Die Lazarus-Mission - Jamie Sawyer - E-Book

Die Lazarus-Mission E-Book

Jamie Sawyer

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Feindesland

Captain Conrad Harris und sein Team sind auf ihren Missionen schon Hunderte Male gestorben und wieder zurückgekehrt, denn sie gehören zu einer Eliteeinheit von Weltraumsoldaten, die ihre gefährlichen Missionen mittels ihrer Avatare ausführen. Nur so hat die Menschheit eine kleine Chance, den nun schon Jahrzehnte andauernden Krieg gegen die Krell, eine übermenschlich starke und bösartige Alien-Spezies, zu gewinnen. Sein neuester Auftrag führt Harris und seine Crew tief hinein in das Gebiet der Krell – und dieses Mal gibt es möglicherweise kein Zurück ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 643

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Captain Conrad Harris und sein Team sind auf ihren Missionen schon Hunderte Male gestorben und wieder zurückgekehrt, denn sie gehören zu einer Eliteeinheit von Weltraumsoldaten, die ihre gefährlichen Missionen mittels ihrer Avatare ausführen. Nur so haben die Menschen eine kleine Chance, den nun schon Jahrzehnte andauernden Krieg gegen die Krell, eine übermenschlich starke und bösartige Alien-Spezies, zu gewinnen. Seine jüngste Mission führt Harris und seine Mannschaft tief hinein ins Gebiet der Aliens, denn dort wurde ein Forschungslabor der Menschen angegriffen. Kaum dort angekommen, stoßen die Soldaten auf ein geheimnisvolles Alien-Artefakt – ein Artefakt, das das Schicksal der Menschheit für immer verändern könnte ...

Der Autor

Jamie Sawyer wurde in Newbury, Berkshire geboren. Er studierte Jura an der East Anglia Universität in Norwich und arbeitet heute als Rechtsanwalt für Strafrecht an den Gerichten in London und Ostengland. Wenn er nicht gerade arbeitet oder schreibt, verbringt er seine Zeit mit seiner Familie in Essex.

Mehr über den Autor und seinen Roman erfahren Sie auf:

JAMIESAWYER

DIELAZARUS-MISSION

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

ARTEFACT – THE LAZARUS WAR BOOK 1

Deutsche Übersetzung von Julian Haefs

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag ­keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 05/2016

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright ©2015 by Jamie Sawyer

Copyright ©2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Umschlagillustration: Ioan Dumitrescu,

Hintergrund: Shutterstock/HomeArt

ISBN 978-3-641-17857-4V001

www.diezukunft.de

Für Louise– obwohl ich dich mit der Limonade verfehlt habe,hat sich alles zum Guten gewendet.

1

NEW HAVEN

Alle redeten durcheinander. Der Kanal war von Stimmengewirr erfüllt.

Ist es das?, fragte ich mich. Werde ich sie finden?

»Identifikation ist bestätigt: AFSNew Haven. Sie ist vor drei Jahren verschwunden.«

»Nullschilde sind weggepustet. Eure Einflugschneise ist sauber.«

Immerhin war es kein feindliches Schiff. Nationalität: Freie Arabische Welten. Aber es war nicht sie. Ich spürte stechende Enttäuschung. Was hatte ich erwartet? Sie war verloren.

»Raumschiff New Haven der Freien Arabischen Welten, hier spricht Allianz VOBLiberty Point: Haben Sie verstanden? Wiederhole, hier spricht VOBLiberty Point: Haben Sie verstanden?«

»Vogel krächzt nicht.«

»Keine Antwort. Keine Reaktion auf automatischen oder manuellen Kontakt.«

Ich klinkte mich in die externen Kameras ein, um einen besseren Blick auf das Ziel zu bekommen. Sie war ein großes Raumschiff, tausend Meter lang. Groß prangte NEWHAVEN auf dem Rumpf, aber die weißen Buchstaben waren abgewetzt und verblichen. Unter dem Namen standen eine numerische Identifikation und ein Barcode mit dem Logo der Sponsorenfirma – Werbung für irgendeine längst vergessene Bergbaugesellschaft. Nachträglich war etwas Arabisches neben das Logo gekritzelt worden.

New Haven war ein ziviles Kolonieschiff; eins der massenproduzierten Module, die man in den Grenzsystemen häufig sah, fähig zu Langstreckensprüngen im Quantenraum, dafür aber mit sehr begrenzten Verteidigungsmöglichkeiten. Wahrscheinlich älter als ich, von einem Dutzend Regierungen und Firmen umgerüstet, bevor sie unter ihrem jetzigen Namen lief. Mein militärisch geschultes Auge machte sofort erhebliche Schwachstellen am Schiff aus: eine große, kugelförmige Brücke mit Kommandomodul am Bug, ein schlanker Mittelteil und die hässliche Triebwerkseinheit am Heck.

In einem Kampf wäre sie völlig nutzlos, so viel war sicher.

»Lese jetzt Daten der Fernsensoren aus. Ich kriege keine saubere Analyse vom Bioscanner aus dem Innenraum.«

Bei näherer Betrachtung fanden sich Hinweise, die den leblosen Zustand des Schiffs erklärten. Schartige Risse in der Rumpfpanzerung legten nahe, dass sie mit schweren Bordgeschützen beschossen worden war. Nichts Katastrophales, aber genug, um den Hauptantrieb außer Gefecht zu setzen: Als hätte derjenige, der das Schiff angegriffen hatte – wer oder was auch immer das gewesen sein mochte –, mit ihm gespielt. Wie der Jäger, der seine Beute nur verkrüppelt, ihr aber den Todesstoß versagt.

»AFSNew Haven, hier spricht Liberty Point. Wir werden in Kürze in Übereinstimmung mit Militärcode A-Z-9 an Bord kommen. Sie sind in die Krell-Quarantänezone eingedrungen. Nach in diesem Sektor geltendem Militärrecht haben wir die Befugnis, Ihr Schiff zu betreten, um Ihre Sicherheit gewährleisten zu können.«

Das Schiff trieb wahrscheinlich schon seit Monaten, vielleicht sogar Jahren ziellos durchs All. Im Inneren der zerschossenen Metallhülle war sicher nichts mehr am Leben.

»Weiterhin keine Antwort auf unseren Kontaktversuch. Autorisiere Waffeneinsatz für Außenteam. Mission wie instruiert durchführen.«

»Hier spricht Captain Harris«, sagte ich. »Laut und deutlich angekommen. Bestätige Annäherung.«

»Verstanden. Mission ist startklar, wiederhole startklar. Übergebe an Sie, Captain. Ab jetzt Funkstille.«

Dann riss die Verbindung ab, und ein Moment der Stille folgte. Liberty Point und alles, was die Station an Schutz mit sich brachte, schienen auf einmal sehr weit weg zu sein.

Unsere gepanzerte Wildcat-Mannschaftsfähre näherte sich zügig der New Haven. Die Fähre war ein hässliches, funktionales Gefährt – nur dafür da, um uns von der Operationsbasis zur Einsatzstelle zu bringen. Sie war schwer gepanzert, aber komplett unbewaffnet; man hoffte, dass die dreifach verstärkte Panzerung bei Feindbeschuss ausreichte, um Lecks im Rumpf so lange zu verhindern, bis wir den Zielort erreicht hatten. Verglichen mit dem zivilen Goliath von Schiff war die Fähre ein unbedeutender Klecks.

Ich saß aufrecht im Truppenabteil, fest im Sicherheitsgeschirr vertäut. Bei Annäherung ans Ziel schaltete sich der Gravitationsantrieb der Wildcat vollständig aus: Alles, was nicht festgezurrt war, driftete im freien Fall. Es gab weder Fenster noch Bildschirme, deshalb verließ ich mich auf die Übertragung der externen Kameras, um unseren Fortschritt zu verfolgen. Das war echte Holzklasse, selbst in den Tiefen des Alls.

Ich trug einen taktischen Kampfhelm, der mehr als nur Schutz lieferte. Allerlei technische Daten wurden auf die Blickfeldanzeige gespeist – direkt auf die Innenseite des Visiers projiziert. Schwärme von leuchtenden Symbolen, Warnungen und Datensätzen rollten vorbei. Für einen Rekruten wäre dieser Informationsfluss überwältigend gewesen; mir war das in Fleisch und Blut übergegangen. Dank der direkten Verbindung mit meinem Kampfanzug schaltete ich manche Datensätze mit einem Gedanken aus, während ich mir andere genauer ansah. Zufrieden mit dem, was sich mir bot, schrie ich in den Kommunikator: »Truppe, abzählen.«

Fünf Gruppenmitglieder gaben reihum Laut, wobei ihre entsprechenden Vitalwerte auf meinem Display erschienen.

»Jenkins.« Die einzige Frau im Team; klein, schnell und quirlig. Jenkins war ein Waffennarr, und wenn es um Militäroperationen ging, war Zwangsneurose als Begriff für ihre psychische Disposition noch untertrieben. Sie war Korporal der Gruppe, und anders hätte ich es auch nicht haben wollen.

»Blake.« Jüngstes Teammitglied, kaum mit der Grundausbildung fertig, als er eingezogen worden war. Jugendlich und immer voller Eifer. Seine entscheidenden Merkmale waren ungewöhnliche Fähigkeiten im Umgang mit dem Scharfschützengewehr und ein unglaubliches Händchen beim anderen Geschlecht.

»Martinez.« Er hatte eine Vergangenheit im Marinekorps der Allianz. Mit seinen dunklen Augen und dem noch dunkleren Haarflaum war er ein typischer Venus-Amerikaner. Er bestand darauf, hispanisches Blut zu haben, aber ich bezweifelte, dass die letzten Generationen seiner Familie überhaupt einen Fuß auf die Erde gesetzt hatten.

»Kaminski.« Schlagfertig; sowohl flinker Techniker als auch guter Schütze. Kaminski war seit Beginn an meiner Seite und wie ich früher bei den Allianz-Spezialeinheiten gewesen. Er und Jenkins lagen sich ständig in den Haaren, wie Bruder und Schwester. Über dem Visier seines Helms stand sauber gedruckt BORNTOKILL.

