey gewesen, bei der ein Adjutant des Großherzogs William vergiftet worden war und zwei Huren aus der Privatkutsche von Prinz Frederick hatten befreit werden müssen. Es hatte eine Schießerei gegeben und anschließend ein ausschweifendes Gelage mit dem Orchester des Théâtre Royal. Diese Nacht hatte zu einer Beziehung zwischen den beiden Männern geführt, die für Arthur einer Freundschaft am nächsten kam.

»Eine kleine Witwe zu beschützen ist in der Tat etwas Neues«, erwiderte Arthur. Er dachte unwillkürlich an die Huren und die ungeheuren Mengen billigen Weins, die sie in sich hineinschütten konnten.

Schweigen antwortete auf seine Bemerkung. Grey wurde von einer zierlichen Blondine abgelenkt, die sich um die abreisenden Damen kümmerte.

»Sonderbar, wie das Chaos bestimmte Frauen zu verfolgen scheint«, murmelte Grey.

Chaos, fürwahr! »Ich erwähnte doch, dass ich mich auf ein gemächlicheres Leben freue, oder?«, sagte Arthur.

Grey verzog das Gesicht. »Heute Abend ist nur eine Ausnahme. Außerdem verdienen Sie das Vierfache dessen, was Sie als Angestellter der Regierung Ihrer Majestät bei einer ähnlichen Aufgabe verdienen würden. Sie sind zwar der Letzte, von dem ich erwartet hätte, dass er seine Jahre auf dem Lande verbringt, aber wenn Sie diesen Hof unbedingt wollen, von dem Sie immer gesprochen haben, kostet Sie das ein nettes Sümmchen. Immerhin ist das hier längst nicht so schlimm wie damals, als der Premier Minister Sie nach Amerika geschickt hat.«

Arthur schüttelte sich unwillkürlich.

Amerikaner! Laut, zu Superlativen neigend und fast schon unangenehm freundlich. Arthur hatte für Verbrüderungen dieser Sorte nichts übrig. Es brachte nichts, Freunde in einem Beruf zu haben, in dem ständig entweder auf einen geschossen wurde oder man selbst auf andere schießen musste.

»Sie sind der beste Leibwächter, den wir haben«, fuhr Grey fort, »und ich will das Beste aus Ihnen herausholen, bevor Sie für immer in der Wildnis der Highlands verschwinden. Ich zahle Ihnen genug, um Ihr neues Leben zu beginnen, wenn Sie mir diesen einen kleinen Gefallen tun.«

Ein neues Leben. Arthur hatte sich immer gewünscht, seine letzten Tage auf einem Bauernhof zu verbringen. Er hatte es so oft gesagt, dass sich die Worte irgendwann von der Realität gelöst hatten.

Es wurde Zeit, sie zu verwirklichen.

Einstweilen jedoch betrachtete Arthur die Szenerie vor sich. »Sie sind sich sicher, dass ich der Richtige für diese Aufgabe bin? Ich bin seit zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder in England. Die Leute haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis, was Skandale angeht. Wenn mich nun jemand wiedererkennt? Es könnte mehr Ärger geben, als die Sache wert ist.«

Während er sprach, beobachtete Arthur weiter die Menschenmenge vor dem Haus. Irgendetwas stimmte da nicht.

»Sie machen sich zu viele Sorgen. In einem Monat bin ich im Norden fertig, dann steht es Ihnen frei zu tun, was Sie wollen. Außerdem ist der Skandal zwei Jahrzehnte her. Seitdem haben Sie einige der einflussreichsten und mächtigsten Männer der Welt bewacht.« Grey legte Arthur eine Hand auf die Schulter, und seine kühle Miene wurde weicher. »Lady Greycliff liegt mir sehr am Herzen. Ich würde ihre Bewachung niemand anderem überlassen. Ihnen vertraue ich.«

Arthur schüttelte unauffällig die Hand seines Freundes ab und hoffte, dass er Greys Vertrauen auch wirklich verdiente. Mit seinen erst vierzig Lebensjahren hatte er Dutzende von Aufträgen erfolgreich ausgeführt und nur einmal versagt.

Ein Mal zu viel.

Die Tür des Stadthauses öffnete sich. Die Vicomtess trat heraus und zog die Aufmerksamkeit der Reporter auf sich. Er konnte ihre Gesichtszüge von seiner Position aus nicht genau erkennen, und doch wusste er, dass sie entzückend war, so wie er wusste, dass der Reporter, der ihr am nächsten stand, unter Schwindsucht litt, dass die beiden zerzausten und versengten Ladys, die in einer Mietdroschke davonfuhren, nach Hause zurückkehrten und dasselbe Bett teilten. Und dass der Hausdiener, der sie hinausbegleitete, mehr war, als er zu sein schien.

»Ich bin zu alt für so etwas«, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Grey. »Nach diesem Auftrag mache ich Schluss.«

Arthur machte einen Schritt nach vorn als die Vicomtess die Treppe herunterkam und über etwas lachte, das einer der Männer um sie herum gesagt hatte. Unter ihrem voluminösen Schal zeichnete sich ihre wohlgerundete Figur ab. Sie hatte weich geschwungene Hüften und einen üppigen Busen, und ihre Locken waren zerzaust, als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen. Der Anblick brachte ihn aus der Fassung.

»Ich verspreche Ihnen, Arthur«, versicherte ihm Grey, »dies wird der einfachste Auftrag sein, den Sie jemals angenommen haben. Sie werden nicht einmal merken, dass Sie arbeiten. Tatsächlich werden …«

Arthur sollte nie erfahren, was Grey hatte sagen wollen. Er rannte geradewegs auf die Lady zu, die mittlerweile auf dem Gehweg vor einem Fenster im Erdgeschoss stand.

Während er sich rücksichtslos seinen Weg durch die Menge der Reporter bahnte, konnte Arthur endlich ihr Gesicht sehen. Unter langen schwarzen Wimpern schimmerten dunkelbraune Augen in der Farbe von Kaffee. Sie war kleiner als die Männer um sie herum und hob ihr perfektes kleines Kinn, während sie Scherze machte. Ihre Lippen hatten die Farbe von reifen Pflaumen und lösten ein überraschendes Gefühl von Lust in Arthur aus.

Die Welt war voller Frauen, die schöner waren als Violet Hughes. Arthur hatte einige von ihnen getroffen, mit einigen von ihnen geschlafen und von einer eine massive Kopfwunde verpasst bekommen. Aber keine hatte eine derart spontane, animalische Anziehung in ihm hervorgerufen.

In diesem Moment ließ eine Explosion die Fenster des zweiten Stocks zerbersten, und Arthur überwand mit einem Satz die zwei Meter Abstand, die ihn von der Vicomtess trennten. Er packte sie mit kontrollierter Kraft und schirmte ihren Körper ab, als er sie zu Boden riss.

