Die letzte Flaschenpost - Annika Kemmeter - E-Book

Die letzte Flaschenpost E-Book

Annika Kemmeter

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Beschreibung

Die letzte Flaschenpost lüftet das Geheimnis

Angelina steckt voller Geheimnisse. So sieht es jedenfalls der junge Kunstgeschichte-Student Janis. Dass sie auch noch die Enkelin des von ihm verehrten Dichters Otto Maaßen ist, macht sie für ihn noch interessanter. Nach Ottos Tod schwimmt sein letzter Gedichtzyklus auf mehrere Flaschen verteilt als Flaschenpost den Rhein hinunter. Janis und Angelina machen sich gemeinsam auf die Reise, die Flaschen zu finden und kommen unmerklich Angelinas Familiengeheimnis auf die Spur.

Temporeich erzählt handelt dieser Roman von Vertrauen, Zugehörigkeit und Vergebung.

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Seitenzahl: 279

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Über das Buch

Die letzte Flaschenpost lüftet das Geheimnis

Bei seinen Recherchen wird Kunstgeschichtsstudent Janis unerwartet in einen Komplott um Tod und Poesie verwickelt. Und plötzlich muss er sich entscheiden: Soll er dem Ruf seiner rätselhaften Freundin Angelina folgen, oder im sicheren Hafen der Uni seine Karriere vorantreiben?

Getrieben von unterschiedlichen Interessen jagen Janis und Angelina einer Reihe Gedichte hinterher, die der verstorbene Dichter Otto Maaßen als Flaschenpost in den Rhein geworfen hat. Während Angelina versucht, die geheimnisvollen Verknüpfungen zu entwirren, die sich zwischen den Gedichten und ihrer Familiengeschichte auftun, vermutet Janis, dass die Flaschenposten noch einen ganz anderen Zweck erfüllen.

Temporeich erzählt handelt dieser Roman von Vertrauen, Zugehörigkeit und Vergebung.

Die letzte Flaschenpost ist ein Band aus der Reihe der Autorengruppe Prosathek.

Über die Autorin

Annika Kemmeter (geb. 1985 in Mainz) studierte Literaturwissenschaft in München, Paris und Fukuoka (Japan). Ihre Texte trug sie auf der Leipziger Buchmesse, beim Lyrikstier in Hochstadt und im Münchner Literaturhaus vor. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Mainz.

Annika Kemmeter

ROMAN

Diederichs

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Copyright © 2020 Diederichs Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © shutterstock / aarrows / Ina Raschke / Lera Efremova / Netkoff

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25542-8V001

www.diederichs-verlag.de

Meiner Mutter

Als ich mir meinen Weg durch die Bar bahnte, in der Menschen lachten, redeten, tranken, war mir dieser Ort in seinem gewohnt schummrigen Licht, mit seinen gewohnt exotischen Gerüchen und der dumpfen Musik, die die Stimmen untermalte, plötzlich fremd. Dinge fielen mir auf, die ich sonst nie gesehen hatte. Die asymmetrische Form der Lampen, die gemusterte Decke, der Bodenbelag. Auf dem hintersten Sofa, das direkt unter einer auffälligen Konstruktion rostiger Stahlstäbe stand, die sich wie eine Schuppenflechte von der Wand auf die Decke ausbreitete, ließ ich mich nieder.

»Ein großes Wasser bitte.« Ich brauchte einen klaren Verstand. Das Wasser war kühl, das Glas mit Schweißperlen benetzt. Die Funken der Kohlesäure sprühten auf der Oberfläche, sprudelten die Kühle auf. Aber im Gehirn kam das Wasser nicht an. Es half nicht.

Gedanken kreisten durch meinen Kopf, wie Herbstblätter in einem Wasserstrudel. Bevor ich einen von ihnen zu fassen bekam, das Bild von Angelinas traurigem Gesicht, von Otto Maaßen, der auf der Bühne lachte, oder Professor Finkenhorn, der sein Gesicht nachdenklich hin- und herwiegte, wurde er schon vom nächsten überholt, nur um mit dem übernächsten zu verschwimmen, ohne Kontur, ohne Grenze, ein Farbstrudel. Frederik, mein äußerst strukturierter Mitbewohner, würde pragmatisch an die Sache herangehen. Mit einem Netz alle Blätter aus dem Strudel bergen, nebeneinander zum Trocknen in die Sonne legen, dann einzeln studieren. Mir fehlte das Netz. Vielleicht war ich es auch selbst, der sich in dem Strudel verfangen hatte, dem Strudel, der manchmal entsteht, kurz bevor sich ein Fluss gabelt. Würden die Flussarme wieder zusammenführen? War es egal, welche Seite ich wählte? Konnte ich, wenn meine Wahl sich als die Falsche erwies, ans Ufer schwimmen und per Anhalter zum anderen Arm fahren?

Ich glaubte, das war der Grund, weshalb Angelinas Anruf mich so kalt erwischt hatte: weil er eine Frage aufwarf, die essenzieller war als nur die Entscheidung zwischen einer zweisamen Trauerfeier und einer zukunftsweisenden Univeranstaltung. Eine Frage, die mich im Innersten traf. Aber wie sollte ich meine Entscheidung treffen, wenn ich nur das Ziel, nicht aber die Landschaft kannte? Wenn es keine Landkarten gab?

Und warum gaben wir uns überhaupt so viel Mühe, alles genau zu planen, wenn das Schicksal, der Zufall oder sonst ein größerer Wille uns doch immer dazwischenfunkte? Können wir überhaupt darüber bestimmen, wer wir sind und was wir tun?

Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Blatt für Blatt, sagte ich zu mir selbst: Das Doktorandenkolleg … In meinem Zimmer lagen Kopien verstreut von verschiedenen Handout-Versionen für das Referat. Es war gut. Es behandelte die Frage, inwieweit das Material die Kunst beeinflusste.

Michelangelo sah bekanntlich in jedem Stein schon die zukünftige Statue. Um sie freizulegen, klopfte er alles Überflüssige weg. Das lässt sich übertragen, dachte ich: Wir haben Fähigkeiten, Erfahrungen, Talente. Was uns behindert oder in die falsche Richtung führt, müssen wir wegklopfen, um zum Vorschein zu bringen, wofür wir gedacht sind. Ich nahm einen weiteren Schluck von dem kalten Wasser. Aber wofür bin ich gedacht? Und von wem überhaupt? Ich starrte auf die Tür, an der ein Türsteher Pärchen und Gruppen einließ. Ich allein war ohne Begleitung hier. Rechts knickte der Barkeeper ein Stück Zitronenschale über einen Cocktail. Winzige Tropfen zerstäubten über dem Glas und gaben dem Getränk das perfekte Aroma. Mein Wasser war halb leer. Frederik ließ auf sich warten.

Michelangelo hatte offensichtlich keine Probleme damit gehabt, sich für eine Figur zu entscheiden. Was, wenn ich an der falschen Stelle klopfte? Dinge abschlug, die später wichtig gewesen wären, nun aber zertrümmert am Boden lagen?

Endlich kam Frederik. Auf seinen langen dünnen Beinen stakste er durch die Bar.

»Geburtstagskind! Was machst du für Sachen?«

»Danke, dass du gekommen bist.«

»Was ist das? Trinkst du Wasser?« Er setzte sich mir gegenüber. »Einen Gin Tonic«, sagte Frederik zum Kellner. Er trank immer Gin Tonic. »Also, Janis«, wandte er sich mir zu, »was willst du so dringend besprechen, dass ich deine Geburtstagsparty verlassen musste?«

»Du kannst gleich weiterfeiern. Aber ich brauche dich und zwar nur dich. Es ist wichtig und … delikat.« Frederik richtete sich auf.

Ich atmete tief ein. Ich hatte Angelina das Versprechen gegeben, mit niemandem darüber zu reden. Und ich hatte das schlechte Gefühl, dass sie nicht verstehen würde, warum ich es trotzdem tat.

»Es geht um Angelina.«

»So viel habe ich mir schon gedacht«, sagte Frederik trocken.

»Sie hat eben angerufen.« Ich machte eine Pause. »Es ist wirklich … vertraulich. Streng geheim. Deshalb musstest du herkommen. Und deshalb auch allein.«

Frederik lehnte sich vor und schob seine Brille zurecht.

»Sie hat einen Anruf bekommen. Ihr Großvater ist tot.«

Frederiks Augen weiteten sich. »Was?«

»Frederik – das bleibt unter uns!«

Er nickte. »Bleibt es«, sagte er.

»Kein Wort zu Lulu«, beharrte ich. Frederik und Lulu erzählten sich alles. Sie waren eines von jenen Paaren, die auf beängstigende Weise zu einer Person verschmolzen. Wie die beiden Liebenden, die sich in Gustav Klimts berühmten »Kuss« von Goldschein umfangen zu einer einzigen Figur vereinen. Mir hatte die Vorstellung, zu einer Einheit zu verschmelzen, immer einen Schauder über den Rücken gejagt. Bis vor Kurzem.

»Also«, Frederik zögerte. »Mein Beileid, Janis.« Er sah mich mitleidig an. Und verwirrt. »Wie ist das so schnell …«

»Die Sache ist die: Niemand darf von dem Tod erfahren. Das muss unter allen Umständen geheim bleiben. Es gibt nicht mal eine Leiche.«

»Das klingt nach einem Mord.«

»Ich weiß. Ist es aber nicht. Vertrau mir, ich bin da schon eine Weile eingeweiht.«

Frederik runzelte die Stirn. »Wenn du meinst … Und was ist dann das Problem?«

»Angelina will, dass ich komme. Sie ist ganz allein. Und wenn ich ganz allein sage, meine ich: Sie hat niemanden. Nur mich. Sie denkt an eine private Trauerfeier für Maaßen.«

Frederik spielte mit seinem Glas. Er machte den Eindruck, als würde ihm nun einiges klar werden.

»Eine Trauerfeier«, sagte er schließlich, »ohne Leiche? Ohne Angehörige, Freunde, Pfarrer?«

»Ja, ich weiß. Außerdem ist an dem Wochenende das Doktorandenkolleg. Das ist eine einmalige Chance für mich.«

»Unpraktisch. Hätte Maaßen das gewusst, wäre er vielleicht erst nach dem Wochenende gestorben.«

Ich antwortete nicht. Frederiks makabre Art ging mir auf die Nerven.

»Und dann ist da noch die Sache mit Maaßens Flaschenposten …«, sagte ich schließlich.

»Maaßens was?«, fragte Frederik. Wenn ich ihm schon von seinem Tod erzählt habe, dachte ich, kann ich ihm auch von den Flaschenposten erzählen. Es war jetzt sowieso egal. Die erste war ja aufgetaucht. Also fasste ich die Situation kurz für ihn zusammen.

»Anscheinend gibt es einen ersten Finder. Ich überlege mir, ob ich irgendwie an sie rankommen kann«, endete ich.

