Die lautlose Eroberung - Clive Hamilton - E-Book
SONDERANGEBOT

Die lautlose Eroberung E-Book

Clive Hamilton

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gefährlicher Rivale statt unverzichtbarer Partner: Mit welchen Strategien China die Welt erobert

Chinas Aufstieg zur Weltmacht ist unaufhaltsam. Lange erwartete man, dass sich das Land mit zunehmendem Wohlstand demokratisieren würde. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Kommunistische Partei Chinas will sich mit allen Mitteln an der Macht halten. Dafür werden Wirtschaft und Gesellschaft im eigenen Land auf Linie gebracht und ein weitreichendes Programm wurde entwickelt, mit dem China die westlichen Demokratien unterwandert und eine neue Weltordnung etablieren will. Dabei setzt es nicht nur seine Wirtschaftsmacht als Waffe ein, sondern die gesamte Bandbreite seiner Politik. Wie vielfältig der chinesische Einfluss auch bei uns bereits ist, enthüllen die beiden Autoren an zahlreichen Beispielen – ein Anstoß zu einer dringend notwendigen Debatte: Wie soll Deutschland, wie Europa mit der neuen Weltmacht China umgehen? Mit einem aktuellen Vorwort der Autoren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 783

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gefährlicher Rivale statt unverzichtbarer Partner: Mit welchen Strategien China die Welt erobert

Chinas Aufstieg zur Weltmacht ist unaufhaltsam. Lange erwartete man, dass sich das Land mit zunehmendem Wohlstand demokratisieren würde. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Kommunistische Partei Chinas will sich mit allen Mitteln an der Macht halten. Dafür werden Wirtschaft und Gesellschaft im eigenen Land auf Linie gebracht und ein weitreichendes Programm wurde entwickelt, mit dem China die westlichen Demokratien unterwandert und eine neue Weltordnung etablieren will. Dabei setzt es nicht nur seine Wirtschaftsmacht als Waffe ein, sondern die gesamte Bandbreite seiner Politik. Wie vielfältig der chinesische Einfluss auch bei uns bereits ist, enthüllen die beiden Autoren an zahlreichen Beispielen – ein Anstoß zu einer dringend notwendigen Debatte: Wie soll Deutschland, wie Europa mit der neuen Weltmacht China umgehen? Mit einem aktuellen Vorwort der Autoren.

Clive Hamilton ist Professor für Öffentliche Ethik an der Universität von Canberra und Autor zahlreicher Bücher. Drei Verlage lehnten es aus Angst vor chinesischen Repressionen ab, sein Buch »Silent Invasion. China’s Influence in Australia« zu veröffentlichen. Nach Erscheinen wurde das Buch zum Bestseller, der die Politik Australiens gegenüber China veränderte und Hamilton zum weltweit gefragten Experten für Chinas außenpolitische Ambitionen und Strategien machte.

Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asien-Programm des German Marshall Fund. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Nach dem Studium der Ostasienwissenschaften an der Universität Heidelberg und der Columbia University promovierte Ohlberg über Chinas Außenpropaganda nach 1978. Ohlberg ist eine der profiliertesten deutschsprachigen Chinaexpertinnen, zu ihren Forschungsthemen hält sie zahlreiche Vorträge und veröffentlicht neben Fachartikeln u. a. auch in der New York Times, Foreign Policy, der Wirtschaftswoche und der Neuen Zürcher Zeitung.

Clive HamiltonMareike Ohlberg

DIE LAUTLOSE EROBERUNG

Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet

Pantheon

Die Originalausgabe ist 2020 unter dem Titel Hidden Hand. Exposing how the Chinese Communist Party is Reshaping the World bei Hardie Grant Books in Melbourne, Australien, erschienen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen. Copyright © 2022 by Pantheon Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Copyright © Clive Hamilton und Mareike Ohlberg 2020 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Übersetzer aus dem Englischen: Stephan Gebauer Coverabbildung[en]: Watercolour map, Niddle / Shutterstock; Paint in water, Picsfive / Shutterstock; China flag, T. Lesia / Shutterstock E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-641-26155-9V007www.pantheon-verlag.de

Inhalt

VORWORT ZUR DEUTSCHEN PAPERBACKAUSGABE

VORWORT

1 EIN ÜBERBLICK ÜBER DIE BESTREBUNGEN DER KPCH

2 EINE LENINISTISCHE PARTEI ZIEHT IN DIE WELT HINAUS

Die KPCh sieht sich in einem Kalten Krieg

»Groß angelegte Außenpropaganda«

Die Partei herrscht

Die Einheitsfront

Mehrfache Identitäten und doppelte Firmenschilder

Das Volk, seine Freunde und seine Feinde

Fünf-Prozent-Regel und stille Diplomatie

Prinzipien des Vorgehens der KPCh

3 POLITISCHE ELITEN IM ZENTRUM: NORDAMERIKA

Freunde finden

Der traurige Fall von John McCallum

Einflussnahme in Washington

Das Weiße Haus

Die Abteilung für Feindarbeit

Kanadas Beijing-Elite

4 POLITISCHE ELITEN IM ZENTRUM: EUROPA

Diplomatie zwischen Parteien

Die Bearbeitung Europas

Die EU-China-Freundschaftsgruppe

Der britische 48 Group Club

Die Bekehrung Italiens

Die Verwicklung der französischen Elite

Chinas Freunde in Deutschland

5 POLITISCHE ELITEN IN DER PERIPHERIE

Beeinflussungsarbeit auf subnationaler Ebene

Der kuriose Fall von Muscatine

Formbare Bürgermeister

Unterstützung für die »Neue Seidenstraße« in der deutschen »Peripherie«

Städtepartnerschaften

6 DAS WIRTSCHAFTSKONGLOMERAT DER PARTEI

Die Partei und die Unternehmen

Genosse Milliardär

Amerikas »globalistische Milliardäre«

Die Prinzlinge der Wall Street

Die KPCh in der Londoner City

Wie die Wahrnehmung der Wirtschaftslage geformt wird

Yi shang bi zheng: Die Wirtschaft einsetzen, um die Regierung unter Druck zu setzen

Die Seidenstraßenstrategie

Die Seidenstraßen-Initiative als Instrument der Diskurssteuerung

7 DIE MOBILISIERUNG DER CHINESISCHEN DIASPORA

Qiaowu: Personen chinesischer Herkunft als Ziel der Einheitsfrontarbeit

Die Einheitsfront: Modus operandi und Strukturen

Einschüchterung und Schikane

Huaren canzheng

Huaren canzheng in Großbritannien

8 DIE ÖKOLOGIE DER SPIONAGE

Beeinflussen und spionieren

Die chinesischen Geheimdienste

Rekrutierungsmethoden

Think Tanks und Forschungseinrichtungen

»Tausend Talente«

Berufsverbände

Wissenschaftler der Volksbefreiungsarmee an westlichen Universitäten

Cyberattacken und Beeinflussungsoperationen

Der Fall Huawei

9 MEDIEN: »UNSER NACHNAME IST PARTEI«

Der Mediendiskurs

Die Partei steht über allem

Eine Medienweltmacht

Westliche Experten übernehmen die Feinabstimmung der KPCh-Propaganda

Die »Große Firewall« überwinden

Boote borgen

Kooperationsvereinbarungen

Chinesischsprachige Medien

Boote kaufen

Selbstzensur ausländischer Medien

10 DIE KULTUR ALS SCHLACHTFELD

Politische Kultur

Poly Culture

Die China Arts Foundation

Kulturelle Monopolisierung

Die Unterdrückung von kultureller Abweichung

Film- und Theaterzensoren

Das »marxistische Verständnis von Kunst und Kultur«

11 DENKFABRIKEN UND MEINUNGSFÜHRER

»Das Essen der KPCh genießen«

Die Hongkong-Connection

Das Geld des Parteistaats wirkt in Brüssel

Andere Formen des Drucks

Meinungsmacher

Die Expansion der Partei-Denkfabriken im Inland

12 GEDANKENMANAGEMENT: DER EINFLUSS DER KPCH AUF DIE WESTLICHE AKADEMISCHE WELT

Die Universitäten als politisches Schlachtfeld

Konfuzius-Institute

Direkter Druck

Selbstzensur

Finanzielle Abhängigkeit

Die Umgestaltung der China-Forschung

Universitätskooperation

Akademische Publikationen

13 DER UMBAU DER GLOBALEN ORDNUNG

Der »Vorreiter des Multilateralismus«

Die Sinisierung der Vereinten Nationen

Die Verdrängung Taiwans von der internationalen Bühne

Die Globalisierung des Polizeistaats

Der Export der chinesischen Definition von »Terrorismus«

Der Aufbau paralleler und pseudo-multilateraler Organisationen

Menschenrechte mit chinesischen Charakteristika

Der Export von »Internetsouveränität« und Standards für neue Technologien

NACHWORT

DANK

ORGANISATION UND STRUKTUR DER EINHEITSFRONTARBEIT DER CPCH

GLOSSAR

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

ANMERKUNGEN

VORWORT ZUR DEUTSCHEN PAPERBACKAUSGABE

In den zwei Jahren, seit Die lautlose Eroberung im Mai 2020 erstmals erschienen ist, hat sich die Welt verändert. Vieles von dem, was dieses Buch beschreibt und was vorher in Deutschland und in großen Teilen Europas noch relativ lautlos und von großen Teilen der Bevölkerung unbeachtet passierte, geschah nach dem Beginn der Corona-Pandemie plötzlich lauter und aggressiver. Maskenlieferungen nach Europa wurden nicht selten von Forderungen öffentlichkeitswirksamer Danksagungen und Lob für Chinas Pandemiepolitik und sein vermeintlich schnelles Handeln begleitet. In Frankreich beschimpfte der chinesische Botschafter sein Gastland und bezeichnete einen französischen Forscher als »irre Hyäne«. Der EU-Büroleiter der China Daily, der größten englischsprachigen Zeitung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), beschimpfte Heiko Maas auf Twitter als »the fucking Maas«, nachdem dieser Joe Biden zum Wahlsieg gratuliert hatte. 1

In Deutschland kam der neue, raue Ton zumindest für einige überraschend. Über Jahrzehnte wurden die Beziehungen zu China in Deutschland mit dem beinahe religiösen Mantra »Wandel durch Handel« begründet, also der Überzeugung, unsere Geschäftsbeziehungen würden früher oder später unweigerlich zu politischer Liberalisierung und Öffnung in China führen. Obwohl nur noch sehr wenige ernsthaft an Wandel durch Handel glauben, fällt es gerade Deutschland schwer, sich von dem veralteten Modell zu verabschieden. Einige deutsche Großkonzerne, allen voran die deutsche Automobilbranche, drängen darauf, einen beschwichtigenden Kurs zu fahren und die Beziehungen mit China nicht zu belasten.

