Die letzte Praline - Carsten Sebastian Henn - E-Book
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Die letzte Praline E-Book

Carsten Sebastian Henn

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Beschreibung

Die Hauptstadt der Schokolade hält den Atem an! Während der Weltmeisterschaft der Chocolatiers im belgischen Brügge wird eine von Kopf bis Fuß in Schokolade gehüllte Frauenleiche gefunden. Kulinaristik-Professor Adalbert Bietigheim, der als Juryvorsitzender des Wettbewerbs nach Brügge gereist ist, findet schon bald heraus, dass einer der Chocolatiers der Mörder sein muss. Wird Bietigheim ihn rechtzeitig ausfindig machen können, bevor er selbst als überlebensgroßes Praliné endet?

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www.piper.de

Für Frederick und Charlotte, die jetzt schon mehr Nutella gegessen haben als ich in meinem ganzen Leben.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96364-0

© 2013 Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin unter Verwendung einer Illustration von Oliver Wetter Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

»Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man kriegt.«

KAPITEL 1

Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen …

… nämlich viel zu schnell zu Ende.

Die Dampflok hielt schnaubend und mit quietschenden Bremsen im Bahnhof der westflandrischen Stadt Brügge, der wie eine Insel des Lichts im Dunkel der herbstlichen Nacht aufgetaucht war.

Natürlich dampfte der Zug nicht, schließlich war dies das 21.Jahrhundert, doch für Prof.Dr.Dr.Adalbert Bietigheim, Inhaber von Deutschlands einzigem Lehrstuhl für Kulinaristik, fühlte es sich so an. Schließlich strahlte Brügge Tradition und Historie aus, wie eine gute Tasse Tee Wärme und Wohlgefühl. Gerade war ihm allerdings nicht nach Tee, und das wollte wirklich etwas heißen. Gerade war ihm nach Zorn, gerechtem Zorn. Kaum aus dem Zugabteil gestiegen, ging Adalbert forschen Schrittes zur Lok, seinen Foxterrier Benno von Saber ungestüm bellend im Schlepptau. Mit dem goldenen Knauf seines Gehstocks pochte er erbost an die Scheibe des Führerhauses. Das Fenster wurde zur Seite geschoben.

Von einem mampfenden Mann, eine Tasse heißen Tee in der Hand – Bietigheim erschnupperte eine Feld-Wald-und-Wiesen-Schwarzteebeutelmischung. So einer war das also.

»Goedenavond«, grüßte der Mampfer ihn.

Belgisch, oder korrekter das belgische Niederländisch, war eine von Bietigheims leichtesten Übungen. Eng verwandt mit dem Niederdeutschen, seiner Meinung nach eine rustikale Unterform. Passte zu dem Burschen.

»Anderthalb Stunden zu spät! Für solch eine läppische Strecke! Jetzt ist es mitten in der Nacht, schon nach elf Uhr. Denken Sie, ich habe meine Zeit gestohlen?«

»Nein.«

»Habe ich auch nicht. Da hätte ich ja zu Fuß von Hamburg aus kommen können!«

»Bestimmt ein schöner Spaziergang.«

»Jetzt werden Sie mal nicht frech!«

Der Lokführer biss in eine Stulle. »Zurzeit werde ich nur satt.« Er lehnte sich hinaus und bot Bietigheim seinen Tee an. »Auch einen Bissen? Oder einen Schluck? Ist gut für die Nerven, irre gesund.«

»Erzählen Sie mir nichts über Tee! Ich bin Professor Dr.Dr.Adalbert Bietigheim!«

»Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Sind Sie nicht Fernsehkoch?«

»Professor!«

»Ich hab Sie mal irgendwo gesehen – da waren Sie aber viel netter.«

»Das kann nicht sein. Ich bin nicht nett. Ich bin Gelehrter!«

Der Lokführer nahm noch einen Schluck und lächelte zufrieden. »Genießen Sie den Abend. Ist es nicht ein wundervoller Abend? So warm, und die Sterne. Herrlich. Ich fahre jetzt nach Hause zu meiner Frau und lege die Füße hoch. Und morgen beginnt die Weltmeisterschaft der Chocolatiers. Die sollten Sie sich anschauen, Schokolade ist nämlich auch gut für die Nerven.«

Er schloss das Fenster und wandte sich ab.

Adalbert schlug noch einige Male mit seinem Spazierstock dagegen, doch es wurde nicht mehr geöffnet.