Bestürzt sah er mich an. Es war schön, Frederik sprachlos zu erleben. Das geschah nicht oft.

»Gerade jetzt wurde eine von Maaßens Flaschenposten gefunden?«, fragte er. »Woher weißt du das?«

»Flaschenpostfreunde.de. Auf dem Weg hierher war ich auf der Seite. Eine Flaschenpostfinderin aus Basel hat sich gemeldet. Mit Foto. Es ist eindeutig eine von Maaßens Flaschenposten.« Ich merkte, dass ich den Bierdeckel zerbröselte, und legte ihn auf den wackeligen Tisch.

»Nett. Ein Geburtstagsgeschenk vom Schicksal!«

»Oder ein Abschiedsgeschenk von Maaßen.«

Ich nahm einen Schluck von Frederiks Gin Tonic, was Frederik nicht weiter kommentierte.

»Ist Maaßen heute gestorben? An deinem Geburtstag?«

»Ich nehme es mal an.«

»Er hatte wirklich ein schlechtes Timing. Gott hab ihn selig.« Er grinste. Ein Schmerz zog durch meine Bauchgegend. »Frederik! Er war wirklich …« Was war er für mich? So was wie ein Idol, vielleicht.

»Tut mir leid.« Frederik winkte den Kellner zu uns: »Einen Whiskey Sour für meinen Freund!« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Also die Frage ist?«

»Die Frage ist, ob ich zu Angelina fahren soll. Das Kolleg hinschmeißen, aber dafür die Flaschenpost suchen und der Frau abkaufen. Aber dann verpasse ich das Kolleg, die Chance mein Referat zu halten und Professor Finkenhorn zu überzeugen, mich einzustellen. Professor Finkenhorn würde das bestimmt ziemlich irritieren. Nach seinem Einsatz. Er würde denken, ich wäre undankbar, oder noch schlimmer: unzuverlässig.«

»Du willst die Flaschenpost kaufen?«

»Ja. Ich. Wir. Keine Ahnung.«

»Warum?«

»Weißt du, was sie wert ist?«

»Ne. Keine Ahnung. Was ist sie wert?«

Der Kellner brachte mein Glas. Als er weg war, wiederholte Frederik seine Frage.

»Viel. Genau weiß ich es auch nicht, aber es ist ein Original und … ach, vergiss es! Außerdem: Was, wenn die Finderin das Gedicht wegwirft? Das wäre ungeheuerlich!

Jedenfalls …«, fuhr ich fort, »Angelina hat mich gebeten, sofort zu ihr zu fahren.«

»Und jetzt willst du von mir wissen, was du machen sollst?«

»Ja.«

»Janis, soll ich dir was sagen?«

Ich nickte, bereit zu hören, was ich nicht hören wollte.

»Du hast die Entscheidung schon getroffen!«

Ich warf ihm einen genervten Blick zu. Natürlich hatte er recht. Und doch wollte ich, dass es eine andere Lösung gab. Eine, mit der ich alles unter einen Hut bekäme. Eine Versicherung, dass die beiden Flussgabelungen, an deren Scheidepunkt ich mich gerade befand, wieder zusammenführen würden.

Ich wollte zu Angelina, ich musste es sogar. Ich hatte Maaßen versprochen, für sie da zu sein. Aber ich sah nicht ein, dass ich nur eine Entscheidung treffen konnte. Das Bild, das mein Vater mir dazu erklärt hatte, war fest verankert: Ich, wie ich mit Pfeil und Bogen das Ziel treffe: die Entscheidung. Und schon damals hatte ich mich dagegen gewehrt, meinen Kindheitshelden Robin Hood angeführt, der Pfeile so schnell schoss, dass er zwei Zielscheiben zugleich treffen konnte.

Das hieße vielleicht, Professor Finkenhorn zu erzählen, dass ich im Besitz des letzten Gedichtes von Otto Maaßen war. Er wäre im höchsten Grad beeindruckt. Das würde mein unentschuldbares Fehlen wettmachen. Wenn aber öffentlich wurde, dass Maaßen ein neues Projekt hatte, würde man nachforschen und vielleicht herausfinden, dass er tot war. Es kam also nicht infrage. Noch nicht. Eines Tages vielleicht? Scheiße! Verschiedene Entscheidungen treffen zu wollen, die sich widersprachen, hieß sich gar nicht zu entscheiden. Hieß, am Scheidepunkt stehen zu bleiben, auf Land aufzulaufen, den Fluss zu verlassen. Gar nichts zu erreichen. Stillstand.

Ich schob den Haufen kleiner Fetzen, in die ich den Bierdeckel offenbar zerrissen hatte, zu einem Berg zusammen.

»Wann sollst du bei Angelina sein?«

»Am besten sofort.«

»Und wie lange sollst du bleiben?«

»Weiß ich nicht. Unbestimmt lange.«

»Dann nimm dir diesmal lieber ein paar Klamotten mit«, sagte Frederik trocken. Ich lachte auf bei der Erinnerung an meinen ersten Auftritt bei Maaßen, der nur unglaublich kurze vier Monate zurücklag.

1.

Ich erinnere mich an das Gefühl, als Maaßen mich nach Lindau eingeladen hatte. Das Gefühl, ich könnte im Leben alles erreichen. Ich hatte das Jackett zugeknöpft, die Krawatte vom Bett genommen und Frederiks Zimmer betreten.

