Die letzte Party - Clare Mackintosh - E-Book
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Die letzte Party E-Book

Clare Mackintosh

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Beschreibung

Um Mitternacht treibt eine Leiche im See. Am Morgen ist jeder Gast verdächtig … »Die letzte Party« von der britischen Bestseller-Autorin Clare Mackintosh ist der erste Teil einer raffinierten  Krimi-Reihe voller Intrigen, Lügen und unerhörter Twists. Am Silvester-Abend gibt Rhys Lloyd die Party aller Partys: Seine Ferienhäuser an einem See in Wales sind ein voller Erfolg, und er hat die walisischen Dorfbewohner großzügig eingeladen, mit ihren neuen reichen Nachbarn Champagner zu trinken. Doch nicht alle sind zum Feiern da: Um Mitternacht treibt Lloyds Leiche im See. Am Neujahrstag hat Ermittlerin Ffion Morgan ein Dorf voller Verdächtiger – die zugleich ihre Nachbarn, Freunde und Familie sind. Sie alle haben ein Motiv. Und niemand sagt wirklich die Wahrheit, auch Ffion nicht. Aber wer von ihnen lügt, um einer Verhaftung zu entgehen? In einem Dorf mit so vielen Geheimnissen ist ein Mord erst der Anfang … Clare Mackintosh hat selbst 12 Jahre lang bei der britischen Kriminalpolizei gearbeitet. Ihre erste Krimi-Reihe um das so gar nicht perfekte Ermittler-Duo Ffion Morgan und Leo Brady – er Engländer und schwarz, sie Waliserin und weiß – bietet psychologisch subtile Spitzen-Spannung in eisig-wunderschöner Landschaft.

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Seitenzahl: 589

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Clare Mackintosh

Die letzte Party

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Sabine Schilasky

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Am Silvesterabend gibt Rhys Lloyd die Party aller Partys: Seine Ferienhäuser an einem See in Wales sind ein voller Erfolg, und er hat die walisischen Dorfbewohner großzügig eingeladen, mit ihren neuen reichen Nachbarn Champagner zu trinken.

Doch nicht alle sind zum Feiern da: Um Mitternacht treibt Lloyds Leiche im See.

Am Neujahrstag hat Ermittlerin Ffion Morgan ein Dorf voller Verdächtiger – die zugleich ihre Nachbarn, Freunde und Familie sind. Sie alle haben ein Motiv. Und niemand sagt wirklich die Wahrheit, auch Ffion nicht. Aber wer von ihnen lügt, um einer Verhaftung zu entgehen?

In einem Dorf mit so vielen Geheimnissen ist ein Mord erst der Anfang …

Inhaltsübersicht

Widmung

Zitat

Karte

NEUJAHR

TEIL EINS

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

TEIL ZWEI

Der Himmel ist von [...]

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

NEUNUNDDREISSIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

SECHSUNDVIERZIG

SIEBENUNDVIERZIG

ACHTUNDVIERZIG

NEUNUNDVIERZIG

FÜNFZIG

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ZWEIUNDFÜNFZIG

DREIUNDFÜNFZIG

VIERUNDFÜNFZIG

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SECHSUNDFÜNFZIG

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ACHTUNDFÜNFZIG

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SECHZIG

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ZWEIUNDSECHZIG

DREIUNDSECHZIG

VIERUNDSECHZIG

FÜNFUNDSECHZIG

DANKSAGUNG

Leseprobe »Spiel der Lügner«

Für meinen Buchclub – die beste Leserschaft aller Zeiten.

Nun liegt der weite See im tiefen Schlummer da, gleich einem Spiegel, still und schimmernd klar.

William Wordsworth

NEUJAHR

Niemand in Cwm Coed erinnert sich, in welchem Jahr die Sache mit dem Schwimmen anfing, doch jeder weiß, dass man das neue Jahr nicht mehr auf andere Art begrüßen will. Keiner kann sich entsinnen, in welchem Jahr es war, dass Dafydd Lewis mit nichts als einer Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf ins Wasser ging, oder wann die Rugbytypen vom Anleger sprangen und die arme Mrs Williams durchnässten.

An das heutige Schwimmen hingegen wird sich jeder erinnern.

Seit dem Advent schon sind die Gipfel schneebedeckt, und obwohl die Berge einigen Schutz bieten, sind die Temperaturen im Ort nicht mehr über sieben Grad gestiegen. Der See selbst ist noch kälter. Vier Grad!, hauchen die Leute entzückt und ungläubig zugleich. Wir müssen verrückt sein!

Als rebellierten sie gegen den klaren Himmel, wabern Nebelschwaden über der Wasseroberfläche, was den verwirrenden Eindruck erweckt, der Himmel wäre auf den Kopf gestellt. Über dem Dunst ist die Luft von klarem Blau, und noch ist der fahle Mond über dem Wald zu sehen.

Von ganz oben auf dem Pen y Ddraig scheint der Llyn Drych eher wie ein Fluss als ein See. Er ist lang und schlangenförmig, jede Biegung wie ein Zucken des Drachenschwanzes, den er angeblich darstellen soll. »Drych« bedeutet »Spiegel«, und wenn der Wind nachlässt und das Wasser ruhig ist, schimmert die Oberfläche wie Silber. Die Spiegelung der Berge erstreckt sich bis in die Seemitte, so glatt, dass man glaubt, man könne darauf gehen. Nichts deutet auf die schwarzen, bodenlosen Tiefen darunter.

Auf dem Weg, der an der Südseite der Berge entlangführt – vom Drachenrücken bis zum Drachenkopf – bücken sich Spaziergänger, um kleine Steine aufzuheben. Sie richten sich wieder auf, wiegen die Kiesel in den Händen und schauen sich verstohlen um, bevor sie Geschosse gen Wasser schleudern. Die Legende besagt, dass sich der Drache aufbäumt, wenn sein Schwanz getroffen wird – und nur wenige können dem Mythos widerstehen.

Am Seeufer stehen Kiefern Spalier, deren Schultern einander so nahe sind, dass man sich vorstellt, sollte eine fallen, würden sie alle eine nach der anderen wie Dominosteine umkippen. Die Bäume versperren dem Dorf Cwm Coed die Sicht, fangen aber auch das schlimmste Wetter ab, was die Menschen, die dort leben, für einen fairen Tausch halten.

Auf der anderen Seite des Sees, keine Meile von der Stelle entfernt, an der sich nun die Menge sammelt, duckt sich eine Reihe von Gebäuden am Fuß der Berge. Die Bäume direkt vor ihnen sind gefällt, und ihr Holz ist verwendet worden, um die darunter gemauerten Lodges zu verkleiden und das breite Schild zu fertigen, das am Ende einer langen Zufahrt steht – jeder Buchstabe mannsgroß.

THE SHORE.

Fünf Lodges stehen dort, bisher. Zweigeschossige, rechteckige Kästen mit holzverschalten Mauern und Dächern sowie Veranden nach vorn, die auf Stelzen in den See ragen und nun aus dem Dunst auftauchen. Metallleitern blitzen in der Wintersonne, und an den Pontons fehlen noch die Boote, die dort im Sommer an ihren Tauen ziehen.

Luxus-Lodges am See, so nennt die Hochglanzbroschüre sie.

Carafanau ffansi, sagt Ffions Mam. Aufgemotzte Wohnwagen. Schickimicki.

Ein verdammter Schandfleck, sind sich die meisten Dorfbewohner einig. Und zu dem Preis! Für ein Haus, in dem man nicht mal das ganze Jahr über wohnen kann. Den Besitzern ist nicht erlaubt, The Shore zu ihrem ersten Wohnsitz zu machen, heißt es auf der Website. Als bräuchte Nordwales noch mehr Wochenendurlauber.

Bald soll eine weitere Reihe hinter der ersten entstehen. Und dahinter noch eine. Ein Spa, ein Fitnesscenter, Läden und ein Swimmingpool.

»Weiß der Himmel, warum die nicht im See schwimmen können.« Ceri Jones hockt hinten auf der Ladefläche ihres Kombis und zieht ihre Trainingshose aus. Ihre von Gänsehaut bedeckten Schenkel wirken schneeweiß vor der schmutzigen Stoßstange.

»Weil der arschkalt ist, darum.«

Die Lacher kommen schnell und schrill – befeuert von der gestrigen Silvesterparty, von zu viel Wein, zu wenig Schlaf und der Kälte, die durch die Bademäntel kriecht und sich in den Knochen einnistet.

»War aber ein netter Abend.«

Zustimmendes Gemurmel erklingt.

»Chwarae teg.« Das muss man ihnen lassen. Die Leute von The Shore wissen, wie man eine Party schmeißt. Vor allem sind sie klug genug, die Einheimischen einzuladen. Neugier siegt verlässlich über Groll.

Eissplitter schieben sich in den flachen Pfützen am Seeufer übereinander, gebrochen von Zehen, die aus fellgefütterten Stiefeln gezwungen wurden.

»Es sind noch zehn Minuten. Du kriegst Frostbeulen.«

»Davon merk ich nicht mal was. Ich glaube, ich bin noch besoffen.«

»Das hier hilft hoffentlich gegen meinen Kater. Meine Schwiegereltern kommen zum Mittagessen, und von denen kriege ich so schon Kopfweh.«

»Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.«

»Mir soll beides recht sein.«

Das erste Hupen hallt durch die Luft, und es wird gejuchzt.

