Die Lebenslüge der Juristen - Rolf Lamprecht - E-Book

Die Lebenslüge der Juristen E-Book

Rolf Lamprecht

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  • Herausgeber: DVA
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Glückssache Gerechtigkeit

Recht hält selten, was es verspricht. Es hängt von Menschen ab, und die können irren. Wie sehr und wie oft, erfuhr Rolf Lamprecht als SPIEGEL-Beobachter bei den obersten Gerichtshöfen. Er erzählt von Will kür, von Unrecht – und von beherzten Klägern, die sich, von ihrem Rechtsempfinden getrieben, bis in die höchsten Instanzen kämpfen.

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Seitenzahl: 354

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Inhaltsverzeichnis
 
EINLEITUNG
 
Kapitel 1 – TRIUMPH DER INFAMIE
Wenn Formstrenge zu aberwitzigen Urteilen führt
 
Kapitel 2 – ZUM VATER VERDAMMT
Wenn das Recht der Realität hinterherhinkt
 
Kapitel 3 – STERBEN DÜRFEN
Wenn der Staat noch am Totenbett den Vormund spielt
 
Kapitel 4 – RAZZIA IM SCHLAFZIMMER
Wenn Staatsanwälte übers Ziel hinausschießen
 
Kapitel 5 – SELBSTHERRLICHKEIT UND GRÖSSENWAHN
Wenn sich unter der Robe Querulanten verbergen
 
Kapitel 6 – ZAUBERER IN ROBE
Wenn die Gerechtigkeit mehr wiegt als das Gesetz
 
Kapitel 7 – DAS TAGEBUCH DES MÖRDERS
Wenn Urteile und Vorurteile ineinanderfließen
 
Kapitel 8 – MIT DER HOHLNADEL INS RÜCKENMARK
Warum der Schutz von Leib und Leben unverzichtbar ist
 
Kapitel 9 – HALBGÖTTER IN ROT
Wenn Richter Politik treiben
 
Kapitel 10 – RICHTER CONTRA RICHTER
Was sich hinter dem „Beratungsgeheimnis“verbirgt
 
Kapitel 11 – ABRAKADABRA – UND DU BIST TOT
Wenn sich nicht Gründe, sondern Abgründe auftun
 
Kapitel 12 – AUFKLÄRUNG DURCH INDISKRETION
Wenn Strafverfolger in Zielkonflikte geraten
 
Kapitel 13 – OBSZÖNE NEUGIER
Wenn „Sittenrichter“in die Intimsphäre eindringen
 
Kapitel 14 – DIE MENSCHENWÜRDE DES ENTFÜHRERS
Wenn Härte der Polizei an Grenzen des Rechts stößt
 
Kapitel 15 – MIT GEWALT UNTERS MESSER
Wenn die rechtsstaatlichen Bremsen versagen
 
Kapitel 16 – LEBENSLANG IM SCHULDTURM
Wenn sich die Vertragsfreiheit in ihr Gegenteil verkehrt
 
Kapitel 17 – DIE FOLTERINSTRUMENTE DER ZENSUR
Wie Journalisten behindert und Bürger bevormundet werden
 
Kapitel 18 – GLAUBENSFREIHEIT FÜR UNGLÄUBIGE
Wenn der Bundestag unter dem Niveau des Verfassungsgerichts bleibt
 
Kapitel 19 – DIE ZERREISSPROBE
Wenn die Kontrahenten ihre Konflikte selbst lösen
 
Kapitel 20 – „ZUR EWIGEN MARTER FÜR BEIDE TEILE“
Wie sich der Wandel der Zeit im Eherecht widerspiegelt
 
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Copyright
EINLEITUNG

RECHT ALS GLÜCKSSACHE

Wie tauglich für seine Aufgabe ist ein Familienrichter, dessen eigene Ehe mit einer Kampfscheidung zu Ende gegangen ist? Auf wessen Seite steht ein Mietrichter, der mehrere Wohnhäuser geerbt hat? Beurteilt ein Verkehrsrichter, der mit dem Porsche vorfährt, einen Unfall anders als sein Kollege, der immer mit dem Fahrrad zum Dienst kommt?
Oder anders: Lässt sich überhaupt verhindern, dass Biografie und Weltanschauung des Richters auf seine Urteile durchschlagen? Die Frage schiebt den schönen Schein beiseite und gibt die Sicht frei auf das ungeschminkte Sein – auf die subjektiven Elemente der Rechtsfindung. In der Verdrängung dieser Schwachstelle liegt die Lebenslüge der Juristen.
Tatsächlich hält unser Recht nicht, was es verspricht. Es schraubt die Erwartungen zu hoch und führt auf Abwege – etwa mit der Suggestion, dass die Jurisprudenz, ebenso wie die Mathematik, nur der Logik verpflichtet sei. Das Gedankenspiel lebt von Parallelen: Betonen nicht beide Disziplinen – durchaus vergleichbar – ihre abstrakte Neutralität? Arbeiten nicht beide mit Formeln, die zwar schwer verständlich sind, denen aber gleichwohl eine höhere Wahrheit innewohnt? Das Recht möchte so zwingend erscheinen wie die Addition von zwei und zwei; da ist auch nur eine „richtige“Lösung denkbar.

Wenn eine Instanz die andere Lügen straft

Gründe, an dieser Legende zu zweifeln, gibt es genug. Doch offenbar wollen die Menschen an Verheißungen glauben. Deshalb hat das Trugbild der neutralen Rechtsprechung einen festen Platz im Unterbewusstsein – so unverrückbar wie die Hoffnung auf einen Lottogewinn. Und die Richter, denen das blinde Vertrauen schmeichelt, tun kaum etwas, um den Irrglauben zu korrigieren.
Dabei müsste ein flüchtiger Blick auf das Innenleben der Justiz genügen, um stutzig zu werden. Denn schon die Tatsache, dass es von Instanz zu Instanz oft zwei diametral entgegengesetzte Meinungen gibt, zeugt von der Relativität des Rechts – ja von seiner Subjektivität.
Wer diesen Gedanken fortspinnt, stellt mehr als den schönen Schein infrage. Er rüttelt am Fundament – dem Dogma von der Rationalität. Schlimmer, er bezweifelt, was die meisten glauben. Die einen, die Laien, halten Objektivität für eine Bedingung der Gerechtigkeit und erwarten, dass jeder Richter diese Tugend besitzt. Die anderen, die Amtsinhaber, gaukeln sich und der Umwelt vor, dass sie den Pfad der Objektivität niemals verlassen – von dieser Autosuggestion bis zum Selbstbetrug ist es aber nur ein Schritt.
Der Frage, was es bedeutet, wenn die Prämisse der Objektivität nicht stimmt, geht keiner nach – bedauerlicherweise. Denn so viel ist klar: Wenn sich, was zu beweisen ist, zeigen sollte, dass subjektive Einflüsse die Wahrheitsfindung inspirieren und dirigieren, müssten alle umdenken. Dann wäre neu zu definieren, was „Recht“überhaupt vermag.
Wer nach vorhandenen, erschöpfenden Erklärungen des Rechts sucht, wird enttäuscht. Er findet nur Definitionen, die sich auf das Wünschbare beschränken. Gelehrte und Richter benennen unzählige Utopien des Sollens und Wollens, sie verlieren aber kaum ein Wort über die Kategorien des Seins. Erklärt wird zumeist, was Recht eigentlich sein sollte – nicht aber, was es wirklich ist.
Bezeichnend ist zudem, wer das Privileg beansprucht, Recht zu definieren. Es wird zumeist aus dem Blickwinkel derjenigen beschrieben, die Gesetze schaffen und anwenden. Die Sicht der Adressaten, die Gesetze befolgen sollen, bleibt dagegen ausgespart. Gesetzgeber und Robenträger beherrschen den Diskurs, das Publikum steht stumm daneben. Solange die einen ans Licht drängen und die anderen im Schatten bleiben, ist der Raum des Rechts jedoch nicht ausgeleuchtet.
Es lohnt, diese Lücke auszufüllen. Doch was hat der Bürger davon? Sehr viel, wenn er eine Vorleistung erbringt: Er muss sich sachkundig machen! Normalerweise kommt er zum Recht wie die Jungfrau zum Kind: unschuldig schuldig. Um eben dieses Fiasko zu verhindern, klären vernünftige Eltern ihre Sprösslinge auf – über die Risiken und den Reiz der Sexualität. Vielleicht bringen sie ihnen auch bei, über Vermeidungsstrategien nachzudenken und ein Frühwarnsystem zu entwickeln.
Nicht mehr und nicht weniger kann Aufklärung über das Recht bewirken. Wer es vergöttert oder verteufelt, läuft in die Irre. Wer sich nichts mehr vormachen lässt, sieht Gesetzgebung und Urteilsfindung mit neuen Augen. Wer weniger erwartet, wird das wenige realistischer, pragmatischer und zielbewusster einfordern. Der „Fortgeschrittene“lernt, seine Chancen im Dickicht der Paragraphen besser abzuschätzen und die Kosten einer Fehde gegen ihren Nutzen zu verrechnen. Er begreift, dass Unschuldige bisweilen, ohne es zu wollen, schuldig werden, und dass Unwissende immer das Nachsehen haben. Überdies wird ihm bewusst, wann er sich fügen muss und wann er aufbegehren darf.