Während die Europäische Union China 2019 als Partner, Konkurrenten und Systemrivalen definierte, nahm Angela Merkel das Wort »Systemrivale« nie in den Mund. Laut Medienberichten soll Olaf Scholz Xi Jinping zugesichert haben, dass er Merkels Kurs fortsetzen 2 und die wirtschaftlichen Beziehungen zu China vertiefen möchte. Das wäre ein fataler Fehler, denn in den nächsten Jahren werden wir es mit einem China zu tun haben, das sämtliche Abhängigkeiten anderer Länder rücksichtslos nutzen wird, um eine wachsende Anzahl an kleineren und größeren Interessen durchzusetzen.

Ein Grund für das bereits jetzt deutlich aggressivere Verhalten ist die Überzeugung in der KPCh, dass sich durch die Corona-Pandemie das Kräfteverhältnis zwischen China und dem Westen noch einmal deutlich verschoben hat. Während die USA und Europa am Boden liegen und die Welt im Chaos versinkt, ist China gestärkt aus der Pandemie hervorgegangen. So will es zumindest das offizielle Narrativ der Partei. Unter diesen Umständen hat das Land es nicht mehr nötig, seine eigene Stärke zu verstecken. Das haben gerade in den letzten zwei Jahren viele andere Länder bereits zu spüren bekommen.

In Hongkong nutzte die chinesische Regierung es zu ihren Gunsten, dass die Welt mit sich selbst und der Pandemie beschäftigt war, um im Rekordtempo ein neues Nationales Sicherheitsgesetz zu verabschieden, das Hongkongs durch einen internationalen Vertrag zugesicherten Sonderstatus komplett aushöhlt. Durch das vage formulierte, aber global geltende Gesetz wurde die Demokratiebewegung innerhalb kürzester Zeit zerschlagen und die Organisation einer unabhängigen Zivilgesellschaft jetzt und in der Zukunft quasi unmöglich gemacht. Prominente Aktivisten und Oppositionsführer flohen entweder ins Exil oder landeten im Gefängnis. Zwei dänische Parlamentarier sollen gegen das Gesetz verstoßen haben, indem sie ihrem Hongkonger Kollegen Ted Hui bei der Ausreise aus Hongkong geholfen hatten. Zwar müssen sie in Dänemark nicht fürchten, ausgeliefert zu werden, sollten fortan aber Ländern meiden, in denen die Gefahr einer Auslieferung nach China besteht. 3

Australien wurde von der chinesischen Regierung vor allem wirtschaftlich unter Druck gesetzt. Nachdem das Land sich für eine unabhängige Untersuchung des Ursprungs der Covid-Pandemie eingesetzt hatte, verschlechterten sich die ohnehin schon angespannten Beziehungen drastisch. Innerhalb kürzester Zeit verhängte China Sanktionen und Strafzölle gegen australischen Wein, Rindfleisch, Kohle und weitere australische Produkte. Die Zölle auf Wein wurden nur kurz, nachdem Australien einem von China geleiteten regionalen Handelsabkommen beigetreten war, erhoben. Australien reichte im Juni 2021 zwar eine Beschwerde bei der Welthandelsorganisation ein, bis diese endgültig entschieden ist, kann aber noch einige Zeit vergehen.

Ein extremeres Beispiel wirtschaftlicher Erpressung erlebt Litauen. Das baltische Land entschied sich im Sommer 2021, die de fakto Botschaft Taiwans unter dem Namen »Taiwanesische Repräsentanz in Litauen« zu eröffnen. Der Name wiederum gefiel Beijing nicht. Weil Litauen nur geringfügig von Chinas Markt abhängig ist, musste der chinesische Parteistaat kreativ werden. Zunächst verschwand der Eintrag für Litauen bei der chinesischen Behörde für Import und Export, so dass litauische Waren nicht mehr nach China geliefert und Exporte nicht mehr nach Litauen versandt werden konnten. Kurz darauf begann China, Druck auf internationale, auch auf deutsche Firmen auszuüben, keine Produkte aus Litauen mehr in ihren Lieferketten zu verwenden. Ansonsten riskierten sie, dass ihnen der Zugang zum chinesischen Markt verwehrt blieb.

Die KPCh versucht damit nichts Geringeres, als ein europäisches Land vom globalen Handel auszuschließen. Die Reaktion – zumindest aus Teilen – der deutschen Industrie war enttäuschend: In einem Brief an den litauischen Außenminister schrieb die Deutsch-Baltische Handelskammer, deutsche Investoren müssten gegebenenfalls Fabriken in Litauen schließen, sollte es dem Land nicht gelingen, die Wirtschaftsbeziehungen mit China wiederherzustellen. 4 Dass deutsche Unternehmen sich von der chinesischen Regierung instrumentalisieren lassen und dabei helfen, ein europäisches Nachbarland unter Druck zu setzen, verdeutlicht, wie stark das Prinzip des Wandels durch Handel sich bereits umgekehrt hat. Deutschland beginnt sich zu wandeln – und zwar zum Negativen.

In Deutschland wird, wenn es um die Einflussnahme der KPCh geht, gerne mit dem Finger auf Ost- und Südeuropa gezeigt. Einige Länder, allen voran Ungarn, verbauen der EU tatsächlich immer wieder Möglichkeiten, eine deutlichere Sprache zum Thema China zu sprechen. Dies sollte nicht kleingeredet werden. Im April 2021 blockierte Ungarn eine EU-Stellungnahme zu Hongkongs Nationalem Sicherheitsgesetz. 5 Trotzdem ist die auf wirtschaftliche Interessen ausgerichtete deutsche Chinapolitik in Europa ein Problem, auch weil die großen Länder wie Deutschland und Frankreich in der europäischen Chinapolitik den Ton angeben.

Wenn China sich wütend gibt, reagieren viele immer noch instinktiv beschwichtigend und suchen die Schuld bei anderen. Ein relativ häufiges Argument ist: Solange man sich an Chinas »rote Linien« halte, ließe sich Eskalation vermeiden. Das Problem mit dieser Sichtweise ist jedoch nicht nur, dass Chinas rote Linien bereits an sich schon inakzeptabel sind, sondern auch dass sie nicht klar definiert sind und sich immer mehr ausweiten. Was noch vor ein paar Jahren »nur« Fragen wie Taiwan, Tibet und Menschenrechtspolitik beinhaltete, umfasst heute bereits, wie über Xi Jinping, Chinas Wirtschaft, Hongkongs Wahlen oder die Pandemie gesprochen wird.

Zum Beispiel auch die Frage, ob man in seinem Unternehmen Zwangsarbeit unterstützen möchte oder nicht. Im März 2021 wurde das schwedische Unternehmen H&M über Nacht vom chinesischen Markt getilgt. In einer vom Parteistaat angeführten Kampagne wurde zum Boykott gegen H&M aufgerufen. Das Unternehmen verschwand aus Online-Shops, und Filialen waren plötzlich auf chinesischen Karten nicht mehr auffindbar. 6 Der Grund war eine Stellungnahme auf H&Ms Webseite, in der das Unternehmen angekündigt hatte, keine Baumwolle mehr aus der Region Xinjiang im Nordwesten Chinas zu beziehen. Die Entscheidung erfolgte aufgrund von Bedenken gegen Zwangsarbeit in dieser Region, gleichzeitig ist es für Unternehmen nahezu unmöglich, die genauen Umstände vor Ort zu überprüfen.

Aus all diesen Gründen ist es dringend notwendig, dass Deutschland den Chinakurs der Ära Merkel nicht fortsetzt, sondern einen besseren Ansatz findet. Trotz einiger bedauerlicher Signale der neuen Regierung unter Scholz ist dies nach wie vor möglich. Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition sieht vor, Deutschlands strategische Abhängigkeiten von China zu reduzieren. Damit dürften jene Bereiche gemeint sein, in denen eine Abhängigkeit Deutschland im Krisenfall ernsthaft schaden könnte, zum Beispiel bei medizinischer Schutzkleidung, wie in der Corona-Krise deutlich wurde, aber zum Beispiel auch bei zentralen Bestandteilen globaler Wertschöpfungsketten.

Abhängigkeiten zu reduzieren heißt nicht, alle Kontakte zu China abzubrechen. Es bedeutet auch nicht eine vollständige wirtschaftliche Entkopplung, wie manchmal fälschlicherweise behauptet wird, um diese Option besonders abschreckend erscheinen zu lassen. Aber es heißt durchaus, dass wir genauer prüfen müssen, in welchen Bereichen wir von China abhängig sind. Wir werden feststellen, dass diese Abhängigkeiten an manchen Stellen um einiges geringer sind, als häufig behauptet wird. Andernorts gibt es sie durchaus. Dort, wo sie von der KPCh genutzt werden können, um Deutschland wirtschaftlich zu erpressen, müssen sie durch Diversifikation, so gut es geht, reduziert werden. Das ist nicht einfach und kann nicht über Nacht geschehen, aber andere Länder wie Japan und Taiwan, die viel stärker von China abhängig sind als Deutschland, haben dies durch partielle Verlagerung ihrer Produktion in andere Länder, Diversifizierung von Lieferketten und verstärkte Kontakte zu anderen Nachbarländern bereits erfolgreich getan.

Auch Deutschland wird dies in den kommenden Jahren tun müssen. Nur so können wir uns gegen die großen Herausforderungen der nächsten Jahre wappnen.