»Bereit?«

»So bereit, wie ich sein kann.«

Jacken und Bademäntel werden zur Seite geworfen, Handtücher über Armen drapiert und Wärmflaschen für die Rückkehr ausgelegt. Dann eilen alle zum Ufer – ein Gewirr aus weißen Gliedmaßen und Badeanzügen, mutigen Bikinis und vernünftigen Wollmützen. Es wird so laut aufgeregt geplappert, dass die Leute sich fragen, ob sie das zweite Hupen überhört haben. Doch als es kommt, ist es unverkennbar. Die Leute rufen »Blwyddyn Newydd Dda!«, laufen zum See und stürzen sich unter lautem Gekreische ins eisige Wasser.

Als sie tief genug sind, tauchen sie in den wabernden Dunst ein. Alles ist eine Frage der Willenskraft. Kälte legt sich einer Schraubzwinge gleich um Brustkörbe, Münder werden im Schock aufgerissen, als ihnen die Luft wegbleibt. »Bewegen, bewegen!«, rufen die Veteranen, denen das Dopamin ein Lächeln ins Gesicht treibt. Sich kräuselndes Wasser schwillt zu Wellen an, da sich die Leute hin- und herwerfen, und der auffrischende Wind jagt ihnen Schauer über die Schultern.

Als sich der feuchte Dunst zu lichten beginn, schreit eine Frau auf.

Es klingt anders als das ausgelassene Kreischen, löst eine andere Art von Kälteschauer bei jenen aus, die am Ufer warten. Die Schwimmer im Tieferen recken sich auf die Zehenspitzen und versuchen zu sehen, was los ist, wer verletzt ist. Die Rettungsmannschaft taucht die Ruder ins Wasser und gleitet mit rhythmischen Schlägen auf den Aufruhr zu.

Draußen im Dunst treibt ein Mann.

Mit dem Gesicht nach unten und recht unverkennbar tot.

TEIL EINS

EINS

NEUJAHRSTAG | FFION

Ffion Morgan mustert die reglose Gestalt neben sich auf der Suche nach Lebenszeichen. Der Mann ist groß mit breiten Schultern und schwarzem, kurz geschorenem Haar. Im Nacken, wo ein Hemdkragen hingehören würde, ist ein Name klein eintätowiert. Harris.

Ffion räuspert sich, testet die Stille mit einem winzigen, vorsichtigen Geräusch, als wolle sie eine Rede halten, sei jedoch unsicher, wie sie anfangen soll. Der Mann rührt sich nicht. Das macht es leichter.

Allerdings wäre da noch die Kleinigkeit mit dem Arm.

Der Arm ist massig. Glatte, dunkelbraune Haut spannt sich über der Sorte Bizeps, in die Ffion immer reinbeißen möchte, obwohl dies eindeutig nicht der richtige Moment ist. Der Arm liegt diagonal auf Ffions Bauch, sodass die Hand schlaff neben ihrer Hüfte baumelt. Aus Gewohnheit blickt sie zum Ringfinger und ist erleichtert, dass er nackt ist. Sie sieht auf seine Uhr. Acht Uhr morgens. Zeit, sich zu trennen.

Als Erstes schiebt sie ihre Beine Millimeter für Millimeter zur Seite, bevor sie die Knie beugt, um die Füße auf den Boden zu stellen. Die ganze Zeit hält sie den Torso still, ähnlich einer Schlangenfrau, die sich in einen Karton faltet. Sie wartet einen Moment, dann presst sie den Oberkörper in die Matratze, während sie langsam an die Bettkante rutscht. Dieses Manöver hat sie über das ganze letzte Jahr geübt und verfeinert, dank der womöglich genetisch bedingten Angewohnheit von Männern, im Schlaf besitzergreifend einen Arm auszuwerfen.

Der heutige Armbesitzer gibt ein Grunzen von sich. Ffion zählt bis fünfzig. Wenn er aufwacht, wird er ein Frühstück vorschlagen – oder zumindest Kaffee –, obwohl sie es beide nicht wollen. Jedenfalls nicht zusammen. Ffion gibt der Generation Z die Schuld. All diese Gefühle! Es gab mal eine Zeit, da wiesen Männer einem schon die Tür, ehe sie auch nur das Kondom zugeknotet hatten, doch jetzt sind sie allesamt woke. Es macht Ffion wahnsinnig.

Sie versucht, sich zu erinnern, wessen Arm das ist. Bei dem Namen Harris klingelt nichts. Er fängt mit M an, da ist sie sich sicher. Mike? Max? Sie fischt in den trüben Tiefen des gestrigen Besäufnisses und angelt einen Erinnerungsfetzen heraus: ebenmäßige weiße Zähne, ein schüchternes Lächeln und der Wunsch zu gefallen, was sie so attraktiv wie ungewöhnlich fand.

Mark?

Sie nagt ein kleines Hautstück innen an der Oberlippe ab. Scheiße, Scheiße, beschissene Scheiße. Sie hasst es, wenn sie die Namen vergisst. Es kommt ihr … schlampenhaft vor.

Marcus!

Ffion grinst gen Zimmerdecke, fast schwindlig vor Erleichterung. Regel Nummer eins: Wisse immer, mit wem du die Nacht verbringst.

Marcus.

Mit dem Namen kehrt auch der Rest des Silvesterabends in all seiner vom Alkohol beförderten Pracht zurück. Marcus Irgendwas (Nachnamen spielen keine Rolle), ein Fallschirmlehrer (Ich kann dir und deinen Freunden Gratisstunden geben), der Runde für Runde mit ihr mithielt und ihr eine Hand um die Taille legte, als er sich zu ihr neigte, damit sie ihn in dem Lärm der Bar verstand. Wollen wir irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist? Wir können zu mir …

Ffion schließt die Augen und schwelgt in der Erinnerung an Marcus’ Daumen auf ihrer nackten Haut; so vielversprechend. Eine Sekunde lang überlegt sie, sich umzudrehen, ihn zu wecken und …

Kein Nachschlag. Regel Nummer zwei.

Marcus’ Schlafzimmer hat die karge, anonyme Ausstrahlung einer möblierten Mietwohnung. Magnolienweiß gestrichene Wände, vertikale Jalousien, ein kratziger Teppich, auf dem man sich statisch auflädt. Ffion wischt mit dem rechten Fuß drüber und ertastet ihre Unterhose. Ihr linker Fuß findet eine Socke, und während neben ihr ruhig und regelmäßig geatmet wird, gleitet sie unter Marcus’ Arm heraus und mit der Grazie einer Seekuh auf den Fußboden.

Das blaue Top, das sie gestern Abend getragen hatte, liegt nahe dem Kleiderschrank, ihre Jeans wenige Schritte dahinter. Die klassische Kleiderspur: Ffion ist absolut berechenbar. Mit ein bisschen Glück wird sie ihre Schuhe im Flur finden und ihren Pullover in einem Häufchen an der Wohnungstür.

Rasch zieht sie sich an, stopft ihre Socken in die Jeanstasche, damit es schneller geht, und sucht vergeblich nach ihrem BH, bis sie ihn als Verlust abschreibt. Einmal kurz pinkeln und ein Blick in den Badezimmerschrank (eine Packung Kondome, eine halb leere Tube Hämorrhoiden-Salbe), dann vergewissert sie sich, dass sie ihre Autoschlüssel hat, und verschwindet. Das Pflaster draußen ist vereist, und sie zieht den Reißverschluss ihres Mantels bis oben zu. Er ist khakigrün und verhüllt Ffion vom Kinn bis zu den Knöcheln, warm und praktisch, wenn man sich nichts draus macht, wie ein Schlafsack mit Füßen auszusehen. Auf dem Weg zu ihrem Wagen rechnet sie wie üblich nach, wie viel Alkohol sie in wie vielen Stunden abgebaut hat, und folgert, dass ihre Werte gerade so durchgehen müssten.

 

Es ist nach neun, als sie nach Hause kommt, und Mam macht Porridge. Zwei Badeanzüge hängen über der Heizung.

»Du hast noch nie ein Neujahrsschwimmen verpasst.«

Elen Morgans Tonfall ist neutral, doch Ffion hat dreißig Jahre Übung darin, die Rührtechnik ihrer Mam zu deuten, und wie sie jetzt den Holzlöffel greift, verheißt nichts Gutes.

Die sechzehnjährige Seren schießt aus einem Berg Decken auf dem großen Sessel am Fenster hoch. »Sie haben eine …«

»Lass deine Schwester erst mal frühstücken, dann kommen wir dazu.«

Ffion sieht Seren an. »Wer hat eine was?«

Seren blickt zu Mams Rücken und verdreht die Augen.

»Das habe ich gesehen.«

»Gott, bist du gut, Mam.« Ffion nimmt den Kessel vom Aga-Herd und schwenkt ihn, um zu fühlen, wie viel Wasser drin ist, ehe sie ihn auf die heiße Platte stellt. »Hast du mal daran gedacht, zum Secret Service zu geben? Ich schätze, ›Augen im Hinterkopf‹ ist auf der Liste der Qualifikationen gleichauf mit Jiu-Jitsu und fließend Russisch sprechen.« Sie stöpselt ihr Handy ein, das seit gestern Abend tot ist. »Wie war denn das Schwimmen?«

»Hat nicht stattgefunden.« Seren wirft Mam einen trotzigen Blick zu. »Ich war erst bis zu den Knien drin, als wir alle wieder rausmussten.«

»Warum?«

»Na, wärst du da gewesen, wüsstest du es«, sagt Mam verkniffen.

»Ich habe verschlafen.«

»Bei Mia?«

Ffion antwortet mit einem vagen Mmm.

Die scharfsinnige Seren schaut abwechselnd Mam und Ffion an und ahnt bereits, dass es ein Drama geben könnte.

»Ich habe nämlich gehört, dass sie bis spät auf der Party war.«

Mia Williams. In der Schule war sie zwei Klassen über Ffion. Ein Altersunterschied, der bedeutet, dass man als Teenager nichts gemeinsam hat und zehn Jahre später alles. Sie sind eher notgedrungen als freiwillig befreundet, denkt Ffion oft. Mit wem sonst sollten sie trinken, wenn nicht miteinander?