Warum nur die „Einzelfallgerechtigkeit“zählt

Dem professionellen Karlsruher Beobachter, der über lange Zeit die Inszenierungen der Justiz von einem Logenplatz aus verfolgen konnte, bleibt nur ein bescheidenes Fazit. Er hat begriffen, dass Recht eine relative Angelegenheit ist, dass es mehr von subjektiven als von objektiven Impulsen gesteuert wird, dass es nicht nur gefühls- und personenabhängig, sondern auch zeit- und situationsgebunden daherkommt. Ergo: Das einzig Beständige am Recht ist seine Unbeständigkeit.
Trotzdem kann die Wahrheit hinter der Wahrheit aufregend sein. Sie besagt, dass sich Recht immer am Schicksal des Einzelnen bewährt.
Wo die Menschenwürde Schaden nimmt, wo Gleiches ungleich behandelt wird, wo die Obrigkeit das „Prinzip der Verhältnismäßigkeit“vergisst und gegen das Übermaßverbot verstößt, ist Gefahr im Verzug. Ob die großen Freiheitsgarantien in den Ewigkeitsgesetzen und die kleinen Angebote in den Alltagsgesetzen letztlich Bestand haben, erweist sich nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Wenn der konkrete Fall, wenn der individuelle Konflikt, wenn das Einzelschicksal zur Entscheidung ansteht, schlägt die Stunde der Bewährung. Das Recht siegt (und verliert) nicht in Sonntagsreden, auch nicht in wissenschaftlichen Publikationen, sondern immer nur von Fall zu Fall.
Die Juristen nennen das „Einzelfallgerechtigkeit“. Von ihr soll hier die Rede sein – und von dem uralten Thema „Ist Recht gerecht?“. Die Frage stellt sich immer wieder von neuem – hier: zwanzigmal, in zwanzig Kapiteln, aus ein paar hundert Perspektiven. 1 So oft und öfter variieren die Antworten. Genau besehen ist Recht nichts weiter als die Summe vieler Teilwahrheiten; wie es versucht, auf krummen Wegen gerade zu gehen, ist allemal ein faszinierendes Abenteuer, an dem jeder, der will, teilhaben kann.
1
TRIUMPH DER INFAMIE

Wenn Formstrenge zu aberwitzigen Urteilen führt

Recht, das Schuldlose ruiniert, verdient den Namen nicht. Es ist inhuman und verfehlt seinen wie immer gearteten Zweck. Das Fiasko läst sich nur vermeiden, wenn Richter versuchen, den Geist zu ergründen, der hinter dem toten Buchstaben eines Gesetzes steckt. Doch dazu gehören Mut und Phantasie. Beides zusammen findet sich selten.
Wenn die Räuberpistole, die Inge Hoff1 unter einem Dach des Staates erlebt hat, nicht aktenkundig wäre, würde sie keiner glauben. Es ist die Geschichte einer Frau, die am helllichten Tag um ihr gesamtes Vermögen gebracht wurde – und das ausgerechnet in einem Gebäude der Justiz. Kein Ordnungshüter kam ihr zu Hilfe. Im Gegenteil: Ein leibhaftiger Rechtspfleger gab ihrem Exmann, der gerade im Begriff war, sie auszuplündern, sogar noch seinen amtlichen Segen.
Verhandelt wurde über „Haus und Hof“- über die Hinterlassenschaft der geschiedenen Ehe. Bevor Inge Hoff begriff, was in der Amtsstube geschah, war sie – unter den Augen des Justizbeamten – von ihrem Verflossenen enteignet worden. Er hatte den gemeinsamen Grundbesitz für 2000 DM (es war die Zeit vor dem Euro) ersteigert. Statt der 62 000 DM, die ihr zustanden, bekam sie am Ende 150 DM. Formal war alles in Ordnung. Die Zwangsversteigerung verlief paragraphentreu – und stellte dennoch das Recht auf den Kopf. Wer ohnehin Vorurteile über die Zunft der „Rechtsverdreher“hatte, fühlte sich bestätigt.

Die objektive Willkür

Tatsächlich kann, wie sich hier zeigte, die Kluft zwischen den Buchstaben und dem Sinn von Gesetzen riesengroß sein. Es lohnt sich, dieser Schwachstelle des Rechts auf den Grund zu gehen. Jedem, der hört, was Inge Hoff widerfuhr, fällt auf Anhieb nur ein Wort ein: Willkür. Doch der Begriff, der sich geradezu aufdrängt, steht in keinem Gesetz. Dafür ist er aber Gegenstand vieler gelehrter Erörterungen, die in der Rechtslehre und der Rechtsprechung angestellt werden. Wer die Schikane bei einem einzelnen Staatsdiener sucht, greift zu kurz. Willkür naht viel öfter, meinen die Verfassungsrichter, im Gewand scheinbarer Objektivität.
Inge Hoffs Opfergang durch die Säle der Justiz belegt eindrucksvoll, wozu „Vater“Staat imstande ist. Zunächst verletzten alle Instanzen ihre Fürsorgepflicht. Erst am Schluss sprach das Verfassungsgericht ein Machtwort. Es entlarvte die „Willkür“und beschrieb Unrecht am konkreten Fall. Der Spruch ergänzte Prinzipien, die in Ansätzen schon vorhanden waren; er selbst wiederum war Quelle für die Rechtsprechung der folgenden Jahrzehnte. Es ergingen Anschlussurteile, die dem Mosaik ein neues Steinchen hinzufügten. Immer handelt es sich um einen herausragenden Fall, der den Stein ins Rollen bringt.