Dann schließlich: »Wissenschaftsoffizier Olsen, ähm, am Leben.«

Unser Gast auf dieser Mission saß links von mir – der wissenschaftliche Offizier, der meinem Team zugeteilt war. Er zitterte unkontrolliert und wechselte zwischen schwerem Atmen und schwerem Würgen. Olsens Kommunikator war auf einem offenen Kanal, sodass keinem von uns sein Leiden erspart blieb. Ich überwachte seine Vitalwerte auf meinem Display – es ging ihm richtig dreckig. Ich würde ihn während des Einsatzes im Auge behalten müssen.

»Erstkontakt für Sie, Mr. Olsen?«, fragte Blake über den allgemeinen Teamkanal.

Olsen nickte vehement.

»Ja, aber ich habe umfangreiche Laboranalysen des Feindes vorgenommen.« Er machte eine Pause, um mehrfach zu würgen, dann platzte er heraus: »Und ich habe viele Einsatzberichte zu diesem Thema gelesen.«

»Das zählt hier draußen gar nichts, mein Freund«, sagte Jenkins. »Sie müssen dem Feind gegenüberstehen. Direkte Konfrontation auf unserem Territorium.«

»Das ist doch das Problem, Jenkins«, sagte Blake. »Das hier ist laut dem Abkommen nicht unser Territorium.«

»Meinst du das Abkommen, das unterzeichnet wurde, bevor du geboren wurdest, Kleiner?«, warf Kaminski mit einem trockenen Kichern ein. »Wir haben Gesellschaft bei diesem Einsatz – ein besonderer Anlass. Warum erzählst du uns nicht, wie alt du bist?«

Als Gruppenführer kannte ich Blakes Alter, die anderen aber nicht. Das Geheimnis war für den Rest der Truppe zu einem Quell der Belustigung geworden. Ich hätte Kaminski die Antwort ohne Probleme geben können, aber das hätte den Spaß verdorben. Es war ein Thema, auf das er jedes Mal zurückkam, wenn wir einsatzbereit waren.

»Wird der Witz nicht langsam alt?«, sagte Blake.

»Nein, wird er nicht – genauso wenig wie du, Kleiner.«

Blake zeigte ihm den Stinkefinger – die Hände klobig und übergroß in den schweren gepanzerten Handschuhen.

»Hört mit dem Scheiß auf«, knurrte ich über den Teamkanal. »Ich brauch euch alle eiskalt und auf Zack. Ich habe keine Lust darauf, dass wir da draußen Probleme kriegen. Wir gehen an Bord der Haven, laden die Reisedaten runter und hauen ab.«

Ich hatte dem Team schon auf Liberty Point die nötigen Anweisungen gegeben, aber kein Einsatz war Routine, wenn es um die Krell ging. Die bloße Möglichkeit einer Begegnung änderte alles. Ich überflog den Innenraum der abgedunkelten Fähre, ließ das Gesicht jedes meiner Leute auf mich wirken. Während ich das tat, zeigte mein Anzug zu jedem Einzelnen Kampfstatistiken an – genug, um zu wissen, dass sie unter Strom standen, zu allem bereit waren.

»Wenn wir zusammenbleiben und Ruhe bewahren, kommen wir da alle heil raus«, sagte ich. »Das gilt auch für Sie, Olsen.«

Der wissenschaftliche Offizier nickte erneut. Seine Biorhythmen waren ernstlich beunruhigend, aber es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Seine Aufnahme ins Team war schließlich nicht meine Entscheidung gewesen.

»Ihr habt den Mann gehört«, sagte Jenkins. »Soll heißen: Keine Scheiße bauen.«

Hätte ich nicht treffender sagen können. Sollte es mich während des Einsatzes erwischen, wäre Jenkins dafür verantwortlich, den Rest der Truppe nach Hause zu bringen.

Die Wildcat suchte sich eine passende Schleuse an der New Haven. Die Daten vom Autopiloten der Fähre zeigten mir, dass Flugbahn und Annäherungsvektor gut aussahen. Wir würden das Schiff über den Hauptkorridor betreten. Laut unseren Informationen, basierend auf den Plänen ähnlicher Raumschiffe, bildete dieser Korridor das Rückgrat des Schiffs. Er würde uns den Zugang zu allen wichtigen taktischen Zielen ermöglichen – Brücke, Triebwerksraum und Hyperschlaf-Suite.

Ein Signal ertönte in meinem Helm, und die Fähre unterrichtete mich über unseren Fortschritt – T-MINUSZEHNSEKUNDENBISBERÜHRUNG.

»Los geht’s!«, verkündete ich.

Die Rückstoßtriebwerke der Fähre sprangen an, und plötzlich verlangsamten wir rapide. Mein Kopf knallte gegen die gepolterte Nackenstütze, und mein ganzer Körper ratterte. Trotz der verringerten Schwerkraft in der Kabine drehte es einem den Magen um. Mein Herz hämmerte in der Brust, obwohl ich das schon Hunderte Male erlebt hatte. Mein Helm ließ mich wissen, dass eine frische Ladung synthetischer Kampfdrogen – ein Cocktail aus Endorphinen und Adrenalin, sorgfältig gemischt, um mich in optimaler Kampfbereitschaft zu halten – zur Kompensation injiziert wurde. Die Rüstung barg eine komplette medizinische Einrichtung, direkt mit meinem Körper verbunden, und leistete – wenn nötig – automatisch Hilfe. Die Entfernung zum Ziel nahm rasant ab.

»Achtung, Aufprall.«

Durch die Kameras der Fähre sah ich das grobe Andockmanöver. Die Fähre krachte buchstäblich gegen die Außenwand und brachte unsere Schleuse und die der Haven auf eine Höhe. Mit einem explosiven Brüllen und einer Welle kinetischer Energie verband sich die Fähre mit der Hülle. Die Luftschleuse der Wildcat fächerte sich auf.

Wir bewegten uns wie ein gut geölter Mechanismus, eine reibungslos laufende Maschine. Bis auf Olsen hatten wir das alle schon erlebt. Martinez stand als Erster, befreit von seinem Sicherheitsgeschirr. Er übernahm die Spitze. Dann kamen Jenkins und Blake; sie würden Feuerschutz geben, sollten wir auf Widerstand treffen. Dann Kaminski, der Olsen eskortierte. Ich verließ die Kabine immer als Letzter.

»Einstieg erfolgreich«, sagte ich. »Wir sind auf der Haven.«

Das war reine Formalität für den Rekorder meines Kampfanzugs.

Als ich hinaus auf den Gang trat, verband sich meine Waffe automatisch mit meinem Display und zeigte Zielerfassungs-Daten. Wir waren mit M95-Plasmagewehren von Westington-Haslake bewaffnet – die bevorzugte Langwaffe für Einsätze auf feindlichen Schiffen. Es war eine große und schwere Waffe, die Plasmaimpulse in Wellen abfeuerte und von einer eingebauten Energiezelle gespeist wurde. Die Reichweite war zwar eingeschränkt, dafür hatte sie aber eine unglaublich hohe Feuerrate, und die schiere Mannstoppwirkung einer Energiewaffe dieser Größenordnung war den Kompromiss wert. Außerdem hatten wir noch andere Waffen dabei, je nach Präferenz – Jenkins bevorzugte einen Armant-Flammenwerfer als Primärwaffe. Zusätzlich trugen wir alle Plasmapistolen.

»Feuerschutzpositionen einnehmen – Schusswinkel überlappen«, flüsterte ich in den Kommunikator. Das Team gehorchte. »Breite Front, und macht mir anständig Licht.«

Schaukelnde Schulterlampen sprangen an und fuhren über das ramponierte Innere des Schiffs. Die Anzüge waren mit Infrarot-, Nacht- und elektromagnetischen Sichtgeräten ausgestattet, aber die Krell sonderten kaum Körperwärme ab – und nichts konnte das gute alte Augenlicht ersetzen.

Ohne einen Befehl zu brauchen, näherte sich Kaminski einer der in die Wand eingelassenen Schalttafeln. Mit einem PDA griff er auf den Zentralrechner des Schiffs zu.

»Es werde Licht«, raunte Martinez mit schwerem Akzent.

Über unseren Köpfen gingen Lichtleisten an, blinkten in Serie, tauchten den Korridor in hässliches elektrisches Licht. Manche flackerten erratisch, andere blieben ganz erloschen. Im Bauch des Schiffs begann etwas zu brummen: vielleicht brachliegende Lebenserhaltungssysteme. Unheilvolle Stille breitete sich im Hauptkorridor aus. Er war rein zweckmäßig konstruiert, mit Wänden und Boden aus nackten Metallplatten. Mein Anzug meldete, dass die Temperatur zwar unangenehm niedrig, aber in akzeptablem Rahmen war.

»Gravitationsantrieb ist funktionstüchtig«, sagte Kaminski. »Die haben die Atmosphäre in Ruhe gelassen. Wird uns für ein paar Stunden reichen.«

»Ich hab nicht vor, so lange hierzubleiben«, sagte Jenkins.

Wir öffneten alle gleichzeitig die Siegel unserer Helme. In der Atmosphäre lagen zwei widersprüchliche Gerüche: der Gestank von brennendem Plastik und modrigem Wasser. Im Schiff hat es gebrannt, und irgendwo in der Nähe ist ein Recyclingtank geplatzt. Flüssigkeit pling-pling-plingte leise in der Ferne.

»Ich bleibe versiegelt, wenn Sie nichts dagegen haben«, fügte Olsen unbeholfen hinzu. »Die Kreaturen haben teilweise artübergreifende Erreger getragen.«

»Christo, der Kerl ist nicht zu fassen«, sagte Kaminski kopfschüttelnd.

»Ey, pass auf, was du sagst, mano«, sagte Martinez zu Kaminski. Er deutete auf ein krudes, weißes Kreuz, das auf den Brustpanzer seines Kampfanzuges gepinselt war. »Du sollst Seinen Namen nicht missbrauchen.«

Keiner von uns wusste wirklich, welcher Religion Martinez anhing, aber er tat es mit bewundernswertem Elan. Sie schien ihm Glücksspiel, Frauen und Trinken zu gestatten, während Blasphemie im Einsatz immer inakzeptabel war.