»Krawatte ist übertrieben, oder? Oh! Sorry!«

Auf Frederiks Bett hatte Lulu gelegen. Allein und angezogen. Immerhin. Ihr blumiges Parfüm war in jeden Winkel von Frederiks Zimmer gekrochen und hätte mich eigentlich warnen können. Ich schloss die Tür, bevor sich der Duft im Flur ausbreiten und von der Wohnung Besitz ergreifen konnte. »Seit wann bist du hier?«

»Seit eben. Gut siehst du aus. Zum Anbeißen!« Sie lachte.

»Muss ich eifersüchtig werden?«, fragte Frederik, während er an seinem Schreibtisch saß und tippte. Wahrscheinlich programmierte er gerade etwas Geniales. Oder er evaluierte die Seebrücken-Demo, die er in Mainz mitorganisiert hatte.

»Gehst du auf ’ne Hochzeit?«, fragte Lulu.

»Vernissage. Auf Einladung von Otto Maaßen.«

»Otto wer? Ist das dieser Verfassungsschutztyp?«

»Nein. Ein Dichter. Er hat … ach, vergiss es. Findest du es nicht zu eng an der Brust?«

»Warte, ist das Frederiks Anzug?«, fragte Lulu.

»Ja.«

»Wo ist deiner?«

»Ich habe keinen! Was meint ihr zur Krawatte? Ist overdressed für eine Vernissage, oder?«

Lulu neigte ihren Kopf. Dann nickte sie.

»Passabel siehst du aus«, sagte Frederik, der endlich vom Laptop aufsah. »Aber was machst du mit deinen Haaren?«

»Wieso? Ist doch gut so?«

Frederik lebte für sein Studium und für seine Vision von einer toleranten, umweltschützenden, friedlichen Gesellschaft. Dass er überhaupt wahrnahm, dass jemand Haare hatte, wunderte mich.

»Ansichtssache«, murmelte er.

»Lulu?«

»Kann man lassen. Sieht süß aus, so verstrubbelt und nimmt dem Anzug seine Ernsthaftigkeit.«

»Seinen Ernst«, verbesserte ich.

»Pedant!«

»Besser als Pedologe …« Ich fuhr durch meine Haare.

»Podologe meinst du wohl«, konterte Lulu.

»Podologe gibt’s nicht, Lulu.«

»Fertig!«, sagte Frederik und klappte seinen Laptop zu. Er setzte sich zu Lulu aufs Bett und erklärte: »Pedologie: Lehre vom Boden. Und Podologie: Heilkunde am Fuß. Und jetzt bitte ich um etwas Privatsphäre mit meiner Freundin, Janis. Viel Erfolg heute Abend!«

»Danke! Und danke für den Anzug!«

»Und bleib nicht zu lange weg! Zum Abendessen bist du wieder zu Hause!«, rief Lulu. Sie liebte diesen Scherz, in dem sie und Frederik sich als meine Eltern aufspielten. Ich lächelte. Mein Zug nach Lindau fuhr in zwanzig Minuten. Ich musste los.

Der Zug war voll. Nicht nur voller Menschen, auch voller Gerüche, Geräusche und Gepäck. Neben mir saß eine junge Frau. Der Geruch ihres Käsebrötchens vermischte sich mit dem von Zwiebeln, der von irgendwo weiter vorne zu uns strömte. Und die Gurte ihres riesigen Reiserucksacks pendelten bei jeder kleinen Kurve über meinem Kopf hin und her. Auf ihrem Schoß hatte sie einen kleineren Rucksack und vor sich einen Beutel. Ich streckte genüsslich meine Beine aus. Ich reiste ohne Gepäck. Der vollgestopfte Zug bestätigte mich wieder einmal in meiner Einstellung: Gepäck war Ballast. Eine Unterhose und ein Paar Socken steckten mit meinem Handy und meinem Portemonnaie in meinen Jackentaschen. Unter der Jacke trug ich Frederiks Anzug, den ich morgen auf der Rückreise wieder tragen würde.

Ich setzte Kopfhörer auf, um das Dröhnen der Bahn durch meine Playlist abzulösen. Ich freute mich auf das Treffen. Mein Professor hatte mir den Tipp gegeben, Maaßen zu recherchieren. Das war nur eine Woche her. Ich hatte schon von ihm gehört, aber Maaßen war Dichter und kein bildender Künstler.

»Trotzdem«, hatte Professor Finkenhorn gesagt. »Er passt genau in Ihr Untersuchungsfeld, Herr Schütz.« Als ich am Gehen war, hatte Professor Finkenhorn noch geraunt: »Schauen Sie über Ihren Tellerrand.«

Die Luft in Lindau kroch kalt und feucht unter meine Kleidung. Eine Winterblässe lag auf der Stadt, deren einzige Farbtupfer türkisfarbene Kleinbusse waren, die die Menschen zu ihren Zielen fuhren. Während der Bus uns durch die Stadt transportierte, ging ich die Fragen durch, die ich Maaßen stellen wollte. Ich hatte viel von ihm gelesen, sowohl seine Lyrik als auch seine Poetik. Mit Gedichten konnte ich noch nie viel anfangen, aber er hatte sehr interessante Ansichten zur Kunst. Deshalb konnte ich es kaum erwarten, ihn kennenzulernen. Der Bus hielt unmittelbar vor meinem Ziel, einer unscheinbaren Galerie mitten in einem Wohnviertel.