»Mam, ich bin eine erwachsene …«

»Und Ceri ist früh gegangen und hat dein Auto gesehen, als du aus dem Dorf gefahren bist.«

Ceri Jones, die Postbotin. Ist es da ein Wunder, dass Ffion sich lieber außerhalb des Orts vergnügt? In Cwm Coed kann man nicht mal furzen, ohne dass es auf die Titelseiten kommt.

»Ich hatte etwas zu erledigen.« Der Kessel pfeift schrill und hartnäckig, als wolle er Ffions Lüge melden. Sie nimmt sich einen sauberen Becher und wirft einen Teebeutel hinein.

»An Silvester?«

»Mam, hör auf …«

»Ich sorge mich um dich. Ist das ein Verbrechen?«

»Mir passiert schon nichts.«

»Das habe ich nicht gemeint.« Elen dreht sich um, sieht ihre Älteste an und senkt ernst die Stimme. »Es kann dich nicht glücklich machen, Ffi.«

Ffion hält ihren Blick. »Tatsächlich tut es das.«

Mam hat sich zu jung gebunden, das ist das Problem. Elen war siebzehn, als sie Ffions Dad kennenlernte, und neunzehn, als sie heirateten. Sie hat sich nie durch die Betten geschlafen, ist nie auch nur mit jemand anderem ausgegangen. Wie soll sie verstehen, dass Sex ohne Verpflichtungen richtig gut sein kann? Befreiend.

»Jedenfalls …« Ffion wechselt das Thema mit einem einzelnen Wort, das sie in die Länge zieht, während sie gleichzeitig zu Seren blickt, in der Hoffnung auf Geschwistersolidarität. »Warum durftet ihr nicht schwimmen?«

»Nur weil jemand gestorben ist, verflucht!«, platzt der Tratsch aus dem Mädchen heraus wie Wasser aus einem gebrochenen Damm.

Mam schlägt mit dem Geschirrtuch nach Seren. »Ausdrucksweise!«

»Aua!«

»An deiner Stelle würde ich ganz still sein, junges Fräulein. Du weißt sehr gut, dass du nicht zu der verdammten Party hättest gehen dürfen.«

Ffion sieht Seren an. »Du warst gestern Abend drüben, in The Shore?«

Das Mädchen reckt widerspenstig das Kinn. »Alle sind da gewesen.«

»Mir ist vollkommen egal, ob die Königin von Saba dort war – ich hatte dir gesagt, dass du dich fernhalten sollst!« Mam wird lauter, und Seren sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

»Ist jemand ertrunken?«, fragt Ffion schnell.

Mam wendet sich von Seren ab und nickt kurz.

»O Gott, wer?«

Elen trägt das Porridge auf, gemischt mit gedünsteten Äpfeln und einem Klacks Sahne obendrauf. »Ein Mann, mehr wissen wir nicht. Er trieb mit dem Gesicht nach unten, also …«

Ffions Mobiltelefon erwacht, und auf dem Display erscheinen lauter Textnachrichten und Meldungen von verpassten Anrufen. Sie scrollt an den Neujahrswünschen vorbei, bis sie die von morgens erreicht.

Hast du von der Leiche im See gehört?

 

Weißt du, wer das ist?

 

Wo warst du gestern Abend???

Sie drückt auf das blinkende Icon und hört ihre Mailbox ab. Zu jeder anderen Jahreszeit hätte sie gewettet, dass es ein Ortsfremder sein muss, der ertrunken ist. Jemand, der nicht an die Kälte gewöhnt ist oder daran, in Naturgewässern zu schwimmen; jemand, der nicht am Wasser aufgewachsen ist. Cwm Coed erlebt jedes Jahr, wie die Horden von den Campingplätzen zum Seeufer strömen, als handele es sich um den Strand von Bournemouth, sich von dem Anleger ins Wasser stürzen und ihre Kinder mit billigen Luftmatratzen aufs Wasser lassen.

Doch das Neujahrsschwimmen ist ausschließlich für Einheimische. Keiner will dort Auswärtige, die eine Stunde und länger fahren, um hinterher ein selbstgefälliges Status-Update auf Facebook zu posten. Es gibt keine Werbung, keine T-Shirts, keine Sponsoren. Keine offizielle Organisation.

Keine Sicherheitsvorkehrungen, geht Ffion durch den Kopf. Sie weiß, dass ein Teil der Hiesigen meinen wird, die heutige Tragödie hätte nur bestätigt, was sie von jeher sagen; Leute, die sich weigern, bei dem Schwimmen mitzumachen, weil es zu gefährlich ist. All das Gerenne, das Lachen und Umfallen; das Wasser so kalt, dass einem die Lunge gefriert. Und dann auch noch halb besoffen vom Abend vorher. Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis jemand ertrinkt.

Ffions Telefon ist voll mit lauten, gelallten Mailboxnachrichten von Mia und Ceri, im Hintergrund Feuerwerkslärm sowie von Mam heute Morgen – Wir gehen zum Schwimmen – lle wyt ti?

»Ich habe gehört, dass es der alte Dilwyn Jones war«, sagt Seren.

»In einem Smoking?«, fragt Mam. »In vierzig Jahren habe ich den Mann nie ohne Strickjacke gesehen.« Sie senkt die Stimme, als sie sich wieder Ffion zuwendet. »Sie haben alle, so schnell sie konnten, von der Leiche weggescheucht. Er war …« Sie stockt. »Er war in einem schlimmen Zustand.«

»Jemand hat gesagt, sein Gesicht war zu Brei geschlagen.« Seren reckt sich wieder aus ihren Wolldecken und reißt extra gruselig die Augen auf. Ihr Haar ist noch röter als Ffions und hat dieselbe Naturkrause, mit der man schlicht gar nichts machen kann. Meistens bindet Ffion ihr Haar zu einem losen Knoten hoch, während Seren ihres offen trägt, sodass es wie eine große, rote Wolke auf den Schultern aufliegt. Sie ist blass und hat noch verschmierte Make-up-Reste vom Abend vorher um die Augen.

»Lass das Tratschen, Seren, und iss dein Porridge. Sonst steckt dir die Kälte noch bis mittags in den Knochen.«

»Ich bin doch nur bis zu den Knien rein!«

»Du hast doch Knochen in den Beinen, oder nicht?«

»Jemand wird vermisst gemeldet worden sei…«, beginnt Ffion, doch dann hört sie die letzte Nachricht auf ihrer Mailbox, und ihr Puls beschleunigt sich. Sie stöpselt ihr Telefon aus. »Ich muss los.«

»Du bist eben erst nach Hause gekommen!«

»Weiß ich, aber …« Ffion springt hoch, um sich ein sauberes Top vom Wandwäschetrockner über dem Herd zu rupfen, und fragt sich, ob sie auch einen BH nehmen kann, ohne dass Mam es sieht. Ein Dutzend Socken fällt vom Ständer, und eine landet direkt im Porridgetopf.

»Ffion Morgan!«

Dreißig Jahre alt, mit einer Ehe und einer Hypothek hinter sich, doch Mams Geschirrtuch ist immer noch eine stete Bedrohung. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Stunden ergreift Ffion rasch die Flucht.

Als sie losfährt, hustet der Auspuff empört, während sie einhändig wählt und ihr Telefon auf dem Beifahrersitz balanciert. Während der Fahrt aus dem Dorf überholt sie ein Paar im Sonntagsstaat auf dem Weg zum Verwandtenbesuch und mit drei angeödeten Kindern auf der Rückbank. Der Fahrer hupt energisch und bleibt dicht hinter Ffion, um ihr die Meinung zu geigen.

»Mia?«, sagt Ffion, als Mias Mailbox anspringt. Sie tritt das Gaspedal durch. »Ich bin’s, Ffi.« Ihr Puls hämmert in ihren Schläfen. »Falls Mam dich fragt, wo ich letzte Nacht gewesen bin, sag ihr, dass ich bei dir war.«

ZWEI

NEUJAHRSTAG | LEO

Behalten Sie den Mantel an!«

Der Ruf empfängt ihn, als Leo Brady an seinem Schreibtisch in der Cheshire Major Crime Unit ankommt, exakt um neun Uhr morgens. Widerwillig knöpft er seinen schweren Wollmantel wieder zu und geht zum Büro des Chefs, wo Detective Inspector Simon Crouch neben seinem Stuhl steht. Leo kommt direkt vom Parkplatz der Polizeiwache, der nicht mehr als wenige Hundert Meter entfernt ist, aber seine Füße sind bereits zu Eisklumpen mutiert. Er wackelt mit den Zehen in seinen Budapestern. Zu kalt, um zu schneien, sagen die Leute dauernd, was für Leo noch nie einen Sinn ergeben hat.

»Sie müssen Ihren fetten Hintern rüber zum Mirror Lake schwingen – denen ist eine Leiche angespült worden.«

Leo ist nicht fett. Vielmehr ist er erheblich besser in Form als Crouch, dessen blasse Statur aussieht, als wäre er aus pastellfarbener Knete geformt, was Crouch nicht davon abhält, seine Autorität mittels erbärmlicher Beleidigungen in Spielplatzjargon zu untermauern.

»Ist das nicht in Wales?«

»Ich habe Sie nicht um Geografienachhilfe gebeten.« Crouch wirft das Bild von seinem iPad auf das Smartboard an der Wand, und für einen Sekundenbruchteil erblickt Leo die ersten zwei Zeilen von allem in Crouchs Eingangsfach. Zwischen den Aufstellungen von Einbrüchen und den Gewaltstatistiken sieht Leo eine Nachricht von Joanne Crouch mit dem Betreff Deine Mutter MAL WIEDER und eine mit der kleinen Flagge als »dringend« markierte E-Mail von der Beschwerdestelle der Polizei, bevor Google Maps den Bildschirm ausfüllt.