Mareike OhlbergBerlin, im Januar 2022

VORWORT

Die beruhigende Vorstellung, die demokratischen Freiheitsrechte hätten die Geschichte auf ihrer Seite und würden sich am Ende überall durchsetzen, ist stets von Wunschdenken gefärbt gewesen. Die weltweiten Entwicklungen in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten haben gezeigt, dass wir diese Freiheiten nicht länger als selbstverständlich betrachten können. Die universellen Menschenrechte, die demokratische Entscheidungsfindung und die Rechtsstaatlichkeit haben mächtige Feinde, und der vermutlich bedrohlichste dieser Feinde ist China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei. Die KPCh verfolgt ein ambitioniertes, gut geplantes Programm zur weltweiten Einflussnahme und Einmischung und kann gewaltige wirtschaftliche und technologische Ressourcen einsetzen, um ihr Vorhaben zu verwirklichen. Tatsächlich sind die groß angelegte Kampagne zur Unterwanderung der Institutionen in westlichen Staaten und die Versuche, die Eliten dieser Länder an China zu binden, sehr viel weiter fortgeschritten, als die Parteiführung selbst erwartet haben dürfte.

Die demokratischen Institutionen und die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete internationale Ordnung haben sich als überraschend zerbrechlich erwiesen und sind verwundbar durch die neuen Waffen der politischen Kriegführung, die heute gegen sie eingesetzt werden. Die Kommunistische Partei Chinas nutzt gezielt die Schwächen der demokratischen Systeme, um diese zu untergraben. Im Westen sträuben sich viele gegen dieses Eingeständnis, aber die Demokratien müssen dringend ihre Widerstandskraft erhöhen, wenn sie überleben wollen.

Die von der KPCh ausgehende Bedrohung wirkt sich auf das Recht aller Menschen aus, ein Leben ohne Furcht zu führen. Viele Chinesen in westlichen Ländern sowie Tibeter, Uiguren, Anhänger von Falun Gong und Demokratieaktivisten in Hongkong sind bereits heute den Repressionsmaßnahmen des chinesischen Regimes direkt ausgesetzt und führen ein Leben in ständiger Angst. Regierungen, akademische Einrichtungen und Manager fürchten sich vor finanziellen Repressalien, sollten sie das Regime in Beijing verärgern. Diese Furcht ist ansteckend und wirkt zersetzend. Sie darf nicht zu dem normalen Preis werden, den Länder für ihren Wohlstand bezahlen müssen.

Betroffen sind sämtliche westlichen Demokratien. Durch den nur halbherzigen Widerstand ermutigt, setzt das chinesische Regime die Taktiken von Zwang und Einschüchterung gegen eine wachsende Zahl von Gruppen ein. Selbst für jene, die die harte Hand der KPCh nicht direkt fühlen, ändert sich die Welt, weil China seine autoritären Normen überall auf den Globus exportiert.

Wenn sich in westlichen Ländern Verleger, Filmemacher und Theaterdirektoren entschließen, Äußerungen zu zensieren, weil diese »die Gefühle des chinesischen Volkes verletzen« könnten, wird die Meinungsfreiheit unterdrückt. Wenn ein Tweet Beijing missfällt, kann das eine Person ihren Arbeitsplatz kosten. Wenn Universitätsverwaltungen Lehrkräfte drängen, sich mit Kritik an der KPCh zurückzuhalten, oder Vorträge des Dalai Lama auf ihrem Campus unterbinden, wird die Freiheit von Forschung und Lehre untergraben. Wenn buddhistische Organisationen Xi Jinping Treue geloben und in Kirchengemeinden Spione des chinesischen Regimes platziert werden, ist die Religionsfreiheit bedroht. Der wuchernde chinesische Überwachungsstaat, zu dessen Maßnahmen auch das Eindringen in die Privatsphäre im virtuellen Raum und der Einsatz chinesischer Bürger zählen, die bei legalen Kundgebungen die Teilnehmer filmen, verletzt massiv die persönlichen Freiheitsrechte. Die Demokratie selbst wird attackiert, wenn mit der KPCh verbundene Organisationen und Strohmänner der Partei politische Repräsentanten in anderen Ländern korrumpieren und wenn Beijing einflussreiche Wirtschaftslobbys in anderen Ländern einsetzt, um seine Ziele zu erreichen.

Das Was, Warum und Wie der von der KPCh praktizierten Einflussnahme, Einmischung und Subversion in Nordamerika und Westeuropa (im Folgenden meist als »der Westen« bezeichnet) ist Thema dieses Buches. Die Aktivitäten des chinesischen Regimes in Australien (die in Silent Invasion genau beschrieben sind) und Neuseeland werden gelegentlich erwähnt. Es ist jedoch wichtig, dass wir uns bewusst machen, worin das eigentliche Ziel der KPCh besteht: Sie will die gesamte Welt neu ordnen, und während ihr Vorgehen in verschiedenen Weltregionen unterschiedliche Formen annimmt, hat die Erfahrung des Westens große Ähnlichkeit mit der von Ländern rund um den Erdball. Es gibt kaum ein Land, das nicht Ziel groß angelegter Offensiven ist, von Samoa bis zu Ecuador, von den Malediven bis zu Botsuana. Der Einfluss der KPCh im Globalen Süden bedarf dringend einer genauen Analyse und öffentlichen Diskussion, aber das würde den Rahmen dieses Buches sprengen.

Die KPCh setzt alles daran, die chinesische Bevölkerung und die Menschen in aller Welt davon zu überzeugen, dass sie für das gesamte chinesische Volk spricht. Sie nimmt für sich die Deutungshoheit in Bezug auf sämtliche Aspekte des chinesischen Lebens in Anspruch und beharrt darauf, dass Chinesen, wo immer sie leben und wer immer sie sind, ihr Land nur lieben können, wenn sie die Partei lieben. Sie behauptet, dass die Partei das Volk ist; folglich ist jede Kritik an der Partei ein Angriff auf das chinesische Volk.

Es ist irritierend, dass so viele Menschen im Westen darauf hereinfallen und jene, die das in China herrschende Regime kritisieren, als Rassisten oder Chinahasser abstempeln. Indem sie das tun, verteidigen sie nicht das chinesische Volk, sondern bringen jene Chinesen, die das Regime der KPCh ablehnen, sowie die von diesem Regime verfolgten ethnischen Minderheiten zum Schweigen oder drängen sie an den Rand. Im schlimmsten Fall werden diese Personen sogar selbst zu Erfüllungsgehilfen der Partei. In diesem Buch unterscheiden wir daher ausdrücklich zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und dem chinesischen Volk. Wenn wir das Wort »China« verwenden, bezeichnen wir damit die von der KPCh beherrschte politische Einheit, so wie jemand sagen würde, dass »Kanada«, also die kanadische Regierung, für eine in den Vereinten Nationen eingebrachte Resolution gestimmt hat.

Die Gleichsetzung von Partei, Nation und Volk führt zu einer Vielzahl von Missverständnissen, und genau das ist die Absicht der KPCh. Das hat unter anderem zur Folge, dass chinesischstämmige Gemeinden im Ausland von manchen als Feind betrachtet werden, obwohl oft gerade sie Opfer der KPCh sind, wie wir sehen werden. Sie sind oft sehr gut über die Aktivitäten der Partei im Ausland informiert, und viele von ihnen wollen dazu beitragen, den Einfluss der KPCh zurückzudrängen.

Die Unterscheidung zwischen Partei und Volk ist ebenfalls von zentraler Bedeutung, wenn wir begreifen wollen, warum der Wettbewerb zwischen China und dem Westen kein »Zusammenstoß zwischen Zivilisationen« ist, wie mancherorts behauptet wird. Wir haben es nicht mit einem fremdartigen konfuzianischen »Wesen« zu tun, sondern mit einem autoritären Regime, mit einer leninistischen Partei samt Zentralkomitee, Politbüro und Generalsekretär, die über gewaltige wirtschaftliche, technologische und militärische Ressourcen verfügt. Der eigentliche Wettbewerb ist jener zwischen den repressiven Wertvorstellungen und Praktiken der KPCh und den in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen festgeschriebenen Freiheitsrechten: der Redefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Religions- und Glaubensfreiheit, der Freiheit von Verfolgung, dem Recht auf Privatsphäre und Gleichheit vor dem Gesetz. Die KPCh lehnt alle diese Rechte in Worten oder Taten ab.

Völker, die in nächster Nachbarschaft Chinas leben, verstehen das sehr viel besser als die meisten Menschen im Westen. Diese unmittelbare Kenntnis des chinesischen Regimes löste die jüngsten Proteste in Hongkong aus und führte im Jahr 2020 zur Wiederwahl von Präsidentin Tsai Ing-wen in Taiwan. Ihr überwältigender Wahlsieg bedeutete in erster Linie, dass das taiwanesische Volk die Wahlurnen nutzte, um Nein zur KPCh zu sagen.

Ein Teil der Linken im Westen sucht nach Gründen, um die Augen vor der wahren Natur von Chinas Regierung unter Xi Jinping verschließen zu können. Die Linken verstehen sich historisch als Verteidiger der Unterdrückten, aber einige haben dabei aus den Augen verloren, dass der Totalitarismus die Menschenrechte erstickt. Doch die Besorgnis angesichts der Aktivitäten der KPCh macht nicht an den parteipolitischen Grenzen halt. Zum Beispiel haben Demokraten und Republikaner im US-Kongress ein Bündnis geschlossen, um Beijing die Stirn zu bieten. Ähnliches ist in Europa zu beobachten. Trotz zahlreicher Meinungsverschiedenheiten sind sich viele auf der Linken und auf der Rechten darin einig, dass China unter der KPCh eine Bedrohung nicht nur für die Menschenrechte, sondern auch für die nationale Souveränität ist.

Die Gründe dafür, dass so viele Menschen im Westen die von der KPCh ausgehende Gefahr herunterspielen oder leugnen, sind eines der zentralen Themen dieses Buches. Ein Grund ist natürlich finanzielles Interesse. Wie Upton Sinclair sagte: »Es ist schwer, jemanden dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht.« Ein anderer Grund ist der aus sowjetischen Zeiten bekannte »Whataboutism«, der insbesondere von einigen Linken praktiziert wird. Die Argumentation geht so: Mag sein, dass in China einiges im Argen liegt, aber was ist mit den Vereinigten Staaten? Diese Taktik funktioniert mit Donald Trump im Weißen Haus besser, aber was auch immer man historisch und in der Gegenwart an den Vereinigten Staaten und ihrer Außenpolitik kritisieren kann – und wir sind überzeugte Kritiker –, diese Kritik kann die extremen Menschenrechtsverletzungen und die Unterdrückung der Freiheitsrechte durch das Regime der KPCh nicht relativieren oder entschuldigen.