Die Nacht funkelte sternenklar über ihm, und der Wind blies eine angenehm kühle, salzige Brise von der nahen Nordseeküste über die Bahngleise. Brügge meinte es gut mit Bietigheim. Seinen ledernen Koffer in der Hand, wandte er sich von der Lok ab und machte sich auf den Weg zum Hotel. Wie immer trug er einen Maßanzug von einem der besten Schneider der Londoner Einkaufsstraße Savile Row sowie handgenähte Budapester Schuhe aus Vigevano. Seine rote Seidenfliege lockerte er für den Spaziergang nur wenige Millimeter. Nur eine Viertelstunde zu Fuß, für einen Hamburger ein Klacks. Womit Adalbert Bietigheim jedoch nicht gerechnet hatte, war, dass es zwar nur ein kurzes Stück Weg, doch eine Reise in der Zeit war. Je näher er dem mittelalterlichen Zentrum der Stadt kam, das von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden war, desto mehr wurde die Uhr zurückgedreht, um Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Brügge war fraglos das größte Freilichtmuseum Belgiens. Die Altstadt war von Wallanlagen mit Windmühlen und Kanälen umgeben, die von keinem Krieg und durch keinen großen Brand zerstört worden waren.

Jetzt, kurz vor Mitternacht, waren nur ganz vereinzelt Menschen unterwegs, Brügge war eine Stadt der Schatten und, mehr noch, der Dunkelheit, die sich in den engen Gassen wohlfühlte und Passanten auflauerte. Es hätte nur noch gefehlt, dass Bodennebel durch die Stadt kroch, doch auch so spürte Benno von Saber die unheimliche Stimmung und hielt sich nahe bei Adalbert Bietigheim, als sie über das Kopfsteinpflaster gingen.

Als Bietigheim in die Lendestraat einbog, gingen plötzlich sämtliche Lichter aus. Stromausfall. Das passierte wohl öfter. Ohne elektrischen Strom war die Illusion perfekt: Er befand sich im Mittelalter. Im wortwörtlich dunklen Mittelalter, in dem das Funkeln der Sterne und das Leuchten des Mondes um so vieles heller erschienen. Schon nach kurzer Zeit flackerte Kerzenlicht in einigen Häusern auf. Hier war man anscheinend gut vorbereitet.

Der salzige Geruch der Nordsee war innerhalb der alten Befestigungsanlagen kaum mehr wahrzunehmen, stattdessen schien es, als habe sich der Duft von Schokolade tief in das Mauerwerk geprägt, welches nun eine süßliche Note verströmte.

Adalbert war nicht überrascht, als plötzlich ein Nachtwächter mit weitem Umhang, Schlapphut, Signalhorn, Hellebarde und Laterne um die Ecke bog. Viel mehr verwunderte ihn die neumodisch gekleidete Gruppe hinter diesem.

»Guten Abend, Herr Professor.« Der Nachtwächter zog den Hut und verbeugte sich tief.

Verdutzt nickte Adalbert. Kannte er den Mann? Nun ja, dieser kannte zumindest ihn. Merkwürdig.

Bietigheim ging weiter, seine Schritte hallten durch die menschenleeren Gassen, bis endlich der Grote Markt mit dem stolzen Belfried an der Südseite vor ihm auftauchte. Es war zweifellos einer der schönsten Plätze Europas, 110Meter lang und 68Meter breit, neun Straßen trafen auf ihn, wie Adern in ein pumpendes Herz. Auf der Westseite stand das Haus Craenenburg mit dem gleichnamigen Café, die Ostseite des Marktes prägte das neogotische Provinzialratsgebäude mit der Wohnung des Gouverneurs von Westflandern, und die Nordseite schließlich bot wundervoll farbige, alte Zunfthäuser – und fast in jedem ein Restaurant.

Plötzlich war der Spuk vorbei, und mit einem Schlag gingen die Lichter wieder an. Adalbert schirmte seine Augen gegen den Schein der Straßenlaterne über ihm ab. Ein junges Pärchen schlenderte auf den Professor zu, er hatte seinen Arm um sie gelegt, das leichte Torkeln deutete auf übermäßigen Alkoholkonsum hin, vermutlich belgisches Bier. Der junge Mann hatte einen Glatzkopf und trug trotz der Kühle der Nacht nur ein Harley-Davidson-T-Shirt, sie ein Pailettenkleid – und sie sang. Adalbert konnte sich verhört haben, aber es klang wie »smakelijk chocolade, verleidelijk chocolade« 3 leckere Schokolade, verführerische Schokolade. Und obwohl ihre Stimme auch ganz leicht torkelte, klang sie wunderschön und ließ das düstere Brügge sogleich viel heimeliger erscheinen.