Mit Almosen abgespeist

Ausgangsort des Geschehens war Michelstadt, ein idyllischer Flecken im Odenwald – mit historischem Kern, malerischem Brunnen und einem 500 Jahre alten Fachwerk-Rathaus. Das Städtchen (17 000 Einwohner) ist Sitz eines eigenen Gerichts – keines ganz kleinen. Immerhin residieren dort sieben Robenträger – und ebender besagte Urkundsbeamte. Hier passierte Mitte der siebziger Jahre jener Willkürakt, der das Vertrauen in die Obrigkeit erschütterte.
Inge Hoff war in dieser kleinstädtischen Kulisse aufgewachsen. Sie hatte hier geheiratet, Kinder bekommen und mit ihrem Mann auf eigenem Grundstück ein Häuschen gebaut. Als die Ehe auseinanderging, blieb er dort wohnen, sie zog mit den Sprösslingen aus. Beim Streit ums Geld hatte sie immer das Nachsehen. Er wollte das gemeinsame Anwesen gern behalten, aber möglichst nichts zahlen – und wenn überhaupt, dann „nur“, wie es in schönstem Amtsdeutsch heißt, „nach Maßgabe seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“. Mit anderen Worten: Allein wenn er es für richtig hielt, bekam sie etwas ab.
Mit solchen Almosen wollte sich Inge Hoff nicht abspeisen lassen. Sie erinnerte sich daran, dass laut Gesetz einer geschiedenen Frau die Hälfte vom Erworbenen zusteht. Das Grundstück war 1975 amtlich auf den Zeitwert von 144 000 DM geschätzt worden. Sie hatte mithin, abzüglich einer Grundschuld über 20 000 Mark, Anspruch auf 50 Prozent von 124 000 DM, auf 62 000 DM. Da ihr Mann nicht freiwillig zahlen wollte, beantragte sie die Zwangsversteigerung.
Die Zeremonie, die dazu gehörte, war ihr, wie fast jedem Bürger, gänzlich fremd. Wer – außer Immobilien- und Antiquitätenhändlern – ist sonst schon bei einer Versteigerung dabei? Inge Hoff kam allein. Ihr Anwalt war, um seiner Mandantin Kosten zu ersparen, daheimgeblieben. Der Rechtspfleger eröffnete den Termin. Was er sagte, war schwer begreiflich. Das ist leider die Regel in den heiligen Hallen der Justiz. Gesprochen wird ein unverständliches Kauderwelsch. Der Laie ist in dieser Situation eingeschüchtert. Keiner nimmt ihn bei der Hand.
Darf er zugeben, dass er nicht begreift, warum, wie in diesem Fall, das „geringste Gebot“auf 1785,42 DM festsetzt wird – auf eine geradezu lächerliche Summe im Vergleich zum ermittelten Wert des Anwesens? Der ganze Vorgang würde für den Unwissenden zumindest verständlicher, wenn er erführe, dass der Betrag nichts mit dem eigentlichen Streitwert zu tun hat, sondern mit den ganz profanen Büro- und Verwaltungskosten, die dem Staat durch eine Versteigerung entstehen.
Ein Neuling kommt bei Gericht nicht zum Atemholen. Zum Nachdenken oder gar zum Fragen blieb auch hier Inge Hoff keine Zeit. Nach Erledigung der Formalien forderte der Rechtspfleger „zum Bieten“auf. Inge Hoffs Exmann, der ebenfalls erschienen war, nannte eine Zahl: 2000. Der Rechtspfleger murmelte: „Weitere Gebote wurden nicht abgegeben.“Hinterher konnte die Frau in der „Terminniederschrift“nachlesen, das Gericht habe „die Beteiligten über den Zuschlag“gehört.
Das Protokoll hielt auch den weiteren Gang bürokratischkorrekt fest: Der Exehemann habe „die sofortige Erteilung des Zuschlages“beantragt. „Diesem Antrag wurde durch den alsdann verkündeten Beschluss vom selben Tag entsprochen.“1 Der Verflossene hatte im Handumdrehen das Schnäppchen seines Lebens gemacht: Haus und Grundstück für ganze 2000 Mark erworben.
Inge Hoff aber war ärmer als zuvor. Nun hatte sie noch nicht mal mehr die vage Hoffnung, dass sie den Anteil am Ehevermögen, der ihr zustand, je würde realisieren können. Sie begehrte auf – doch vergeblich. Ihr Anwalt, der für sie Beschwerde eingelegt hatte, scheiterte schon beim Landgericht Darmstadt. Dort hatte er vorgetragen: Der Rechtspfleger hätte seine Mandantin auf den drohenden „Totalverlust ihrer Ansprüche“aufmerksam machen und sie darauf hinweisen müssen, dass sie dieses böse Ende noch verhindern könne – durch Zurücknahme ihres Antrages vor der Versteigerung.
Mit diesem Einwand stieß Inge Hoff auf taube Ohren. Zwar war auch den Darmstädter Richtern nicht entgangen, dass sie „einen erheblichen wirtschaftlichen Verlust“erlitten hatte. Doch dieser Ausgang erschien ihnen unvermeidlich. Jedenfalls sei der Rechtspfleger nicht verpflichtet gewesen, sie zu warnen – etwa durch den Hinweis, sie könne das Fiasko „durch die Zurücknahme des Versteigerungsantrages ohne weiteres“vermeiden; er habe „die Interessen sämtlicher Verfahrensbeteiligter“wahren müssen; mit dem aufklärenden Hinweis, Inge Hoff renne in ihr Verderben, hätte er sich „dem Verdacht der Befangenheit ausgesetzt“.2
Auch mit ihrer „weiteren Beschwerde“holte sich Inge Hoff eine Abfuhr. Die Begründung missriet den Oberlandesrichtern in Frankfurt zur zynischen Floskel. Sie versuchten, das Prinzip von Chancengleichheit zu beschreiben, und landeten im orientalischen Basar. Was sie über „die widerstreitenden Interessen der Parteien“sagten, klang so berechnend wie die Sprache von Spekulanten: Einerseits habe Inge Hoff (ohne Hinweis des Rechtspflegers) „ein empfindlicher Vermögensschaden“gedroht, andererseits wäre ihrem Exmann (durch entsprechende Anregung des Rechtspflegers) „eine günstige Gewinnchance“entgangen.3 Es sei schon zweifelhaft, ob der Gerichtsbeamte mit einem Rat nicht womöglich „seine Pflicht zur Unparteilichkeit“verletzt hätte. Jedenfalls stelle die Zwangsversteigerung „ohne Belehrung der Beschwerdeführerin keinen erheblichen Verfahrensmangel dar“.
Inge Hoff, die monatelang eine Niederlage nach der anderen einstecken musste, fühlte sich unfair behandelt. Da die verarmte Frau nichts mehr zu verlieren hatte, wagte sie den Gang nach Karlsruhe. Und nachdem sie Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte, begann sich auch das Blatt zu wenden. Der Umschwung wurde bereits in der ersten Phase des Verfahrens deutlich. Das Bundesverfassungsgericht hatte das Land Hessen und die Bundesregierung in Bonn aufgefordert, Stellung zu beziehen.4 Und siehe da: Auch die hohen Herren in den Ministerien, die in solchen Fällen normalerweise ihre Gerichtsinstanzen zu verteidigen pflegen, kamen nicht umhin, sich von den unbarmherzigen Urteilen gegen Inge Hoff zu distanzieren.