Leo braucht einen Moment, um sich zu fangen. In der Mitte ist ein dünner, mäandernder See mit Llyn Drych beschriftet, der an der Grenze zwischen England und Wales verläuft. Mirror Lake, wie Leo weiß, auch wenn er bisher nie so weit an der Außengrenze des Zuständigkeitsbereichs der Cheshire Constabulary zu tun gehabt hat. Am Nordzipfel des Sees ist ein Bergkamm, und auf der Westseite, knapp zu Wales gehörend, liegt das kleine Dorf Cwm Coed. Zwischen dem Ort und dem Gewässer verläuft ein grüner Streifen, der sich um den See zieht.

Crouch zeigt zu einem grünen Flecken auf der Ostseite des Sees, am äußersten Ende ihres Bereichs. »Kurz bevor Sie reingekommen sind, haben wir von hier eine Vermisstenmeldung reinbekommen.« Er tippt auf das Smartboard, und die Karte wechselt zur Satellitenansicht. Das Grüne ist Wald, kein Gras, wie Leo feststellt: Bäume dicht an dicht um den See herum. Crouch malt einen eierigen Kreis und tippt bedeutungsschwanger darauf. »Dieses Bild ist ein paar Jahre alt und nicht mehr aktuell.« Er schließt die Karte und wischt durch seine Apps, um Safari zu finden. Mail, Wetter, Sky News – ist das Tinder? »So sieht’s da jetzt aus.«

Eine Website erscheint auf dem großen Bildschirm, und ein Film spielt stumm in dem Bildbanner oben. It’s a Shore thing … steht in der Titelzeile. Sonnenlicht spiegelt sich funkelnd in der Oberfläche des Mirror Lake, während die Kamera näher an eine Reihe von Holzhäusern am Uferrand zoomt. Ein lachendes Kind, mitten im Flug an einem Seil über einer auf Stelzen ins Wasser ragenden Veranda eingefangen, die eher auf die Malediven passt als nach Nordwales. Es ist kein Film, wie Leo jetzt erkennt, sondern eine computergenerierte Animation. Die Präsentation eines Künstlers von einem eindeutig hochpreisigen Immobilienprojekt.

»Das ist The Shore«, sagt Crouch. »Und kommen Sie lieber nicht auf dumme Gedanken, denn dass Sie sich so was von einem Constable-Gehalt leisten können, ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein Aufstieg über Constable hinaus. Eine von den Hütten gehört diesem Ex-Boxer-Schauspieler. Dem, der mit der mit den unglaublichen Titten verheiratet ist.«

»Wer ist die vermisste Person?«

»Der Besitzer der Ferienanlage, Rhys Lloyd. Ein Opernsänger.« Crouch spricht es aus, als übe er noch, dieses Wort über die Lippen zu bringen. Er bezeichnet sich selbst als Traditionalisten, was, wie Leo festgestellt hat, bei Crouch ein Synonym für bigottes Arschloch ist. »Sehr bekannt, wie ich mir sagen ließ«, fährt der DI fort. »Wenn man so was mag.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie so was nicht mögen?«

»Strumpfhosen und Schwuchteln? Sie etwa?«

Leo schlägt seinen Notizblock mit der Aufmerksamkeit auf, die man normalerweise dem Öffnen eines Portals in eine andere Welt schenken würde. »Und wer hat ihn vermisst gemeldet?«

»Seine Tochter. Hat den Notruf gewählt. Die Ehefrau bestätigt, dass er letzte Nacht nicht zu Bett gekommen ist, aber anscheinend ist das nicht überraschend. Sie hat gedacht, dass er noch feiert oder seinen Rausch irgendwo anders ausschläft. Oder zum Stich gekommen ist, vielleicht.« Crouch schnaubt verächtlich.

»Möchten Sie, dass ich mit der Familie rede?«

»Sehen Sie sich erst mal die Leiche an. Und sorgen Sie dafür, dass die Waliser nichts vermasseln. Umfragen vor Ort, letzte Bewegungen, das Übliche. Nordwales hat einen DC geschickt. Der trifft Sie in der Rechtsmedizin.«

»Alles klar.«

»Falls es ein Badeunfall ist, schieben Sie das zurück an Wales.« Crouch leert das Smartboard. »Der ist auf deren Seite angetrieben worden.«

»Und wenn es Mord ist?«

»Kommt drauf an. Wenn es nirgends hinführt …«

»Zurück an Wales verweisen?«

»Sie sind gar nicht so blöd, wie Sie aussehen, was?« Crouch wartet, doch Leo ist unsicher, was er antworten soll. »Aber falls es einen Verdächtigen gibt, behalten wir den Fall und kriegen den schnell gelöst. Der erste Mord des Jahres, aufgeklärt und abgehakt an einem Tag, Wumms.«

Wumms? Crouch beklagt sich oft, dass er nie Pressekonferenzen abhalten darf, auf den Gerichtsstufen vor der Presse stehend oder neben einem flatternden Absperrband an einem Tatort. Ausgehend von dem, was Leo bisher von seinem Chef vernommen hat, ist es eine weise Entscheidung des Commissioner-Büros.

 

Von Major Crimes zur Grenze des Zuständigkeitsbereichs fährt man über eine Stunde. Der Himmel ist hellblau, die Straßen sind voller Leute, die versuchen, ihren Kater und die zusätzlichen Pfunde von Weihnachten mit strammem Gehen abzubauen. Ein Spaziergang durch die frische Luft. Vielleicht ein Pint oder eine Bloody Mary. Neues Jahr, neues Ich.

Leo hört sich eine Radiosendung auf 5 Live mit Hörerbeteiligung an und empfindet eine erdrückende Verzweiflung, weil wieder ein Jahr vergangen ist und er keine nennenswerten Fortschritte vorzuweisen hat. Er wohnt immer noch in einer beschissenen Mietwohnung mit einer Nachbarin, die Kräuter in einer Dose neben ihrer Tür verbrennt, um böse Geister fernzuhalten. Er arbeitet immer noch unter einem Vorgesetzten, der ihn tagtäglich kleinmacht und mobbt. Und Leo ändert immer noch nichts daran.

Er tippt auf das Display seines Telefons und hört, wie der Klingelton das Wageninnere füllt.

»Was?«

»Dir auch ein frohes neues Jahr.« Leo hört ein winziges Ausatmen, was bedeutet, dass seine Ex-Frau die Augen verdreht. »Kann ich ihn sprechen?«

»Er ist mit Dominic unterwegs.«

»Darf ich später anrufen?«

»Wir haben Freunde auf ein paar Drinks eingeladen.«

»Dann morgen?«

»Du kannst nicht erwarten, dass ich alles stehen und liegen lasse …«

»Ich möchte meinem Sohn bloß ein frohes neues Jahr wünschen!«

Allie lässt das Schweigen so lange dauern, dass Leo denkt, sie hat aufgelegt. »Ich schreibe das übrigens auf«, sagt sie schließlich spitz. »Jedes Mal, wenn du die Beherrschung verlierst.«

»Himmelherrgott, ich …« Er bremst sich, ballt die Faust und schwingt sie durch die Luft, hält jedoch inne, ehe er sie aufs Lenkrad knallt. Wie soll er lernen, sich zu beherrschen, wenn ihn allein die Unterstellung jedes Mal wieder dazu bringt, sie zu bestätigen? »Das ist nicht fair, Allie.«

»Daran hättest du früher denken müssen …«

»Wie oft muss ich noch sagen, dass es mir leidtut?« Abermals wird Leo laut. Immer und immer wieder dieselbe Geschichte, dieselben Schuldgefühle.

»Du hast Glück, dass ich dir nach dem, was du getan hast, überhaupt noch Kontakt zu ihm erlaube.«

Leo zählt im Geiste bis zehn. »Wann würde es passen, dass ich noch mal anrufe?«

»Ich schreibe dir.« Und damit ist die Leitung tot.

Wird sie nicht. Leo wird wieder fragen müssen, und bis er seinen Sohn endlich sprechen darf, wird sich Frohes neues Jahr wie ein alter Hut anfühlen.

Die Abstände zwischen den Dörfern werden größer, und sogar der Himmel scheint sich zu weiten, bis Leo in sämtliche Richtungen nichts als Leere sieht. Trostlosigkeit.

Eines Tages, wenn sein Sohn ein Teenager ist, wird Leo einfach zum Telefon greifen und ihn direkt anrufen können. Sie werden allein absprechen, sich nach der Schule zu treffen oder zu einem Fußballspiel zu gehen, ohne Allie als selbst ernannte Torwächterin zwischen ihnen. Ohne ihre dauernden Erinnerungen an das, was Leo getan hat. Du hast Glück, dass ich nicht die Polizei gerufen habe, erwähnt sie zu gern. Oder den Sozialdienst. Könnte ich übrigens noch. Es hängt wie ein Damoklesschwert über ihm, trübt jedes Gespräch, jeden kurzen Kontakt, den sie ihm erlaubt.

Könnte ich noch.

 

Gott, ist das trist in Wales! Es regnet nicht, was ein Segen ist – und vor allem eine Seltenheit –, doch Wolken ziehen von Norden herbei, und der Wind biegt die Bäume zur Seite. Was macht die Polizei hier draußen den ganzen Tag? Es muss irgendwelche Verbrechen hier geben, nimmt Leo an – Schafdiebstahl, gelegentliche Einbrüche. Er bezweifelt allerdings, dass hier im CID der Bär steppt. Der Ertrunkene von heute dürfte ihr Highlight des Jahres sein.