Trotz all ihrer Fehler gibt es in der amerikanischen Demokratie sowie in allen demokratischen Ländern weiterhin eine funktionierende Opposition und Wahlen, die einen Regierungswechsel herbeiführen können. Es gibt vom Staat unabhängige Gerichte, vielfältige Medien, die frei berichten können und die Regierung oft hart kritisieren, und es gibt eine starke Zivilgesellschaft, die sich gegen Unrecht zur Wehr setzen kann. In China gibt es unter der Herrschaft der KPCh nichts von alledem. Die autokratischen Neigungen einiger Politiker in westlichen Demokratien sind tatsächlich beunruhigend, aber sie werden durch das System im Zaum gehalten, in dem sich diese Politiker bewegen. Für Xi Jinpings autokratische Impulse gibt es keine Einschränkungen, vor allem nicht, seit er und seine Verbündeten den politischen Konsens außer Kraft gesetzt haben, der den Aufstieg eines weiteren »großen Vorsitzenden« wie Mao Zedong verhindern sollte. Obwohl also im Westen und in den Demokratien im Allgemeinen einiges im Argen liegt, ist das von der KPCh angebotene politische Modell nicht die Lösung für die Probleme.

Unwissenheit ist eine weitere Erklärung dafür, dass es den westlichen Gesellschaften schwerfällt, die Bedrohung durch die KPCh richtig einzuschätzen. Dazu kommt, dass der Westen noch nie mit einem solchen Gegner konfrontiert war. Im Kalten Krieg unterhielt kein einziges westliches Land eine enge wirtschaftliche Beziehung zur Sowjetunion. Im Wissen um die wirtschaftliche und strategische Bedeutung Chinas versuchen viele Länder, mehr über das Land herauszufinden, während Beijing große Summen in das Vorhaben investiert, dem Westen dabei zu helfen, »China besser zu verstehen«. Es mag den Anschein haben, dass es vernünftig ist, Information direkt aus der Quelle zu beziehen, aber wie wir sehen werden, ist das in Wahrheit ein schwerer Fehler.

1 EIN ÜBERBLICK ÜBER DIE BESTREBUNGEN DER KPCH

Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ist entschlossen, die internationale Ordnung zu verändern und die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Anstatt andere Länder von außen anzugreifen, sucht die Partei Verbündete, bringt Kritiker zum Schweigen und unterwandert westliche Institutionen, um den Widerstand gegen ihr Machtstreben von innen zu schwächen.

Politische Analysten auf beiden Seiten des Atlantik grübeln noch immer über die Frage, ob China als »Widersacher« oder sogar als »Feind« einzustufen ist, aber die KPCh hat diese Frage für sich selbst bereits vor 30 Jahren beantwortet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah sich das kommunistische China von Feinden umringt, die es neutralisieren oder besiegen musste. Während die KPCh und ihre Verbündeten im Westen gerne von einem »neuen Kalten Krieg« gegen China sprechen, führt die Partei seit Langem einen ideologischen Krieg gegen »feindliche Kräfte«. Für die KPCh hat der Kalte Krieg nie geendet.

Die Partei will Bündnisse umformen und die Vorstellung der Welt von China umgestalten, um ihre Herrschaft daheim abzusichern, ihren globalen Einfluss zu erhöhen und China langfristig zur wichtigsten globalen Macht zu machen. Wie die KPCh das zu tun gedenkt, hat sie in Reden und Dokumenten ausführlich erklärt. Die Strategie zur Umsetzung des Vorhabens sieht vor, Einfluss auf die westlichen Eliten zu nehmen, damit sie Chinas Vormachtstellung entweder begrüßen oder sich mit der Unvermeidlichkeit seiner Hegemonie abfinden. In einigen Ländern ist die Mobilisierung der Vermögen und des politischen Einflusses der Auslandschinesen ein zentraler Bestandteil dieser Strategie. Gleichzeitig sollen kritische Stimmen in der Diaspora zum Schweigen gebracht werden.

Gestützt auf seine gewaltige wirtschaftliche Macht, übt China diplomatischen Druck aus, wendet Überredungskunst an, betreibt Einheitsfront-Politik und »Freundschaftsarbeit« und manipuliert Medien, Denkfabriken und Universitäten, wobei diese Taktiken einander überschneiden und gegenseitig verstärken. Manche Leute behaupten, dass sich Beijings Versuche, rund um die Welt Einfluss zu nehmen, nicht vom Verhalten aller anderen Länder abheben, doch während nicht alles, was die KPCh tut, einzigartig ist, unterscheidet sich ihr Vorgehen erheblich von den normalen diplomatischen Aktivitäten anderer Länder, nämlich durch ein hohes Maß an Organisation und die ausgeprägte Bereitschaft, Zwang auszuüben.

Als größte Fabrik und zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist China ein Magnet für ausländische Unternehmen und viele westliche Politiker. Ausländische Industrien sind auf Zugang zum riesigen chinesischen Markt angewiesen, und Beijing ist bereit, diese Abhängigkeit als politische Waffe einzusetzen. Um es mit den Worten eines Beobachters zu sagen:

Wenn du nicht tust, was die politische Führung in Beijing will, wird sie dich wirtschaftlich bestrafen. Sie setzt Politikern in aller Welt wirtschaftliche Daumenschrauben an. Das tut sie seit Jahren, und es funktioniert. 1

Gelegentlich zieht Beijing die Daumenschrauben ganz unverhohlen an. Beispielsweise stellte China den Import von kanadischen Sojabohnen, Raps und Schweinefleisch ein, nachdem die Huawei-Managerin Meng Wanzhou im Dezember 2018 in Kanada verhaftet worden war. Nachdem Dissident Liu Xiaobo 2010 in Oslo den Friedensnobelpreis verliehen bekam, verschärfte die chinesische Regierung die Importkontrollen für norwegischen Lachs und ließ Tonnen an Fisch vor der chinesischen Küste verrotten. Noch drastischer reagierte Beijing, als Südkorea im Jahr 2017 in Reaktion auf das aggressive Verhalten des nordkoreanischen Regimes mit der Installation eines amerikanischen Raketenabwehrsystems begann: Zu den 43 chinesischen Vergeltungsmaßnahmen zählten ein Verbot von Urlaubsreisen nach Südkorea, die Verbannung eines koreanischen Industriekonglomerats aus China sowie ein Bann über K-Pop-Stars und die Blockade von Elektronik- und Kosmetikimporten. 2 Die Strafmaßnahmen gegen Südkorea waren noch im Oktober 2019 in Kraft, als die chinesische Führung der renommierten Eastman School of Music an der University of Rochester drohte, eine China-Tour des Orchesters der Musikhochschule platzen zu lassen, wenn nicht drei südkoreanische Studenten aus dem Orchester verbannt würden. 3 Mit der Begründung, eine Absage der Konzerttour werde Eastmans Ansehen in China schweren Schaden zufügen, erklärte sich der Dekan der Musikhochschule bereit, die Koreaner nicht mitzunehmen. Erst nach wütenden Protesten von Studenten und ehemaligen Absolventen entschloss sich Eastman schließlich dazu, die China-Tour abzusagen. 4

Als Daryl Morey, der Geschäftsführer des Basketballteams der Houston Rockets, Ende des Jahres 2019 in einem Tweet seine Unterstützung für die Demonstranten in Honkong bekundete, reagierte Beijing sofort. 5 (Die Flut kritischer Stimmen auf Twitter stammte offenbar von Trollen und falschen Konten in China. 6 ) Die Übertragungen der Spiele der Houston Rockets in China, wo der Club eine große Fangemeinde hat, wurden eingestellt. Sponsoren zogen sich zurück. Beijing beschuldigte Morey, er habe »die Gefühle des chinesischen Volkes verletzt«. Das Chinesische Zentralfernsehen CCTV definierte die Meinungsfreiheit neu und erklärte, sie schließe »Anfechtungen der nationalen Souveränität und der gesellschaftlichen Stabilität« aus. 7 In dem verzweifelten Bemühen, ihren wachsenden Markt in China zu retten, veröffentlichte die NBA eine kriecherische Entschuldigung, die sich las, als sei sie von der Propagandaabteilung der KPCh verfasst worden. 8 Dies ist kein Einzelfall. Nachdem sich Mesut Özil öffentlich gegen die Verfolgung der uigurischen Minderheit in China ausgesprochen hatte, distanzierte sich der britische Fußballclub Arsenal sofort. Die Übertragung von Arsenal-Spielen im chinesischen Fernsehen wurde trotzdem gestrichen, und Özil schlug eine Welle des Hasses entgegen.

Wenige extrem harte Strafen genügen, um Furcht zu verbreiten, und im Allgemeinen beschränkt sich die chinesische Führung auf unbestimmte Drohungen, die dementiert werden können. Auf diese Art werden diejenigen, gegen die sich die Drohungen richten, im Ungewissen gehalten. Perry Link erklärt, dass vage Drohungen einer größeren Zahl von Menschen Angst machen, weil niemand ausschließen kann, selbst Adressat der Drohung zu sein, was dazu führt, dass all jene, die sich angesprochen fühlen, »breiter gefächerte Aktivitäten einschränken«. 9

China hat sich zum Meister der dunklen Kunst der wirtschaftlichen Hypnose gemausert. Dass ihm das gelungen ist, liegt zum Teil daran, dass sich die westlichen Länder in den letzten Jahrzehnten dagegen gesträubt haben, den Freihandel aus politischen Gründen zu behindern. Deshalb reagierte die Welt geschockt, als Donald Trump im Jahr 2018 einen Handelskrieg mit China anzettelte. Trumps Irrtümer sind zahlreich, aber er hat recht, wenn er sagt, dass Beijing systematisch – und ungestraft – gegen die Prinzipien des globalen wirtschaftlichen Austauschs verstößt.