Allerdings hatte er nicht mit dem unglaublich hässlichen Sessel gerechnet, der aus einem Fenster flog, Zentimeter vor seinem Kopf auf dem Boden zerschellte und Splitter auf ihn regnen ließ. Um sie herum brach blankes Chaos aus.

Für seinen Geschmack konnte das beschauliche Landleben gar nicht früh genug beginnen.

2. KAPITEL

Üblicherweise beendete Violet ihr nächtliches Ritual, bestehend aus einem Brandy und einem Vollbad, gefolgt von dem Gang in ihr leeres Bett, mit einem letzten Schritt. Sie stellte sich vor, wie jemand auf der anderen Seite zu ihr ins Bett stieg, die Kerze ausblies und sie in die Arme nahm, bevor sie gemeinsam einschliefen.

Diese Fremden besuchten sie jedoch ausschließlich in ihrer Phantasie. Violets verstorbener Mann hatte nachdrücklich argumentiert, dass eine Frau mit körperlichem Appetit sich sowohl unladylike als auch geschmacklos gebärde. Obwohl sie vermutete, dass dies nicht unbedingt immer der Fall war, hatte sie sich im wirklichen Leben nie einen Liebhaber gesucht, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Ihr Ruf war zu wichtig für die Zukunft von Athenes Refugium.

Schlimmer noch: Wenn er nun recht gehabt hatte?

In all diesen einsamen Nächten hatte sich Violet nie Arme ausgemalt, die sie so umschlossen wie die dieses Mannes, der sie jetzt hielt. Das Gefühl eines warmen, festen Körpers an ihrem machte sie benommener als das Chaos und die überall verstreuten Glasscherben und Holzsplitter. Schritte dröhnten. Um sie her erhoben sich Stimmen zu wütenden oder verängstigten Schreien.

Nichts von alledem berührte sie.

Sie war in Sicherheit.

Und das nicht nur, weil der Mann, in dessen Armen sie lag, ihr diese Worte mit seiner rauen Stimme ins Ohr geraunt hatte. Obwohl es reizvoll gewesen war, wie seine Lippen über ihr empfindliches Ohrläppchen gestrichen waren. Nein. Etwas anderes sagte ihr, dass alles gut werden würde.

Sie hatte ihn vor der Explosion gesehen. Er hatte neben Grey gestanden. Und in dem Tumult um sie herum war die dunkle Gestalt an Greys Seite fast unnatürlich still gewesen, bis sie sich in Bewegung gesetzt hatte.

Die natürliche Reaktion wäre gewesen zurückzuweichen oder vor diesem fremden Mann, der sich auf sie stürzte, zurückzuschrecken. Doch als er sich ihr näherte, hatte Violet stattdessen sogar den seltsamen Drang verspürt, auf ihn zuzugehen.

Dabei signalisierte nichts an seiner Erscheinung Sicherheit. Er trug einen nichtssagenden braunen Gehrock, der schon ein paar Jahre außer Mode war. Er war groß, aber nicht riesig. Breitschultrig, aber nicht stämmiger als ein durchschnittlicher Arbeiter. Sein Zylinder aus gefilzter Wolle war ebenso unauffällig wie sein dunkles lockiges Haar und der Backenbart, der bis zur Hälfte seiner Wangen reichte. Tiefe Falten in seinem Gesicht bezeugten, dass er viele Jahre lang den Elementen ausgesetzt gewesen war. Und irgendwann hatte er sich offenbar die Nase gebrochen.

Und doch hatte sie keine Sekunde Angst gehabt, als er sie gepackt und mit sich gerissen hatte.

Er hatte ihren Kopf mit seiner großen Hand abgeschirmt, um ihn vor dem Aufprall zu schützen, und ihren Körper fest an sich gedrückt. Als er den Mund von ihrem Ohr genommen und ihr in die Augen gesehen hatte, hatte Violet es gewusst. Sie hatten einen unauffälligen Braunton, aber diese Augen sagten Violet, dass sie in Sicherheit sein würde, ganz gleich was geschähe.

Sein Blick glitt über ihr Gesicht und wanderte über ihren Körper, bevor er den Kopf drehte, um die Menge zu beobachten. Seine undurchdringliche Miene und seine übernatürliche Ruhe täuschten über die intensive Wachsamkeit seines Blicks hinweg.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte er sie.

Ging es ihr gut?

Es war schon so lange her, dass jemand sie gehalten hatte, ganz zu schweigen von einem Mann, zu dem sie sich augenblicklich und sehr stark hingezogen fühlte. Sie registrierte eine Vielzahl von Einzelheiten: die Form seiner Oberlippe, die winzigen Tropfen des feuchten Nebels an seinen Wimpern, den schnellen Rhythmus ihres Herzschlags.

Sie spürte die Wärme seines Körpers, die sie umhüllte, und ihre Haut erwachte unter seinen Händen zum Leben. Nahm er ihre Reaktion wahr? War er amüsiert oder entsetzt?

»Ich danke Ihnen für Ihren Mut«, nuschelte Violet gedämpft in die Krawatte des Mannes, während er sie weiterhin vor dem Tumult abschirmte.

»Und was für ein Glück, dass Sie hier gelandet sind«, fuhr sie fort. Sie blickte auf die Stelle, wo seine Hüften fest gegen ihre drückten, und errötete. »Ich meine nicht an der Stelle gelandet, an der wir uns gerade berühren. Ich will damit sagen, nicht … Wir berühren uns natürlich nicht absichtlich …«

Er blieb stumm.

Sie räusperte sich verlegen. »Wenn Sie mich bitte aufstehen lassen, dann kann ich besser …«

»Wenn ich bis drei gezählt habe, ziehe ich Sie hoch«, unterbrach er sie. »Sie bleiben vor mir, während wir in westliche Richtung gehen. Falls sich jemand nähert, lassen Sie sich auf den Boden fallen und bedecken Ihren Kopf mit den Armen. Eins, zwei …«

Auf drei sprang der Mann auf und hob Violet hoch, als wöge sie nicht mehr als eine Feder. Erstaunlich. Er war weit stärker, als es unter seinem unauffälligen Mantel den Anschein hatte. Jetzt musterte er die Menge und erteilte ihr weitere Befehle.

»Bleiben Sie dicht an den Mauern der Häuser. Ducken Sie sich so tief wie möglich, ohne über Ihre Röcke zu stolpern. Also los!«

Seine Augen ruhten nicht mehr auf ihr. Frei von seinem prüfenden Blick kehrte Violets Vernunft zurück, und sie blieb einfach stehen. Athenes Refugium oblag ihrer Verantwortung. Sie konnte nicht gehen, bevor sie sich nicht überzeugt hatte, dass die Clubmitglieder unverletzt waren und sie der Presse eine vernünftige Erklärung gegeben hatte.