Reden dürfen, zuhören können

Beide Stellungnahmen gehen davon aus, dass Unrecht herauskommen kann, wenn Richter nur auf den Wortlaut des Gesetzes starren, ohne sich gleichzeitig um dessen Geist zu kümmern. Ihrer Bewertung legten die Verfasser in den zuständigen Ministerien jene verpflichtenden Bürgerrechte zugrunde, die in der Verfassung stehen und jedem anderen Gesetz übergeordnet sind. Deshalb erinnerte der hessische Schriftsatz an Artikel 103, Absatz 1 des Grundgesetzes (GG): „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.“
Was heißt das? Wer diesem Gebot auf den Grund geht, begreift sehr schnell, dass damit mehr gemeint ist, als nur Gedanken anzuhören, die ein Bürger unaufgefordert ausspricht, wenn er sich denn überhaupt traut. „Rechtliches Gehör“kann, vernünftig betrachtet, nur heißen: reden, zuhören, fragen, antworten – Kommunikation. Erst wenn der Richter weiß, was der Bürger, der vor ihm steht, zur Sache sagen will, hat er ihm im Sinne der Verfassung rechtliches Gehör gewährt.
So sah es auch der hessische Ministerpräsident in seiner Stellungnahme. Die Chance, sich vor Gericht zu äußern, dürfe nicht nur theoretisch – sie müsse auch praktisch gegeben sein. Inge Hoff habe die Rechtslage offenkundig nicht begriffen. Sie sei daher auch nicht imstande gewesen, ihre wahren Interessen zu vertreten. Doch dem Rechtspfleger könne das „grobe Missverhältnis zwischen Grundstückswert und Versteigerungserlös“nicht verborgen geblieben sein. Er hätte deshalb zumindest fragen müssen, ob sie wirklich verstanden habe, dass sie bei der Versteigerung alles verlieren könne.5
Der Bundesminister der Justiz hielt andere Aspekte für wesentlich. Für ihn war die Eigentumsgarantie nach Artikel 14 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt. Was unter Letzterem zu verstehen ist, steht nicht detailliert im Grundgesetz. Es meint „faires Verfahren“. Diese Idee ist im Laufe der Zeit vom Verfassungsgericht mit Leben erfüllt worden. Das Abstraktum bedarf tatsächlich, wie sich an den bitteren Erfahrungen von Inge Hoff zeigte, der ständigen Konkretisierung.

Fragepflicht des Gerichts

Denn viele Richter neigen zu einer vordergründigen Betrachtung – sei es, weil sie zu bequem sind, sei es, weil sie glauben, dass dem „rechtlichen Gehör“mit formaler Korrektheit Genüge getan sei. Das passiert leider allzu oft. Eine nächsthöhere Instanz muss schon sehr neugierig sein und viele bohrende Fragen stellen, wenn sie herausbekommen will, ob ein Bürger zwar gnädig als „zum Termin erschienen“protokolliert, ansonsten aber als Luft behandelt worden ist.
Das Bundesjustizministerium sah deshalb Anlass, daran zu erinnern, dass zu den „wesentlichen Grundsätzen“einer rechtsstaatlichen Prozedur das „Recht auf ein faires Verfahren“zählt. Wer genaueres wissen wolle, müsse nur in die Zivilprozessordnung (ZPO) schauen. Tatsächlich steht dort unter dem Stichwort „Fragepflicht des Gerichts“(Paragraph 139) alles Wesentliche. So soll der Vorsitzende „dahin wirken“, dass „die Parteien“(also Kläger und Beklagte) „über alle erheblichen Tatsachen“reden: „Er hat zu diesem Zwecke, soweit erforderlich, das Sach- und Streitverhältnis mit den Parteien nach der tatsächlichen und der rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen.“
Dies auch wirklich zu tun, erfordert allerdings eine Portion Souveränität. Viele Richter haben Furcht, man könne ihren Fragen entnehmen, was sie denken – und ihnen deshalb Befangenheit vorwerfen. Inge Hoff wurde ein Opfer dieser falsch verstandenen Zurückhaltung. Namentlich der Rechtspfleger in Michelstadt tat nichts, um den Fall aufzuklären. Ihm hätte sich sonst, so der Bundesjustizminister, „der Schluss aufdrängen müssen, dass das Ergebnis des Versteigerungsverfahrens in dieser Form vom Willen der Antragstellerin nicht gedeckt sein konnte“.6
Warum hatten die Richter in Michelstadt, Darmstadt und Frankfurt das Naheliegende nicht gesehen? Warum war ihnen der Prozess aus den Händen geglitten und zu einer unfreiwilligen Bankrotterklärung geworden? Es gibt vermutlich nur eine, nicht eben schmeichelhafte Deutung: kollektive Betriebsblindheit.

Die Banalität des Bösen

Die Antwort, die zu guter Letzt das Bundesverfassungsgericht gab, brachte die Sache auf den Punkt. Sie besagt: Im Konflikt zwischen Bürger und Staat gibt es selten Schurken, aber allzu oft geist- und gedankenlose Bürokraten. Der deutsch-amerikanischen Philosophin Hannah Arendt, die den Holocaust mit dem Bild von der „Banalität des Bösen“zu erklären versucht hat, ist von Kritikern vorgeworfen worden, sie hätte damit das Inferno verharmlost. Das mag richtig oder falsch sein. Doch zumindest im Kleinen könnte der Begriff stimmen. Denn was „Staatsdiener“anrichten, hat zumeist banale Ursachen. Sie begehen selten Schandtaten, verursachen aber oft Betriebsunfälle. Für den geschädigten Bürger macht es freilich keinen Unterschied, ob ihm aus böser Absicht oder aus Nachlässigkeit Unrecht geschehen ist.
Die Verfassungsrichter versuchten, diese Grauzone aufzuhellen. Sie nannten die Entscheidungen gegen Inge Hoff „willkürlich“.7 Doch darin liege kein „subjektiver Schuldvorwurf“gegen die Richter der unteren Instanzen. Voraussetzung für die „Feststellung der Verfassungswidrigkeit“sei nicht subjektive, sondern objektive Willkür. Als „angemessen“gilt danach eine Maßnahme nur dann, wenn zwischen dem Schaden für den Einzelnen und dem Nutzen für die Allgemeinheit kein offenkundiges Missverhältnis besteht.8 Mit dem Hinweis auf mögliche „Unangemessenheit“rückten die Richter dem Phänomen der Willkür zu Leibe. Sie leiteten den Begriff aus dem Gleichheitssatz in Artikel 3 des Grundgesetzes her. Was dieses Prinzip bedeutet, haben Generationen von Verfassungsrichtern immer wieder betont: dass „Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln“sei.9
Aus diesem Obersatz zogen die Roten Roben zwei Schlussfolgerungen. Die eine besagt: Das Gebot sei verletzt, „wenn wesentlich Gleiches willkürlich ungleich“behandelt wird. Den zweiten Gedanken muss der Laie zweimal lesen. Danach liegt ein eklatanter Verfassungsverstoß auch dann vor, wenn „wesentlich Ungleiches willkürlich gleich behandelt wird“.10 Das heißt: Manches darf gerade nicht um der scheinbaren Gleichheit willen über einen Leisten geschlagen werden.
Auf der Basis dieser ständigen Rechtsprechung lag für die Karlsruher Richter „offen zu Tage“, dass die Versteigerung in Michelstadt erkennbar den wohlverstandenen berechtigten Interessen von Inge Hoff „unerträglich zuwiderlief“und daher „eine der Sachlage eindeutig unangemessene Maßnahme war“.
Die Methode, mit der die höchsten Richter der Republik an die Odyssee von Inge Hoff herangingen, legte eine verblüffende Erkenntnis nahe: Ganz offenkundig reagieren Laien, wenn sie ihrer Empörung Luft machen, oft viel weniger abwegig, als Juristen meinen. Was der Durchschnittsbürger sagt, wenn ihm bürokratischer Schwachsinn geschildert wird, hat jeder im Ohr: „Das kann doch nicht wahr sein.“Da schwingen eigene Erfahrungen mit. Im konkreten Fall erwies sich: Das Rechtsempfinden der Laien funktionierte, wie so oft, besser als das der Profis.
Jeder, dem derlei widerfährt, kann von Glück sagen, wenn die oberste Instanz das Gleichgewicht wiederherstellt. Doch das ist nicht die Regel. Oft genug begegnen dem Normalverbraucher Richter des Typs, an dem Inge Hoff verzweifelte – sture Formalisten wie die in Darmstadt und Frankfurt. Wer an solchen scheitert, kann nur noch resignieren. Er hat die Subjektivität des Urteilens kennengelernt. Er weiß nun, dass Recht mehr oder weniger Glückssache ist. Doch was fängt er mit dieser Erkenntnis an? Sie macht ihn reifer, doch Trost spendet sie nicht.
Das Urteil in Sachen Inge Hoff enthielt noch einen weiteren Kerngedanken: Bei der Bestimmung dessen, was als „gleich“oder „ungleich“angesehen werde, seien dem Richter (ebenso wie dem Gesetzgeber) „gewisse äußerste Grenzen gezogen“. Er überschreite sie dann, wenn sich für seine Abwägung „sachlich zureichende, plausible Gründe nicht mehr finden lassen“.11