»Nicht der Mist schon wieder«, sagte Kaminski. »Das ist alles, was ich je von dir zu hören kriege. Wenn wir ohne dich nach Point zurückkommen, werde ich Gott persönlich anrufen. Ihr Venusier seid doch alle gleich.«

»Ich bin Amerikaner«, legte Martinez los. Den Venusiern waren ihre Wurzeln sehr wichtig; das war ein Streit, den ich schon viel zu oft zwischen den beiden Soldaten hatte beilegen müssen.

»Schnauze jetzt«, sagte Jenkins. »Wenn er glauben will, lass ihn.« Die anderen respektierten ihr Wort fast so wie meins und verstummten sofort. »Ist doch nett, auf irgendwas vertrauen zu können. Befehle, Cap?«

»Feuerteam Alpha – Jenkins, Martinez –, geht runter zur Hyperschlaf-Kammer und gebt mir einen Bericht über den Zustand dieser Kolonisten. Feuerteam Bravo, Formation um mich.«

Bestätigendes Nicken von der Truppe. Das war die Standard-Einsatzprozedur: Zielschiff betreten, Schlüsselstellen besetzen und so schnell wie möglich wieder verschwinden.

»Und das Quantentriebwerk?«, fragte Jenkins. Sie hatte ihren Flammenwerfer hochgefahren, und der Widerschein der Zündflamme tanzte über ihr Gesicht. Ihre Miene war geradezu blutrünstig.

»Wir sammeln uns in fünfzehn Minuten an dieser Position. Lasst uns erst mal ein bisschen erkunden, bevor wir uns verziehen.«

»Zu Befehl, Captain.«

Die Kämpfer fielen in gleichmäßigen Dauerlauf, hinein in den düsteren hinteren Teil des Schiffs. Die schweren Rüstungen und Waffen begleiteten scheppernd ihren Weg.

Es war keine Angst, die ich in der Magengegend spürte. Auch keine Beklemmung; das hier war etwas Schlimmeres. Es war Begeisterung – die meine Gedankengänge vernebelte, stark genug, um fast berauschend zu sein. Das hier war meine Bestimmung. Ich beruhigte meinen Puls und konzentrierte mich auf die vor uns liegende Mission.

Etwas rührte sich tief im Schiff – ich konnte es fühlen.

Kaminski, Blake und ich eilten Richtung Brücke. Olsen hatte Mühe, mit uns Schritt zu halten, und war den Großteil des Wegs still, aber Kaminski ließ es sich trotzdem nicht nehmen, ihn anzustacheln.

»Scheint mir so, als wären Sie nicht daran gewöhnt, in einem Kampfanzug zu rennen?«, fragte er. »Einfach Bescheid sagen, wenn Sie eine Pause brauchen.«

Kaminskis Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass es sich nicht um Besorgnis, sondern um eine Beleidigung handelte.

»Ist schon beeindruckend«, sagte Olsen kopfschüttelnd. Er ignorierte Kaminskis letzte Bemerkung. »Ein wahres Wunder moderner Technik. Es fühlt sich so an, als würde der Anzug mit mir herumlaufen, nicht andersherum.«

»Man gewöhnt sich dran«, sagte ich. »In jeder Einheit stecken zweieinhalb Tonnen Maschinerie.«

Der Trident-Kampfanzug Klasse IV war mit allem ausgestattet, was ein Soldat brauchte. Im Helm saß eine komplette Sensorik mit taktischer Datenerfassung, alles direkt mit dem Helm-Display verbunden. Verstärkte Ablativpanzerung schützte den Träger vor kleinkalibrigen Waffen. Er war vollständig weltraumtauglich – atmosphärisch versiegelt mit einer Sauerstoff-Aufbereitungsanlage, um im All zu überleben. Das Chassis war mit einer Fülle spezialisierter Geräte und zusätzlicher Extras vollgestopft, außerdem ließen sich Forschung und Entwicklung für jede Mission etwas Neues einfallen. Die aktuelle Ausgabe war mit einem ständig wechselnden, metallischen Flecktarnmuster überzogen, das die Silhouette des Trägers verschwimmen ließ und uns zu schwieriger zu treffenden Zielen machte. Das Beste aber war, dass die mechanischen Muskeln die Stärke des Trägers verzehnfachten.

»Man kann einen Xeno-Schädel mit einer Hand zerbröseln«, sagte Kaminski, der gedankenverloren seinen Handschuh zur Faust ballte. »Hab ich schon mal gemacht.«

»Volle Konzentration«, befahl ich, und Kaminski hielt den Mund.

Wir kamen durch einen schlecht beleuchteten Teil des Schiffs – die Krell fühlten sich wohl im Dunkeln. Ich schaltete meine Schulterlampe wieder an und sah mich genau um.

Das Innere des Raumschiffs war in erbärmlichem Zustand. Es war von den Eindringlingen zu Klump geschlagen worden. Wir passierten Kabinen, die mit notdürftigen Barrikaden verschlossen worden waren. Die Wände waren von blutigen Handabdrücken verschmiert, und dazwischen fanden sich versengte Spuren von Energiewaffen. Ich ging davon aus, dass sich Crew und Zivilbesatzung zur Wehr gesetzt hatten, allerdings mit wenig Erfolg. Sie waren wahrscheinlich mit einfachen Waffen zur Selbstverteidigung ausgerüstet gewesen – ein paar Schrotflinten, ein Schockgewehr oder Ähnliches, um das eine oder andere aufmüpfige Besatzungsmitglied in Schach zu halten, aber nichts, um gegen ein ernsthaftes Enterkommando zu bestehen. Sie waren sicherlich auf das, was über sie kam, nicht vorbereitet gewesen.

Etwas war hier passiert. Das ungute Gefühl in der Magengegend setzte wieder ein. Ein Teil des Geheimnisses um dieses Schiff war also gelüftet. Die Krell waren definitiv hier gewesen. Aber eine Frage blieb: Waren sie noch an Bord? Vielleicht hatten sie sich ausgetobt und waren dann getürmt.

Oder sie liegen noch irgendwo im Schiff auf der Lauer.

Wir näherten uns der Brücke. Ich warf einen Blick auf die Missionszeit. Sechs Minuten waren vergangen, seit wir aufs Schiff gekommen waren.

»Los, Tür untersuchen, Blake«, befahl ich, während ich neben ihm in Position ging.

Die Tür zur Brücke war mangelhaft verschweißt worden. Ich packte eine Seite der Türverkleidung, grub mich mit den behandschuhten Fingern zwischen die dünnen Metallplatten. Blake tat das Gleiche auf der anderen Seite, und gemeinsam zogen wir die Tür auf. Hinter mir verlagerte Kaminski seine Position, um zusätzliche Feuerkraft liefern zu können, sollte uns in dem Raum eine Überraschung erwarten. Sobald die Tür offen war, spähte ich hinein.

»Scanner zeigen keine Bewegung«, sagte Blake.

Er benutzte einen Bioscanner am Handgelenk, der in den Anzug eingelassen war. Er spürte biologische Lebenszeichen auf, die Reichweite war allerdings begrenzt. Obwohl wir alle Scanner hatten – sie waren das bevorzugte Werkzeug für Krell-Jäger und Bergungsteams in der ganzen Quarantänezone –, war es wichtig, nicht allzu abhängig von dieser Technik zu werden. Ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass nicht immer Verlass darauf war. Die Krell waren gerissene Bastarde; niemals zu unterschätzen.

Die Brücke lag im Halbdunkel, nur wenige der Kontrollkonsolen waren noch erleuchtet.

»Betreten die Brücke.«

Langsam und vorsichtig betrat ich den Raum und suchte ihn mit dem Scheinwerfer meines Gewehrs ab. Nichts rührte sich. Kaminski folgte mir. Es war kalt und roch nach Tod und Verwesung. Vertraute Gerüche. Am zentralen Kommandostand hielt ich inne. Das Terminal war voller blinkender Warnhinweise, alle unbeachtet.

»Keine Überlebenden auf der Brücke«, stellte ich fest.

Eine weitere Formalität für den Anzugrekorder. Die Besatzung war über ihre Stationen verteilt. Die Körper waren alt, verwest und größtenteils schon mumifiziert. Der Schiffskapitän – wahrscheinlich irgendein ziviler Handelsoffizier – war immer noch, an seinen Sessel geschnallt, über die Befehlskonsole gekrümmt. Etwas Scharfkantiges und Gezacktes hatte Gesicht und Oberkörper zerstört. Blut und Gewebeteile hatten die Umgebung des Leichnams großzügig benetzt, waren aber längst getrocknet.

»Was, glauben Sie, ist hier passiert?«, flüsterte Olsen.

»Die Künstliche Intelligenz des Schiffs hat höchstwahrscheinlich die Kernbesatzung geweckt, als die Krell geentert haben«, sagte ich. »Die haben sich wohl eingeschlossen und gehofft, dass sie es schaffen würden, die Krell zurückzuschlagen.«

Ich musterte die Umgebung unmittelbar über dem Sitz des Kapitäns. Eine unbewusste Handlung, für mich genauso selbstverständlich wie atmen. Ich stellte mir vor, wie sich die Szene abgespielt hatte: Die Krell waren durch die Öffnung in der Decke gekommen – hatten wahrscheinlich die Luftschächte benutzt, um sich unbemerkt im Schiff zu bewegen – und hatten den Kapitän noch im Sitzen getötet.

Ich unterdrückte ein Schaudern.

»Die anderen sind auch so«, sagte Blake, der den Rest der Crew untersuchte.

»Das Beste, was wir noch für sie tun können, ist eine anständige Seebestattung. Blake – die Schächte bewachen. Kaminski – zur Hauptkonsole und Download starten.«

»Verstanden, Cap.«

Kaminski machte sich an die Arbeit, packte seine Ausrüstung aus und schloss Geräte an den Hauptrechner des Schiffs an. Er war ein guter Hacker; das Produkt einer vergeudeten Jugend in Alt-Brooklyn.

»Wollen doch mal sehen, warum dieser alte Pott so tief in der Quarantänezone treibt«, murmelte er.