»Guten Abend, Professor Bietigheim. Schön, dass Sie da sind!«, sagte der Mann.

»Und das ist der kleine Benno von Saber«, ergänzte die junge Frau, bevor sie sich hinkniete und den Foxterrier am Köpfchen kraulte. »Du bist ja so ein süßer kleiner Teufel.«

Sie hatte lange braune Haare und ein sehr hübsches, ein wenig puppenhaftes Gesicht mit ausdrucksstarken Augen. Ihre Haut war leicht gebräunt – fast wie Vollmilchschokolade.

Ihr Begleiter rief plötzlich in Richtung des Platzes: »Er ist hier! Der Professor ist hier!«

Aus den dunklen Ecken lösten sich Gestalten, und plötzlich war Adalbert Bietigheim von gut zwanzig Menschen umringt, die ihn willkommen hießen.

»Wir freuen uns so, Sie zu sehen!«, sagte eine ältere Frau, die ihrer gemütlichen Körperfülle zufolge jeden Tag einen Klotz Butter, dick mit Margarine bestrichen und Sahne besprüht, aß, umarmte Adalbert und drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange. Ja, gab es denn so was!? Was sollte dieser Rummel? Hatte sich etwa seine Aufklärung der Teemordserie bis nach Brügge herumgesprochen oder dass er es war, der das Rätsel um den Käsemörder im Burgund gelöst hatte? Oder hatten sie alle seine bahnbrechende Abhandlung über »Belgisches Bier – Vom Brauen als Kunst und Resteverwertung von Obst« gelesen? Wie auch immer, verdient hatte er diese Bewunderung mit Sicherheit. Und mehr als das! Aber diese Knutscherei musste trotzdem nicht sein.

Bietigheim löste sich aus der Umarmung, zog den ebenfalls heftig beschmusten Benno zu sich und ging über den beeindruckenden Marktplatz Brügges in Richtung Belfried.

Dann sah er es.

Vor dem Rathaus hing ein riesiges Banner zur »Weltmeisterschaft der Chocolatiers« mit dem Konterfei des Vorsitzenden der internationalen Jury: ihm selbst. Gezeichnet als Comicfigur, die gütig lächelnd in eine Tafel Schokolade biss. Wie ein netter Onkel, der den Kinderchen Süßes schenkt. Daneben Benno von Saber mit Kochmütze mit Kochlöffel in der Pfote. Solch eine Verdrehung der Tatsachen! Schokolade war doch nicht zum Vergnügen da! Und dies war immerhin eine Weltmeisterschaft, also eine ernst zu nehmende Angelegenheit! Fast schon eine Art Krieg. Statt Waffen schwangen die Gegner Schneebesen, statt mit Patronen erledigten sie den Gegner mit Kakaobutter, aber ansonsten: völlig gleich.

Adalbert Bietigheim dampfte innerlich. Und dann dampfte er ab zum Hotel, schnellsten Schrittes, niemanden, der ihn erkannte, eines Blickes würdigend.

Das »Relais Bourgondisch Cruyce« lag in der Wollestraat und galt als erstes Haus am Platz. Eine echte Schönheit. Das kleine, alte Luxushotel war direkt an einen der Kanäle gebaut, die die Stadt durchzogen. Sie wurden Reien genannt, wegen des im Mittelalter kanalisierten Flüsschens Reie, auf dem die Waren zum Meeresarm Het Zwin transportiert worden waren. Das Hotel war eines der ältesten Gebäude Brügges, seine hölzerne Front eines der meistfotografierten Motive der Stadt.

Adalbert hielt Benno die Tür auf und schlug mit solch einer Kraft auf die Tischglocke, dass sie eigentlich in dem Tresen hätte versinken müssen.

»Professor Bietigheim ist eingetroffen und wünscht, auf sein Zimmer gelassen zu werden!«, verkündete er lautstark. »Sein getreuer Hund ist ebenfalls im Hotel!« Er warf Benno einen stolzen Blick zu, während dieser sich ausgiebig am Ohr kratzte.