»Hat die Explosion Ihr Gehör beeinträchtigt, Mylady?« Er beobachtete immer noch die Menge.

»Mein Gehör ist völlig in Ordnung, mein Kopf ist heil, und meine Gliedmaßen sind dank Ihres Eingreifens vollkommen intakt, Sir. Ich bin unverletzt, nur ein wenig durcheinander, wegen der Explosion und wegen meines Körpers, wo Sie mich … berührt haben.«

Hatte sie vielleicht doch unbemerkt eine Kopfwunde davongetragen? Wie sonst ließe sich ihre Reaktion erklären? Sie lachte nervös auf, verstummte dann jedoch sofort unter seinem starren Blick.

Violet schluckte. »Ich bin Ihnen dankbar, gewiss, aber ich muss mich vergewissern, dass niemand sonst verletzt worden ist. Wenn Sie mich also entschuldigen würden?«

»Nein.«

Violet blinzelte. War es vielleicht ihr Retter, der unter einem Hörverlust litt?

Sie erhob ihre Stimme. »Ich gehe da hin«, sagte sie überdeutlich und zeigte auf den Club.

Er warf ihr einen undurchdringlichen Blick zu, so ausdruckslos, dass er Violet auch nicht den geringsten Hinweis darauf gegeben hätte, was der Mann dachte. Aber aus irgendeinem Grund wollte sie, dass er wohlwollend von ihr dachte.

»Ich kann Sie sehr gut hören«, erwiderte er tonlos. »Sie gehen nirgendwo hin, außer in meiner Begleitung.«

Violet schrie vor Überraschung leise auf, als der Mann einen Arm um ihre Taille schlang und sie einfach hochhob. Kein ehrbarer Mann würde eine Frau auf diese Art und Weise davonschleppen, aus der höchst ruchlose Absichten sprachen.

Sie war noch nie Objekt ruchloser Absichten gewesen. Erregung flammte in ihr auf, unmittelbar gefolgt von Scham.

»Ich bin nicht undankbar. Sie sind mutig und …« Violet nahm sich einen Moment Zeit, um seine Gestalt zu würdigen, »gut gebaut, und Sie riechen gut. Ich habe nur einfach nicht die Zeit, um mich retten zu lassen.« Sie drehte sich in seinen Armen und erblickte ihren Stiefsohn.

»Grey, könntest du diesem Herrn erklären, dass ich keine Zeit habe, mich retten zu lassen?«

Grey drängte sich durch die Menge, um sich ihnen anzuschließen. »Lassen Sie sie los, Arthur. Sie wollen doch nicht, dass jemand Sie mit ihr sieht und irgendwelche ungehörigen Schlüsse zieht.«

Der Mann, der offensichtlich Arthur hieß, setzte sie so abrupt ab, dass sie schwankte. Er streckte die Hand aus und hielt sie fest. Er umfasste ihren Ellbogen dabei nur mit einer leichten Berührung, aber er strahlte genug Wärme aus, um sie vor der Kälte zu schützen.

»Sie haben mich Ihr nicht angekündigt?«, wandte sich Arthur an Grey.

Grey verzog den Mund in vertrauter Weise. Was hatte er vor?

»Dazu wollte ich gerade kommen, bevor Sie losgerannt sind«, erwiderte Grey. »Woher wussten Sie eigentlich, was passieren würde?«

Der Mann neben ihr zuckte beiläufig mit den Schultern. »Es ist meine Aufgabe, so etwas zu wissen. Also los, gehen wir.«

Violet wappnete sich dagegen, erneut gepackt zu werden, aber Arthur bedeutete ihr höflich, sie möge vorgehen.

»Bitte, lass mich ausnahmsweise einmal derjenige sein, der die Dinge für dich in Ordnung bringt«, bat Grey sie etwas schroff. Er vertraute darauf, dass Violet die Emotionen, die sich unter seinen Worten verbargen, nicht öffentlich kommentieren würde.

Als sie sich nicht sofort wehrte, setzte er nach. »Wenn du mit uns kommst, lasse ich meine Agenten hier für dich aufräumen.«

Sie überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. »Das hier hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt passieren können. Ich kann hier nicht weggehen, bevor alle Mitglieder unversehrt und in Sicherheit sind.«

»Ich verspreche dir, dass ihre Sicherheit gewährleistet wird«, erwiderte Grey. »Darüber hinaus werde ich Mrs Sweet davon abhalten zu kündigen.«

»Das allerdings wäre sehr hilfreich.« Violet schlang ihren Schal um ihre Schultern. »Dennoch hätte ich gern eine Erklärung. Wenn das nächste Mal so etwas passiert …«

»Deshalb bin ich hier«, fiel Arthur ihr ins Wort. »Um dafür zu sorgen, dass es kein nächstes Mal gibt.«

*

Vor etlichen Jahren hatte Arthur einen Lepidopterologen bewacht. Allerdings nicht, weil Schmetterlinge etwas mit dem Schicksal des Britischen Empire zu tun hätten. Der Wissenschaftler war der Sohn eines griechischen Generals und das Ziel von Attentätern, die der osmanische Sultan geschickt hatte.

Die Art und Weise, wie der Lepidopterologe die winzigen Markierungen auf seinen Exemplaren untersucht hatte, wies eine erschreckende Ähnlichkeit mit der Art und Weise auf, wie die beiden Frauen, die auf der anderen Seite des Raumes saßen, ihn gerade musterten und ihn sozusagen auf seinem Platz festnagelten, als er nach einem Stück Obstkuchen griff.

Die eine Frau war groß und dunkelhaarig, die andere klein und blond, und ihre durchdringenden Blicke zuckten zwischen Arthur und Lady Greycliff hin und her.

»Sie werden gar nicht merken, dass er hier ist«, sagte Grey gerade. Der jüngere Mann stand in der Mitte des Wohnzimmers, nachdem er sich mit einer Anmut um die Bücherstapel, die gepolsterten Ottomanen und die Teetische herummanövriert hatte, die in Anbetracht seiner Statur und des beengten Raums bewundernswert war.

Lady Greycliff drehte, ohne auf ihr Publikum zu achten, im Raum ihre Bahnen. Wenn sie sich bewegte, wehte ihr riesiger Schal hinter ihr her und ließ Papiere und Zimmerpflanzen in ihrem Kielwasser zittern. Sie strahlte eine fast fieberhafte Energie aus, die die Luft um sie herum aufzuladen schien. Ihre Haltung deutete darauf hin, dass diese Energie ein Nebenprodukt ihres angeregten Denkens war.