Plausibilitätskontrolle durch die Öffentlichkeit

Genau besehen ist „Plausibilität“der Schlüssel für die Beziehungen zwischen Bürger und Staat. Er besagt, dass sich die Rechtswissenschaft in der Demokratie nicht als Geheimwissenschaft begreifen darf. Er besagt, dass Amtsjuristen Begründungspflichten haben. Und er besagt, dass alles, was die Rechtsanwender tun, für den Rechtsadressaten nachvollziehbar sein muss. Seine Kraft schließlich bezieht der Satz aus der Uridee von Demokratie, die im Artikel 20 des Grundgesetzes ihren Ausdruck findet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“
Daraus folgt wiederum, dass alle Organe des Staates und ihre Repräsentanten (Abgeordnete, Beamte und Richter) „einer Legitimation“bedürfen, „die sich auf die Gesamtheit der Bürger als Staatsvolk zurückführen lässt“.12 Das Volk ist der Souverän, ihm sind mithin Parlamente, Behörden und Gerichte Rechenschaft schuldig. Was diese drei Gewalten tun, muss sich, so das Verfassungsgericht, an den „besonderen Wertentscheidungen des Grundgesetzes“messen lassen – und sie haben sich der Plausibilitätskontrolle durch die Öffentlichkeit zu stellen. Plausibilität ist in diesem Kontext keine Kategorie der Jurisprudenz, sondern ein Maßstab der Alltagssprache und der Alltagslogik.
Der Gedankengang, mit dem die höchsten Richter den Fall Inge Hoff auffächern, erscheint so plausibel, dass sich der Leser ihrer Begründung unwillkürlich fragt, warum nach drei Instanzen erst die letzte zu diesem Schluss kommt. Die Karlsruher Prüfer beginnen mit einer naheliegenden Frage: Was bezweckt eine Zwangsversteigerung? Antwort: Sie dient dazu, einen „unteilbaren“Gegenstand durch einen „teilbaren“zu ersetzen – ein „unteilbares“Haus wird in „teilbares“(verteilbares) Geld verwandelt. 13 Den Roten Roben machte es – im Gegensatz zu den Vorderrichtern – keine Mühe, sich vorzustellen, was der Bürger, der einen solchen Antrag stellt, letztlich damit erreichen will: Er erwartet, „dass ein vernünftiger Erlös“erzielt wird. Der müsse nicht der „denkbar günstigste sein“, aber „immerhin eine Auseinandersetzung noch sinnvoll erscheinen“lassen.

Sehende Laien und betriebsblinde Richter

Bei Inge Hoff wurde die Prozedur, die der Staat aus gutem Grund durch einen „Hoheitsakt“in geregelte Bahnen lenkt, zu einem Lotteriespiel. Sie hatte sich berechtigterweise – den amtlich geschätzten Verkehrswert ihres Miteigentums zugrunde gelegt – eine Summe von etwa 60 000 DM ausgerechnet; doch diese verringerte sich durch den Zuschlag auf etwa 150 DM. Dieses Desaster hätte nach Ansicht des Verfassungsgerichts der Rechtspfleger verhindern müssen, indem er die Antragstellerin darüber aufklärte, was sein Zuschlag auf das Gebot von 2000 DM für sie eigentlich bedeutete. Nach Ansicht der höchsten Instanz hätte die schlichte Frau „infolge ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Unerfahrenheit eines entsprechenden Hinweises bedurft“.
Verblüffend an diesem Vorgang war die Betriebsblindheit aller Gerichtsinstanzen, die vorher mit der Sache zu tun hatten. Die hohen Richter in Karlsruhe mussten ihren Kollegen, die schließlich auch vom Fach waren, erst die Augen für einen Skandal öffnen, den Normalsterbliche auf Anhieb und ohne Nachhilfe erkannt hatten. Die oberste Instanz stellte klar, dass Inge Hoff nach Bauernfängerart geprellt worden war – ja dass sich „ohne deren vorherige Aufklärung Recht in Unrecht verkehrte“.14
Und die höchstrichterliche Anmerkung, dass sich der Schutz des Eigentums gerade für den sozial Schwachen durchsetzen müsse, bezog ihre Legitimation aus einem gewichtigen Verfassungssatz – einem, der leicht in Vergessenheit gerät. Er steht in Artikel 20 des Grundgesetzes: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“- wohlgemerkt auch ein „sozialer“.

Ein CDU-Konto namens „Zaunkönig“

Die Mühe schließlich, die sich das Gericht mit der Definition von „Willkür“gegeben hat, zahlte sich jahrzehntelang aus. Immer wieder nahmen die „Weisen von Karlsruhe“Bezug auf das Leiturteil, letztmals als sie eine Klage der CDU zurückwiesen. Der Bundestagspräsident hatte die Parteienfinanzierung wegen des Spendenskandals in Hessen gekürzt.15 Es ging um Millionen. Die Bundes-CDU musste büßen, weil ihr hessischer Landesverband ein Schwarzgeldkonto unter dem Namen „Zaunkönig“in Liechtenstein unterhalten und die Erträge „wahrheitswidrig als Vermächtnisse von jüdischen Mitbürgern deklariert“hatte.16
Die Verfassungsrichter billigten, dass der Bundestagspräsident die Schlawiner bestraft und ihnen den Geldhahn zugedreht hatte. Seine Maßnahme diente, so die Begründung, dem „Schutz eines Verfassungsgutes“, in diesem Fall dem „Transparenz- und Publizitätsgebot“, dem alle politischen Parteien zu gehorchen hätten. Wenn eine diese Pflicht verletze und dafür bestraft werde, liege darin keine „Verletzung des Willkürverbots“.17
Von dem Begriff geht eine verführerische Wirkung aus. Damit er nicht zu kleiner Münze verkommt, ist Sensibilität vonnöten. Wie schwierig es ist, Fälle von Willkür dingfest zu machen, hat das Gericht schon in seinen Anfangsjahren erkannt. Es hielt damals fest: „Fehler“allein reichten nicht aus. Der angefochtene Rechtsakt müsse gleichsam unheilbar krank sein. Diese Diagnose sei dann angezeigt, wenn eine Maßnahme die Gebote des Grundgesetzes auf nicht nachvollziehbare Weise ignoriert und ganz offensichtlich „auf sachfremden Erwägungen“beruht.18