Das Institut für Rechtsmedizin ist in Brynafon, und Leo ist froh, das Navi zu haben, als er über Bergstraßen fährt und schließlich wieder nach unten in eine Art von Zivilisation. Hier hängt ein leichter Nieselregen in der Luft, der sich auf die Schieferdächer im Ort legt. Leo folgt den Wegweisern zu einem kleinen Parkplatz auf dem Krankenhausgelände, der leer ist bis auf einen silbernen Volvo XC90 und einen braunen Triumph Stag, den nur noch der Rost zusammenhält. Die Rechtsmedizin befindet sich in einem niedrigen Kastenbau. Leo klingelt.

»Drücken«, befiehlt eine blecherne Stimme aus der Gegensprechanlage. »Heute ist niemand am Empfang, aber ich komme gleich.«

Leo tut, was ihm gesagt wird, und findet sich in einem kleinen, L-förmigen Wartezimmer wieder. Die Wanduhr zeigt zehn Uhr fünfunddreißig an. Er spürt, dass er nicht allein ist, dreht sich um und öffnet erstaunt den Mund, ohne einen Ton herauszubringen. In der Ecke steht eine Frau, die rot wird und unsicher wirkt.

Harriet.

»Was machst du hier? Bist du …« Leo fehlen die Worte. »Bist du mir gefolgt?«

Die Frau lacht kurz auf. »Ich war zuerst hier! Wenn schon, musst du mir gefolgt sein.«

Ach du Schande! Harriet. Harriet Jones oder Johnson oder so. Eine Grundschullehrerin aus Bangor; ein Detail, an das Leo sich nur erinnert, weil er sie gevögelt hat.

Er will mehr fragen, aber eine Tür hinten geht auf, und eine Frau in einem weißen Kittel kommt, umweht vom typischen Duft von Tod und Dettol.

»Leo Brady, nehme ich an? Ich bin Izzy Weaver, die Rechtsmedizinerin, die Ihren Toten untersucht. Eigentlich sollte ich nicht hier sein, wenn ich ehrlich bin, aber mein Assistent ist nicht zu erreichen. Der steht sowieso schon kurz vor dem Rauswurf. Ich habe Ihrem Vorgesetzten bereits gesagt, dass ich die Autopsie nicht vor übermorgen machen kann, aber es wäre super, könnten wir ihn identifizieren.«

»Leo?«, fragt Harriet.

Es entsteht eine kurze Pause, in der die Rechtsmedizinerin fragend zuerst Leo, dann Harriet ansieht. Leo hüstelt. Okay, das ist unangenehm. Aber Leo ist nicht der erste Mann, der einer Frau, die er in einer Bar kennengelernt hat, einen erfundenen Namen genannt hat, und er wird nicht der letzte gewesen sein. In den drei Jahren seit seiner Scheidung hat Leo festgestellt, dass Dating vor allem unangenehme Erlebnisse bereithält. Vor anderthalb Jahren hatte er einen One-Night-Stand genossen, im gegenseitigen Einverständnis, wie er glaubte, um danach monatelang gestalkt – nein, gejagt zu werden. Seitdem benutzt er seinen richtigen Namen nicht mehr.

Womit noch nicht erklärt ist, was Harriet Jones – oder Johnson oder was auch immer – in der Leichenhalle macht.

»Ich gehe davon aus, dass Sie sich nicht kennen«, sagt die Rechtsmedizinerin.

Leo und Harriet sehen einander an.

»Na ja …«, beginnt Leo.

»Nein«, sagt Harriet bestimmt.

Die Rechtsmedizinerin scheint verwirrt. Zu Recht, denn Leo hat selbst Mühe, es zu verstehen. Verfolgt Harriet ihn? Fängt sie seine Nachrichten ab? Einen irren Moment lang stellt Leo sich vor, wie sie Crouchs Büro verwanzt und säuberlich über sämtliche seiner Bewegungen Buch führt.

»Harriet …«, sagt Leo genervt. Er wird streng mit ihr sein, aber nicht zu streng. Wahrscheinlich ist sie psychisch gestört, denn so würde sich keine gesunde Frau verhalten.

»Harriet?«, fragt die Rechtsmedizinerin.

»Ähm …«, sagt Harriet. Es entsteht eine lange Pause.

»Wollen wir loslegen?« Da schwingt ein Hauch von Verärgerung in Izzy Weavers Stimme mit. Sie schwenkt die Hand in Leos Richtung. »Detective Constable Leo Brady von der Cheshire Constabulary.« Dann zeigt sie in die entgegengesetzte Richtung, zu Harriet. »Detective Constable Ffion Morgan von der North Wales Police.«

Leo zieht eine Augenbraue hoch. »Ffion?«

»Ffion«, sagt Harriet leise. Oder vielmehr: sagt Ffion. Leo schwirrt der Kopf. Zugleich und recht unerwartet erinnert sich sein Schwanz an die vorherige Nacht. Eine beunruhigende Kombination, die durch den Desinfektionsmittelgeruch um nichts besser wird.

Harriet – Ffion, Herrgott! – hatte heute Morgen ewig gebraucht, endlich zu gehen. Leo musste dringend pinkeln, doch stattdessen war er gezwungen gewesen, sich schlafend zu stellen, während sie neben ihm herumhampelte. Sie hatte eindeutig auf eine Einladung zum Frühstück gewartet. Aber Leo weiß nie, was er am Morgen danach sagen soll, und »schlafen« ist erheblich leichter, als sich durch eine Unterhaltung zu quälen. Schließlich war sie aus seinem Bett geplumpst und hatte im Bad herumgepoltert, sicher in der Hoffnung, dass er aufwachte, bis sie am Ende aufgab und nach Hause fuhr.

Detective Constable Ffion Morgan. Sie sieht nicht wie eine Ffion aus. Harriet passt besser zu ihr. Vielleicht ist es ihr Mittelname, und sie benutzt Ffion nur bei der Arbeit. Als sie sich ihm gestern Abend als Harriet vorstellte, hatte sie folglich nicht direkt einen falschen Namen angegeben, sondern …

»Also nicht Marcus?« Ffion sieht ihn erstaunt an.

»Wer zur Hölle ist Marcus?«, fragt die Rechtsmedizinerin. »Mir wurde gesagt, dass nur Sie zwei kommen – das ist hier eine Rechtsmedizin, keine Séance.«

»Verzeihung«, sagt Leo für sie beide, obwohl Ffion kein bisschen verlegen wirkt. Eher scheint sie amüsiert – und ein wenig verwundert –, als erwarte sie, dass Leo irgendwas erklärt.

Izzy Weaver führt sie nach hinten, und Leo überkommt eine unheimliche Vorahnung. Er hofft inständig, dass sich dies hier als Unfall erweist, denn Ffion Morgan könnte ein Problem werden.

DREI

NEUJAHRSTAG | FFION

Na, das ist unangenehm. In den zwölf Monaten seit dem Ende ihrer Ehe hat Ffion es erfolgreich vermieden, einen One-Night-Stand hinterher noch einmal zu treffen. Das ist einer der Gründe, warum sie ihr Privatleben außerhalb von Cwm Coed führt; der und die Tatsache, dass man, wenn man in dem Dorf lebt und arbeitet, in dem man aufgewachsen ist, in den Augen aller, die einen kennen, ewig ein Kind bleibt. Man sehe sich nur Sion Ifan Williams an: mindestens fünfundsechzig Jahre, dennoch kennen ihn alle als Sos Coch, weil er als Schuljunge ein Faible für Tomatenketchup hatte.

Und Ffion selbst hatte vergeblich versucht, ihren Spitznamen Ffion Wyllt loszuwerden.

Die wilde Ffion.

»Es liegt bloß an deinem Haar«, hat Mam früher immer gesagt, während sie sich abmühte, Ffions Mähne zu einem Zopf zu flechten. Sie weigerte sich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass der ganze Ort ihre Tochter für unzähmbar hielt. Elen Morgan war dreißig Meilen entfernt von Cwm Coed aufgewachsen, und trotz der langen Ehe und ihrer zwei Kinder, die in der Dorfschule gewesen waren, betrachten viele sie bis heute als Auswärtige. An einem Ort wie Cwm Coed braucht es vier Generationen auf dem Friedhof, bevor man sich einheimisch nennen darf.

Anfangs hatte Ffion den Spitznamen hingenommen. Wem die Jacke passt, der zieht sie an, hatte sie gedacht und ihre Freunde beeindruckt, indem sie Schnaps aus dem Barschrank ihrer Eltern stahl und ständig abgedrehtere Wahrheiten beim unvermeidlichen »Wahrheit oder Pflicht« erfand. Es war spaßig, ihrem Namen gerecht zu werden.

Bis es nicht mehr witzig war.

Manchmal, wenn Mia und sie auf ein Pint ins Y Llew Coch sind, blicken sie sich um und sehen Gesichter, die sich seit zwanzig Jahren nicht verändert haben.

»Würde ich immer noch«, sagt Mia dann von Hari Roberts, der Bäder ausbaut und bei der freiwilligen Feuerwehr ist.

»Definitiv nicht«, sind sie sich bei Gruffydd Lewis einig, der heute an ebenjener Schule unterrichtet, an der er früher nachsitzen musste, weil er einen Spiegel unter der Tür der Mädchenumkleide durchgeschoben hatte.

 

Ffion blickt verstohlen zu Leo Brady, während sie sich ihre Einwegüberschuhe an- und ihre Mäntel im Vorraum der Leichenhalle ausziehen. Würde sie? Rein hypothetisch natürlich, denn es gilt nach wie vor Regel Nummer zwei. Aber würde sie? Er sieht gut aus, keine Frage, wenn auch vielleicht nicht ganz so gut wie durch einen Filter aus Wodka und trockenem Weißwein.