Leute, die einen Leibwächter brauchten, waren oft umstrittene oder unangenehme Charaktere. Arthur hatte wenig Erfahrung, was den Schutz Unschuldiger betraf. Diese Lady wirkte erheblich jünger als ihre dreißig Jahre. Die großen Augen, die ihn vorhin so forschend angeblickt hatten, hatten eine beunruhigende Verletzlichkeit enthüllt. Er war der Kater, den man beauftragt hatte, auf eine Maus aufzupassen.

»Ich kann die Anwesenheit eines Attentäters in meinem Haus nicht ignorieren!«, rief Lady Greycliff jetzt.

Großer Gott! Die Blicke der Damen schlugen von intensiver Neugier zu grimmiger Missbilligung um.

»Ich bin kein Attentäter«, beruhigte Arthur sie.

»Sie sehen aber aus wie ein Attentäter«, widersprach die grimmige kleine Blondine, eine Miss Letitia Fenley.

»Ich bin dennoch keiner«, versicherte Arthur ihr.

Zuvor hatte Grey ihm unter vier Augen den Aufstieg von Miss Fenleys Familie von einem einfachen Metzgerbetrieb zum Inhaber des größten Einkaufszentrums in London geschildert.

»Letty Fenley hat nicht viel für die Aristokratie übrig, außer wenn wir die Kasse ihrer Familie füllen«, hatte er gesagt. »Ansonsten interpretiert sie jedes Wort aus dem Mund eines Adligen entweder als Befehl oder als Beleidigung.«

Das könnte ihr abweisendes Verhalten Grey gegenüber erklären. Nach der Art, wie sie den Mann musterte, wenn er nicht hinsah, vermutete Arthur jedoch eher einen persönlicheren Grund für ihre Feindseligkeit.

»Sie würden es uns ja wohl kaum mitteilen, wenn Sie ein Mörder wären«, warf die große, gut aussehende Frau neben Miss Fenley ein. Lady Phoebe Hunt, Tochter eines Marquis, war eine Sensation in den Londoner Gesellschaftskreisen. Sie war eine Frau, die unerschrocken das Wort ergriff und ihre Meinung kundtat, mit Vorliebe, um dem zu widersprechen, wofür sich ihr Vater gerade einsetzte. Sie hatte hohe Wangenknochen und einen vollen Mund, aber ihr auffälligstes Merkmal waren ihre spektakulären amethystfarbenen Augen.

Arthur kämpfte gegen den Drang an, auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen.

»Andererseits … Wenn er ein halbwegs fähiger Attentäter wäre, hätte er es mit der Schar von Reportern draußen spielend aufgenommen«, bemerkte Miss Fenley.

»Er ist kein Attentäter!« Grey mahlte mit dem Kiefer, ein seltenes Zeichen von Frustration. Er hatte seit einer halben Stunde erfolglos versucht, die Frauen zum Gehen zu bewegen. »Er ist ein ausgebildeter Konter-Attentäter. Mr Kneland hat in den letzten zwei Jahrzehnten wichtige Persönlichkeiten in Europa und Amerika beschützt. Er rettete Lord Dickersons Leben, trotz dreier Anschläge auf sein Leben im letzten Jahr.«

»Moment. Wurde Dickerson am Ende nicht erschossen?«, fragte Lady Phoebe. »Das spricht nicht gerade für ihn, wenn seine Klienten voller Einschusslöcher sind.«

»Eine Kugel bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 830 Fuß pro Sekunde«, sagte Miss Fenley. »Man muss außergewöhnliche Reflexe haben, um sie zu stoppen, wenn sie einmal abgefeuert wurde.«

Lady Phoebe neigte den Kopf. »Er ist kein junger Mann mehr. Langsame Reflexe könnten der Grund sein, warum er sich zur Ruhe gesetzt hat.«

»Haben Sie einen ermäßigten Preis bekommen, weil er schon so alt ist?«, erkundigte sich Miss Fenley bei Grey. »Mein Vater sagt immer, man bekommt das, wofür man bezahlt. Hätten Sie nicht einen jüngeren Mann finden können?«

»Ich sitze vor Ihnen«, warf Arthur ein. »Ich kann Sie folglich hören. Und die Kugel ging durch mich hindurch, bevor sie Dickerson tötete.«

Die Frauen blinzelten überrascht. Sie hatten ihn tatsächlich vergessen.

Arthur richtete den Blick an die Decke und zählte bis zwanzig, damit er nicht etwas Unverzeihliches sagte.

»Still, Letty«, tadelte Lady Greycliff Miss Fenley. »Mr Kneland hat mich vorhin ziemlich wirkungsvoll gerettet.« Ihre Wangen röteten sich, und er unterdrückte ein Lächeln, als er sich an ihre Worte erinnerte.

Sie sind mutig und gut gebaut, und Sie riechen gut.

Er hatte schon geschliffenere Komplimente erhalten, aber noch nie ein so aufrichtiges.

Miss Fenley zerdrückte ihr Kleid mit den Fäusten. »Könnten wir bitte auf den Grund zurückkommen, aus dem er hier ist?« Sie sah Grey finster an. »Clubmitglieder haben berichtet, dass fremde Männer in den Stallungen und der Gasse hinter Athenes Refugium herumgelungert haben. Letzte Woche wurden die Fenster des Labors, in dem Lady Greycliff arbeitete, mit Ziegelsteinen eingeworfen.«

Die Tochter eines Ladenbesitzers sollte von einem so großen und hochgeborenen Mann wie Grey eigentlich eingeschüchtert sein. Dennoch trotzte Miss Fenley ihm im Namen ihrer Freundin und stellte ihn direkt zur Rede. »Und das hat angefangen, nachdem Lady Greycliff sich bereit erklärt hatte, Ihnen bei Ihrer Arbeit für die Regierung zu helfen, Mylord.«

Grey massierte seinen Nasenrücken. »Dass du daran arbeitest, sollte eigentlich geheim bleiben.«

Lady Greycliff zuckte ein wenig zusammen. »Ich habe ihnen nicht verraten, woran ich arbeite – nur, dass es lebenswichtig ist. Verstehst du, ich hatte eine Frage über die Reaktion von Schwefelsäure und Kaliumhydroxid, also habe ich Phoebe konsultiert.«

Grey seufzte. »Selbstverständlich.«

»Dann war da noch die besonders komplexe Gleichung, als ich das Dalton’sche Gesetz berücksichtigte, und wer könnte besser als Letty …?« Sie unterbrach sich, als ihr eine Frage in den Sinn kam. »Ich habe dir schon früher bei deiner Regierungsarbeit geholfen, und niemand hat es herausgefunden. Was ist diesmal anders?«

Arthur hatte sich die gleiche Frage gestellt. Jetzt musterte er misstrauisch die Freundinnen der Lady.