Der Rechtsstaat ist besser als sein Ruf

Dieser Grundgedanke war das Startsignal. Er zieht sich wie ein roter Faden durch die Karlsruher Rechtsprechung, die sich bemühen muss, die Spreu vom Weizen zu sondern. Tatsächlich schreit mancher „Willkür“, um dem tatsächlichen oder vermeintlichen Unrecht, das ihm geschieht, Nachdruck zu verleihen. Es spricht für den Rechtsstaat, dass die Verfassungsrichter solche Grenzüberschreitung nur selten aufspüren. Sie haben mehr zu tun mit dem Nachweis, dass es keine war.
Ihre Meßlatte liegt hoch. Manches, das Bürger zu Recht aufregt, lassen sie passieren. So sehen sie die Grenze zur Verfassungsverletzung noch nicht überschritten, wenn zum Beispiel Verwaltungsrichter ärztliche Gutachter nach anderen Kriterien einschalten als Sozialrichter, wenn also beide verschiedene „Kausalitätsmaßstäbe“anlegen. Da die Verfassung den Richtern Unabhängigkeit garantiere, sei die Rechtspflege nun einmal „konstitutionell uneinheitlich“. Darin allein liege noch kein Verstoß gegen das Willkürverbot.
Dasselbe bekamen drei Christdemokraten aus Bonn zu hören. Sie waren wegen ihrer Mitgliedschaft in der „Scientology Church“aus der CDU ausgeschlossen worden. Dies sieht die Satzung der Partei vor. Doch damit wollten sich die drei Sektenanhänger nicht zufriedengeben. Sie zogen vor den Kadi – und scheiterten in Karlsruhe. Die Verfassungsrichter hielten es nicht für grob unbillig oder willkürlich, dass hier dem Gestaltungswillen der Partei höhere Bedeutung als der Glaubensfreiheit der Beschwerdeführer beigemessen worden sei.19
Schutz vor Willkür genießen freilich auch Zeitgenossen, die viele nur mit der Feuerzange anfassen möchten. So musste die Öffentlichkeit ein BGH-Urteil zugunsten der NPD zähneknirschend hinnehmen. Nach einem Bericht des ARD-Magazins „Report“über rechtsradikale Umtriebe hatte die Sparkasse dem sächsischen Landesverband der NPD das Girokonto gekündigt. Darin sah der Bundesgerichtshof (BGH) einen Verstoß gegen das „Willkürverbot“: Solange das Verfassungsgericht die Partei nicht verboten habe, dürfe sich das Geldinstitut zur Rechtfertigung der Kündigung nicht auf eine verfassungsfeindliche Zielsetzung der NPD berufen.20

Wenn Sünder und Schwache anklopfen

Zu großer Form wiederum liefen die Karlsruher Verfassungshüter auf, als es um die Persönlichkeitsrechte eines vielfachen Betrügers ging. Der Delinquent saß in der Justizvollzugsanstalt Mannheim. Ein Gutachter hatte festgestellt, er leide an einer Persönlichkeitsstörung. Das Oberlandesgericht Karlsruhe wollte einen weiteren Sachverständigen zurate ziehen. Als der U-Häftling seine Mitwirkung verweigerte, wurde er zwangsweise für sechs Wochen in die Psychiatrie eingewiesen.
„Willkür“, befanden die Verfassungsrichter. Sie verwiesen auf das im Grundgesetz (Artikel 2, Absatz 1) verbürgte Persönlichkeitsrecht. Die „Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter eines Menschen“sind danach grundsätzlich verboten. Eine Zwangsbeobachtung sei unstatthaft, wenn der Betroffene seine Mitwirkung verweigere. „Denn eine solche Maßnahme liefe auf die Umgehung des verfassungsrechtlich garantierten Schweigerechts des Beschuldigten hinaus.“21
Es sieht so aus, als ob Sünder und Schwache in Karlsruhe nicht vergeblich an die Tür klopften. Auch das Urteil zugunsten von Inge Hoff bewegte sich im Rahmen dieser bürgerfreundlichen Rechtsprechung. Die Verfassungsrichter machten hier ihrem Ruf, dass sie – anders als viele Kollegen – die Wirklichkeit nicht aus dem Auge verlieren, alle Ehre. Sie zeichneten noch einmal nach, wie im konkreten Fall die Fronten wirklich verlaufen waren – mit einer deutlichen Rüge für das Frankfurter Oberlandesgericht.
Nach Karlsruher Einschätzung stand den „wohlverstandenen berechtigten Interessen der im übrigen vermögenslosen und auf Sozialhilfe angewiesenen Beschwerdeführerin“die Raffgier des Exmannes gegenüber; er habe keinen Anspruch darauf gehabt, den Miteigentumsanteil seiner früheren Ehefrau unter Wert zu erwerben.22
Die Frankfurter Oberlandesrichter fielen in Karlsruhe durchs Examen – ihnen wurde mangelnde juristische und mangelnde sittliche Reife attestiert. Mit dem hanebüchenen Hinweis auf die „günstige Gewinnchance“, die dem Mann entgangen sei, hatten sie sich im Ton vergriffen, ja, genau besehen, sich selbst disqualifiziert. In Wirklichkeit ging es, so ihre strengen Gegenleser, um den erbärmlichen Versuch, „das Grundstück für einen Schleuderpreis als Alleineigentum zu bekommen“. Das Verdikt aus Karlsruhe zu dieser krummen Tour war unmissverständlich. Nach Ansicht der höchsten Richter „durfte kein staatliches Organ die Hand dazu reichen“.
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ZUM VATER VERDAMMT