Das gewaltige Infrastrukturprogramm, das Beijing unter dem Namen »Belt and Road Initiative« (im Deutschen meist als »Neue Seidenstraße« oder »Seidenstraßen-Initiative« übersetzt) vorantreibt, ist das vollkommenste Werkzeug der wirtschaftlichen Staatskunst – oder besser: der wirtschaftlichen Erpressung. Die Seidenstraßen-Initiative bietet der chinesischen Bauindustrie ein riesiges Betätigungsfeld und ermöglicht es dem Land, seine Kapitalreserven einzusetzen. Gleichzeitig bringt die Initiative vielen Staaten, die unter Kapitalmangel leiden und keinen Zugang zu den herkömmlichen Finanzierungsquellen haben, dringend benötigte Investitionen. Vielen Regierungen fällt es schwer, das Angebot zinsgünstiger Kredite auszuschlagen, vor allem wenn sie nicht mit Umweltschutzvorgaben und anderen Bedingungen verknüpft sind. 10

Doch die Ziele der Seidenstraßen-Initiative sind keineswegs darauf beschränkt, ein Einsatzgebiet für chinesische Kapitalüberschüsse zu finden oder die wirtschaftliche Entwicklung ärmerer Länder zu fördern: Die »Neue Seidenstraße« ist Beijings wichtigstes Instrument zur geopolitischen Neuordnung. Eine genaue Analyse chinesischsprachiger parteiinterner Dokumente zeigt, dass die chinesischen Analysten »sowohl in diplomatischen als auch in militärischen Publikationen offen darüber sprechen, die Auslandshilfe und die Seidenstraßen-Initiative als Vorwand für die Verfolgung der großen Strategie Chinas zu verwenden«. 11 Xi Jinpings wichtigstes Vorhaben ist mittlerweile so eng mit fast allen Auslandsaktivitäten des chinesischen Staates – seien sie kommerzieller, technologischer, akademischer oder kultureller Art – verknüpft, dass es nicht mehr von der übergeordneten diplomatischen Ausrichtung der Volksrepublik getrennt werden kann.

Xi Jinping hat die Seidenstraßen-Initiative wiederholt als unverzichtbaren Bestandteil seiner Vision von einer »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit« bezeichnet. 12 Die Idee mag in westlichen Ohren gut klingen, aber ihr Ziel ist jene sino-zentrische Welt, von der die Falken träumen, die Xi in die Parteiführung geholt hat. Diese betrachten eine von China dominierte Weltordnung als einen essentiellen Bestandteil der »großen Wiederauferstehung des chinesischen Volkes«. 13

Die Seidenstraßen-Initiative ist also das wichtigste Instrument Beijings für die Neugestaltung der internationalen Ordnung. 14 In einer aufschlussreichen Rede beschrieb Qiao Liang, ein Militärstratege und ehemaliger Generalmajor der Volksbefreiungsarmee die Seidenstraßen-Initiative als Vehikel, das China eine Vormachtstellung gegenüber den Vereinigten Staaten sichern solle. Die »Neue Seidenstraße« steht für Chinas neue und unwiderstehliche Form der Globalisierung, deren Erfolg daran gemessen werden wird, ob der Renminbi den Dollar als globale Leitwährung verdrängen kann, womit die Position der Vereinigten Staaten »ausgehöhlt« würde. 15 Qiao gehört in China zu den aggressiveren Meinungsmachern, aber aus der geostrategischen Logik der Seidenstraßen-Initiative wird auch anderswo kein Hehl gemacht. Beispielsweise geht aus dem geleakten Protokoll einer chinesisch-malaysischen Verhandlung über BRI-Projekte hervor, trotz der »politischen Natur« des Vorhabens müsse es gegenüber der Öffentlichkeit als marktorientiert dargestellt werden. 16

Die »Neue Seidenstraße« wird gerne als »gewaltiges« Vorhaben bezeichnet, und als der chinesische Spitzendiplomat Yang Jiechi im April 2019 erklärte, die Seidenstraßen-Initiative spiele »keine kleinen geopolitischen Spielchen«, sagte er die Wahrheit. 17 Nayan Chanda, der ehemalige Herausgeber der Far Eastern Economic Review, beschreibt die Seidenstraßen-Initiative als »offenen Ausdruck von Chinas Machtanspruch im 21. Jahrhundert«. 18 Beijings Ziel ist es, die globale geopolitische Landschaft umzugestalten. So wie andere von der chinesischen Regierung aufgebaute »Parallelinstitutionen«, darunter die Asiatische Infrastrukturinvestitionsbank, gibt die Seidenstraßen-Initiative vor, keine Herausforderung für die bestehenden Institutionen darzustellen. Ziel ist jedoch, die Interessen der beteiligten Länder Schritt für Schritt neu auszurichten und das globale Machtgleichgewicht zu verschieben. Ein Schlüsselbestandteil der Vorstellungen der KPCh von der globalen und regionalen Machtdynamik ist die Identifizierung eines »wesentlichen Widerspruchs« und eines »Hauptfeindes«, gegen den gemeinsam Front gemacht werden soll. Auf globaler Ebene sind dies die Vereinigten Staaten, die von ihren Verbündeten abgekoppelt und isoliert werden müssen.

Der Brexit, die Uneinigkeit in der Europäischen Union und der Wahlsieg Donald Trumps haben Beijing eine strategische Chance eröffnet, die transatlantische Allianz zu schwächen und die europäische Einheit weiter zu untergraben. Nachdem die KPCh Europa lange Zeit als im Wesentlichen irrelevanten Juniorpartner der Vereinigten Staaten betrachtete, hat Beijing in diesem Kontinent mittlerweile ein wertvolles Ziel erkannt. Indem es Europa auf seine Seite zieht, hofft China die Welt davon zu überzeugen, dass es der »Vorreiter des Multilateralismus« und ein dringend erforderliches Gegengewicht zum Unilateralismus der amerikanischen Hegemonialmacht ist. 19 Beijing will europäische Unterstützung für die von China geleiteten Initiativen in den Entwicklungsländern mobilisieren – oder zumindest dafür sorgen, dass die öffentliche Kritik daran verstummt. (Obwohl wir uns in diesem Buch nicht damit beschäftigen, verfolgt China in anderen Teilen der Welt ähnliche Strategien, um bestehende Allianzen zu spalten.)

Trotz all der Medienberichte über »Schuldendiplomatie«, »globale Konnektivität« und »beiderseitig vorteilhafte Kooperation« zeigt sich bei der »Neuen Seidenstraße« klar, dass das Ziel einer strategischen Verschiebung nicht nur durch die mit dem eigentlichen Infrastrukturprogramm einhergehende politische Einflussnahme, sondern auch durch ein subtiles und mehrgleisiges Programm der globalen Meinungssteuerung erreicht werden soll. Die »Neue Seidenstraße« dient der Machtausübung, indem die Bedingungen der Debatte kontrolliert werden. (Mehr dazu in Kapitel 6.) Es reicht nicht mehr, die Diskussion über die Seidenstraßen-Initiative auf die geschäftlichen und wirtschaftlichen Aspekte zu beschränken, denn sie kommt überall zum Vorschein, vom Silk Road Think Tank Network über Medienvereinbarungen und Verbindungen zwischen Kultureinrichtungen bis zur Aufnahme von Städtepartnerschaften und »Volk-zu-Volk-Austauschprogrammen« – das alles ist häufig Teil von Absichtserklärungen zur Seidenstraßen-Initiative.

Die KPCh fürchtet sich weiterhin sehr vor der »ideologischen Infiltration« durch feindliche Kräfte, die einen Regimewechsel in China anstreben. In einem von der Zentralen Propagandaabteilung herausgegebenen Handbuch aus dem Jahr 2006 heißt es: »Wenn feindliche Kräfte versuchen, in einer Gesellschaft Verwirrung zu stiften und ein politisches Regime zu Fall zu bringen, beginnen sie stets damit, ein Loch zu öffnen, durch das sie in den ideologischen Raum eindringen können, um das Volk zu verwirren.« 20 Diese Haltung, die auf der Überzeugung beruht, die Partei befinde sich in einem Kalten Krieg mit der Außenwelt, muss man kennen, um verstehen zu können, dass die internationalen Aktivitäten der KPCh in erster Linie ein globaler Ausdruck des Bedürfnisses nach Stabilisierung des Regimes sind.

Angesichts der Gefahr einer »ideologischen Infiltration« ist die KPCh zu der Überzeugung gelangt, Angriff sei die beste Verteidigung. Wenn die Parteiführung also von ihrem Ziel spricht, die internationale Ordnung »demokratischer«, »offener« und »vielfältiger« zu machen, ist das eine verschlüsselte Beschreibung einer Ordnung, in der »autoritäre Systeme und Werte global denselben Status beanspruchen können wie liberale und demokratische«, wie es Melanie Hart und Blaine Johnson ausdrücken. 21

Im April 2016 gab die Global Times, das unverhohlen aggressive Boulevardblatt der Partei, der Leserschaft einen Hinweis auf die Geisteshaltung der KPCh, als es die zur Zensur des Internets errichtete »Große Firewall« als vorübergehende Verteidigungswaffe bezeichnete, die eingesetzt werde, um »die westlichen Versuche zur ideologischen Eroberung Chinas« zu unterbinden. 22 Hat die KPCh erst einmal die globale öffentliche Meinung manipuliert, haben ihre Werte und das politische System Chinas erst einmal weltweit Anerkennung gefunden, so werde die »Große Firewall« möglicherweise nicht mehr benötigt. Mittlerweile glaubt die Partei, einflussreich genug zu sein, um globale Konversationen ändern zu können. 23

Beijing will auch dafür sorgen, dass die Weltgemeinschaft einen Bogen um chinesische Dissidenten und Befürworter der Unabhängigkeit Taiwans macht. Das Regime will nicht nur weltweite Unterstützung für die Vorstellung, dass die KPCh die einzige Partei ist, die in der Lage ist, China zu regieren, sondern es möchte auch, dass die Welt anerkennt, dass das politische und wirtschaftliche System Chinas der westlichen Demokratie und der liberalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung überlegen ist und dass das von der KPCh beherrschte China im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten ein verantwortungsbewusster globaler Akteur ist, der das Wohl der Menschheit im Sinn hat.