Unter den Leuten, von denen, wie ich etwas verunsichert bemerkte, keiner einen Anzug trug, erkannte ich Maaßen sofort. Ich hängte meine Jacke an die Garderobe, dankbar, dass ich mich gegen die Krawatte entschieden hatte. Um legerer zu wirken, öffnete ich mein Jackett. Der Künstler, ein gewisser Günther V., von dem ich noch nie gehört hatte, schien eine Vorliebe für tote Vögel zu haben. In schwarzer Tusche auf weißer Leinwand reckten sie mir von allen Seiten ihre Krallen entgegen. Ein Streichquartett quietschte unmelodische, moderne Kompositionen. Maaßen unterhielt sich mit einem Mann mit großer Brille und dünnem, schwarzen Haar und einem Mädchen, das wie die Königin des Abends wirkte. Oder wie die Prinzessin. Die Eleganz, mit der sie ihr Glas hielt, überstrahlte hier jedes Bild. Ich ging auf die Gruppe zu. Durch meinen Auftritt entstand eine Pause, in die hinein ich sagte: »Guten Abend, Herr Maaßen! Ich bin Janis Schütz, wir hatten uns geschrieben.«

»Janis Schütz, natürlich! Schön, dass Sie da sind. Das ist Günther Vogel, es ist seine Vernissage. Und das ist Angelina Heinrichs.«

Ich schüttelte beiden die Hände. Der Künstler lächelte verspannt. Angelina war hinreißend. Genau genommen war es ihr Blick, der mich nicht losließ. Sie hatte grüne Augen mit braunen Sprenkeln. Manchmal weiß man beim ersten Blickkontakt, dass man einander gefällt. Es genügt ein Augenblick. So war es mit Angelina.

»Ich bin froh, Sie kennenzulernen, Herr Maaßen«, wandte ich mich meinem eigentlichen Ziel zu. »Ich hatte Ihnen geschrieben, dass ich mich schon länger für Ihre Lyrik interessiere. Vor allem für die materialbezogenen Projekte.« Ich spürte Angelinas neugierigen Blick, und während ich an der Oberfläche versuchte, sinnvolle Sätze von mir zu geben, war der hintergründige Teil meiner Gedanken mit der Frage beschäftigt, welchen Eindruck ich auf Angelina machte.

»Zum Beispiel?«, fragte Maaßen.

»Zum Beispiel die Sache mit dem Fächer. Eine Hommage an Mallarmé, nehme ich an.«

Der Kellner kam mit einem Tablett zu uns, und ich nahm ein Glas Wein. Angelina stellte ihr leeres Glas auf das Tablett und nahm sich ein neues. Der Künstler berührte sie am Ellbogen und sprach eindringlich auf sie ein. Ich räusperte mich. »Herr Maaßen, wie würden Sie das beschreiben? Stand bei der Entstehung dieser Gedichte das Material am Anfang oder der Inhalt? Welche Rolle hatte das Material, und wie war es, als sie es …« begann ich.

Eine Frau mit riesigen Kreolen trat an uns heran. »Kommst du mal, Otto, ich muss dir Freischlägel vorstellen! Du weißt schon, den jungen Dichter.«

Maaßen sah von mir zu ihr und zurück. »Es tut mir sehr leid, Sie zu unterbrechen. Wir haben sicher nachher noch die Gelegenheit, Herr Schütz, und dann beantworte ich Ihre Fragen.«

Als Günter V. bemerkte, dass Maaßen gegangen war, folgte er ihm eilig, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich hob mein Glas in Angelinas Richtung. »Und was machst du hier?«, fragte ich.

»Ich bin mit Otto hier.«

»Bist du auch Dichterin?«

»Ich? Nein! Oh Gott!«, sie lachte. »Nein, Otto ist mein Großvater. Mit Gedichten kann ich nicht viel anfangen, ehrlich gesagt.«

»Wirklich? Dein Großvater? Ich dachte, er hätte keine Kinder.«

»Doch, doch«, sagte sie mit abgewandtem Blick.

»Ich studiere Kunstgeschichte«, sagte ich. »Mein Professor hat mir empfohlen, Maaßen in meiner Masterarbeit zu besprechen. Du weißt nicht zufällig, ob sich die beiden persönlich kennen? Professor Finkenhorn heißt er.«

»Oh«, sagte Angelina, »da fragst du die Falsche. Ich kenne Ottos Bekannte nicht.«

»Schade, das hätte mir mein Leben leichter gemacht.«

»Vielleicht ist es gar nicht so gut, wenn im Leben alles leicht ist.«

»Findest du?«

Sie zuckte die Schultern. »Künstler brauchen jedenfalls mehr Aufregung, wie ich gerade von Günter V. erfahren habe.« Sie zog angewidert eine Augenbraue hoch. Dann lachte sie: »Zum Glück bin ich keine Künstlerin. Ich habe es lieber einfach!« Ein bitterer Zug umspielte ihr Lächeln, ließ es unecht wirken, traurig. Sie sah sich um.

»Ah, doch! Eine Bekannte von Otto kenne ich. Die Frau, mit der er gerade spricht. Die hat er mir vorgestellt.«

»Und wer ist das?«

»Eine Schauspielerin. Irene? Verena? Verona? Ach. Tut mir leid. Mein Namensgedächtnis ist furchtbar.« Ihr linkes Grübchen war beim Lachen einen Tick größer als das rechte.

»Gibt’s hier denn nirgendwo ein paar bequeme Sessel?« Angelina interessierte mich. Fast mehr als Maaßen selbst. War sie wirklich mit ihm verwandt?