Würde ich immer noch, denkt sie. Wahrscheinlich.

»Nach dir, Ffion.« Der englische Detective betont ihren Namen, als Izzy Weaver die Tür zur Leichenhalle öffnet. Die falsche Ritterlichkeit ärgert Ffion. Wie ist das überhaupt passiert? Leos entsetztes Gesicht, als er sie gesehen hat, sagte Ffion alles, was sie wissen muss. Sie können unmöglich zusammenarbeiten, nur ist Ffion bisher nicht eingefallen, wie sie es abwenden kann. Bedaure, Chef, ich habe zufällig den DC gebumst, dem Sie mich zugeteilt haben – kann ich mit jemandem tauschen?

»Danke, Leo.« Ffion ahmt seinen Ton nach und lächelt unschuldig. Die Rechtsmedizinerin wirft ihr einen fragenden Blick zu, den Ffion ignoriert. »Schon eine Idee, was die Todesursache betrifft?«, fragt sie stattdessen.

»Die habe ich noch nicht endgültig bestätigt. Wie heißt Ihr Vermisster?«

»Rhys Lloyd«, antwortet Leo, ehe Ffion es kann. Sie sieht ihn an. In ihrem Kopf herrscht noch Chaos. Dies alles ist so schräg. So unangenehm. »Er ist Sänger«, fährt Leo fort. »Ursprünglich aus Cwm Coed.« Er spricht es Kam Ko-ed aus, und Ffion möchte ihn korrigieren. Eigentlich heißt es Kuhm Koid. Sie will eine Menge sagen, ist jedoch gebannt von der Leiche in dem langen Schubfach, das Izzy aus der Kühlung zieht.

»Ich war mir nicht sicher, wie lange Sie brauchen, und wollte nicht, dass er mir vollständig auftaut. Jetzt müssen sich Ihre Vorgesetzten nur noch einigen, wem ich meine Rechnung schicke.«

»Die Leiche wurde auf eurer Seite gefunden«, sagt Leo zu Ffion.

»Vermisst gemeldet wurde er bei euch.« Da Cwm Coed so nah an England ist, lässt sich eine gelegentliche Zusammenarbeit über die Grenze hinweg kaum vermeiden. Und Ffion hat schon mehrmals erlebt, wie man ihnen Cheshire-Fälle übergab und sich die Hände rieb.

»Lloyd besitzt eine Ferienanlage auf der englischen Seeseite«, erklärt Leo Izzy. »Zuletzt wurde er dort gestern Abend auf einer Party gesehen.«

»The Shore«, fügt Ffion hinzu, obwohl ihr keiner der beiden zuhört. »Da wird schon seit Jahren über die Baupläne gestritten.«

Izzy zieht das Laken weg, und alle drei starren den Toten an. »Er ist in keinem tollen Zustand«, sagt Izzy. Sie schluckt etwas hinunter, was wie ein Rülpsen klingt. Gleichzeitig presst sie die Finger auf die Lippen, schließt die Augen und rührt sich sekundenlang nicht. »Entschuldigung.« Sie öffnet die Augen wieder, als Ffion sich bereits fragt, ob es ihr gut geht. »Ich habe bis drei Uhr heute Morgen Cards Against Humanity gespielt, und das letzte Glas Portwein war vielleicht ein Fehler. Jedenfalls, sehen wir mal, ob das Ihr Sänger ist.«

Der Tote ist nackt. Breite Brust, ein Waschbrettbauch, der selbst in diesem bemitleidenswerten Zustand noch klar definiert ist, und Bräunungsstreifen lassen auf Urlaube schließen, die Ffion sich niemals leisten könnte. Eine klaffende Wunde spaltet das Gesicht in zwei Hälften. Ffion atmet bewusst langsam und gleichmäßig.

»Ich habe ihn gleich vor Ort eingetütet und alles gesichert, Reste unter den Fingernägeln, Abstriche, blabla.« Izzy zeigt zu einem Arbeitstisch, der sich über eine ganze Wand zieht. »Eigentum und Kleidung sind da drüben, falls Sie einen Blick drauf werfen wollen. Verdammt schicker Anzug. Wir bekommen hier nicht oft Sachen aus der Savile Row zu sehen, kann ich Ihnen sagen.«

Ffion geht zu den versiegelten Tüten, froh über einen Vorwand, woanders hinzusehen als zu der Leiche. Der Smoking ist über ein Klappgestell drapiert und dünstet den Gestank nach See und Tod aus. Ffion erspäht einen goldenen Manschettenknopf und geht ein Stück weiter, ihr Magen erinnert sie, dass sich Wodka und Weißwein nicht vertragen.

Hinter ihr öffnet Leo eine Mappe, und der Reißverschluss ratscht laut in der erbarmungslosen Stille der Leichenhalle. Er zieht ein Blatt Papier heraus. »Lloyds Frau hat uns eine Beschreibung gegeben. Einen Meter fünfundachtzig groß, dunkles Haar, braune Augen …«

Leo und Izzy gleichen jedes der Merkmale mit dem Toten ab wie bei einem Quartettspiel, und Ffion wird schlecht.

Auf dem schmalen Edelstahltisch liegen zwei kleinere Beutel, einer mit einem goldenen Siegelring, der andere mit Lloyds Smartwatch.

»Ich lasse die Techniker die Daten von seinem Apple-Account ziehen.« Ffion geht zurück und zwingt sich, die Leiche anzusehen. »Die sollten uns über seine Bewegungen informieren, und wenn er eine Gesundheits-App installiert hatte, können wir sehen, wann sein Herz aufgehört hat zu schlagen.«

»Sie machen mich noch überflüssig«, sagt Izzy.

Leo wandert mit dem Finger zum nächsten Punkt auf seiner Liste. »Blinddarmnarbe.«

»Da«, sagt Izzy und zeigt auf eine diagonale Linie über dem rechten Hüftknochen des Mannes.

Ffion ist plötzlich heiß.

»Muttermal unter der linken Brustwarze?«, fragt Leo.

»Da.«

»Narbe an seinem …«

»Rechten Oberschenkel«, unterbricht Ffion abrupt. »Können wir jetzt aufhören, Kinderkrankenhaus zu spielen? Es ist ziemlich offensichtlich, dass wir ihn identifiziert haben, oder nicht? Das ist Rhys Lloyd. Basta.« Ohne noch einmal zur Leiche zu schauen, dreht Ffion sich um und verlässt den Raum.

 

Draußen zündet sie sich eine Zigarette an und inhaliert gierig den Rauch. Dann ruft sie ihren Chef an und achtet darauf, unbeschwert zu klingen. Als spiele es keine Rolle.

»Ich werde diesen Fall nicht behalten können, Sir – Interessenskonflikt.«

»Wie kommt’s?« DI Malik klingt abgelenkt. Er ist seit etwas über einem Jahr Ffions Vorgesetzter, doch die Topografie ihres Zuständigkeitsbereichs bedeutet, dass sie ihm erst wenige Male persönlich begegnet ist.

»Ich kenne das Opfer.«

»Ffion, Sie kennen jeden in Cwm Coed. Vor sechs Monaten haben Sie gegen Ihre eigene Tante ausgesagt.«

Ffion blickt zu ihrer Zigarettenspitze, wo die Glut das Papier wegfrisst.

»Sie hat sechs Monate wegen Betrugs bekommen.«

Diese Diskussion wird Ffion nicht gewinnen. Tante Jane ist keine nahe Verwandte – mehr eine Cousine zweiten Grades ihrer Mutter –, aber sie und Ffion teilen durchaus einen Familienstammbaum.

»Ja, doch …«

»Ist das Opfer ein unmittelbarer Angehöriger?«

»Nein, aber …«

»Dann bleiben Sie an dem Fall.« DI Malik beendet das Gespräch, und Ffion nimmt wütend einen letzten Zug von ihrer Zigarette, drückt sie an der Hauswand aus und wirft sie ins Gebüsch. Verfluchter Dreck. Sie starrt auf ihr Telefon. Nichts von Mia.

Ffion setzt sich hinters Steuer des Triumph Stag. Der Wagen ist älter als sie und war permanent Anlass für Streit während ihrer kurzen Ehe. Er bleibt regelmäßig liegen, tut sich mit Steigungen schwer und ist so undicht wie ein Sieb. Zudem hat er ein Loch im Fußraum, durch das der Fahrtwind unter den Rock der Fahrerin bläst. Andererseits trägt Ffion nie Röcke. Sie hat den Triumph von dem Geld gekauft, das ihr Vater ihr vermacht hatte, und sie hätte einen Teufel getan, würde es noch, ihn gegen etwas Praktischeres zu tauschen, nur damit ihr Mann zufrieden war.

»Wir können in dem Ding keine Kinder herumfahren«, hatte er gesagt. »Das ist nicht sicher.«

»Ich will keine Kinder«, hatte Ffion erwidert, und das war der Anfang vom Ende. Er versuchte, sie zu überreden, dann, es zu akzeptieren, doch anderthalb Jahre später stopfte Ffion ihre Klamotten hinten in den Triumph und zog zurück zu Mam.

Der Wind rüttelt an den Fenstern und pfeift durch die Türritzen. Ffion lehnt die Stirn auf das Lederlenkrad und atmet langsam aus. Es stimmt also: Rhys Lloyd ist tot. Er ist wirklich tot.

Gott sei Dank!

VIER

SILVESTERABEND | 23:25 | RHYS

Rhys Lloyd hat den schlimmsten Kater aller Zeiten. Sein Schädel wummert, und seine Haut ist hyperempfindlich, was sich wie Fieber anfühlt. Ihm ist speiübel. Blinzelnd späht er in die Dunkelheit.