»Ich bin mir nicht sicher.« Grey warf Arthur einen kurzen Seitenblick zu. »Aber ich glaube nicht, dass die Explosion im zweiten Stock ein Unfall war.«

»Was auch immer da vorgeht, es muss aufhören!«, erklärte Lady Phoebe. »Athenes Refugium veranstaltet am Ende des Monats seine erste Abendveranstaltung für die Öffentlichkeit. Wir können nicht zulassen, dass Attentäter hier frei herumlaufen, wenn wir versuchen, die bessere Gesellschaft von unserer Seriosität zu überzeugen.«

Grey wandte sich an Arthur und hob flehentlich die Handflächen. »Können Sie sie beruhigen? Ich muss noch heute Abend abreisen.«

Arthur war als verwaister Bauernjunge in den Highlands bei einem gleichgültigen Verwandten aufgewachsen, bis er zum Arbeiten weggeschickt worden war. Man hatte ihn seine niedere Stellung niemals vergessen lassen. Doch nachdem er zwei Jahrzehnte auf Tuchfühlung mit den Hochwohlgeborenen Europas gelebt hatte, wusste er besser als die meisten, dass Titel zumeist nur leere Ehrenbezeichnungen waren. In Ermangelung eines Stammbaums hatte er gelernt, stille Einschüchterung und seinen muskulösen Körper einzusetzen, um die Aufmerksamkeit mächtiger Männer und Frauen zu erregen, die ihn sonst nie beachtet hätten.

Arthur nahm sich Zeit, stand auf und schickte seine Botschaft. Ohne ein Wort zu äußern, machte er diesen Frauen klar, dass er eine Bedrohung sein konnte.

Das Leben von Lady Greycliff war in Gefahr. Folglich war es notwendig, dass alle hier seinen Anordnungen Folge leisteten. Er ging zum Fenster und zog den Vorhang zu.

»Omnium Democratia ist eine illegale Arbeiterorganisation, die im Nordosten und in den Midlands entstanden ist und nun in London Anhänger rekrutiert. Ursprünglich gehörten sie zur Chartistenbewegung und traten für eine Reformierung des Parlaments und das Wahlrecht für alle Männer ein.«

»Natürlich nur das Wahlrecht für alle Männer!«, murmelte Miss Fenley. Arthur überprüfte die Riegel an den Fenstern und runzelte die Stirn. »Omnium Democratia wurde ungeduldig. Sie sind mittlerweile viel radikaler geworden und scheuen nicht vor Gewalt zurück, um ihre Ziele zu erreichen.«

»Dieser Pöbel redet nur und handelt nicht, soweit ich weiß«, meinte Lady Phoebe.

»Nun, sie sind offenbar zum Handeln übergegangen«, antwortete Arthur. »Ihre letzte Kundgebung endete in Gewalttätigkeiten. Als die Constables auftauchten, wurden sie mit einer neuen Art von Waffe konfrontiert.«

»Eine Waffe? In den Flugblättern war nur von Rauch und Verwirrung die Rede.« Miss Fenley betrachtete Lady Greycliff besorgt. »Sie entwickeln doch eine Theorie über Druckgas. Was hat das mit Aufruhr zu tun?«

Lady Greycliffs Gesicht leuchtete auf vor fachlicher Begeisterung. »Sie haben kleine Kanister hergestellt«, erklärte sie, »mit zwei getrennten Kammern, die jeweils eine Mischung unbekannter Herkunft enthielten. Wenn man sie stark genug schüttelt, zerbricht die Membran zwischen den Kammern, und die Chemikalien verbinden sich, wodurch ein schädliches Gas entsteht.«

»Abhängig von der eingeatmeten Menge«, fuhr Arthur fort, »reichen die Auswirkungen von Desorientierung und Übelkeit bis hin zu schweren Schäden an Augen und Lunge. Zwei Polizisten wurden nach dem Angriff mit geschädigter Lunge und teilweiser Blindheit ins Krankenhaus gebracht. Letzte Nacht ist einer von ihnen gestorben.«

Lady Phoebe schlug mitfühlend die Hand vor den Mund.

»Warum hat das Gas die Randalierer nicht ebenfalls beeinträchtigt?«, wollte Letty wissen.

»Auf dem Kanister steckt ein Siphon«, erklärte Grey, »einer wie ihn Antoine Perpigna für kohlensäurehaltiges Wasser erfunden hat. Die Randalierer richteten die Siphons direkt auf die Ordnungshüter.«

»Ich habe die Zusammensetzung ihres Giftes analysieren können«, verkündete Lady Greycliff. »Zurzeit können sich die Constables mit Masken schützen, aber das Gas breitet sich ziemlich schnell aus. Ein unglücklicher Unbeteiligter könnte davon betroffen werden. Ich bin auf einem guten Weg, um ein Mittel zu entwickeln, das das Gas in der Luft neutralisiert. Aber selbst mit Ihrer Hilfe komme ich nur langsam voran.«

»Die Omnis führen einen vergeblichen Feldzug.« Miss Fenley schüttelte resigniert den Kopf. »Gewalt wird den Adel nicht dazu zwingen, ein Gewissen zu entwickeln. Ein Angriff auf ihr Vermögen dagegen wäre erheblich wirkungsvoller.«

Grey betrachtete Miss Fenley herablassend. »Bis Sie es schaffen, uns amoralische Peers zu stürzen und jahrhundertealte politische Traditionen auszuradieren, würde ich gern verhindern, dass weitere Menschen zu Schaden kommen.«

Er ignorierte ihren finsteren Blick und wandte sich an Lady Greycliff. »Athenes Refugium hat etwa dreißig Mitglieder. Alle haben Familie, Freunde und sogar Diener, die von der Existenz des Clubs wissen könnten. Jeder von ihnen könnte hinter der Explosion stecken.«

Während ihre Freundinnen über die Unmöglichkeit eines solchen Szenarios diskutierten, kümmerte sich Lady Greycliff um die Glut des ersterbenden Kaminfeuers. Eine leuchtend rote Schramme verunzierte die elfenbeinfarbene Haut ihrer Wange. Arthur bezweifelte, dass sie Zeit gehabt hatte, die Wunde zu reinigen, weil sie ständig Tee für die Wache geholt und die verängstigten Umstehenden beruhigt hatte. Sie hatte alle mit tröstenden Worten verabschiedet und versprochen, dass bis zum Ende der Woche alles wieder wie neu sein würde.

Doch wenn Arthur Mitleid mit ihr empfand, brach er seine Kardinalregel: Empfinde niemals etwas für deine Schutzbefohlenen – und das war alles, was diese schöne Frau für ihn sein sollte. Eine Schutzbefohlene.

»Während Lady Greycliff ein Gegenmittel entwickelt«, sagte Arthur, »werde ich sowohl sie als auch die Formel beschützen. Ich werde mich als der Haushofmeister des Clubs ausgeben, der angesichts der Ereignisse des heutigen Abends zum Zwecke der zusätzlichen Sicherheit engagiert wurde.«

Er richtete den Blick auf die Frauen vor ihm.