»Ich bin sehr gespannt«, sagte Olsen. »Das Schiff hätte mitten in erschlossenem Allianzgebiet sein sollen. Selbst fremdfinanzierte Zivilschiffe sind davor gewarnt worden, sich außerhalb der definierten Gebiete zu bewegen.«

Dumm gelaufen, Olsen.

Ich ging auf der Brücke auf und ab, während Kaminski arbeitete.

Die einzigen echten Bullaugen an Bord der Haven befanden sich auf der Brücke. Die Blenden waren geöffnet, sodass sich der majestätische Anblick der Tiefen des Alls bot. Vielleicht wollten sie in die Leere blicken, ein letztes Mal, vor dem Unvermeidlichen, dachte ich. Das war kein Anblick, den ich gewählt hätte – der Mahlstrom dominierte die Aussicht. Aus dieser Entfernung, Lichtjahre vom Rand der Quarantänezone, sah der bösartige Sternenhaufen wie ein nach außen gewölbter Bluterguss aus – hell und blühend vor der Schwärze des Raums. Wie eine Miniatur der Milchstraße: mit wirbelnden Armen, jeder eine Myriade von Krell-Welten. Der Anblick war verführerisch schillernd, wie um unachtsame, fremde Reisende ins Verderben zu locken; als ob die Bewohner dieser Welten und Systeme eine friedfertige Spezies wären. Hin und wieder zeugten weiße Blitze von gravimetrischen Stürmen; das unerklärliche Phänomen, das die Welten des Mahlstroms beschützte, aber gleichzeitig gefangen hielt.

»Haben Ihre Leute je eine Antwort darauf gefunden, was es mit diesen Stürmen auf sich hat?«, fragte ich Olsen zerstreut, während Kaminski weiterarbeitete. Olsen gehörte zur Wissenschaftsabteilung, einem spezialisierten Arm der Allianz, nicht militärisch.

»Das ist in der Tat eine interessante Frage«, fing Olsen an und schlurfte zu mir herüber. »Die Forschungen dauern noch an. Die gesamte Mahlstrom-Region ist immer noch ein Rätsel. Wussten Sie, dass es in dieser Region mehr Schwarze Löcher gibt als im ganzen Rest des Orion-Arms? Professor Robins von Maru Prime glaubt, dass die Stürme miteinander zusammenhängen könnten – vielleicht das Resultat magnetischer Sterngezeiten …«

»Und bitte sehr«, sagte Kaminski, Olsen unterbrechend. Er fing an, geräuschvoll seine Geräte abzustecken, und der unvermittelte Lärm ließ den Wissenschaftsoffizier auffahren. »Ich hab die Daten über Indienstnahme, relevante Beschäftigungsgeschichte und Personalakten. Sieht aus, als wäre die Haven auf einem Kolonisierungsflug gewesen – ein Siedlerprogramm. Hatte Anweisung, sich auf Torfis Stern zu melden …« Er hielt inne und las etwas vom Terminal ab. Torfis Stern war ein ziemliches Stück von unserer aktuellen galaktischen Position entfernt, und kein vernünftiger Raumschiffkapitän wäre ohne einen verdammt guten Grund so weit vom Kurs abgewichen. »Jetzt verstehe ich, wo die Sache schiefgelaufen ist. Das Navigationsmodul hatte eine Fehlfunktion, und die KI hat versucht, das zu kompensieren.«

»Die Künstliche Intelligenz des Schiffs wäre für alle automatisierten Navigationsentscheidungen zuständig«, sagte Olsen. »Aber die Sicherheitsprotokolle hätten doch das Schiff bestimmt davon abgehalten, so einen katastrophalen Fehler zu begehen?«

Kaminski arbeitete weiter, zuckte aber unverbindlich mit den Schultern. »Das passiert häufiger, als Sie vielleicht denken. Sieht aus, als hätte die KI der Haven einen Systemfehler bekommen. Hat das Schiff dazu gebracht, mehrere Lichtjahre über ihren Zielort hinauszuschießen. Das erklärt dann, wie sie in der Quarantänezone gelandet ist.«

»Zahn zulegen«, sagte ich. Je schneller wir arbeiteten, desto früher würden wir uns mit der Fähre verkrümeln können. Falls die Krell noch immer an Bord waren, könnten wir vielleicht vor Berührung abziehen. Ich aktivierte meinen Kommunikator: »Jenkins – bitte kommen.«

»Jenkins hier.«

»Wir sind auf der Brücke, laden gerade die Blackbox runter. Euer Standort?«

»Wir sind in der Hyperschlaf-Kammer.«

»Statusreport.«

»Keine Überlebenden. Ist nicht schön hier unten. Keine Überreste groß genug für eine Identifizierung. Sieht aus, als hätte es die meisten hier im Hyperschlaf erwischt. Immer noch eingefroren, als sie hopsgegangen sind.«

»Keine Überraschung. Gebt euch keine Mühe, sie zu identifizieren; wir haben das Schiffsmanifest. Vorrücken zum Q-Antrieb. Ende.«

»Verstanden. Ankunft voraussichtlich in drei Minuten.«

Es dauerte eine weitere Minute, die Daten des Flugschreibers herunterzuladen, und noch eine, die Daten zurück nach Liberty Point zu senden. Missionszeit: zehn Minuten. Dann waren wir wieder unterwegs, den zentralen Korridor hinunter, und bewegten uns in Richtung des Q-Antriebs – durch die hässliche Leuchtstreifen-Passage. Der Triebwerksraum befand sich im Heck des Schiffs, also auf der anderen Seite. Olsen schlich direkt hinter mir.

»Hätten Sie jetzt nicht doch lieber eine Waffe mitgenommen, Mr. Olsen?«, fragte Blake.

»Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Waffe abgefeuert«, sagte Olsen abwehrend. »Ich wüsste gar nicht, wie das geht.«

»Ich kann mir keinen besseren Zeitpunkt zum Lernen denken«, antwortete Kaminski. »Wissen Sie …«

Die Oberlichter gingen aus, ein Abschnitt nach dem anderen den Korridor entlang, bis wir in absolute Finsternis gehüllt waren. Gleichzeitig erstarb das Brummen, das von den Lebenserhaltungssystemen ausgegangen war. Die plötzliche Stille war ohrenbetäubend und dehnte sich über lange Sekunden aus.

»Wie haben die das gemacht?«, fing Olsen an. Seine Stimme wurde von den Wänden des leeren Korridors wie ein Kanonenschuss zurückgeworfen, und ich zuckte heftig zusammen. Auf einem toten Schiff wie der Haven pflanzten sich Geräusche fort. »Das haben doch sicherlich nicht die Krell verursacht?«

Unsere Schulterlampen sprangen an. Ich gebot mit erhobener Hand Ruhe.

Irgendwo im Schiff knarrte etwas.

»Scanner!«, flüsterte ich.

Dieses langsame, deutliche Piepsen: ein vereinzeltes Signal irgendwo ganz in der Nähe …

»Kontakt!«, schrie Blake.

Im flackernden Lichtkegel meiner Schulterlampe sah ich etwas über uns aufspringen: nur ein Lichtblitz, nass und schnell …

Blake feuerte eine Salve aus seinem Plasmagewehr ab. Oranges Licht flutete den Korridor. Kaminski rückte vor, sicherte nach vorne ab …

»Feuer einstellen!«, rief ich. »Das ist nur ein geplatztes Versorgungsrohr.«

Mein Team gefror, voller Adrenalin, die Augen aufgerissen. Vier Schulterlampen erleuchteten die dunkle Decke, untersuchten den Schaden, den Blakes Plasmaschüsse verursacht hatten. Tatsächlich, da hing ein Bündel geborstener Plastikröhren aus der abgehängten Decke: Begleitet vom lethargischen tropf-tropf austretenden Wassers.

»Du dämlicher Affenarsch, Kleiner!« Kaminski lachte. »Dein Abzugsfinger juckt ja mehr als meine Eier!«

»O Christo!« Olsen schrie.

Eine Krell-Primärform schälte sich geschmeidig – viel zu geschmeidig für etwas von dieser Größe – von irgendwo über uns heraus. Es landete auf dem Deck, keine zehn Meter vor uns.

Ein Stachel durchfuhr mich. Kein physischer, ein mentaler – obwohl die Reaktion stark genug war, dass meine Medizineinheit eine weitere Ausgleichsdroge ausschüttete. Plötzlich war ich messerscharf, im Kampfmodus. Das hier war nicht länger ein Erkundungs- oder Bergungseinsatz.

Das Team verteilte sich augenblicklich, bezog Positionen um den Xeno herum. Keine Aussicht auf Fehlalarm mehr.

Das Wesen verharrte und zuckte mit allen sechs Beinen. Es war nicht bewaffnet, aber das machte es nicht minder gefährlich. Irgendetwas an den Krell war so wahnsinnig falsch. Ich konnte mich immer noch an das erste Mal erinnern, als ich eines gesehen hatte, und an das Gefühl völliger Unstimmigkeit, das mich befallen hatte. Im Laufe der Jahre hatte sich das Gefühl zu einer hodenfrostenden Lähmung vertieft.

Vor uns stand eine Primärform, die niedrigste Schicht des Krell-Kollektivs, trotzdem war es immer noch größer als jeder von uns. Eingehüllt in das Krell-Äquivalent von Kampfpanzerung: gehärtete Schalenplatten, die mit der graugrünen Haut des Xenos verschmolzen waren. Es war unmöglich zu sagen, wo Technologie aufhörte und Biologie anfing. Der Rücken des Viehs war übersät mit Antennen – die sowohl Waffen als auch Mittel zur Kommunikation mit dem Rest des Kollektivs waren.

Das Krell drehte den Kopf, wie um unsere Anwesenheit zu bestätigen. Es hatte ein entfernt fischähnliches Gesicht, mit einem Paar tiefer, pechschwarzer Augen und Barteln, die aus dem Mund herabhingen. Unter dem Maul spannte sich rhythmisch ein Paar von Kiemen an, das giftige Dämpfe verströmte. Diese haiartigen Züge hatten ihnen den Spitznamen »Fischköpfe« eingebracht. Aus den Schultern entsprangen zwei Armpaare – das eine verkümmert, mit Klauenhänden; das andere mit knochigen, sägeartigen Vorsprüngen –, die Unterarme eines Raubtiers.