Wie spät ist es?

In der Ferne hört er den Partylärm – Musik, Lachen. Jetzt erinnert er sich: Er ist früh weg und wollte ins Bett.

Nur ist er nicht im Bett.

Da ist kein weiches Kissen unter seinem Kopf, und etwas Hartes bohrt sich in seinen Rücken.

Wo ist er?

Er fühlt einen scharfen Schmerz zwischen den Augen, und etwas klebrig Nasses läuft die Nase runter. Kalter Wind weht auf sein Gesicht, dann spürt Rhys etwas noch Kälteres.

Er ist draußen.

Ist er auf den Balkon seines Schlafzimmers gegangen, um frische Luft zu schnappen, und dort eingeschlafen?

Er kann den See hören. Zuerst ist es beruhigend – er hat sich an das Geräusch gewöhnt, wenn sie auf der Veranda essen oder bei offenem Fenster einschlafen. Aber dies hier sind nicht die sanft brechenden Wellen am Ufer, wie man sie vom Balkon oder durchs Fenster hört. Der See ist hier, überall um ihn herum. Er bewegt sich rhythmisch, unaufhaltsam, schwappt ihm übers Gesicht.

Was tut er hier?

Ist er geschlafwandelt?

Er hört eine Stimme und will rufen, falls die Person nicht begreift, dass er hier ist, umgeben von Wasser. Aber sein Körper gehorcht ihm nicht. Der Schmerz verschlingt ihn vollständig, und das Wasser ist um ihn herum. Als er nur ein schwaches, erbärmliches Zucken zustande bringt, wird ihm klar, dass er zu kraftlos ist, um sich zu bewegen.

Und in diesem Moment weiß Rhys, dass er stirbt.

FÜNF

NEUJAHRSTAG | LEO

Leo scrollt durch Wikipedia, als er von der Rechtsmedizin aus auf seinen Wagen zugeht. Rhys Lloyd war in der Musikbranche hoch angesehen. Zwar ist er seit einer Weile nicht mehr in den Charts gewesen – die Top Ten sind anscheinend ein steter Strom künstlicher Bands und »frischer Talente« –, doch noch vor wenigen Jahren konnte der Typ nichts falsch machen. Alle erdenklichen Preise und auch noch wohltätige Arbeit: Für die Kindernothilfe hat er eine parodistische Version von The Pirates of Penzance aufgeführt. Lloyd kam aus der Arbeiterklasse – was heutzutage alle lieben –, und obwohl er sich offensichtlich seinen Akzent abtrainiert hatte, schwärmte er in Interviews von seiner »idyllischen« Kindheit in Nordwales.

Lloyd war das Paradebeispiel von jemandem, der sich aus dem Nichts nach oben gearbeitet hatte, von Lesley Garretts Agent im Urlaub in Llangollen entdeckt, als den die Suche nach einem Klo zufällig auf das Kunstfestival Eisteddfod führte. In den darauffolgenden Jahren brachte Lloyd zahlreiche Alben heraus, einschließlich eines Weihnachtshits mit Ariana Grande, schlug eine Brücke zwischen leichter Oper und Musiktheater zu dem, was Leo eher hören würde. Tatsächlich kennt Leo einige der Stücke, wie er beim Durchgehen der Liste feststellt, und mag sie sogar.

Die braune Rostlaube, die Leo bei seiner Ankunft gesehen hat, gehört Ffion. Sie sitzt hinterm Steuer und blickt ins Nichts. Leo klopft an ihr Seitenfenster. Einige Sekunden lang versucht Ffion, es nach unten zu kurbeln, gibt dann auf und steigt aus.

»Geht’s dir besser?«

Ffion runzelt die Stirn.

»Manche Leute schmieren sich Wick Vaporub um die Nasenlöcher«, sagt Leo. »Gegen den Geruch.«

»Danke, Columbo, aber dies ist nicht mein erstes Mal.«

»Ich dachte, vielleicht … ich meine …« Leo schiebt die Hände in seine Manteltaschen. Warum ist Ffion so? Letzte Nacht war sie witzig, hatten sie Spaß. »Ich habe nur gedacht, dass ihr hier draußen nicht viele Verbrechen habt.«

Ffion nickt weise. »Ja, in Nordwales ist alles eher ruhig, hauptsächlich Schafe, wie man sich denken kann. Wenn wir die gerade nicht vögeln, haha, klauen wir sie!«

»Du machst dich über mich lustig.«

»Nein, du dich über mich, indem du Klischees aufwärmst. Zu deiner Information, ich bin letzte Woche zur Autopsie einer Frau hier gewesen, die sich ins Gesicht geschossen hatte. Den Rest der Woche war ich wegen eines bewaffneten Raubüberfalls bei Gericht. Reicht das?«

Leo fiel etwas ein. Geht es darum, dass er sich nicht bei ihr gemeldet hat? Er hatte sie um ihre Nummer gebeten, nachdem sie betrunken beschlossen hatten, zusammen nach Alton Towers zu fahren, wäre, O Gott, ja,ein Riesenspaß! Und sie hat sie ihm in sein Handy getippt. Heute Morgen, als Ffion seine Wohnung verließ und nach Hause fuhr, hat sie sicher eine Nachricht von ihm erwartet. Tut mir leid, dass ich geschlafen habe, als du gegangen bist … war toll mit dir … wann hast du mal wieder Zeit? Etwas in der Art.

Leo holt tief Luft. »Hör mal, ich denke, wir müssen einiges klarstellen. Letzte Nacht war …« Er verstummt. Es ist wichtig, dass er das richtige Adjektiv benutzt. Nicht abwertend, aber auch nicht bedeutungsschwanger. Und er entscheidet sich für »spaßig«. Ffion lächelt halb. Mist, ist spaßigzu bedeutungsschwanger? Er will ihr nichts vormachen.

»Ja, war es.«

Ffions Züge werden ein wenig weicher, und unwillkürlich empfindet Leo dieselbe Hitze wie gestern Abend, als er sie zum ersten Mal auf der Tanzfläche sah. Sie hatte etwas Elektrisierendes, als könnte einem das Haar zu Berge stehen, wenn man ihr zu nahe kam. Und sie hat keine Spielchen gespielt, sondern einfach kühl seinen Blick erwidert, aufgehört zu tanzen und kam zu ihm. »Heiß, oder?«

»Sehr«, antwortete Leo. »Lust auf frische Luft?«

»Die Sache ist die«, sagt er jetzt, »ich meine, nicht, dass du nicht … es ist nur, dass …« Und abermals verstummt er. Ffion hat das Gesicht verzogen. Fängt sie gleich an zu weinen? Scheiße. »Ich bin nicht auf der Suche nach einer Beziehung«, beendet er sein Gestammel hastig, wobei er lauter wird, bis er die letzten Worte fast ruft.

»Ich auch nicht.« Ffion nickt, als würden sie ein Geschäftstreffen beenden. »Dann wäre das ja geklärt.« Sie zeigt zum Institut. »Irgendwelche Hinweise auf die Todesursache?«

Leo hat keine Ahnung, ob für Ffion wirklich alles okay ist oder sie nur seine Gefühle schonen will. So oder so ist er froh, sich wieder auf sichereres Terrain zu begeben. »Du weißt ja, wie Rechtsmediziner sind«, antwortet er. »Dem Kerl könnte ein Messer im Rücken stecken, und sie würden trotzdem bis zur offiziellen Anhörung nichts Konkretes von sich geben.«

Da ist ein Anflug von einem Grinsen. »Ich fahre auf dem Rückweg bei der Ehefrau vorbei. Yasmin Lloyd ist die nächste Angehörige, oder?«

»Ja, aber …«Leo zögert. »Na ja, sie ist in The Shore.«

»Und?«

»Das ist rein technisch England, also mein Gebiet«, ergänzt er, als Ffion nichts sagt.

»Rein technisch, ja, aber Rhys ist aus Cwm Coed. Seine Mam, Glynis, wohnt noch dort. Und es ist buchstäblich vor meiner Haustür. Also werde ich …«

»Wir machen das zusammen«, fällt Leo ihr ungewöhnlich entschieden ins Wort. Wenn sich dies hier als aufsehenerregender Fall entpuppt und Leo ihn aus den Händen gibt, verzeiht Crouch ihm das nie.

Es entsteht eine lange Pause, als sie einander ansehen. Schließlich seufzt Ffion, was wohl bedeuten soll, es sei ihr komplett egal. »Na gut. Fahr hinter mir her. Ruf mich an, falls du dich verfährst – ich gebe dir meine Nummer.«

»Die habe ich, weißt du nicht mehr?« Leo holt sein Handy hervor. »Ich rufe dich jetzt an, dann hast du meine auch.« Er wischt durch seine Kontakte, bis er HARRIET NYEgefunden hat, und wählt.

Sofort wird Ffion rot. Leo will sich in den Hintern treten. Jetzt kann keiner von ihnen mehr so tun, als hätte er ihre Nummer nicht und ihr deshalb nicht geschrieben …

Warum klingelt ihr Telefon nicht?

Leo hebt seines ans Ohr, um zu prüfen, ob es funktioniert.

»Danke, dass Sie unser Autohaus anrufen. Wir haben über die Feiertage geschlossen, aber wenn Sie eine Probefahrt vereinbaren möchten, hinterlassen Sie bitte Ihren Namen und Ihre Rufnummer. Wir melden uns so schnell wie möglich bei Ihnen.«

Eine lange, unangenehme Stille tritt ein, bis Leo sich dazu bringen kann, von seinem Telefon wegzusehen.