Wenn das Recht der Realität hinterherhinkt

Die Frage, ob ein heimlicher Vaterschaftstest strafbar, geduldet oder erlaubt sein soll, entzweit die Gesellschaft – und die Zunft der Juristen. Der Streit ist symptomatisch für die Dehnbarkeit des Rechts. Wenn Gefühle dominieren, ist auf Gesetze kein Verlass. Sie verändern mit jedem Gezeitenwechsel der Politik ihre Ziele und Inhalte.
Der Brief des Labors brachte Klarheit. Horst Gentsch erfuhr, was er seit Langem wissen wollte. Trotzdem tat der Befund weh. Er hatte die Wahrheit zwar geahnt, aber nun schlug sie ihm doch aufs Gemüt. Im Gutachten stand: „Nach der DNA-Analyse ist mit hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen, dass der Spender der einen Probe der Vater des Spenders (oder der Spenderin) der zweiten Probe ist.“Die eine, ein Speichelabstrich, stammte von ihm, die andere, eine Haarwurzel, von dem Knaben, den er zehn Jahre lang für seinen Sohn gehalten hatte.
Als er begann, die Hiobsbotschaft zu begreifen, ahnte er noch nichts von den Wechselbädern, die ihm bevorstanden. Er lernte die Vieldeutigkeit von Gesetzen kennen – und die akrobatischen Kunststücke bei ihrer Auslegung. Er sah staunend zu, wie der Vaterschaftstest zum Spielball weltanschaulicher Kontroversen wurde. Doch er war nicht nur Opfer, sondern zugleich Zeitzeuge, der sich die Augen rieb. Er begriff, dass Recht oft zum Punkt auf einer Zeitskala schrumpft, dass es immer nur Teil einer dialektischen Entwicklung ist – ständig im Wandel begriffen.
Der Glaube, dass er der Vater des Kindes sei, war Gentsch nach und nach abhanden gekommen, ganz allmählich hatten sich die Zweifel eingenistet. Auslöser war seine Schwester Erika, die ihm den Haushalt führte. Sie hatte öfter mal gestachelt: „Bist du sicher, dass Markus dein Kind ist?“Irgendwann begann die Saat des Argwohns aufzugehen.
Gentsch rekapitulierte: Außer dem Schwur der Mutter, dass er der Einzige gewesen sei, gab es keinen Beleg für seine Vaterschaft. Tatsächlich hatte es zwischen ihm und seiner Kollegin Nina eine Affäre gegeben, voller Leidenschaft, aber von kurzer Dauer. Eines Tages – sie waren für sein Gefühl schon eine Ewigkeit auseinander – rief sie an und bat um ein Treffen. Im Café erfuhr er, dass sie schwanger sei – und er der Vater. Gentsch glaubte ihr. Nach der Geburt zögerte er deshalb keinen Moment, Markus – offiziell – als seinen Sohn anzuerkennen.
Er sah ihn von Zeit zu Zeit, aber der Junge blieb ihm fremd. Das Gerede von Erika trieb ihn um – doch den letzten Anstoß gab ein Zeitungsbericht. Dort stand, dass es leicht geworden sei, sich Gewissheit zu verschaffen – durch eine private DNA-Vaterschaftsanalyse für ein paar hundert Euro. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Als der Sohn mal über Nacht blieb, nutzte Erika die Gunst der Stunde.
Sie half Markus bei der Morgentoilette. Dabei riss sie dem Jungen ein paar Haare aus. Ob zufällig oder geplant, behielt sie für sich. Jedenfalls wanderte die „Beute“mit einer Speichelprobe von Gentsch ins Labor. Das Resultat, an dem nicht zu rütteln war, lag wenig später auf seinem Schreibtisch – und er merkte, wie es bei der Lektüre in ihm zu rumoren begann. Er hätte nicht gedacht, dass ein Gutachten ihn so aus dem Gleichgewicht bringen könnte.

Tücken des Rechts

Das Geheimnis war gelüftet. Wie wenig ihm das nützte, merkte er schnell. Denn seine Exfreundin Nina zeigte sich uneinsichtig. Sie stritt empört jeden „Mehrverkehr“ab. Was in ihr vorging, blieb rätselhaft. Entweder log sie ohne jeden Skrupel, oder sie hatte ihre Vergangenheit perfekt verdrängt. Schon denkbar, dass eine Frau, die nicht genau weiß, von wem ihr Kind stammt, an einer Legende bastelt, die sie schließlich selber glaubt. Vielleicht wirkte auch bei Nina solch ein barmherziger Selbstschutz.
Gentsch blieb nur der Weg zum Gericht. Als er beim Anwalt saß, bekam er eine erste Kostprobe von den Tücken des Rechts. Die naheliegende Annahme, dass er nun die Frau verklagen müsse, die ihn getäuscht hatte, erwies sich als Irrtum. Er musste etwas Absurdes tun, nämlich gegen Markus vorgehen. Gegner in so einem Prozess, lernte er, ist das Kind, um dessen Herkunft gestritten wird.
Die verkehrten Fronten verfolgten ihn bis in den Schlaf. Was wie eine Formalie daherkam, stellte die Realität völlig auf den Kopf. Als er die ersten Schriftsätze zu Gesicht bekam, merkte er, wie die Juristensprache die Rollen pervertierte. Plötzlich war nur noch die Rede von „dem Beklagten“und von seiner „gesetzlichen Vertreterin“.

Ein schmuddeliger Umweg

Gentsch musste sich daran gewöhnen, dass Markus, ein harmloser Knabe, nun „Beklagter“hieß. Als dessen „gesetzliche Vertreterin“erschien in den Schriftsätzen Nina, die seine eigentliche Gegnerin war. Sie hatte nicht redlich gehandelt. Es gab ja außer ihm mindestens noch einen weiteren Beischläfer. Hatte sie den Finger in den Wind gehalten, einen als Vater ausgesucht und dann ihm das Kind untergeschoben? Zu seiner Überraschung (und der vieler anderer) kam sie nun als Prozesspartei überhaupt nicht vor. Sie zog allerdings, wie er zu spüren bekam, die Fäden im Hintergrund.
Der Prozess lief schnell in eine Richtung, die Gentsch ganz und gar nicht gefiel. Die Gegenseite argumentierte, die Analyse sei heimlich und daher rechtswidrig zustande gekommen; diese Eigenmächtigkeit verstoße gegen das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“des Beklagten; ohne dessen Zustimmung – die nicht erteilt werde – könne das Gutachten nicht verwertet werden. Gentschs Anwalt bestätigte diese Ansicht. Er hatte Gentsch Hoffnungen von Anfang an gedämpft; nun belehrte er ihn, dass der Testbefund nicht mal einen „Anfangsverdacht“begründe, der das Gericht zu weiterem Handeln verpflichte.
Als Gentsch klagte, war die Lage aussichtslos. Zwar konnte die Wissenschaft eine Vaterschaft hundertprozentig ausschließen – doch das Recht verschloss sich diesem Fortschritt. Heimliche Analysen wurden nicht anerkannt, offizielle nur selten angeordnet. Diese juristische Abstinenz verharrte im Gestern, im vorwissenschaftlichen Zeitalter, das nur einen Weg der Anfechtung kannte – einen schmuddeligen Umweg.
Wenn der Scheinvater vor Gericht Erfolg haben wollte, musste er Dinge tun, die jeden Ehrenmann anwidern: an der Reputation der Frau kratzen, in ihrem Intimleben schnüffeln – und andere Liebhaber ausfindig machen, die in der Empfängniszeit ebenfalls mit ihr geschlafen hatten.

Justiz als Marionettentheater

Wozu dieser Zwang führt, erfuhr Gentsch im Laufe seines eigenen Prozesses. Da er genau wusste, dass Markus einen anderen Vater haben musste, erhob sein Anwalt die sogenannte „Mehrverkehrs-Einrede“. Diesen Schritt empfand die Gegenseite, wie deren Reaktionen zeigten, als Kriegserklärung. Doch das Duell mit Nina bekam, weil sie sich eines Stellvertreters bediente, skurrile Züge.
Was sich hinter der Sprache der Juristen verbarg, hieß im Klartext: Nina verteidigte sich nicht selbst – sie schickte Markus vor. Pikant, wenn der Sohn die Seitensprünge der Mutter bestreiten muss. Offenkundiger kann Fremdsteuerung nicht sein. Gentsch durfte keine Sekunde vergessen, dass Markus, den er gar nicht angreifen wollte, nun offiziell sein Gegner war – tatsächlich aber das Sprachrohr seiner Mutter. Er war Ninas Medium. Sie legte ihm die Worte in den Mund.
Formal korrekt, ließ der Gegenanwalt – nicht im Namen von Nina, sondern im Namen von Markus – das Gericht wissen: Ich, der Sohn, bin überzeugt, dass meine Mutter in der Empfängniszeit mit keinem anderen geschlafen hat als mit dem Mann, den ich nach wie vor für meinen Vater halte.
Jeder Beteiligte wusste, dass die Behauptung nicht stimmte. Doch der Gegenbeweis, der schwarz auf weiß vorlag, wurde aus dogmatischen Gründen nicht akzeptiert. Im Namen von Markus, den natürlich keiner gefragt hatte, trug der Anwalt vor: Der Junge nehme den Laborbericht nicht zur Kenntnis, weil er ohne seine Einwilligung zustande gekommen war. Und in Fortsetzung dieser Fiktion ließen die Ideengeber Markus sagen: Die heimliche DNA-Analyse verletzt mein Selbstbestimmungsrecht; sie ist deshalb rechtswidrig und darf nicht verwertet werden.
Kein Wort stammte von „dem Beklagten“selbst. Er war die Marionette, der jeder Stichworte zuflüsterte: seine Mutter, deren Anwalt und letztlich auch die Richter. Sie redeten über den Kopf des Jungen hinweg, den keiner gefragt hatte. Ein Aspekt ging dabei völlig unter: Ob diese Strategie dem „Wohl des Kindes“dientoder nicht vielmehr dem „Wohl der Mutter“?