Das Xeno bäumte sich auf, und augenblicklich stürmte es den Korridor entlang auf uns zu.

Ich feuerte mein Plasmagewehr ab. Der erste Schuss detonierte im Brustkorb des Xenos, trotzdem rannte es weiter. Der zweite Schuss traf einen der klingenbewehrten Vorderarme, der komplett abgerissen wurde. Dann fingen auch Blake und Kaminski an zu feuern – und der Korridor war erleuchtet von gleißenden Plasmaimpulsen. Die Kreatur sackte zu einer weißglühenden Sauerei zusammen.

»Und, wie gefällt Ihnen das, Olsen?«, fragte Kaminski. »Die sind doch recht freundlich für eine Spezies, mit der wir angeblich Frieden geschlossen haben.«

Irgendwann während des Angriffs war Olsen zusammengesackt und in die Knie gegangen. Da saß er einen Moment lang, sah auf seine Hände in den Handschuhen hinab. Seine Augen waren gehetzt, die Wangen bleiern, und er wirkte um Jahre gealtert. Er schüttelte den Kopf, kam wankend auf die Beine. Aus der Sicherheit eines Labors heraus war es einfach, die Krell als eine andere, intelligente Spezies anzusehen, lediglich als Ebenbild eines fremden Gottes erschaffen. Sie aber aus der Nähe zu sehen und Zeuge ihres angeborenen Verlangens, die menschliche Rasse auszulöschen, zu werden, ließ einen begreifen, was sie wirklich waren.

»Wir haben jetzt den Ernstfall, Männer. Zusammenbleiben und alles nach Plan. Haven ist erwacht.«

»Verstanden«, murmelte Kaminski.

»Wir rücken zum Sekundärziel vor. Sobald die Daten vom Generator überspielt sind, ziehen wir uns durch den Hauptkorridor zur Fähre zurück. Also Laufschritt und ausrücken.«

Es gab keine Pause, um unsere Begegnung an Jenkins und Martinez weiterzuleiten. Die Krell hatten die eigentümliche Fähigkeit, Funksprüche wahrzunehmen, sogar verschlüsselte Übertragungen wie die, die unsere Anzüge benutzten, deshalb herrschte jetzt, da das Kollektiv erwacht war, komplette Funkstille.

Als ich mich in Bewegung setzte, aktivierte ich den Computer, der ins Handgelenk des Anzugs eingelassen war. Ach du Scheiße. Die Gänge des Schiffs wimmelten von Bewegung und Lebensformen. Unser Weg wurde in Schatten und Tod gehüllt – jede dunkle Ecke ein mögliches Krell-Nest.

Missionszeit: zwölf Minuten.

Wir erreichten die Kammer des Quantentriebwerks. Die großen, verstärkten Türen waren geschmückt mit Warnhinweisen, darüber flammte rote Notbeleuchtung auf.

Der Boden explodierte, als drei weitere Krell auftauchten – eine Masse von Chitinpanzern und Klauen. Blake ging als Erster zu Boden, das größte Krell schleifte ihn in einen Wartungsschacht. Er riss das Gewehr hoch, um zu feuern, aber es war zu wenig Platz, um in komplettem Kampfanzug zu manövrieren, deshalb konnte er die Waffe nicht ausrichten.

»Durchhalten, Kleiner!«, brüllte ich, während ich die näher kommenden Krell unter Feuer nahm und versuchte, ihn zu befreien.

Die zwei anderen Xenos kletterten über ihn hinweg und versuchten verzweifelt, zu mir zu gelangen. Ich trat nach ihnen, versenkte eine Hand im Gewimmel der Körper in dem Versuch, Blake zu packen. Er verlor sein Gewehr und stieß einen gequälten Schrei aus, als die Kreaturen ihn zu Boden rissen. Es half alles nichts – entweder war er bereits tot, oder er würde es bald sein. Selbst in der verstärkten Panzerung würden ihn die Viecher auseinandernehmen. Seine Hand rutschte mir durch die Finger, gerade als sich die anderen Krell aus der Öffnung des Schachts befreiten.

»Blake hat’s erwischt!«, schrie ich. »’Ski – Granate.«

»Verstanden.«

Kaminski machte eine Brandgranate scharf und warf sie in das Nest. Sie flog den Tunnel hinunter und hüllte ihn in bernsteinfarbenes Stroboskop-Warnlicht. In dem Sekundenbruchteil, bevor sie hochging, als ich mein M95 hochriss, um zu feuern, sah ich, dass der Tunnel jetzt voller Xenos war. Viel, viel mehr, als wir mit unserem Team würden töten können.

»Passen Sie doch auf – Sie könnten ein Loch in die Hülle reißen mit solchen Sprengsätzen!«, jammerte Olsen.

Die Hülle zu durchlöchern war meine geringste Sorge. Die Granate zündete, Krell flogen in alle Richtungen. Im letzten Moment drehte ich mich von der Explosion weg und spürte, wie sich glühendes Schrapnell in meinen Kampfpanzer bohrte – und sich Granatsplitter im Kreuz einnisteten. Der Anzug kompensierte die Wand aus weißem Rauschen und dämpfte kurzzeitig meinen Toneingang.

Die Zielerfassung des M95 registrierte herumliegende Krell, und ich feuerte, ohne nachzudenken. Ein Impuls nach dem anderen fuhr in den Tunnel, spaltete gepanzerte Köpfe und riss klauenbewehrte Gliedmaßen ab. Irgendwo da hinten, inmitten des Durcheinanders aus Körpern und Trümmerteilen, war Blake; aber es dauerte ein paar lange Sekunden, bevor mein Anzug meldete, dass seine Lebenszeichen endgültig erloschen waren.

Gute Reise, Blake.

Kaminski rührte sich hinter mir. Seine technische Ausrüstung war bereits mit der Zugangskonsole zur Antriebskammer verbunden und ließ Hacker-Algorithmen laufen, um uns Eintritt zu verschaffen.

Der Rest des Teams kam im Dauerlauf in Sicht. Noch mehr Krell kletterten jetzt aus dem Loch im Boden. Martinez und Jenkins fielen mit ihren Gewehren in die Salven ein und gingen vor der Tür zur Antriebskammer in Position.

»Schön, dass ihr es auch noch geschafft habt. Läuft nicht wirklich nach Plan hier unten.«

»Na ja, wir haben unterwegs ein paar Freunde getroffen«, murmelte Jenkins.

»Wir haben den Kleinen verloren. Blake hat’s erwischt.«

»Ach, Scheiße«, sagte Jenkins kopfschüttelnd. Sie und Blake standen sich nahe, aber sie hielt sich nicht länger mit seinem Tod auf. Keine Zeit zum Trauern, stand ihr ins Gesicht geschrieben, wir könnten als Nächste dran sein.

Die Zugangstür öffnete sich knarrend. Dahinter waren weitere Doppeltüren; darauf stand QUANTENTRIEBWERKSRAUM – ZUTRITTFÜRUNBEFUGTEVERBOTEN.

Eine ruhige elektronische Stimme spulte eine Nachrichtenschleife ab: »Achtung. Achtung. Sicherheitsschott zum Triebwerksraum wurde geöffnet. Extremes Strahlenrisiko. Achtung. Achtung.«

Eine Sekunde zu spät fingen die Biosensoren meines Anzugs zu pfeifen an, verzeichneten massive Strahlungswerte. Ich durfte keinen Gedanken daran verlieren. Strahlung war in so einem Einsatz immer eine Gefahr, aber das Risiko, von den Krell getötet zu werden, war unmittelbarer. Ich ratterte ein paar Schüsse in die Schatten und hörte sie in hartes Chitin einschlagen. Die Viecher schrien, und ihre Stimmen vermischten sich mit dem Alarmsystem zu lautstarker Kakophonie.

Kaminski bekam die innere Tür auf. Er und Martinez rückten vor. Ich gab zusammen mit Jenkins Deckungsfeuer, während wir uns langsam zurückzogen und die Viecher unsere Verteidigung testeten. Es war schwierig, bei dem unterbrochenen Licht etwas auszumachen: das Aufblitzen einer Klaue, ein Alienkopf, dann eine Plasmaexplosion, als ein weiteres zu Boden ging. Mein Anzug zählte zehn, zwanzig, dreißig Ziele.

»Durch die Luftschleuse«, schrie Kaminski, dann waren wir plötzlich alle drin, gebadet in Schweiß und Blut.

Die Antriebskammer barg das komplexeste Stück Technologie im ganzen Schiff – den Energiekern. Früher einmal hätte man das wohl Maschinenraum genannt. Jetzt aber war das Gerät, das die Kammer beherbergte, so weit fortgeschritten, dass es keine mechanischen Teile mehr hatte. Der Energiekern des Antriebs saß in der Mitte des Raums – eine hässlich anzusehende Metallkiste, so groß, dass sie fast den ganzen Platz einnahm, übersät mit noch mehr Warnhinweisen. Das war unser Ziel.

Olsen riskierte einen Blick in die Kammer, blieb aber dicht bei mir, als wir um die Maschine herum in Stellung gingen. An der Schalttafel neben der Tür hielt Kaminski inne und verschloss die innere Schleuse. Trotz der verstärkten Metalltüren war das Schreien und Kreischen der Krell immer noch zu hören. Mir war klar, dass sie weniger als eine Minute brauchen würden, um durch die Türen zu kommen. Dann war über uns Krabbeln und Kratzen zu vernehmen. Die Kammer war dafür vorgesehen, sicher zu sein, aber die Dinger waren wahrscheinlich schon lange genug an Bord, um jeden Zugangsschacht und jeden Raum zu kennen. Sie waren im Vorteil.

Die werden hier früh genug einen Weg rein finden, dachte ich. Plötzlich fiel mir der Anblick des toten Handelskapitäns wieder ein – immer noch auf seinen Sitz auf der Brücke geschnallt.