Ffion grinst verlegen. »Es war wirklich nett. Und es ist nicht so, dass du nicht … ich meine, es ist nur, dass …« Ihre Augen blitzen, als sie seine Bemühungen nachäfft, ihr eine Abfuhr zu erteilen.

Leo verzieht das Gesicht.

Ffion sieht ihn direkt an und grinst. »Fangen wir noch mal von vorne an, ja?«

Sofort nickt er energisch. »Guter Plan.«

»Wir vergessen die letzte Nacht und machen mit unserem Job weiter.« Sie zwinkert. »Vergessen wir, dass wir uns nackt gesehen haben.«

Ausgeschlossen, denkt Leo, als er dem kleinen Triumph vom Parkplatz folgt. Man kann nicht nicht an das denken, was man vergessen soll, wenn man eben genau daran erinnert wurde.

 

Ffion fährt, als würde sie mit Blaulicht und Sirene zu einem laufenden Überfall rasen. Sie schleudert den Triumph durch die Kurven und jagt ihn durch die Schlaglöcher, dass Leo mit den Stoßdämpfern fühlt. Kein Wunder, dass der arme Wagen aussieht, als würde er gleich auseinanderfallen. Leo fährt gemäßigter, erst recht, als der Triumph über eine Buckelbrücke prescht, dass zwischen Reifen und Asphalt einige Zentimeter Himmel zu sehen sind, und gleich danach scharf nach links biegt, um die Strecke bergan zu fahren, die nach Cwm Coed führt.

Die enge Straße ist in den Berghang geschlagen und bietet Ausweichbuchten in regelmäßigen Abständen. Schafe tauchen unvermittelt an der Straße auf oder wandern seelenruhig über die Fahrbahn, und Leo verlangsamt auf Kriechtempo. Bisher lag nirgends Schnee, doch hier sind Reste am Straßenrand und sammeln sich in den Felsnischen seitlich. Als es steiler wird, fällt Ffions Wagen in Schrittgeschwindigkeit, und Leo bleibt weiter zurück. Er blickt zu seiner Freisprechanlage und überlegt, dass er es noch einmal bei Allie versuchen könnte, aber natürlich hat er hier keinen Empfang.

Wie leben die Menschen an solchen Orten? Oder, besser gesagt, warum lebt jemand hier? Wo man ohne Auto nirgends hinkommt und einen Berg hinabsteigen muss, um ein Funksignal zu bekommen? Leo fand den Umzug von Liverpool nach Chester schon schmerzlich genug und hatte Mühe, sich an eine Gegend zu gewöhnen, in der es mehr Felder als Fabriken gab, aber nach Harris’ Geburt wollte Allie näher bei ihren Eltern sein.

Karrieretechnisch fühlte sich die Versetzung nach Cheshire wie ein kluger Schachzug an. Auf einmal zählte er zu den größeren Fischen im kleineren Teich. Innerhalb von sechs Monaten war Leo im CID, bewarb sich im Jahr darauf erfolgreich für die Abteilung Schwerverbrechen und hoffte auf eine Beförderung innerhalb der Abteilung. Dabei hatte er nicht mit DI Crouch gerechnet, der ihn auf Anhieb nicht ausstehen konnte. Ruhig, ganz ruhig ist ein Lieblingsspruch von Crouch, sobald Leo in einem Meeting den Mund aufmacht, wozu er erbärmlich mit den flachen Händen in der Luft fuchtelt, was eine sauschlechte Imitation einer beliebten Figur in einer parodistischen Krimiserie ist. Lachen die anderen im Team, weil es witzig ist oder weil sie dem Boss in den Arsch kriechen? Was es auch ist, Leo beißt jedes Mal energisch die Zähne zusammen und weigert sich, Crouchs blödes Theater auch noch zu rechtfertigen.

Nach der Scheidung erwog er eine Rückkehr nach Liverpool. Sehnsüchtig dachte er an die Vertrautheit seiner alten Dienststelle und daran, wieder freitagsabends mit allen auf Drinks zu gehen und sonntags fünf gegen fünf Fußball zu spielen.

»Dann geh doch zurück nach Liverpool«, hatte Allie gesagt, als Leo es erwähnte.

»Dann würde ich Harris nie sehen können.«

Allie zuckte mit den Schultern, als hätte er sich selbst in diese Lage gebracht. Wie man sich bettet … von wegen! Allie war die, die alle Entscheidungen traf. Die bestimmte, wo sie wohnten und wann sie wohin ausgingen. Entscheidungen wie die, den Mann ihrer Freundin zu bumsen und dann die Ehe mit Leo zu beenden.

»Ich könnte ebenso gut in Liverpool leben«, murmelt Leo nun und weicht zur Seite aus, als ihm ein Gespann mit einem Hänger voller Heuballen entgegenkommt, der gefährlich nah an der Kante zwischen Straße und schierem Abhang navigiert. Leo hatte sich vorgestellt, Harris jedes zweite Wochenende und vielleicht noch einmal in der Woche über Nacht zu haben. Aber nachdem Dominic eingezogen war, beschloss Allie, dass es für Harris zu viel Unruhe brächte, woanders als zu Hause zu schlafen. Leo musste ihn anfangs morgens um neun abholen, vor der Tür des Hauses warten, für das er einst die Hypothek bezahlt hatte, und ihn bis sechs Uhr abends wieder abliefern. Wenn er Wochenenddienst hatte, verlor er den Samstag mit Harris, weil es angeblich zu viel Unruhe für Harris bedeutet, die Wochenenden zu tauschen. Wie Allie diese Formulierung liebt! Nach und nach wurde es sogar zu viel Unruhe, wenn Harris vor elf abgeholt oder nach vierzehn Uhr zurückgebracht wird. Jetzt versteht Leo endlich, warum samstagmittags so viele Single-Dads bei McDonald’s hocken. Wo soll man sonst hin, wenn man jedes zweite Wochenende nur drei Stunden mit seinem Kind hat?

Und dann hat Leo es natürlich versaut. Er verlor den Verstand, nur einmal, nur für einen Moment. Und Allie würde es ihn nie vergessen lassen.

Nachdem sie stetig – und langsam – zehn Meilen bergan gekrochen sind, fällt die Straße vor ihnen wieder ab und nimmt der Triumph an Fahrt auf. Er rast die mäandernde Straße in einem Tempo hinunter, dem zu folgen Leo wenig geneigt ist. Er zwingt seine Gedanken weg von Allie und Harris und zurück zu Rhys Lloyd und der Nachricht, die er der Familie des Mannes überbringen muss. Über sie war online wenig zu finden. Die Zwillinge, zwei Töchter, sind fünfzehn; Lloyds Frau, Yasmin, ist sechsundvierzig, im selben Alter wie ihr Mann. Sie ist Space Consultant, was immer das sein mag. Hat es was mit der NASA zu tun?

Die Straße macht eine scharfe Linksbiegung, bevor sie steil nach unten geht. Bei dem Blick, der sich Leo nun bietet, steht ihm der Mund offen. Der See formt ein träges S unten im Tal, die Ufer von dichtem, dunklem Wald gesäumt. Drum herum sind auch die steilen Berghänge bewaldet, sodass es aussieht, als würden die Bäume in der Ferne an die hundert Fuß hoch über dem See aufragen.

Der Mirror Lake selbst schimmert silbern im fahlen Sonnenlicht des Tages. Am gegenüberliegenden Ufer ragt ein gigantischer Berg auf, dessen schneebedeckter Gipfel halb von einem Wolkenwirbel verborgen ist. Die englisch-walisische Grenze verläuft mitten durch den See, und es fühlt sich komisch an, dass sie unsichtbar ist. Das Wasser verrät nicht, wo ein Land endet und das andere anfängt.

Es knackt in Leos Ohren, als es noch weiter bergab geht, bis er den See nicht mehr sehen kann, nur Bäume, die von beiden Seiten immer näher rücken. Ffion bremst scharf und nimmt so schnell eine Gabelung nach links, dass der Triumph zur anderen Straßenseite schlingert. Leo folgt ihr. Dies ist die englische Seite des Sees, eine namenlose Straße, die sich nach und nach auf eine Spur verengt. Hier und da lichten sich die Bäume zu flachen Buchten, in denen der See in der Wintersonne glitzert.

An einem sonnigen Tag böte dies einen netten Spaziergang, vermutet Leo. Wenn man auf so was steht. Vielleicht hat Allie ihm nächsten Sommer vergeben und erlaubt ihm, Harris für einen ganzen Tag zu haben – vielleicht sogar für ein Wochenende. Sie könnten paddeln oder eines dieser Fischernetze an Stöcken kaufen und sehen, was sie fangen.

Leo erschrickt, als er hinter einer weiteren Biegung eine breite Auffahrt vor sich sieht, flankiert von wuchtigen Säulen. Über die ersten zwanzig Meter der Zufahrt stehen mannshohe Holzlettern am Wegrand.

THE SHORE.

Leo nimmt den Fuß vom Gas. Von der Hauptstraße aus kann man die Anlage nicht sehen, und ein Schild links von Leo weist dies eindeutig als Privatgrund aus. Gestutzte Hecken verlaufen zu beiden Seiten der Auffahrt, und alle paar Meter sind rustikale Pfähle mit diskreter Beleuchtung angebracht, die sicher angeht, sowie die Dämmerung einsetzt. Na, das ist doch immerhin mal was, denkt Leo, als er Ffions Triumph auf die Anlage folgt. Stilvoll, luxuriös und weit und breit kein Schaf in Sicht.

Am Ende der Zufahrt verbreitert sich die Straße zu einem großen Parkplatz. Rechts, zwischen den Bäumen, sind mehrere Besucherbuchten, und Leo parkt neben Ffion ein.