»Leider nicht. Die nächsten bequemen Sessel sind die Sitze in Ottos Auto!«

»Und kommen die infrage?«

Angelina sah mich herausfordernd an. »Was würden die Leute denken?«, fragte sie scherzhaft pikiert und wandte sich konzentriert dem Bild eines toten Falken zu. Ich folgte ihr.

Wenn jetzt Sommer wäre, dachte ich, würden wir uns draußen auf den Bordstein setzen, ich und Otto Maaßens Enkelin. Uns blieb nichts anders übrig, als die Kühle des rechteckigen Raumes auszublenden, das grelle Licht, das die Exponate beleuchtete, und die aufdringliche Musik, die unser Gespräch untermalte. Ohne den Tuschevögeln ernsthaft Beachtung zu schenken, schlenderten wir, der Choreografie der Besucher folgend, von Bild zu Bild.

»Aus Mainz?«, fragte Angelina. »Du bist für diese Ausstellung extra aus Mainz angereist?«

»Nicht für diese Ausstellung. Ich wollte Maaßen kennenlernen. Er hat mich gebeten, hierherzukommen. Deshalb bin ich hier.«

Ich sah Angelina an. Wie alt mochte sie sein? Ihre Frisur und ihr Kleid ließen sie vielleicht älter wirken, als sie war.

»Gefallen dir die Bilder?«, fragte ich.

»Ich habe es nicht so mit toten Vögeln. Weißt du was?«, sie kam etwas näher und flüsterte: »Der Künstler malt Vögel, weil er mit Nachnamen Vogel heißt. Er hat es nicht gewusst, bis ich es ihm eben gesagt habe.« Ein spöttisches Lächeln zog über ihr Gesicht.

»Warum malt er sich tot?«

»Vielleicht wünscht er sich, tot zu sein.«

»Hm. Existenzialismus …«, sagte ich mit einem fachmännischen Nicken, »oder er hatte ein traumatisches Erlebnis in der Kindheit. Als er seinen Kanarienvogel tot im Käfig gefunden hat.«

Angelina kicherte. »Oder er wollte einen Vogel malen, aber die Modelle sind immer davongeflogen. Sodass er sie künstlerisch nicht einfangen konnte.«

»Also hat er sie getötet?«

Ihre Augen funkelten verschwörerisch. »Vergiftet!«

»Statt sie zu fotografieren und dann die Fotos abzumalen!«, wandte ich ein. Wir bekamen einen Lachanfall, der die Blicke der anderen auf uns zog. Angelina war bezaubernd. Und sie war Maaßens Enkelin!

Dass die Musiker ihre Instrumente einpackten, bekam ich am Rande mit. Dass die Menschen ihre Mäntel vom Garderobenständer nahmen und sich verabschiedeten, brachte eine gewisse Unruhe mit sich. Und als Maaßen seiner Enkelin ihre Jacke hinhielt, wurde mir plötzlich bewusst, dass der Abend verstrichen war, ohne dass ich mit ihm geredet hatte.

»Und ich dachte schon, Sie wären meinetwegen angereist!«, sagte er.

»Das bin ich auch! Herr Maaßen, könnten wir uns vielleicht noch mal zusammensetzen? Bei einer anderen Gelegenheit?«

Maaßen war in seiner E-Mail sehr kühl gewesen. Jetzt machte er ein nachdenkliches Gesicht.

»Sind Sie die nächsten Tage noch in Lindau?«

»Ich … Ja. Also, ich habe keine Pläne«, log ich.

»Kommen Sie doch morgen am frühen Abend zu mir nach Hause. Passt Ihnen sechs Uhr?«

»Ja, gerne. Vielen Dank!«, sagte ich überrascht. Mit einer Einladung nach Hause hatte ich nicht gerechnet.

»Die Adresse findest du auf seiner Homepage«, sagte Angelina. Der Kellner packte Gläser in Kartons. Ich stand da und sah zu, wie Angelina in ihre übergroße Jacke schlüpfte, in der sie förmlich verschwand. Um ihren Hals schlug sie einen voluminösen Wollschal.

Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung, da nahm ich zum ersten Mal Angelinas Duft wahr. Otto Maaßen reichte mir die Hand. Dann verschwanden beide in der Dunkelheit. Das war kein Parfum, das war sie!

Ich ging zur Garderobe, in der nur noch meine Jacke hing und zog einen Zettel aus der Jackentasche. Für den Fall, dass mein Handyakku leer wurde, hatte ich im Zug die Adresse der Jugendherberge aufgeschrieben. Ich ging damit zum Kellner.

»Komme ich da irgendwie noch mit dem Bus hin?«

»Zur Jugendherberge?«

»Ja?«

»Ich kann dich mitnehmen, wenn du mir beim Einpacken hilfst.«

»Okay. Danke«, sagte ich und machte mich an die Arbeit.

2.

Als ich am nächsten Tag an Maaßens Haustür läutete, trug ich immer noch Frederiks Anzug. Meine Beine fühlten sich unter dem dünnen Stoff wie Eisenrohre an. Da ich in Lindau nichts zu tun gehabt hatte, war ich durch die Kälte gestreift, hatte die Altstadt-Insel besichtigt und in einem Blumengeschäft eine lachsfarbene Rose für Angelina gekauft. Jetzt stand ich im Lichtkegel einer zierlichen Wandleuchte, der meinen Atem in Wolken verwandelte. Der Schein fiel auf meinen Anzug und auf die Rose in meiner Hand. Als Maaßen endlich öffnete, kam ich mir lächerlich vor.