Auf einmal dämmerte mir die Möglichkeit, dass ich hier draußen sterben würde. Der Gedanke löste einen Wutanfall aus – nicht gegen das Allianzmilitär gerichtet, das uns hierher geschickt hatte, nicht gegen die idiotischen Kolonisten, die ihr Schiff in die Quarantänezone geflogen hatten, sondern gegen die Krell.

Mein Anzug veranlasste keine medizinische Reaktion, um meine Emotionen auszugleichen. Zorn ist gut. Er war rein und gab mir Klarheit.

»Jenkins, Sprengsätze anbringen.«

»Jawohl, Captain.«

Jenkins ging zum Antriebskern und fing an, ihr Zubehör auszupacken. Sie hatte drei Sprengladungen bei sich. Jede der großen Metallscheiben verfügte über ein separates Bedienfeld und enthielt eine schwache nukleare Ladung.

»W- was tun Sie denn da?«, stammelte Olsen.

Jenkins arbeitete weiter, schüttelte aber lächelnd den Kopf. »Wir werden den Generator zerstören. Sie hätten die Einsatzanweisungen lesen sollen. Das war Ihr erster Fehler.«

»Und keine Waffe mitzubringen sein zweiter«, fügte Kaminski hinzu.

»Wenn wir diese Ladungen zünden«, murmelte Jenkins, »wird die entstehende Explosion den Q-Antriebskern durchbrechen. Das nimmt das Hauptdeck auseinander. Und dann zerstört die Kettenreaktion das Schiff.«

»Kurz gesagt: gran explosión«, sagte Martinez.

Kaminski lachte. »Fängst du schon wieder an. Du weißt, dass ich es hasse, wenn du kein Standard sprichst. Das macht Martinez ständig – ist von irgendwas begeistert und fängt an, komisch zu reden.«

»El no habla la lengua«, sagte ich. Man kann nicht in Groß-Detroit aufwachsen, ohne was von dieser Sprache aufzuschnappen.

»Das ist Spanisch«, antwortete Martinez und warf Kaminski einen Seitenblick zu.

»Ich dachte, du wärst von der Venus?«, sagte Kaminski.

Olsen winselte wieder. »Wie können Sie in so einer Situation Witze machen?«

»Weil Kaminski ein Arschloch ist«, sagte Martinez, ohne zu zögern.

Kaminski zuckte mit den Schultern. »Wir sind im Krieg.«

Bumm. Bumm.

»Lass uns genug Zeit, um uns zur Fähre zurückziehen zu können«, befahl ich. »Sprengsätze mit fünf Minuten Verzögerung setzen. Ihr anderen: cállate y trabaja – Maul halten und an die Arbeit.«

»Zu Befehl.«

Bumm! Bumm! Bumm!

Jetzt waren sie fast durch. Auf der Metalltür bildeten sich erste Beulen.

Jenkins programmierte nacheinander die Ladungen, benutzte magnetische Klammern, um sie an der Außenwand des Kerns zu verankern. Zwei waren schon scharf, und sie arbeitete an der dritten. Sie positionierte die Ladungen sehr bedacht, sehr vorsichtig, um sicherzugehen, dass jede dem Kern maximalen Schaden zufügen würde. Falls eine von ihnen nicht hochginge, würden die anderen als Absicherung fungieren. Wahrscheinlich gab es einen ausgefeilteren Weg, das zu tun – vielleicht ließ sich der Q-Antrieb direkt hacken –, aber das würde dauern, und im Moment war Zeit genau das, was wir nicht hatten.

»Präzise wie immer«, sagte ich zu Jenkins.

»So bin ich.«

»Nimm ruhig ’n paar Abkürzungen; uns rennt die Zeit davon«, rief Kaminski.

»Fick dich, ’Ski.«

»Werden uns fünf Minuten denn reichen?«, fragte Olsen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Das muss reichen. Bereitet euch auf heftigen Widerstand unterwegs vor, Leute.«

Mein Anzug zeigte an, dass der Hauptkorridor von den Krell überrannt war. Mittlerweile würden sie auch in der Fähre sein, wahrscheinlich darauf wartend, dass wir uns zurückzogen.

BUMM! BUMM! BUMM!

»Sobald die Ladungen fertig sind, will ich eine Verteidigungslinie an dieser Tür sehen«, wies ich an.

»Das darf nicht überstürzt werden hier.«

Das Schaben von Klauen auf Metall über unseren Köpfen verstärkte sich. Ich fragte mich, welche Deckung zuerst nachgab: ob die Krell durch die Decke oder durch die Tür kommen würden.

Kaminski warf einen erwartungsvollen Blick in Richtung Jenkins zurück. Olsen stand einfach nur da, sein Atem so schwer, dass ich ihn über Funk hören konnte.

»Und fertig!«

Die dritte Ladung rastete ein. Jenkins schnellte hoch, zusammen mit Martinez; Kaminski stand an der Türkonsole bereit. Um uns herum waren jetzt überall Geräusche, Signale überfluteten unsere Stellung. Mir blieb keine Zeit, um eine vernünftige Strategie für unseren Rückzug auszuarbeiten.

»Jenkins – bau uns eine Absperrung mit deiner Fackel. Kaminski – auf mein Zeichen.«

Ich ließ die Hand sinken, und die Türen fingen an, sich zu öffnen. Der Mechanismus bockte und stöhnte protestierend. Sofort packten die Krell die Türflügel und warfen sich gegen den Metallrahmen, um durchzubrechen.

Ein Schauer von Dornenstacheln – Pfeilgeschosse, die Krell-Variante von panzerbrechender Munition – sauste durch den Raum. Drei von ihnen durchschlugen meinen Anzug; eine gerade Linie schwarzer Stacheln stand aus meinem Brustkorb heraus, und diese Stacheln weinten Blutgeriesel. Krelltechnik ist so viel abgefuckter als unsere. Die Stacheln waren giftgetränkt und mein Körper augenblicklich mit genug Toxin geflutet, um einen Bullen zu töten. Vergebens versuchte mein Anzug, mit einem Cocktail aus Adrenalin und Gegengift gegenzusteuern.

Martinez schmiss die nächste Granate in die Horde. Als sie landete, knickten die vordersten Kreaturen ein, um ihre Artgenossen vor der Explosion zu schützen. Hirnlose Wichser.

Wir rückten in Formation vor. Schuss um Schuss bohrte sich in die Viecher, trotzdem kamen sie weiter auf uns zu. Eine Welle nach der anderen stürmte in die Antriebskammer. Plötzlich waren die Türen verschwunden. Der Lärm war unerträglich – das Hupen, die Warnungen, ein Chor von Geschrei, Gekreische und Geheule. Das Klingeln in meinen Ohren ließ nicht nach, als noch mehr Granaten explodierten.

»Wir kommen hier nicht mehr raus!«, schrie Jenkins.

»Dranbleiben! Die Fähre ist direkt vor uns!«

Vielleicht hatte Jenkins recht, aber ich würde sicher nicht aufgeben, ohne mich verdammt teuer zu verkaufen. Irgendwo in dem Chaos wurde Martinez zerfetzt. Sein Körper verschwand unter einer wimmelnden Masse. Jenkins entfesselte ihren Flammenwerfer – wie um Martinez auf eine absurde Art zu rächen. Olsen weinte und hatte jetzt seinen Helm ebenso weggeschmissen wie der Rest von uns.

Der Krieg macht alle gleich.

Ich packte das nächste Krell mit einer Hand und brach ihm das Genick. Mit der anderen drückte ich den Abzug des Plasmagewehrs durch, wollte einfach so viele von ihnen mitnehmen wie möglich. Auf meinem Display erschien auf einmal eine neue Warnung – ein Countdown, der unaufhaltsam zu Ende ging.

Zehn… neun… acht… sieben…

Dann war Jenkins am Ende. Ihr Flammenwerfer ein Leuchtfeuer und ihr eigenes Blut eine Fontäne zwischen den Körpern der Aliens. Ich hatte Mühe, mich auf irgendetwas außer den Schmerzen in meiner Brust zu konzentrieren. Mein Anzug meldete katastrophalen Schaden an zu vielen Stellen. Mein Herz fing an, langsamer und abgehackter zu schlagen.

Sechs… Fünf… Vier…

Mein Gewehr bockte protestierend. Sogar durch die verstärkten Handschuhe war der Lauf glühend heiß.

Drei… Zwei… Eins…

Die Sprengsätze zündeten.

Leckgeschlagen destabilisierte sich der Antimaterie-Kern. Die Reaktion erfolgte augenblicklich: Unkontrolliert brach weiße und blaue Energie hervor. Eine Reihe von Explosionen pflanzte sich entlang des Schiffsrückens fort. Sie wurde zu einem weißglühenden Schmutzfleck in der Schwärze des Alls.

Dann war das Schiff verschwunden, mit allem darin.

Die Krell hielten nicht inne.

Sie begriffen nicht einmal, was passiert war.

2

EXTRAKTION

GFRMICHAELBLAKE: TOT.

GFRELLIOTMARTINEZ: TOT.

GFRVINCENTKAMINSKI (ELEKTROTECHNIKER, 1. GRAD): TOT.

WISSENSCHAFTSOFFIZIERGORDENOLSEN: TOT.

KORPORALKEIRAJENKINS (SPRENGMEISTER, 1. GRAD): TOT.

WARTEAUFANTWORT … WARTEAUFANTWORT … WARTEAUFANTWORT …

CAPTAINCONRADHARRIS: TOT.

Das war der Teil, den ich am wenigsten leiden konnte.

Aufzuwachen war immer schlimmer, als zu sterben.

Ich schwebte in meinem Simulationstank – das Gesicht von einer Atemmaske bedeckt – und blinzelte Fruchtwasser aus den Augen, um den Bildschirm besser lesen zu können. Das Gebräu brannte wie die Hölle. Die Wörter liefen über einen Monitor, der oberhalb meines Tanks angebracht war. Alles war durch die Flüssigkeit in meinem Simulator in ein klares, gleißendes Blau gehüllt.

ABFLUSSPROTOKOLLEINGELEITET …

Aus dem Tank kam ein hydraulisches Zischen, und die Flüssigkeit begann sich zurückzuziehen. Sie kühlte bereits ab.