In seiner Ausbildung vor vielen Jahren hatte er gelernt, dass jeder Gegenstand eine Waffe sein konnte. Ein Stuhlbein könnte als Keule oder Schwert dienen. Mit einem Hut konnte man jemanden ersticken. Eine Haarnadel könnte eine tödliche Dosis Gift in das Herz eines Menschen injizieren.

Und diese drei Damen konnte er bei diesem Auftrag zu seinem Vorteil nutzen. Der Schlüssel war, sie einfach als Objekte zu betrachten, wie jeden anderen, der in sein Leben trat.

Sie alle waren lediglich Mittel zum Zweck.

3. KAPITEL

Violet verabschiedete sich von Grey, schloss die Tür und ließ sich gegen die Wand sinken. Die beiden Öllampen zu beiden Seiten des großen Spiegels im Foyer warfen durch ihre Glasscheiben ein unheimliches, orangefarbenes Licht über den schwarz-weiß gefliesten Fußboden.

Als Violets Mann sehr krank gewesen war und sie ihn gepflegt hatte, war sie nachts durch das Haus gewandert und hatte sich die Details komplexer Formeln eingeprägt, während im Hintergrund der Tod lauerte. Hier in Beacon House war die Nacht nie still, und sie kannte den Ursprung eines jeden Klickens und Quietschens genau. Deshalb konnte sie sich an den großen Schatten in der Ecke des Zimmers wenden, ohne vorher hinsehen zu müssen.

»Sie bewegen sich unheimlich ruhig für einen so großen Mann. Wie machen Sie das nur?«

Arthur tauchte aus einer flachen Einbuchtung unterhalb der Treppe auf. Flackerndes Licht betonte seine sonnengebräunten Wangen.

»Ich habe zwanzig Jahre lang Übung gehabt«, antwortete er. »Es zahlt sich aus, leise zu sein, wenn man den Feind ausschalten möchte. Selbst wenn man zu einem ermäßigten Preis engagiert wurde.«

Violet lachte leise. »Sie haben sicher nicht mit uns dreien gerechnet, als Grey an Sie herangetreten ist«, meinte sie. »Er nennt uns den ›Hexenzirkel‹, wussten Sie das? Haben die Ladys Sie erschreckt?«

»Ja«, gab er trocken zu.

Violet lachte anerkennend angesichts dieser Ehrlichkeit. Sie war froh, dass in dieser stoischen Gestalt ein echter Mensch steckte. »Grey hat mir von Ihren Verdiensten erzählt, bevor er ging. Er sagte, die Königin wollte Ihnen einen Titel verleihen, nachdem Sie Lord Dickerson gerettet hatten, doch Sie hätten abgelehnt.«

Er trat von der Wand weg, scheinbar unbeeindruckt von der königlichen Gunstbezeugung. Obwohl sein Blick auf sie gerichtet blieb, hätte es Violet nicht gewundert, wenn er sich die exakte Position der geschliffenen Glasschale auf dem Eingangstisch gemerkt und genau gewusst hätte, wie viele Wandleuchter an der Wand hinter ihm angebracht waren.

Sie musterten sich ohne Scheu in dem schummrigen Flur. Diese Vertrautheit zwischen ihnen war eigenartig, nach den sonderbaren Ereignissen der Nacht. Sie hatte seinen Körper auf ihrem gespürt, bevor sie auch nur seinen Namen gekannt hatte.

»Und doch hat er es versäumt, mich vor Ihren Freundinnen zu warnen«, fuhr Arthur fort. »Grey sagte nur, Sie hätten die Angewohnheit, Ladys unter Ihre Fittiche zu nehmen.«

»Letty und Phoebe sind Gründungsmitglieder von Athenes Refugium, keine hilflosen Vögelchen, die vor allem beschützt werden müssen. Und obwohl er sich über sie beschwert, wenn sie in der Nähe sind, vermisst er sie, wenn sie weg sind.« Sie beugte sich verschwörerisch zu Arthur. »Was er aber niemals zugeben würde.«

»Sie stehen Grey sehr nahe.«

»Ja«, bestätigte sie.

Ah. Allein durch seinen Tonfall hatte Arthur eine Frage gestellt, ohne wirklich etwas zu fragen – ein bemerkenswertes Talent.

»Greys Vater Daniel hat mich im ersten Monat meiner Debütsaison im Sturm erobert.« Ein vertrautes Kribbeln in der Magengrube setzte ein, als sie weitersprach. »Er war der Inbegriff von Kultiviertheit und Romantik. Im Vergleich zu ihm wirkte jeder andere Mann unbedarft und träge – auch jene, die jünger waren als er.«

Das schwache Licht verbarg Arthurs Reaktion auf dieses Geständnis – falls er überhaupt reagiert hatte.

»Grey erwähnte, dass sein Vater sehr charismatisch war«, gab er zurück.

Violet legte den Kopf schräg, als sie darüber nachdachte. »Er strahlte eine große Selbstsicherheit aus – als ob er auf alles eine Antwort hätte. Als junge Frau, in deren Hirn Tausende von Fragen herumschwirrten, fand ich diese Eigenschaft unglaublich anziehend.«

So unwiderstehlich anziehend, dass sie die Bedenken ihrer Familie und die leisen Warnungen in einem Winkel ihres Verstandes ignoriert und sich in die Ehe gestürzt hatte. Daniel war genauso voreilig gewesen. Besorgt wegen Greys Gesundheit hatte er sich ausgerechnet, dass eine junge Frau die Chance auf ein weiteres Kind garantieren würde. Zudem war er von der Möglichkeit begeistert gewesen, eine junge Frau zu formen, die das Potenzial zur Brillanz hatte.

Doch ebendas, was sie aneinander am meisten angezogen hatte, trieb sie auseinander. Daniels übergroßes Selbstbewusstsein führte dazu, dass er stets urteilte und kontrollierte. Und Violets Brillanz erstreckte sich nicht auf die Bereiche Politik und gesellschaftliches Taktieren, wo Daniels Interessen lagen.

»Kleingeistige Menschen weisen mit Vorliebe darauf hin, dass Grey ein paar Jahre älter ist als ich«, räumte sie ein.

Greys Kampf mit der Fallsucht hatte ihn als Kind isoliert, obwohl seine Anfälle nur noch selten vorkamen, als sie sich kennenlernten. In den ersten Jahren ihrer Ehe mit seinem Vater hatte Violet nach Heilmitteln geforscht und die altmodischen Linderungsmethoden mit kalten Bädern und Aderlässen untersagt. Ihre zarte Freundschaft war immer enger geworden, als die Schwächen seines Vaters deutlicher zu Tage traten, aber bald darauf war er zur Armee gegangen und nur selten zu Besuch nach Hause zurückgekehrt, selbst als Daniel schwer erkrankte.