Einige Beobachter sind der Meinung, der Versuch der Partei, ihre Ideologie zu exportieren, sei zum Scheitern verurteilt, aber wie wir sehen werden, ist diese Annahme zu optimistisch. Andere finden Chinas Behauptung, es sei eine verantwortungsbewusste Weltmacht, und seine Kritik an den USA mit Blick auf die Snowden-Leaks, auf den katastrophalen Fehlschlag der Irakinvasion, auf Donald Trumps Ruf nach einem Regimewechseln in Venezuela und andere Entwicklungen durchaus überzeugend. Der große Widerspruch in Trumps Präsidentschaft ist, dass er auf der einen Seite entschlossenen Widerstand gegen die Ausweitung der chinesischen Wirtschaftsmacht leistet, auf der anderen Seite jedoch die Vereinigten Staaten von ihren Verbündeten isoliert, womit diese anfälliger für die Einmischung der KPCh werden. Chinas wachsender Einfluss in Europa wird von denen, die den Vereinigten Staaten misstrauen, sowie von einigen Europaskeptikern begrüßt, die in China ein Gegengewicht zur Europäischen Union oder zu den größeren, mächtigeren Ländern des Kontinents sehen.

Andere stellen die Funktionstüchtigkeit der Demokratie infrage und äußern Bewunderung für das autoritäre Regime Chinas. Wieder andere, darunter Scharen westlicher Journalisten, die Rundreisen auf Kosten des chinesischen Staates unternehmen, sind fasziniert vom rasanten Wachstum des Landes und dem technologischen Fortschritt, wobei sie vergessen, dass andere Länder in ihrer wirtschaftlichen Aufholphase genauso schnell wuchsen und dass es die KPCh selbst war, die China mehrere Jahrzehnte an jeglichem Fortschritt hinderte. Viele im Westen wiederholen die Behauptung der kommunistischen Partei, sie habe 700 Millionen Menschen aus der Armut befreit, aber es wäre zutreffender zu sagen, dass die KPCh nach der Gründung der Volksrepublik 1949 drei Jahrzehnte lang Hunderte Millionen Chinesen in der Armut gefangen hielt; erst als die Partei den Menschen einige grundlegende Freiheiten zugestand – die Freiheit, Eigentum zu besitzen, ein Unternehmen zu gründen, den Arbeitsplatz und den Wohnort zu wechseln –, befreite sich das chinesische Volk selbst

2 EINE LENINISTISCHE PARTEI ZIEHT IN DIE WELT HINAUS

Die KPCh sieht sich in einem Kalten Krieg

Zu den bevorzugten rhetorischen Werkzeugen, mit denen der chinesische Parteistaat Kritik abzuwehren versucht, zählt der Vorwurf des »McCarthyismus« oder einer »Mentalität des Kalten Kriegs« an die Adresse seiner Gegner. Hua Chunying, eine Sprecherin des Außenministeriums, verwendet vorzugsweise den zweiten Begriff, den sie durch das ebenfalls beliebte »Nullsummendenken« ergänzt. 1 Im Jahr 2019 erklärte die nationalistische Global Times, der chinesische Telekommunikationsausrüster Huawei sei Opfer eines »Hightech-McCarthyismus« geworden. 2 Der chinesische Botschafter in Großbritannien, Liu Xiaoming, hat die amerikanischen Manöver zur Wahrung der Schifffahrtsfreiheit im Südchinesischen Meer als »Kanonenboot-Diplomatie« bezeichnet, die einer »Kalter-Krieg-Mentalität« entspringe. 3 Selbst Kritik an den schweren Menschenrechtsverstößen in China wird auf derartiges Denken zurückgeführt. 4

Der Vorwurf einer im Kalten Krieg verhafteten Denkweise wird im Westen häufig aufgegriffen. Im März 2019 warnte Susan Shirk, ehemalige Staatssekretärin im Außenministerium unter Bill Clinton, bei einem internationalen Symposium der Peking Universität vor einem drohenden »McCarthy-Wahn« in den Vereinigten Staaten angesichts einer vorgeblich von China ausgehenden »roten Gefahr«. 5 Nach Einschätzung von Shirk treibt ein »Herdeninstinkt« die Amerikaner dazu, überall chinesische Bedrohungen zu sehen, was potenziell verheerende Konsequenzen haben könne. 6

Diese Aussage ist nicht nur unglücklich, weil sie legitime Bedenken pauschal vom Tisch wischt. Sie wirkt auch widersinnig, weil kaum jemand in seinem Denken derart im Kalten Krieg gefangen ist wie die chinesische Führung selbst. Diese Mentalität wurde unter Xi Jinping noch verstärkt.

Im Dezember 2012 erklärte Xi als neuer Generalsekretär der Kommunistischen Partei in einer Rede, China dürfe trotz seines Wirtschaftswachstums die Lehren aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht vergessen. Er beschrieb insbesondere drei Fehler, die das Schicksal des sowjetischen Imperiums besiegelt hätten: Erstens habe die Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) die Kontrolle über das Militär verloren. Zweitens sei es ihr nicht gelungen, die Korruption unter Kontrolle zu bringen. Drittens habe die Partei ihre Leitideologie aufgegeben und dadurch die Fähigkeit eingebüßt, sich gegen die ideologische Infiltration durch »feindliche Kräfte im Westen« zur Wehr zu setzen. Die KPdSU habe ihren Untergang selbst verschuldet. 7

Aufmerksame Beobachter sahen in Xis Rede den ersten Hinweis darauf, dass sich die Hoffnung, er werde ein »liberaler Reformer« sein, die Öffnung Chinas vorantreiben und seine Integration in die internationale Ordnung ermöglichen, als unbegründet erweisen würde. 8

Im März 2019 veröffentlichte das maßgebliche theoretische Parteiorgan, die Zeitschrift Qiushi (»Wahrheitssuche«) einen Auszug aus einer weiteren Rede von Xi, die er im Januar 2013 vor den 300 Mitgliedern des ZK der KPCh gehalten hatte. Das Thema war die »Verteidigung und Entwicklung des Sozialismus«. Xi erklärte, das chinesische System werde letzten Endes über den Kapitalismus triumphieren, aber die Partei müsse sich auf eine »langfristige Kooperation und Auseinandersetzung zwischen den beiden Systemen« vorbereiten. Er rief den ZK-Genossen erneut in Erinnerung, einer der Hauptgründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion sei gewesen, dass die dortige Führung »die Geschichte der Sowjetunion und die Geschichte der KPdSU vollkommen verleugnet« habe. »Sie verleugnete Lenin und Stalin; sie praktizierte ›historischen Nihilismus‹ [das heißt, sie kritisierte die Vergangenheit der Partei] und beschwor ein ideologisches Chaos herauf.« 9

Das war keine bloße Rhetorik. Die KPCh ließ diesen Worten entschlossene Taten folgen. Im April 2013 bereitete das Zentralkomitee ein Kommuniqué mit dem Titel Mitteilung zur gegenwärtigen Situation in der ideologischen Sphäre vor, besser bekannt als »Dokument Nr. 9«. In dieser berüchtigten Verlautbarung, die an die hochrangigen Parteifunktionäre von der Ebene der Präfektur aufwärts verteilt wurde, waren sieben »falsche ideologische Tendenzen« beschrieben, welche die Kader nicht länger unterstützen durften: westliche konstitutionelle Demokratie, »universelle Werte«, Zivilgesellschaft, Neoliberalismus, westliche Grundsätze des Journalismus, historischer Nihilismus und Zweifel an der sozialistischen Natur des Sozialismus chinesischer Prägung. 10 Die Partei lehnte die Demokratie und die universellen Menschenrechte kategorisch ab, und auf die Verlautbarung folgten harte Repressionsmaßnahmen gegen jene, die sich in China dafür einsetzten. Das Dokument Nr. 9 war nur der Anfang einer neuen Kampagne der KPCh zur Ausrottung von Vorstellungen, die nach Ansicht der Partei ihre Macht gefährdeten. 11 Offenbar hielt sich die Partei an den Stalin zugeschriebenen Grundsatz: »Ideen sind mächtiger als Waffen. Wir würden nicht zulassen, dass sich unsere Feinde bewaffnen; warum sollten wir zulassen, dass sie Ideen haben?«

Im Oktober 2013 wurde ein interner Dokumentarfilm mit dem Titel Lautloser Wettbewerb, der vermutlich von der Nationalen Verteidigungsuniversität der Volksbefreiungsarmee produziert worden war, geleakt. 12 In dem 90-minütigen Film wurde der Vorwurf wiederholt, die Vereinigten Staaten versuchten, durch »ideologische Infiltration« einen Regimewechsel in China herbeizuführen. Beschuldigt wurden ausländische Nichtregierungsorganisationen (NRO) wie die Ford Foundation sowie angeblich von westlichem Gedankengut überzeugte chinesische Wissenschaftler, die eine »innere Bedrohung« darstellten. Nachdem der Film ins Internet gelangt war, versuchte die Global Times, die darin geäußerten Vorwürfe als Ansichten einer kleinen Gruppe nationalistischer Militärexperten darzustellen. 13 Doch die aggressiven Kampagnen gegen »heterodoxes Denken« an chinesischen Universitäten, die verstärkte Kontrolle der Medien sowie neue Gesetze wie jenes über die Tätigkeit ausländischer NRO von 2018, das das Aktivitätsfeld internationaler NRO erheblich einschränkte, entsprachen der in Lautloser Wettbewerb geäußerten Warnung, was darauf hindeutete, dass sich die Aussagen des Dokumentarfilms mit der Vorstellung der KPCh von den ideologischen Bedrohungen deckte. 14

Doch die meisten westlichen Beobachter ignorierten weiterhin die zutiefst ideologische Natur von Xis Regime, etwas, was sich nur langsam zu ändern beginnt. Im August 2017 hielt John Garnaut, ein ehemaliger Chinakorrespondent und Berater der australischen Regierung, der die Funktionsweise der KPCh gut kennt, vor hochrangigen australischen Beamten eine Rede, in der er Xis Rückkehr zu den Vorstellungen Stalins und Maos beschrieb. 15 Xi Jinping misst der Ideologie größere Bedeutung bei als seine Vorgänger, aber Garnaut wies darauf hin, dass der eigentliche Wendepunkt im Jahr 1989 erreicht wurde, als die Parteiführung von den Studentenprotesten auf dem Tiananmenplatz überrascht wurden und Gewalt einsetzte, um die Demokratiebewegung niederzuschlagen. Fünf Monate später musste die chinesische Führung mit ansehen, wie die Berliner Mauer fiel und wie sich der noch kurz zuvor so mächtig wirkende Ostblock auflöste. Die chinesischen Kommunisten begannen, sich auf die »ideologische Sicherheit« als unverzichtbaren Bestandteil der Sicherheit des Regimes zu konzentrieren. 16 Wie Anne-Marie Brady gezeigt hat, bewegten diese Geschehnisse die Partei zu einer massiven Ausweitung von Propaganda und ideologischer Arbeit. 17 Das Hauptaugenmerk lag auf der politischen Indoktrinierung daheim, die eine »patriotische Erziehung« in den chinesischen Schulen und Maßnahmen gegen das Eindringen »feindlicher Ideen« beinhaltete.