Sofort war ich kleiner, aber trotzdem schwerer. Das Atmen war anstrengend. Diese Lunge hatte nicht die Kapazität eines Simulaten, und mir war klar, dass es ein paar Minuten dauern würde, mich wieder daran zu gewöhnen. Ich sah das Spiegelbild auf der Innenseite der Plasglas-Abdeckung und erkannte es nicht sofort als meins. Es war das Gesicht, mit dem ich geboren worden war, und das hier war der Körper, mit dem ich seit vierzig Jahren gelebt hatte. Ich war nackt, direkt mit dem Simulator verbunden. Im Fundament des Geräts waren Kabel angeschlossen, durch die ich meinen Simulaten steuern konnte, da draußen in den Tiefen des Alls. Mein Biorhythmus erschien zusammen mit dem all meiner Teammitglieder auf demselben Monitor.

Alle am Leben, alle da. Alle heil zurückgekommen.

Ich hatte meine eigene lebende Simulation gesteuert, hergestellt aus meinem Gewebe. Das waren die sogenannten Simulaten: genveränderte Kopien, die stärker, größer, schneller waren. Die Sims bildeten die ultimate Waffe, basierend auf menschlichem Erbgut, aber beschleunigt und verändert – in jeder Hinsicht verbesserte Menschen. Im Labor gezüchtet, zielgerichtet entworfen. Und jetzt war mein Simulat tot. Er war auf der New Haven gestorben. Ich war lebendig und sicher auf Liberty Point.

Ich war ein Soldat der Allianz – genauer gesagt, im Simulatenprogramm. Nach außen hin war das Programm eine Spezialoperation, die von der Armee unterhalten wurde. Tatsächlich ging es hier aber um Kriegsführung auf einer ganz anderen Ebene als alles, was es je gegeben hatte, weshalb das Programm von allen anderen Abteilungen des Allianz-Militärs abgegrenzt war.

Ich setzte mich auf den Boden des Tanks und koppelte mich von den Kontrollkabeln ab. Die neurale Verbindung war gekappt worden, als mein Sim von den anstürmenden Krell getötet worden war, aber als ich die Klinke aus meinem Nacken zog, jagte das trotzdem einen kurzen, stechenden Schmerz durch meinen Körper. Meine Arme und Beine fühlten sich so schwach an wie die eines Babys, nutzlos. Es war schwer zu begreifen, dass ich mich einmal mehr an all das gewöhnen musste. Ich mochte diesen Körper nicht besonders: Der Sim hatte wesentlich besser gepasst.

Sobald die Flüssigkeit komplett abgeflossen war, glitt die Tür des Tanks auf. Ich riss mir die Atemmaske vom Gesicht, warf sie beiseite und stieg langsam heraus. Ich schüttelte Flüssigkeit von meinen Gliedmaßen und zitterte. Ein Sanitäter hüllte mich in eine wärmende Aluminiumdecke. Ein weiterer griff nach den biometrischen Blechmarken, die um meinen Hals hingen, um sie zu scannen.

»Erfolgreiche Extraktion, Captain«, sagte er. »Gute Arbeit.«

In Armen und Beinen machte sich dumpfer Schmerz bemerkbar. Auf meiner Brust zeigten sich drei rote Schürfwunden – Phantom-Wunden, hervorgerufen durch den Angriff der Krell. Außerdem waren auf meinen Gliedern entzündete Striemen und Abschürfungen wie von Peitschenhieben zu sehen, die mich an die Prügel erinnerten, die mein Sim bezogen hatte. Mit tauben Fingern tastete ich meinen Brustkorb ab – fast erwartete ich, dass da noch Dornenstacheln steckten. Meine Ohren dröhnten immer noch von dem Geschrei sterbender Krell.

Alles, was passiert war, war Wirklichkeit gewesen.

Nur keine Wirklichkeit für mich, zumindest nicht physisch.

Wir waren im Simulaten-Einsatzzentrum auf Liberty Point. So weit das Auge reichte, war die Halle mit identischen Buchten vollgestopft – in jeder eine Einsatzgruppe, die Sims auf Missionen draußen in der Quarantänezone steuerte.

Um mich herum standen die Simulationstanks meines Teams. Alle durchliefen das gleiche Entkoppelungs-Protokoll.

»Gute Arbeit, Leute«, brachte ich heraus. Es klang wie das Lallen von jemandem, der tagelang gesoffen hat; als wäre es nicht mein eigener Körper.

Ich sah mir mein Team an. Sie sahen aus wie blassere Kopien ihrer Simulaten, oder vielleicht sahen die Sims auch aus wie verbesserte Versionen meiner Leute. Alle waren athletisch gebaut, erschienen aber eher wie Ausdauersportler als wie Bodybuilder.

Sie waren alle erfahrene, gestählte Krieger – geistig wie körperlich. Aber wir waren keine regulären Soldaten. Es gab wichtige Unterschiede zwischen einem Simulatlenker und einem normalen Soldaten. Jeder von uns war übersät mit Datenbuchsen, am Steiß, am Nacken, den Unterarmen, den Oberschenkeln. Mit denen waren unsere Körper an die Simulatoren angeschlossen.

»So, vorwärts, Leute«, trieb Jenkins den Rest der Truppe an. »Raus aus den Tanks, abkoppeln. Zack, zack.«

Obwohl sie sich alle Mühe gab, das nicht zu zeigen, sah sie gut aus. Sie hatte einen kleinen, fitten Körper und die dunklen Haare der Einfachheit halber für den Aufenthalt im Tank als Bob getragen. Mit etwas über dreißig war Jenkins jetzt schon seit zehn Jahren bei der Armee und zeigte keine Scheu, nackt zwischen männlichen Soldaten zu stehen. Die nahmen ihr Aussehen kaum wahr.

»Jawohl, Frau Korporal.« Kaminski feixte.

»Ach leck mich, ’Ski. Ich bin genauso Freiwillige wie der Rest von euch.« Jenkins rubbelte sich die Haare trocken. »Den Scheiß mit dem Dienstgrad kannst du dir schenken, bis ich die Beförderung bekommen hab.«

»He, Kaminski«, sagte Blake. »Wie viele Jahre musst du noch als Gefreiter machen?«

»Ich hör dir gar nicht zu«, sagte Kaminski.

Er stolperte aus seinem Tank und fuhr sich mit der Hand über die Stoppelhaare – er war zwar erst zweiunddreißig, aber sie lichteten sich schon, deshalb trug er sie kurz. Er hatte den Großteil seiner Militärlaufbahn als Gefreiter verbracht und war so oft degradiert worden, dass ich aufgehört hatte mitzuzählen.

Kaminskis Oberkörper war komplett tätowiert, von einem stilisierten Phönix bis hin zu einem frech grinsenden Sensenmann. Alles Auferstehungssymbolik: Tod und Wiedergeburt, das war etwas, das nur Simulatlenker wirklich erlebten. Quer über die Schulterblätter prangte der Neuzugang auf seinem Fleischgemälde, FISCHFUTTER in geschwungenen Lettern. Diese besondere Markierung hatte er sich nach einer durchzechten Nacht und einer Wette mit Jenkins verpasst, die er offensichtlich verloren hatte. Er grinste albern und zeigte auf eine Phantom-Verletzung am Kopf.

»Hey, Jenkins«, sagte er, »es wäre ja wohl nicht zu viel verlangt, dass du die Sprengladungen nächstes Mal ein bisschen schneller setzt, oder? Hätte mir ’ne ganze Menge Schmerzen von den Fischköpfen erspart.«

»Mir doch egal, ’Ski«, sagte Jenkins. »Wenigstens haben sie dir direkt auf die Rübe gezielt. Da ist eh nicht viel drin, was du vermissen würdest.«

Martinez lachte. »Die Frau Korporal ist dir über.«

Der Letzte im Bunde hatte den Übergang nicht so gut überstanden. Olsen war extrem mitgenommen von der ganzen Prozedur. Das physische und mentale Abkoppeln zwischen Simulat und Lenker war keine angenehme Erfahrung, außerdem war er nicht darin ausgebildet. Genau deswegen schickte man auch nur Simulatlenker ins Feld. Nicht jeder war dazu imstande. Olsen unserer Truppe zuzuteilen war ein teures Experiment gewesen. Die Datenbuchsen an Rückgrat und Unterarmen waren vom Gewebe gerade erst angenommen worden; das umliegende Fleisch war stark gerötet, was sich von seiner schlaffen, weißen Haut auffällig abhob.

»Sie werden anfangs Probleme mit dem Laufen haben«, erklärte ihm ein Sanitäter. »Der Simulat, den Sie bis eben noch gesteuert haben, war ein gutes Stück größer als Sie. Die unterschiedliche Augenhöhe könnte Sie verwirren. Versuchen Sie, langsam und ruhig zu atmen. Gucken Sie in dieses Licht …«

Leutnant Dyker tauchte auf, der etwas auf einem Tablet kontrollierte. Er steckte in einer Khaki-Uniform und hatte die Ärmel hochgekrempelt. Dyker war unser Betreuer; er steuerte die Missionen vom Point aus und gab mir die nötigen Infos durch.

»Willkommen zurück im Hoheitsgebiet der Allianz, Captain Harris«, sagte er und schenkte mir ein mattes Lächeln. Dyker sah nie ausgeschlafen aus: sein Gesicht eine immerwährende, müde Knautschzone. »Abgesehen von den sechzehn Millionen Credits an militärischer Hardware, die bei der Explosion zerstört wurden, würde ich sagen, die Mission war ein Erfolg.«

Dyker bezog sich auf den Verlust der Sims und der Wildcat-Fähre. Die Einsatzregeln waren nur grob umrissen, außerdem waren die Sims entbehrlich. Das machte sie im modernen Krieg einzigartig, denn so konnten sie Einsätze durchführen, die für reguläre Truppen Selbstmordkommandos gewesen wären. Trotzdem hatten wir Anweisung, die Sims wenn möglich heil zurückzubringen – jeder Einzelne war richtig teuer.