Violet räusperte sich, als die Flut dieser mitternächtlichen Erinnerungen sie zu überwältigen drohte. Sie zwang sich zu einem unbeschwerteren Ton und kam auf Arthurs Frage zurück. »Obwohl er nicht mein leiblicher Sohn ist, ist Grey doch meine Familie.«

Arthur neigte den Kopf auf die Seite. Er lauschte auf das, was sie nicht sagte.

Er stand regungslos da. Violet erwiderte seinen Blick. Seine Ruhe inmitten des Chaos hatte als Erstes ihre Aufmerksamkeit erregt. Es war, als umgebe ihn ein unsichtbarer Kreis der Stille. Am liebsten hätte sie mit der hohlen Hand aus diesem Becken der Ruhe geschöpft, sie über sich gegossen oder einen tiefen Schluck daraus getrunken. Je nachdem, welche Methode auch immer sie ihren eigenen Frieden finden ließ.

»Glauben Sie wirklich, dass ich bedroht werde?« Dieser Mann wäre sicherlich nicht hier, wenn dem nicht so war, er vergeudete sicherlich nicht seine Zeit. Aber sie stellte die Frage trotzdem, in der Hoffnung, doch noch eine verneinende Antwort zu erhalten. »Könnte die Explosion im zweiten Stock nicht Zufall gewesen sein?«

»Grey hat ein hervorragendes Gespür für Gefahren. Er hätte mich nicht gebeten, in London zu bleiben, und würde mir nicht eine solch beträchtliche Summe zahlen, wenn er nicht der Meinung wäre, dass Ihre Fähigkeiten Sie zu einem Ziel gemacht haben.«

Violet seufzte. »Ich bin längst nicht so begabt, wie er glaubt.«

Ihr Beschützer trat näher, bis seine Schuhe ihre Röcke berührten. Hitze kroch Violets Hals hinauf, als sie sich daran erinnerte, wie er mit der Hand ihren Hinterkopf umfasst hatte, wie sich seine Hüften an ihre gedrückt hatten, und an das Gefühl von Geborgenheit, das sie in seinen Armen empfunden hatte.

Ihre Handschuhe waren schmutzig geworden und zerrissen, als sie zu Boden gefallen war. Sie hatte sie ausgezogen, und jetzt nahm er ihre bloße Hand in seine. In seinen großen Händen wirkte ihre Hand fremd auf sie – so zart und weiblich, gar nicht mehr rissig und unbeholfen, trotz der winzigen Narben, mit denen ihr Handrücken und die Fingerspitzen übersät waren.

»Diese Verletzungen beweisen, dass Sie zahlreiche Experimente durchgeführt haben.« Seine nüchterne Stimme kontrastierte sehr deutlich damit, wie er bedächtig mit dem Daumen über ihren Handballen strich.

Wie lange war es her, dass ein Mann Violet so intim berührt hatte?

Ihre Nerven prickelten vor Erregung.

»Oder irrt sich Grey? Sind Sie nur die unfallgefährdetste Chemikerin in Europa, statt die brillanteste?«

»Er …« Violet musste sich räuspern, um die Worte herauszubekommen. »Er überschätzt meine Fähigkeiten gewiss.«

Erneut erinnerte sie sich an Arthurs intensiven Blick, mit dem er sie angesehen hatte, als die Welt um sie herum explodierte.

»Aber wichtiger als meine Sicherheit ist das Wohl der Frauen im Club im Nebengebäude. Sie riskieren sehr viel, allein dadurch, dass sie Nacht für Nacht hierherkommen und ihrer Arbeit nachgehen. Grey versteht meine Hingabe für diesen Club, und ich bin ihm dankbar, dass er Sie zu uns geschickt hat. Bis er zurückkehrt, betrachten Sie bitte Beacon House als Ihr Zuhause.«

Der zynische Gesichtsausdruck, der sich auf seinem Gesicht ausbreitete, überraschte sie, und sie drückte seine Hand. »Sie finden uns vielleicht unkonventionell. Ich dagegen halte uns trotzdem für eine glückliche Hausgemeinschaft. Sie müssen mich Violet nennen.«

Seine Wangenmuskeln traten kurz hervor, bevor seine Miene zu einer Maske der Gleichgültigkeit erstarrte. »Ich bin Ihr Leibwächter. Ich bin weder Ihr Freund noch ein Gast. Grey bezahlt mich, damit ich hier bin und Sie beschütze.«

Ein Schauer lief ihr bei seinen Worten über ihren bloßen Nacken.

Arthur ließ abrupt ihre Hand los. »Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Sie am Leben und unversehrt bleiben, nicht mehr und nicht weniger.«

Seine Stimme klang weder kalt noch wirkte er in irgendeiner Weise verächtlich. Nichts in seinem Ton oder seiner Haltung hätte einen Hinweis auf seine Gefühle gegeben, aber nur einen Wimpernschlag später stand er zwei Fuß von ihr entfernt, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

Ihr schwindelte, als seine Berührung so unvermittelt endete. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten«, sagte sie. »Ich wollte Sie nur in meinem Haus willkommen heißen, während Sie Ihre Pflichten erfüllen.«

»Tun Sie das nicht.« Seine Worte vertrieben die sinnliche Atmosphäre so wirkungsvoll wie ein Spritzer Eiswasser. »Lassen Sie mich meine Arbeit tun. Alles, was Sie darüber hinaus unternehmen, ist eine Ablenkung. Und Ablenkungen führen zum Scheitern. Und Versagen kann in meinem Beruf Ihren Tod bedeuten.«

*

Arthur betrachtete den Teller mit Bücklingen auf dem Tisch vor sich mit mehr Sympathie als die Ladys von Athenes Refugium gestern Abend. Zu seinem Glück hatten sie sein Verhalten gegenüber Lady Greycliff anschließend nicht registriert.

Was hatte Miss Fenley gesagt? Eine Kugel legt eine Strecke von 830 Fuß pro Sekunde zurück. Nur ein einziger Augenblick der Unaufmerksamkeit, und ein Attentäter konnte seine Mission erfüllen.

Er hatte es selbst miterlebt. Vor zwanzig Jahren hatte Arthur seine Mission einen Augenblick aus dem Fokus verloren, und ein Mann war gestorben.

Violet zurückzustoßen war richtig gewesen. Es musste an dem schummrigen Licht gelegen haben, dass ihr Lächeln einen Moment zittrig gewirkt und ihre lebhaften Augen traurig ausgesehen hatten. Mit ihm hatte es gewiss nichts zu tun.