Im Jahr 1990 führte Joseph Nye das Konzept der soft power ein. 18 In den Augen der chinesischen Parteiführung bewies seine These, dass die Vereinigten Staaten vorhatten, China ideologisch zu untergraben. Auszüge aus Nyes Buch Bound to Lead wurden unverzüglich ins Chinesische übersetzt und im Januar 1992 vom Verlag für Übersetzungen im Bereich von Militärangelegenheiten veröffentlicht. Im Vorwort erklärte der Herausgeber, dass er die chinesischen Übersetzer aufgefordert habe, das Buch rasch zu übertragen, um die amerikanischen Pläne bloßzustellen. 19 Die Leser wurden darüber aufgeklärt, dass Nye vorschlage, die kulturelle und ideologische Einflussnahme auf China, die ehemalige Sowjetunion und die Dritte Welt zu intensivieren, um diese Länder dazu zu bewegen, das amerikanische Wertesystem zu übernehmen. Die Vereinigten Staaten planten, ihre globale Vormachtstellung nicht nur politisch zu festigen, sondern sie wollten die Welt auch kulturell und ideologisch dominieren; das chinesische Volk müsse verstehen, dass der Kampf gegen den amerikanischen Plan einer »friedlichen Evolution« langwierig, komplex und intensiv werden würde. 20

In der KPCh setzte sich die Vorstellung durch, China führe einen Kampf auf Leben und Tod gegen feindselige westliche Kräfte, die versuchten, das Land ins Chaos zu stürzen. Im Jahr 2000 verstieg sich Sha Qiguang, ein Funktionär aus dem Büro für Auslandspropaganda, das im Ausland unter der Bezeichnung Informationsbüro des Staatsrats bekannt ist, zu der Behauptung, der Westen habe im vergangenen Jahrzehnt einen »Dritten Weltkrieg ohne Rauch« gegen China geführt. 21 In den Augen des Regimes ist die »ideologische Subversion« keine abstrakte Gefahr: Die »Sonnenblumen-Bewegung« in Taiwan und die »Regenschirm-Bewegung« in Hongkong im selben Jahr wurden als westliche Verschwörungen zur Destabilisierung Chinas betrachtet. 22 Dasselbe gilt natürlich auch für die Proteste die in Hongkong im Jahr 2019 begannen, obwohl dort große Menschenmassen für die demokratischen Freiheitsrechte auf die Straße gingen.

Weder die Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation im Jahr 2001 noch seine zunehmende wirtschaftliche Interdependenz mit dem Westen verringerten die Angst vor ideologischer Infiltration. Die Jahre 2000 bis 2004, in denen die ersten Farbenrevolutionen in Osteuropa stattfanden, verschlimmerten die Furcht der KPCh nur noch. Die Parteiführung gab eine Reihe von Studien über den Zusammenbruch der Sowjetunion in Auftrag. 23 Im Jahr 2004 gestand sie erstmals ein, dass ihr Machterhalt nicht auf Dauer garantiert sei. Die Partei begann zu begreifen, dass sie zuverlässigere und dauerhaftere Legitimationsquellen als die Wirtschaft, die in eine Krise geraten konnte, und den Nationalismus brauchte, der sich gegen die Partei wenden konnte, wenn sie die Erwartungen des hypernationalistischen Teils der Bevölkerung nicht länger erfüllen konnte. 24

Die Parteiführung sah, dass China trotz seines wirtschaftlichen Gewichts nicht in der Lage war, die internationale Debatte zu gestalten und zu beeinflussen, wie andere Länder China, sein politisches System und seine Rolle in der Welt sahen. In der Arena der Weltöffentlichkeit, so die Einschätzung der Partei, »war der Westen stark und China schwach«. 25 Das musste geändert werden: China brauchte »Diskursmacht« (huayuquan) und ein Image, das seinem Status entsprach. 26

»Groß angelegte Außenpropaganda«

Im Jahr 1993 brachte Wang Huning, ein junger Professor an der Fudan-Universität in Shanghai, der einige Jahre früher Gastwissenschaftler an mehreren amerikanischen Hochschulen war, mit einem Artikel im Journal of Fudan University das Konzept der soft power einem größeren Kreis chinesischer Experten für internationale Beziehungen näher. 27 Ursprünglich als potentielle Gefahr für das Regime verstanden, wurde das Konzept später neu definiert und als Möglichkeit der KPCh gedeutet, ihre eigene Art von soft power einzusetzen. Im Jahr 2017 wurde Wang von Xi Jinping überraschend in das leitende Parteiorgan berufen, den siebenköpfigen Ständigen Ausschuss des Politbüros. Wang, der zu Xis engsten Vertrauten zählt und offiziell den fünften Rang in der chinesischen Machthierarchie einnimmt, ist als Chinas Chefideologe für Propaganda und Ideologiearbeit zuständig. 28

Wang Huning baut auf der Arbeit mehrerer Jahrzehnte auf. Anfangs war die Neuausrichtung der internationalen Unterstützung für die KPCh und ihre Vorstellungen und Maßnahmen Teil der Bemühungen der Partei, China in eine Weltmacht zu verwandeln, ohne Widerstand der etablierten Mächte zu provozieren. 29 Im Dezember 2003 erklärte der damalige Parteichef Hu Jintao in einer wenig beachteten Rede, die »Schaffung eines günstigen Umfelds in der internationalen öffentlichen Meinung« sei wichtig »für Chinas nationale Sicherheit und gesellschaftliche Stabilität«. 30 Zu diesem Zweck führte die KPCh die »groß angelegte Außenpropaganda« ein: Ziel war es, eine größere Zahl von Staats- und Parteiabteilungen sowie größere Teile der Bevölkerung in ihre externen Propagandabemühungen einzubeziehen. 31

Damit sich die KPCh sicher fühlen kann, muss ihre Botschaft »die lauteste unserer Zeit« werden. 32 Dass die Bemühungen um globale Legitimität, eine Neugestaltung der Weltordnung und eine Steuerung der globalen Diskussionen innenpolitisch motiviert sind, nimmt ihnen nichts von ihrer Bedeutung. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass diese Bemühungen mit der Sicherheit des Regimes verknüpft werden, bedeutet, dass für die Partei sehr viel auf dem Spiel steht.

Die Partei beschäftigt sich seit den neunziger Jahren mit den Konzepten einer ideologischen Infiltration und eines neuen Kalten Kriegs der Ideen, aber die Strategien, die sie anwendet, um vermeintlichen Bedrohungen zu begegnen, haben sich wesentlich geändert und sind mittlerweile deutlich aggressiver. Schon im Jahr 2005 erklärte ein Parteitheoretiker in einem Artikel mit dem Titel »Auslandspropaganda und Befähigung der Partei zur Herrschaft«, wie die Umformung der internationalen öffentlichen Meinung dazu beitragen könne, eine Unterminierung der Herrschaft der KPCh im eigenen Land zu verhindern. Der Autor beschrieb die chinesische Propaganda im Ausland als »Vorhut im [Kampf] gegen die ›friedliche Evolution‹«, denn sie half, die Botschaften feindlicher Kräfte zu diskreditieren, bevor sie China erreichten. 33

In der Finanzkrise von 2008/2009 erkannten die Parteiführung und chinesische Wissenschaftler eine Chance für China, seinen globalen Einfluss zu vergrößern und sein Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell als Alternative zur westlichen Ordnung darzustellen. Die Analysten der Partei verwiesen darauf, dass die Krise die Schwächen des deregulierten Finanzsystems und der mangelnden Aufsicht über die Märkte aufgedeckt habe. Im Gegensatz dazu könnten die behutsameren chinesischen Reformen eine solche Katastrophe vermeiden. In den chinesischen akademischen Kreisen begann eine erste intensive Diskussion über das »chinesische Modell« und seine Eignung für den globalen Export als Alternative zu westlichen Regulierungsmodellen. 34

Unter Xi Jinping haben diese Bemühungen eine neue Dimension angenommen. Während frühere Generationen von politischen Führern den Begriff des »chinesischen Modells« mieden, wirbt die KPCh mittlerweile in anderen Ländern offen für das, was sie als den »chinesischen Ansatz« und die »chinesische Weisheit« bezeichnet. 35 Während des Nationalen Volkskongresses im Jahr 2019 erklärte Colin Linneweber, ein amerikanischer Mitarbeiter der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua, es werde »allgemein anerkannt, dass Chinas System der Demokratie ein Schlüssel zu seinem Erfolg ist«. 36 Bei einem Besuch in Paris im Jahr 2019 bot Xi Jinping den »chinesischen Ansatz« und die »Neue Seidenstraße« als Lösungen an, um den Vertrauensverlust und die schwindende Kooperationsbereitschaft in der internationalen Gemeinschaft zu überwinden. 37

Wie das National Endowment for Democracy erklärt, stützen sich autoritäre Regimes wie das chinesische nicht auf soft power, also nicht auf weiche, sondern auf scharfe Macht, das heißt auf Zwang und Manipulation. 38 Tatsächlich zeigt sich dies in chinesischen Debatten zu diesem Thema, in denen es immer vorrangig um die Macht und weniger um die Anwendung »weicher« Methoden geht.