»Guten Abend! Oh, ist die für mich?«

»Nein.« Ich lächelte höflich über seinen Scherz. »Für Ihre Enkelin.«

Maaßen zuckte kurz und sagte dann: »Ich dachte, heute seien Sie meinetwegen hier?« Er betrachtete mich von oben bis unten. »Sie sehen adrett aus. Sie wollen mich doch nicht etwa um Angelinas Hand bitten?«

»Was?«, rief Angelina, die um die Ecke gelaufen kam.

»Nein«, sagte ich und reichte Angelina die Rose.

»Für mich?« Sie wurde rot und zupfte an ihrem Pulli. Ohne ihr elegantes Kleid wirkte sie heute nahbar, fast wie ein normaler Mensch.

»Gehen wir in mein Arbeitszimmer!«, schlug Maaßen vor. Ich streifte meine Schuhe ab. Sie waren nicht ganz wasserdicht, und ich bemerkte, dass meine Socken an den Zehen nass waren. Ich hängte meine Jacke auf und fühlte mich beklommen, weil Maaßen und Angelina mich dabei beobachteten. Dann folgte ich Maaßen, und Angelina folgte mir. Antike Kommoden, auf denen moderne, ausdruckslose Büsten standen, verengten den geräumigen Flur, sodass wir hintereinander hergehen mussten. Ich fragte mich, ob es ein Gespräch zu dritt werden würde. Aber dann berührte Angelina leicht meinen Arm und hauchte ein »Bis später!«.

In Maaßens Arbeitszimmer duftete es nach alten Schmökern. Es weckte ein Gefühl von Heimat. So hatte es bei meiner Oma gerochen. Maaßen setzte sich hinter seinen wuchtigen Schreibtisch, der voller Papiere war. Neben den mächtigen Tischbeinen mit Löwen-Tatzen standen leere Weinflaschen. Sie waren mit Staub bedeckt und traten in Kontrast zu den blankpolierten Bücherregalen, die die Wände bedeckten. Sogar über der Tür reihten sich Bücher über Bücher. Offenbar las der Mann gerne. Hinter Maaßen gewährte eine große Fensterfront Einblick in den Garten, wo der Schnee von heute Morgen noch alle Pflanzen bedeckte und in der Dunkelheit bläulich schimmerte. Auf den Straßen war er schon geschmolzen. Vor dem Schreibtisch standen zwei Sessel. Ich entschied mich für den, der bequemer aussah. »Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit!«, forderte mich Maaßen auf.

Viel später, als ich auf der Autobahn zu Angelina fuhr, um mit ihr Maaßens Tod zu würdigen, würde ich mich fragen, was ihn dazu bewogen hatte, sich auf dieses Gespräch einzulassen. Zuerst dachte ich, dass Maaßen wirklich an meiner Arbeit interessiert war. Dann, dass sich Maaßen so viel Zeit genommen hatte, weil er sich selbst so gerne reden hörte. Doch Maaßen sprach auch gerne über Intuition, und vielleicht war es einfach das: seine Intuition. Denn was würde Angelina jetzt anfangen, wenn wir einander nicht kennengelernt hätten? Als ich aber bei Maaßen saß und gefragt wurde, worum es bei meiner Arbeit ging, dachte ich nicht über seine Beweggründe nach. Ich versuchte, das komplexe Thema in einem Satz zusammenzufassen.

»Ich bin noch ganz am Anfang, bei der Recherche. Ich schreibe über die Materialität in der Kunst.«

Maaßen richtete sich auf und kratzte sich an der Augenbraue. »Sie sind Kunststudent?«

»Kunstgeschichte.«

»In Ordnung. Und dann hat Kunst doch immer eine gewisse Materialität, nicht? Was interessiert Sie?«

»Kunst hat nicht immer eine Materialität. Kennen Sie die Messe »Unpainted« in München?«, fragte ich. Maaßen schüttelte den Kopf. »Da gibt es nur digitale Kunst. Projektionen. Aber das interessiert mich eigentlich nicht. Mich interessiert das Verhältnis des Materials oder des Objekts zu seiner Aussage. Inwiefern bestimmt das Material die Kunst, und was macht die künstlerische Bearbeitung mit dem Material? Und dann stelle ich auch die Frage nach der Vergänglichkeit des Materials. Bei alten Gemälden kennt man das ja, die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit, das Licht. Alles ist darauf ausgerichtet, dass das Material nicht altert.«

»Das gilt nicht nur für Gemälde. Das gibt es auch bei Schriftstücken. Grabreden aus dem Mittelalter, zum Beispiel.« Ich stutzte. Professor Finkenhorn hatte recht. Ich ließ in meinen Überlegungen immer die Literatur außen vor.

»Ja«, antwortete ich. »Andererseits geht es bei der Literatur nicht um das Material. Die Texte werden neu gedruckt und bleiben so erhalten.«

»Das könnte man über die Bilder auch sagen. Aber Sie haben natürlich recht. Ein Kunstdruck ist von der Haptik, wenn man so sagen will, von der Struktur und Intensität der Farben her etwas völlig anderes als sein Original.«

Mir fiel van Goghs »Sternennacht« ein, die ich letztes Jahr im Museum of Modern Art in New York gesehen hatte. Minutenlang hatte ich vor dem Bild gesessen und das Gefühl gehabt, hineingesogen zu werden. Ein Kunstdruck dieses Gemäldes hing unbeachtet im Schlafzimmer meiner Eltern.