»Was soll ich sagen?«, fragte ich rein rhetorisch. Für Dyker nahm ich mir immer Zeit; er gab mir den nötigen Spielraum, um im Einsatz zu tun, was getan werden musste. »Das Schiff hat vor Krell nur so gewimmelt. Die haben uns nicht wirklich eine Wahl gelassen.«

Dyker zuckte mit den Schultern. »Macht nichts.« Er schob einen Daumen in Richtung Olsen. »Schätze, der wird das nicht noch mal probieren.«

»So was sollte man den Profis überlassen.«

Dyker nickte. Sein Blick wirkte irgendwie traurig. »Das werde ich an den Stab weitergeben. Ansonsten ist der Einsatz gut gelaufen. Das Schiff ist neutralisiert, das Schicksal der Besatzung geklärt. Und wir haben die Daten der Blackbox.« Er sah auf sein Tablet. »Das war dann Ihr zweihundertachtzehnter Trip. Sie sind wirklich ein eiskalter Killer. Wissen Sie, wie man Sie unten im Viertel nennt?«

»Keine Ahnung«, sagte ich und konzentrierte mich darauf, mich abzutrocknen. Das war eine Lüge – natürlich wusste ich es. Auch wenn es mir nicht schmeckte, war ich schon von vielen Lenkern so genannt worden.

»Die nennen Sie Lazarus«, sagte Dyker. »Weil Sie immer wiederkommen. Was auch passiert, Sie kommen immer zurück.« Er seufzte. Fuhr sich zerstreut über den Nacken. »Melden Sie sich auf der Krankenstation für Ihr psychologisches Gutachten und die Kontrolluntersuchung. Danach haben Sie sich sieben Tage Freigang auf der Station verdient. Genießen Sie es.«

»Ich werd’s versuchen.«

»Im Ernst, Harris.«

Er rieb sich weiter den Nacken, und da fiel mir das Tattoo an seinem Handgelenk auf – die Nummer siebenundfünfzig.

Er verließ unsere Box, und ich stand da und versuchte zu vergessen, wie sich das Sterben anfühlte. Hoffentlich würde ich nie so enden wie Dyker: ausgemustert und aufgezehrt.

Die Ärzte checkten mich durch. Ich hatte die üblichen Tests und die üblichen Ergebnisse.

Keine Nachwehen im Großhirn.

Die körperlichen Schmerzen würden verblassen.

Die Stigmata würden nach und nach verschwinden.

Bleibende Hirnschäden waren unwahrscheinlich.

Alles ging seinen gewohnten Gang. Eigentlich hatten die Mediziner aufgehört, die Tests besonders ernst zu nehmen. Sie waren nur kurz und oberflächlich; ich hatte bewiesen, dass ich eine stabile Plattform für eine biologisch gezüchtete Kampfmaschine war.

Natürlich gab es reale und greifbare Gefahren für lenkende Soldaten wie mich. Ein Lenker konnte einen Herzinfarkt oder extreme Überlastung der Sinnesorgane erleiden, während er mit einem Simulaten verbunden war. Solche Vorkommnisse waren oft tödlich, aber auch extrem selten. Sehr viel wahrscheinlicher war ein schleichender geistiger Verfall, dadurch verursacht, dass man immer weniger imstande war, zwischen Realität und Simulation zu unterscheiden. Das kam häufiger vor, als das Militär zugeben wollte, aber solche Lenker wurden normalerweise schon relativ früh identifiziert. In meinem Fall war dazu nach so vielen Übergängen nicht mehr viel zu sagen. Solange ich keine Bruchlandung hinlegte, würde ich im Programm bleiben.

Ich duschte und zog mir die Borduniform der Sim-Einheit an. Da ich an die Desorientiertheit gewöhnt war, die der Übergang zurück in meinen eigenen Körper mit sich brachte, legten sich die Auswirkungen schnell. Olsen würde der ganze Vorgang wahrscheinlich außer Gefecht setzen, aber ich fühlte mich etwa zwanzig Minuten nach der Extraktion wiederhergestellt.

Ich verließ den Medizintrakt und ging hinunter auf den inneren Ring der Station. Kaminski rannte mir hinterher.

»Wart auf mich, Cap«, rief er. »Hast du ein bisschen Diensturlaub geplant? Wir könnten runter ins Viertel gehen und vielleicht noch ein paar Leute mitnehmen? Blake, Jenkins und Martinez sind auch dabei.«

»Auf einen Drink komm ich mit. Aber nicht mehr.«

Kaminski lachte. »Im Viertel wird das immer mehr.«

Eine Sirene ertönte in der Nähe. Wir waren ungerührt – das passierte häufig auf der Station.

»Dies ist ein Notfall«, sagte eine Frau über die Lautsprecher des Point. »Alle verfügbaren Einheiten der Militärpolizei sofort zu Sektor fünf. Terroristenangriff im Gang.«

Wir bewegten uns lässig durch die Menge von Zivilisten und Soldaten und entfernten uns von Sektor Fünf. Eine Kampftruppe in den schwarzen Uniformen der Militärpolizei kam uns mit geschulterten Karabinern entgegen.

»Sieht nach Ärger aus.«, sagte Kaminski. »Wenn wir nicht gerade gegen die Krell kämpfen, müssen wir uns untereinander bekriegen.«

»Das Direktorat wird es nie lernen«, sagte ich.

An der Monorail-Station war alles ruhig; hier trieben sich nur eine Handvoll Soldaten und Jungs von der Flotte herum, die dienstfrei hatten.

»Nimmst du die Bahn?«, fragte Kaminski. Sofort schien er seinen Fehler zu bemerken.

»Ich geh zu Fuß«, sagte ich.

Kaminski nickte nur.

Ich ließ Kaminski an der Haltestelle stehen und nahm den Aufzug hoch zu Sektor drei. Das war mein Ritual nach jedem Sim-Einsatz, und das musste ich alleine absolvieren.

Sektor drei war praktisch verlassen. Bis auf vereinzelte leidtragende Eltern sah ich nur sehr wenig Verkehr. Mama und Papa geben ihr ganzes Erspartes für ein Q-Sprung-Ticket aus, wollen unbedingt noch von Jonny oder Joanne Abschied nehmen. Dieser Ort gab mir Raum zum Nachdenken.

Ich ging durch die leeren Gänge in Richtung der Gedächtnishalle. Unterwegs kam ich an Bildschirmen vorbei, die Liberty Point in der Außenansicht zeigten. Es war die größte Operationsbasis der Allianz am Rand der Quarantänezone; hier lebten mehrere Tausend Soldaten und noch einmal so viel Personal von Luftwaffe und Flotte. Nicht so groß wie die Wolkenhabitate auf der Venus, trotzdem ein bemerkenswertes Zeugnis menschlicher Ingenieurskunst.

Die nähere Umgebung war voll von Kampfschiffen und verschiedenen Fähren, die alle ankamen oder ablegten – wie kleine Fliegen, die sich um einen Kadaver tummelten. Es scheinen immer mehr Schiffe abzulegen, als je wieder zurückkommen, dachte ich. Viele unterschiedliche Schiffstypen waren zu sehen; von kleinen Militärtransportern über große Schlachtschiffe bis hin zu schnittigen, experimentellen Schiffen. Das war die Flotte der Allianz – die gesammelte Anstrengung dessen, was von den Vereinigten Amerikas, Europa und einem Großteil des restlichen Westens übrig geblieben war.

Ich blieb stehen und presste eine Hand gegen das kalte Glas eines Sichtfensters. Sah zu, wie das Licht des Mahlstroms glitzernd auf die versammelte Flotte fiel. Einen Augenblick lang war mir seltsam patriotisch zumute, dann fiel mir wieder ein, wohin ich unterwegs war.

Die Gedächtnishalle war eigentlich keine richtige Halle, noch nicht einmal eine Kammer, sondern eher eine Wand im äußeren Ring der Station. Nach Bordzeit erreichte ich sie etwa gegen Mittag, und es war genauso leer, wie ich erwartet hatte.

Am oberen Rand der Mauer lief ein Text entlang: FÜRALLE, DIEIHRLEBENFÜRUNSEREFORTSCHRITTEIMKRIEGGEGENDIEKRELLUNDFÜRDENFORTBESTANDDERMENSCHLICHENRASSEGEGEBENHABEN. Millionen von Namen waren mit Laser in die Wand geätzt; in chronologischer Reihenfolge und automatisch auf dem Laufenden gehalten, sobald neue Verluste gemeldet wurden. Die Liste nahm bereits einen Großteil der Außenwand auf diesem Deck ein.

Kleine Schreine waren am Fuß der Mauer hinterlassen worden – Blumenkränze, Räuchergefäße oder persönliche Andenken. Ehrfürchtig machte ich einen Bogen um die Schreine und kniete, als ich die Stelle gefunden hatte, nieder, um ihren Namen zu lesen.

Ich brauchte diesen Drink dringender als je zuvor.

Liberty Point befand sich ganz an der Grenze des Allianzraums. Der nächste verbündete Außenposten lag mehrere Parsec entfernt, und auch mit einem guten Q-Antrieb brauchte man bis dahin immer noch einige Wochen. Und außerdem war das nur eine abgelegene Minenbasis. Der Point musste autark sein und beherbergte neben dem immensen Militärkontingent auch eine beträchtliche Zivilbevölkerung.

Und da kam das Viertel ins Spiel. Es war ein notwendiges Übel – ausufernd und marode, betrunken und laut. Obwohl es offiziell als ziviler Freizeitbereich vorgesehen war, kam jeder rein, der genug Geld hatte. Als Soldat fand man hier unten alles, was das Herz begehrte – von illegalen Drogen über jegliche sexuelle Ausschweifung bis hin zu allem, was an Alkohol existierte. Es war wie eine Miniatur von Las Vegas, bevor das Direktorat die Bombe abgeworfen hatte: überall Leuchtreklamen, Kasinos, Bars, Stripschuppen.

Die Offiziere des Point hatten zwar eine ausgewiesene Offiziersmesse, aber ich mochte es etwas rauer und trank immer mit meiner Truppe. Unsere bevorzugte Tränke war eine heruntergekommene, altmodische Kneipe namens Depot. Sie war das Lieblingslokal der meisten Simulatlenker – über der Tür stand das Motto DUSTIRBSTVIELLEICHTEINMAL – ABERVERSUCHMAL, DASJEDENTAGZUMACHEN