Es wäre ein Fehler, die Versuche der KPCh zur Verbreitung der »Demokratie chinesischer Prägung« und anderer den Bedürfnissen des Regimes angepasster Konzepte (Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit usw.) herablassend zu betrachten oder zu glauben, diese Bemühungen seien zum Scheitern verurteilt, weil es dem chinesischen System an Attraktivität mangelt. Zum einen wissen große Teile des Zielpublikums der Partei in den Entwicklungsländern und im Westen wenig über China, wenn man von seinem wirtschaftlichen Erfolg absieht. Manche glauben, westliche Regierungen und Medien zeichneten ein »verzerrtes« Bild von China. Andere sind der Meinung, ein autoritäreres Regierungssystem habe seine Vorteile, wie aktuelle Umfragen zeigen, und einige Argumente der KPCh dürften tatsächlich überzeugend auf sie wirken, da die Partei Krisen in demokratischen Ländern nutzt, um auf Chinas Stärken hinzuweisen. So wurden der Brexit und der Wahlsieg Donald Trumps im Jahr 2016 als Belege für die Behauptung ins Feld geführt, die Demokratie führe zwangsläufig zu Chaos und Ineffizienz. 39 Während der Coronavirus-Krise überzeugte der Bau eines Krankenhauses innerhalb von zehn Tagen auch viele in westlichen Ländern von der vermeintlichen autokratischen Effizienz der KPCh.

Die Partei herrscht

Im Juli 2021 wird die Kommunistische Partei Chinas 100 Jahre alt. Sie ist von wenig mehr als einem Dutzend Mitgliedern im Jahr 1921 auf 90 Millionen in der Gegenwart gewachsen, hat eine eigene Streitmacht von 2 Millionen Mann und stützt sich auf eine Vielzahl von Organisationen, die versuchen, sämtliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens zu kontrollieren. Der Staatsapparat ermöglicht es ihr, sich auf der internationalen Bühne unter Bedingungen zu bewegen, die in den Augen der übrigen Welt normal scheinen. Doch in der Debatte über den Einfluss Chinas in der Welt wird die Partei von vielen westlichen Beobachtern ausgeblendet.

Eine der größten Herausforderungen im Umgang mit China ist eben die politische Unkenntnis der ausländischen Gesprächspartner, die sich vor allem von Organisationen täuschen lassen, deren Ziel die Beeinflussung ist und die ihre Verbindung mit der Partei zu verbergen versuchen. Die internationale Gemeinschaft versteht in vielen Situationen die zentrale Rolle nicht, die die KPCh in China spielt. Um zu verdeutlichen, wie vollkommen die Partei alle anderen Institutionen beherrscht, sei darauf hingewiesen, dass die Volksbefreiungsarmee keine nationale Armee, sondern der bewaffnete Arm der Kommunistischen Partei ist. 40 Manager von Staatsbetrieben werden von der Organisationsabteilung der Partei ernannt. Die chinesischen Medien befinden sich nicht im Staatsbesitz, sondern im Besitz der Partei, die über ihre Propagandaabteilungen eine Mehrheitsbeteiligung hält.

Im Westen wird über China oft so gesprochen, als existierte die Kommunistische Partei nicht, aber um das politische Gebilde, mit dem wir es zu tun haben, verstehen zu können, müssen wir uns auf die Partei konzentrieren. Wie wir gesehen haben, entspringt die chinesische Einflussnahme im Ausland den Strategien und Erfordernissen der Partei im Inneren. Dieses Vorgehen ist nur verständlich, wenn wir es mit Blick auf den eigentümlichen Charakter der Partei und ihre Geschichte betrachten.

In der Geschichte der Volksrepublik China gab es Zeiten, in denen chinesische Institutionen und Bürger offener mit Ausländern interagierten. Xi Jinping hat den Trend der schrittweisen Öffnung umgekehrt und die Kontrolle durch die Partei wieder verstärkt. Auf dem 19. Parteitag im Jahr 2017 zitierte er Mao, um die Rolle der Kommunistischen Partei in China zu erklären. »Regierung, Militär, Gesellschaft und Schulen, Norden, Süden, Osten und Westen – die Partei herrscht über alles.« Das waren keine leeren Worte. Ein halbes Jahr später, im Jahr 2018, segnete der Nationale Volkskongress bei seiner jährlichen Versammlung eine Reihe von Änderungen ab, mit denen verschiedene Regierungsorganisationen aufgelöst und in Parteiabteilungen integriert wurden. 41 Jede Delegation, die Erlaubnis erhält, China zu verlassen, wird von mindestens einem Parteifunktionär begleitet, der die ausdrückliche Aufgabe hat, ein wachsames Auge auf sämtliche Delegationsmitglieder zu haben. 42

Die KPCh ist eine leninistische Partei, die dezidiert als »revolutionäre Avantgarde« des chinesischen Volkes gegründet wurde. Als solche wurde sie als zentrale Organisation konzipiert, die sämtliche Bereiche der chinesischen Gesellschaft durchdringen soll und über allen anderen Institutionen steht, einschließlich der Streitkräfte und der staatlichen Behörden. Die wichtigsten und mächtigsten Organisationen im Bereich der Beeinflussungsarbeit sind seit jeher Teil der Parteibürokratie, nicht des chinesischen Staates, der eher ein verlängerter Arm der Kommunistischen Partei ist. Die Propagandaabteilung, die Internationale Verbindungsabteilung und die Abteilung für Einheitsfrontarbeit sind allesamt Parteiorganisationen.

Die Abteilung für Einheitsfrontarbeit (mit der wir uns im nächsten Abschnitt befassen werden) hat die Aufgabe, die Verbindungen zu allen Kräften außerhalb der KPCh herzustellen, darunter anerkannte religiöse Organisationen und andere Interessengruppen. Außerdem soll sie 50 bis 60 Millionen Menschen chinesischer Herkunft im Ausland anleiten. Die Tätigkeit der Abteilung im Inland ist nicht klar von den Aktivitäten im Ausland zu trennen, weil viele Auslandschinesen zahlreiche familiäre und geschäftliche Beziehungen zur alten Heimat unterhalten, welche die Partei bei Bedarf versucht sich zunutze zu machen.

Die Abteilung für internationale Verbindungen (siehe Kapitel 3) ist für die Kontakte zu politischen Parteien im Ausland zuständig. 43 Sie dient als »eine Art von ›Radar‹, um aufstrebende Politiker im Ausland zu identifizieren, noch bevor sie landesweit ins Rampenlicht treten und in Ämter gewählt werden«. 44 Im Mai 2018 unterstrich Xi in einer Rede die Vormachtstellung der Partei in der außenpolitischen Arbeit. 45 Wie Anne-Marie Brady erklärt, zeigt diese Änderung, »wie die revolutionäre und transformative außenpolitische Agenda und die Methoden der KPCh mit den üblichen außenpolitischen Aktivitäten des chinesischen Staates in Bereichen wie Handel, Investitionen und Spitzendiplomatie verschmolzen werden. Zum letzten Mal wurden diese beiden Aspekte vor der Machtergreifung der KPCh in den vierziger Jahren miteinander verknüpft.« 46

Selbstverständlich beteiligen sich die staatlichen Organe weiterhin an der Beeinflussungsarbeit, aber sie stehen unter strenger Kontrolle der Partei, dienen deren Interessen und führen ihre Anweisungen aus. In der Vergangenheit versuchten einige Parteichefs, Partei und Staat voneinander zu trennen und die Rolle der KPCh schrittweise auf einige wesentliche Funktionen zu verringern, aber Xi Jinping hat diesen Trend umgekehrt.

Dasselbe gilt für die Wirtschaft. Chinesische Privatunternehmen sind seit Langem verpflichtet, Parteizellen einzurichten, aber erst unter Xi wird diese Vorschrift wieder weitgehend durchgesetzt. Alle großen und mittelständischen Unternehmen einschließlich solcher in ausländischem Besitz müssen eine interne Parteiorganisation aufbauen. 47 International tätige Konzerne wie Huawei, Alibaba und Tencent bemühen sich sehr, ihre Unabhängigkeit von der KPCh zu demonstrieren, aber die Unterschiede zwischen privaten und Staatsbetrieben werden dennoch geringer.

Die Einheitsfront

Man kann die Einflussnahme der KPCh im Westen unmöglich verstehen, ohne ihre Einheitsfrontpolitik zu verstehen. Diese Bemühungen dienen dazu, alle Einrichtungen außerhalb der Partei durch Anreize, Kooption oder Zwang dazu zu bewegen, sich einer »Einheitsfront« anzuschließen – das heißt einer Koalition von Gruppen, die ihre Aktivitäten den Interessen der Partei anpassen – und die Tätigkeit all jener zu unterminieren, die in den Augen der Partei Feinde sind. 48 (Zu beachten ist, dass unterschieden werden muss zwischen Einheitsfrontgruppen im engen Sinne, also solchen, die direkt mit dem Organisationsnetz der Abteilung für Einheitsfrontarbeit verbunden sind, und Einheitsfrontgruppen im weiten Sinne, also solchen, deren Einflussarbeit unter das breitere Dach der Partei und der mit ihr verbundenen Organisationen fällt.)

Die Einheitsfrontstrategie hat ihren Ursprung in der leninistischen Theorie. Sie wurde in China in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts weiterentwickelt, um das Bündnis mit den Nationalisten (Kuomintang) zu rechtfertigen und in den dreißiger und vierziger Jahren im Bürgerkrieg unter anderem angewandt, um kleinere Parteien und ethnische Minderheiten an die Kommunistische Partei zu binden. Wie es Anne-Marie Brady ausdrückt, ging es darum, »eine möglichst große Koalition von Interessengruppen zu schmieden, um die Position des ›Hauptfeindes‹ zu untergraben«. 49 Mao Zedong sah in der Einheitsfrontarbeit eine der drei »Wunderwaffen« der Kommunistischen Partei. 50 Nach der Gründung der Volksrepublik wurden die übergeordnete Strategie und die entsprechenden Einrichtungen der Partei weiterhin eingesetzt, um ethnische und religiöse Minderheiten zu kooptieren und gefügig zu machen und die Unterstützung unabhängiger und marginalisierter Gruppen zu gewährleisten.

In den Augen der Partei ist die Einheitsfrontstrategie eine auf marxistisch-leninistischen Prinzipien beruhende Wissenschaft, die den praktischen Erfordernissen angepasst werden muss. 51 Die Parteitheoretiker haben eine Reihe von Einheitsfronttheorien entwickelt, die auf politische Parteien, Intellektuelle außerhalb der Partei, ethnische Minderheiten, religiöse Organisationen, Privatunternehmen und Gemeinschaften von Auslandschinesen angewandt werden können. Im Jahr 2015 genehmigte das Bildungsministerium die Einrichtung eines Master-Studiengangs für Einheitsfrontpolitik, und im Jahr 2018 machte an der Universität Shandong der erste Jahrgang seinen Abschluss in diesem Studium. 52