Jetzt, am ersten Morgen seines neuen Auftrags, starrte er sein Frühstück an, während er an einem langen Eichentisch in der Küche von Beacon House saß. Mitten auf dem Tisch stand eine Reihe zugedeckter Platten mit Speisen. Um den Tisch herum saß das Personal in kleinen Grüppchen. Die Leute unterhielten sich und scherzten, während der Geruch von Tee, gebratenen Eiern, Haferbrei mit Muskat und Zimt, Räucherhering und Brötchen die Luft erfüllte.

Mrs Sweet umkreiste die Sitzenden, forderte einige auf, noch einmal zuzugreifen, und beriet sich mit anderen über die anstehenden Aufgaben. Die Haushälterin strahlte Kompetenz und Dynamik aus. Ihre dunkelbraune Haut leuchtete im Morgenlicht, das durch die blank geputzten Küchenfenster fiel. Nun richtete sie den Blick ihrer großen bernsteinfarbenen Augen auf Arthur und trat zu ihm.

Die Bediensteten, die ihn bislang neugierig beäugt hatten, seit er sich mitten zwischen sie gesetzt hatte, wandten sich jetzt in seine Richtung.

»Es wird euch alle freuen zu erfahren, dass Lady Greycliff das Personal für den Club nebenan aufgestockt hat«, verkündete Mrs Sweet der Runde. »Mr Kneland fungiert ab sofort als Haushofmeister des Refugiums.«

Violet hatte der Haushälterin Arthurs wahre Aufgabe offenbart. Sie sprach von ihrem Personal mit so viel Wärme und Zuneigung, wie manche von ihrer Familie sprechen würden, und behauptete beharrlich, es wäre unmöglich, vor Mrs Sweet Geheimnisse zu bewahren. Für die restlichen Hausangestellten war er einfach nur ein neuer Bediensteter.

»Danke, Mrs Sweet«, erwiderte er. »Es ist offenkundig, dass Sie dieses Haus mit maximaler Effizienz und großem Erfolg führen. Meine Rolle sehe ich darin, Ihnen die Bürde von den Schultern zu nehmen, die Sicherheit von Athenes Refugium zu gewährleisten und zu versuchen, die Geschäfte des Clubs von der Führung von Beacon House zu trennen.«

Die Bediensteten stimmten ihm zu, und etliche Seufzer der Erleichterung mischten sich in ihr zustimmendes Nicken.

Am Verhalten der Mitglieder von Lady Greycliffs Haushalt konnte sich der »Hexenzirkel« ein Vorbild nehmen. Während Mrs Sweet jeden von ihnen Arthur einzeln vorstellte, versicherten sie begeistert ihre Unterstützung für alle Veränderungen, die er vornehmen würde. Bereits am Ende des Nachmittags hatte Arthur einen gründlichen Überblick über das tägliche Leben in Beacon House gewonnen. Die Dienerschaft war zufrieden, wurde gut bezahlt und war Lady Greycliff treu ergeben.

Und genau das war ein Problem.

Er brauchte ein paar zertrümmerte Fenster, die noch nicht repariert waren, unbezahlte Kohlenhändler und anonyme nächtliche Besucher, die sich durch geheime Eingänge Zutritt verschafften.

»Wenn man den Kohlenhändler nicht bezahlt, hegt er einen Groll und hat zudem Zugang zum Haus. Das wäre der erste Ort, den jemand, der Böses im Schilde führt, betreten würde, und entsprechend der erste Ort, an dem er erwischt würde«, erklärte Arthur Mrs Sweet später in ihrem kleinen Salon.

Beim Eintreten hatte er einen wahren Schock erlitten. Eine Wand wurde von Regalen mit Gläsern voller verschiedener innerer Organe eingenommen, die in farbigen Flüssigkeiten schwebten. Den Regalen gegenüber war ein bewegliches menschliches Skelett aufgehängt.

Als sein Blick auf einen Stapel Papiere voller komplizierter anatomischer Zeichnungen fiel, dämmerte ihm endlich die wahre Berufung von Mrs Sweet.

»Ist denn jede Frau in diesem Haus eine Wissenschaftlerin?«, hatte er gefragt. »Ist die kleine Alice eine Ornithologin? Und die Köchin in Wirklichkeit Mathematikerin?«

»Seien Sie nicht albern. Alice interessiert sich natürlich für Himmelsmechanik, nicht für Zoologie. Und ich studiere, um Ärztin zu werden«, antwortete Mrs Sweet. »Das heißt, ich betreibe meine Studien auf eigene Faust, bis ich eine medizinische Fakultät finde, die mich akzeptiert.«

Arthur seufzte und nahm Platz. Mrs Sweet hoffte auf die Aufnahme an ein medizinisches College? Er hatte noch nie von einer Ärztin gehört, geschweige denn von einer dunkelhäutigen Ärztin.

Hoffnung war jedoch ein rares und kostbares Gut, besonders in London. Hinter jeder Ecke verkörperte ein Bauwerk Perspektivlosigkeit und Glaubensverlust. Er sagte daher nichts zu ihren Bestrebungen. Es würde ohnehin nichts fruchten. Träume neigten dazu, hartnäckig an einem zu kleben, und ließen sich nicht so leicht abschütteln.

Er wechselte das Thema und sprach über die Haushaltsplanung, während sie ein Teetablett abstellte. Der volle Pfirsichduft des Darjeeling war angenehm. Daneben stand ein Teller mit wenig appetitlichen Keksen. Mrs Sweet mochte keinen Kuchen.

»Zu viel Zucker führt zu einer Reizleber«, verkündete sie.

In der Küche seiner Mutter hatte immer der Duft von Mürbegebäck in der Luft gelegen. Das silbrige Lachen seiner Schwester erklang in seinen Ohren, und bei der verirrten Erinnerung daran, wie wenige Torten aus dem Ofen es unversehrt auf den Tisch geschafft hatten, knurrte sein Magen, während sich ihm gleichzeitig die Kehle angesichts der Erinnerung an das, was er verloren hatte, zusammenschnürte.

Bilder seiner kleinen Schwester hatten ihn seit seiner Rückkehr nach England immer wieder heimgesucht. Der Geruch von zerkleinertem Stechginster und Sirup ließ ihn mitten im Schritt innehalten, und mehr als einmal hatte er sich umgedreht, als er hinter sich das Trippeln kleiner Füße hörte.

Sie war jedoch nicht der einzige Geist, der ihn bei seiner Heimkehr begrüßt hatte.

»Die Kohlenhändlersache klingt jedenfalls logisch.« Mrs Sweets Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück, als sie sich auf seine früheren Beobachtungen bezog. »Unsere Bediensteten sind Lady Greycliff treu ergeben. Sie behandelt ihr Personal außergewöhnlich freundlich und ist mehr als großzügig Arbeitern und Ladenbesitzern gegenüber«, sagte sie. »Das bedeutet doch gewiss, dass Sie sich um weniger Leute sorgen müssen?«