»Nichtsdestotrotz, Herr Schütz, gibt es ja auch Strömungen in der Literatur wie zum Beispiel den Symbolismus, in denen es nicht nur auf die Wortbedeutung, das Signifié, ankommt. Sie haben gestern Mallarmé angesprochen. Die Bildqualität des gedruckten Wortes rückt ins Zentrum der Betrachtung und so weiter. Aber auch das Material spielt eine entscheidende Rolle, gleichwertig mit dem Text, der ohne das Objekt nicht gedacht werden kann.«

Signifié? Wovon sprach der Mann? »Ja. Richtig«, stimmte ich sicherheitshalber zu. »Sie spielen auf den Fächer an, oder?«

»Das ist nur ein Beispiel. Es ist ein Spiel, das sich selbst zum Inhalt hat.«

Plötzlich fiel mir ein, dass ich mein Handy in der Jackentasche gelassen hatte. Ich wollte das Gespräch doch aufzeichnen!

»Kennen Sie den Inhalt des Fächergedichts?«, fragte Maaßen.

»Nicht genau.« Ich sah mich um. Zumindest mitschreiben musste ich.

»Es gibt eigentlich mehrere solcher Gedichte, aber ich bevorzuge das an seine Frau.« Er lächelte, seine Augen leuchteten, und er begann auf Französisch zu rezitieren. Es klang sehr schön, aber ich verstand kein Wort.

Maaßen erklärte: »Mallarmé hat das Gedicht Ende des 19. Jahrhunderts auf einen Fächer geschrieben, den er seiner Frau geschenkt hat. Auf Deutsch geht das Gedicht so:

Fächer

von Madame Mallarmé

Nichts spricht – nur der Schlag

Im Himmel enthüllt eine Weile

Die künftige Zeile

Die ihr kostbares Heim einst verbarg

Die Schwinge als Botin ganz leise

Der Fächer mag selbiger sein

Durch den hinter dir irgendein

Spiegel ihn zeigt in kristallener Weise

(Wo wird von der Asche unsichtbar

Sich wieder ein wenig senken

Die in jedem Körnchen verfolgt war

Um mir wieder Kummer zu schenken)

So mag er immer in Deinen

Händen ohn’ Trägheit erscheinen

Maaßens Stimme war ganz tief, als hätte er sie von einem inneren Brunnen heraufgeholt. Es schien mir, dass er ganz in sich gekehrt war. Ich lauschte der Stille, die folgte.

»Wo ist der Fächer heute?«, fragte ich.

Maaßen lachte. »Gute Frage. Vermutlich in einem Mallarmé-Museum oder im Literaturarchiv.«

»Hatte Mallarmé keine Kinder, denen er ihn vererbt hat?«

»Sie hatten eine Tochter, die von Mallarmé einen ähnlichen Fächer bekommen hat. Ich weiß es nicht, Herr Schütz, vielleicht ist er auch noch im Besitz der Familie. Das müsste man recherchieren. Sie könnten das recherchieren.«

»Wie viel er wohl wert ist?«

»Das ist in der Tat eine spannende Frage! Der Wert der Kunst. Und wie ist das bei dieser digitalen Kunstausstellung? Sie erweckt den Anschein, als gäbe es die Kunst nur in diesem Augenblick. Nur in diesem Raum. Und wenn der Stecker gezogen wird, ist sie verschwunden. Andererseits ist die Projektion ja auch wieder abrufbar. Stecker wieder rein, da ist sie.

Der Träger der Kunst ist keine Leinwand, sondern der digitale Datenträger. Ich nehme an, der Algorithmus, der dahintersteckt, ist auf einem Speichermedium gespeichert. Wenn man ihn beliebig kopieren kann, so wie die Literatur durch den Buchdruck, bleibt auch hier die Essenz als Kunst. Fast könnte man es als Konzeptkunst verstehen … Ich stelle mir vor: Mit dem USB-Stick, mit dem Kunst-Programm erwirbt der Kunde eine Anleitung für seine persönliche Kunst, reinste Pop-Kunst. Kunst fürs Volk.«

»Ja.« Ich zögerte. Ich betrachtete den Laptop auf Maaßens Tisch. »Ähnlich wie Texte, die am Computer entstehen. Schreiben Sie Ihre Texte am Laptop, Herr Maaßen?«

»Mal so, mal so.«

Ich wartete, ob Maaßen das weiter ausführen würde. Und dann fragte ich mich, warum Maaßen nicht einfach mit einer Zahl auf meine Frage antworten konnte. Was müsste die Antwort sein? War der Fächer eher Tausend oder eine Million Euro wert?

»Es gibt Projekte, da ist das Material auch für mich fester Bestandteil des Werks«, fuhr Maaßen fort. »Und dann müssen Sie natürlich Folgendes beachten, Herr Schütz: Der Künstler muss auch von etwas leben. Wenn ich nun ein bildender Künstler bin so wie die, deren Kunst Sie normalerweise untersuchen, muss ich irgendwie überleben. Produziere ich also Kunst, die beliebig reproduzierbar ist? Oder schaffe ich ein einmaliges Werk auf einem analogen Material? Ich denke an Banksy, dessen Street-Art per se dem Verfall ausgesetzt und dem Wandel unterworfen ist. In Hamburg wird eine Wand, auf die Banksy gesprayt hat, nun mit Plexiglas geschützt. Und dann geht der her und schreddert seine Kunst!« Maaßen lachte herzhaft.

Banksy? Ich versuchte zu rekonstruieren, über welche gewundenen Wege wir ausgerechnet zu ihm gelangt waren. Mir schwirrte der Kopf.

»Ach«, seufzte Maaßen zufrieden, »ich bewundere Banksy.«