Grundsatzurteile aus Karlsruhe

Der Prozess Gentsch ist ein unauffälliger Dutzendfall, nirgendwo abgedruckt. Doch er gehorchte einem Drehbuch, das die ständige Rechtsprechung schrieb – und er glich haargenau einem der beiden Musterprozesse, die der Bundesgerichtshof (BGH) im Januar 2005 entschieden hatte.1 Die Grundlagen für eine Vaterschaftsklage, die Karlsruhe nannte, sahen auf den ersten Blick sogar vielversprechend aus. Als sich der Held unserer Geschichte in die Urteile vertiefte und die Begründungen las, war er zunächst ganz hoffnungsfroh gestimmt.
Der Mann, hieß es, müsse „konkrete Umstände vortragen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Zweifel an seiner Vaterschaft zu wecken“. Hatte er das nicht getan? Und ließ sein Gutachten nicht auch (wie vom Gericht gefordert) „die Abstammung des Kindes von einem anderen Mann als nicht ganz fernliegend erscheinen“?
Doch bei der weiteren Lektüre erkannte Gentsch, dass die BGH-Urteile viel Ähnlichkeit mit Radio-Eriwan-Witzen haben: im Prinzip ja, im Detail nein! Er durfte gute Gründe vortragen, sie wurden aber nicht anerkannt. Die höchstrichterliche Lehre besagte im Endeffekt: Der einzige wirklich brauchbare Beweis sei zwar eine DNA-Analyse, doch sie dürfe, wenn heimlich zustande gekommen, nicht verwertet werden. Sie galt als rechtswidrig. Damit war sie ein Nullum, das dem Familienrichter nicht mal erlaubte, selbst einen Vaterschaftstest in Auftrag zu geben.
Die Fälle der Leidensgenossen, die es bis zum BGH geschafft hatten, waren repräsentativ für das Rechtsproblem. Der eine Kläger kam aus Hildesheim: Geburt der „Tochter“im Oktober 1994, Beweisstück ein Kaugummi. Der andere Kläger war in Jena zu Hause: Geburt seines „Sohnes“im Januar 1986, Prozessbeginn 2001, Beweisstück ein Haar. Als das BGH-Urteil erging, war dieser „Beklagte“bereits volljährig.

Schillernde Begriffe

Was die Bundesrichter von sich gaben, war fern von dieser Welt. Eine Mutter hatte sich geweigert, das DNA-Gutachten „nachträglich zu genehmigen und in seine Verwertung einzuwilligen“. Der BGH nahm das hin, ohne nach den Motiven zu fragen. Das Nein, das jede weitere Aufklärung verhinderte, löste noch nicht mal einen „die Anfechtungsklage begründenden Anfangsverdacht“aus. Mit einem früheren Votum des Verfassungsgerichts, das in vergleichbaren Fällen die „Vorenthaltung erlangbarer Informationen“2 streng gerügt hatte, setzte sich der BGH nicht auseinander.
Gentsch absolvierte einen Crashkurs in Sachen Vaterschaftsanfechtung. Er sah ein, dass geprüft werden muss, ob die DNA-Analyse auf unzulässige Weise in die Intimsphäre des Kindes eingreift. Doch das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“, das immer wieder zitiert wurde, kam ihm wie eine Worthülse vor. Klar war: Es ging stets um genetische Daten – und um die Frage, wer sich betroffen fühlen durfte. Die Mutter war außen vor, an ihrem genetischen Material hatte sich niemand vergriffen. Der Vater gab seine Daten ohnehin frei. Es drehte sich einzig und allein um das vom BGH traktierte „Selbstbestimmungsrecht“des Kindes – eine Zauberformel, die Neugier weckte.
Was versteckte sich hinter diesem Begriff? War er ein Wert an sich? Oder musste er von Fall zu Fall konkretisiert werden. Anders als der BGH, der ihn wie ein Versatzstück hin- und herschob, erklärte das Verfassungsgericht, was darunter zu verstehen ist: Es sei die „Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“.3 Oder anders: Jeder Bürger darf allein und ausschließlich über seine sensiblen Daten verfügen, gleichsam über „die Geheimnisse des Ichs“.
Zum Beispiel: Wie krank oder gesund einer ist, ob er fremd geht oder schwul ist, ob er ein Vermögen angehäuft hat oder Schulden – das alles geht in der Regel keinen Dritten etwas an. Die Daten der Intimsphäre sind geschützt. Doch bei der (korrekt durchgeführten) Vaterschaftsanalyse wurde nur ein Geheimnis gelüftet: Das Kind erfuhr im schlimmsten Fall, wer als Erzeuger nicht infrage kam. Verletzte die Kenntnis dieser Wahrheit wirklich das Selbstbestimmungsrecht des Kindes?

Mutterwohl statt Kindeswohl

Durfte dabei die „gesetzliche Vertreterin“, deren Befangenheit ins Auge sprang, das letzte Wort haben? Wer glaubte, dass sie sehenden Auges an der Aufklärung eigener Fehlhandlungen mitwirken würde, war fahrlässig naiv. Es lag auf der Hand, dass sie nur das Ziel haben konnte, ihre Irrungen und Wirrungen zu verschleiern. Der Selbsterhaltungstrieb ließ ihr nur diese Option. Das Gesetz sprang ihr dabei zur Seite: Nach dieser Logik musste sie eigentlich nur ihr Geheimnis zum schützenswerten Geheimnis des Kindes erklären.
Gentsch stand mit seiner Skepsis nicht allein. Die Interessenkollision war hier mit Händen zu greifen. Wenn eine nichteheliche Mutter die DNA-Analyse ohne Widerstand hinnahm, schadete sie sich dadurch selbst: Indem sie auf juristische Finessen verzichtete, ließ sie der Wahrheitsfindung freien Lauf – und musste die Folgen tragen. Fest stand: Sie und ihr Kind hatten, so weit es um die Frage der Herkunft ging, unterschiedliche, wenn nicht sogar entgegengesetzte Interessen.
Um zu vermeiden, was die Juristen den „bösen Schein“nennen, verbietet das Recht normalerweise, dass einer „zween“Herren dient (also „pro“und „contra“in ein und derselben Sache vertritt). Der Gedanke, der dahintersteht, ist zwingend: Wer selbst betroffen ist, kann niemals uneigennützig für andere entscheiden. Ein Anwalt, der das nicht beachtet, muss sogar mit einer Anklage wegen Parteiverrats rechnen.