»Oh, Sie sind es! Herzlich willkommen im ›Relais Bourgondisch Cruyce‹. Wir freuen uns sehr, dass Sie hier sind.«

»Ich mich auch. Denn der Tag war lang, und ich möchte möglichst schnell nächtigen. Die Schlüssel bitte.« Er streckte die Handfläche auffordernd über den Tresen.

Die junge, rotlockige Rezeptionistin legte ein Anmeldeformular hinein. »Das Chocomuseum hat ein sehr schönes Zimmer für Sie reservieren lassen.«

»Welche Kategorie?«, fragte Adalbert, während er das Formular akribisch mit seinem Füllfederhalter ausfüllte.

»De luxe.«

»Ich darf annehmen, dass dies die höchste ist?«

»Äh … nun ja, eigentlich nicht.«

»Dann erhöhen Sie. Geben Sie mir Ihr schönstes freies Zimmer. Der Veranstalter zahlt.«

»Wir hätten aber nur noch eine Suite mit Marmorbadezimmer, ›Rouge Royal‹, für 450Euro die Nacht.«

»Gerade gut genug.« Er pustete über die Tinte und reichte das Formular zurück.

Endlich übergab sie ihm den Schlüssel.

Forsch schloss Bietigheim die Suite auf, Benno rannte als Erster hinein und bellte vorsorglich in alle Ecken. Hm, ja, sah aus wie bei Königs zu Hause. Himmelbett, Stilmöbel, Ralph-Lauren-Bettwäsche, es lag sogar eine ganze Tafel Edelschokolade auf dem spitzenbedeckten Kopfkissen. Es war die Schokolade zur Weltmeisterschaft, und da deren Thema »Schokolade & Wein« lautete, war sie auf Bietigheims Wunsch hin mit moselanischem Riesling aus St.Aldegund angereichert worden. Er brach sich flugs einen Riegel ab und ließ ihn mit geschlossenen Augen am Gaumen schmelzen. Wundervoll! Nichts war besser für die Seele. Die Lieblingsspeise der Schlaraffen.

Adalbert ließ Benno etwas Wasser in einen mitgebrachten goldenen Napf ein, sortierte penibel seine Kleidung in die Schränke, stellte seine handgefertigten Lederschuhe ordentlich nebeneinander vor die Tür zum Wienern, glättete mit dem Reisebügeleisen seine – passend zum Anlass – vollmilchschokoladenbraun gepunktete Fliege, zog sein knielanges Nachthemd an – ein Familienerbstück seines Großvaters – und öffnete das Fenster, um hinaus auf den Kanal zu blicken. Tief atmete er die kühle Nachtluft Brügges ein, während Benno sich neben ihm auf die Hinterläufe stellte, die Pfoten auf das Fensterbrett und seine Nase in den leichten Wind streckte.

Morgen würde die Weltmeisterschaft der Chocolatiers mit der Vorstellung der für die Endausscheidung nominierten Top Ten im Schokoladenmuseum der Stadt beginnen. Noch sah hier alles ganz friedlich aus – das würde sich bald ändern.

Ein einsames Ruderboot glitt völlig unbeleuchtet durch den Kanal vor seinem Fenster, ganz eng ans Ufer gedrückt, wo es nicht auffiel. Der Ruderer machte kaum Geräusche – und ließ langsam etwas ins schwarze Nass gleiten, das sofort versank, bevor er selbst wieder in den Schatten der Stadt verschwand.

Müllentsorgung auf Belgisch, dachte Bietigheim.

Bestimmt eine jahrhundertealte Tradition.

Das Glockenspiel des Belfried weckte Adalbert Bietigheim um sechs Uhr früh sanft aus seinen Träumen. Zu seinen Füßen hatte Benno sich auf den Rücken gedreht, seine Beine zuckten, er jagte wohl Kaninchen oder seinen eigenen Stummelschwanz. Adalbert nahm eine kalte Dusche, seifte dabei die Körperteile in der korrekten Reihenfolge ein, kleidete sich an und begab sich zum Frühstück. Er beanspruchte selbstverständlich den schönsten Platz am Fenster mit Blick auf den Kanal, obwohl dieser eigentlich für einen Stammgast reserviert war, und setzte zudem durch, dass Benno von Saber auf dem Stuhl neben ihm Platz nehmen durfte. Keine Widerrede! Die Zeitung wurde ihm – wie gewünscht gebügelt – an den Tisch gebracht.

»De Standaard« berichtete auf der Titelseite über die Weltmeisterschaft – obwohl die Regierung mal wieder kriselte und die Flamen ihre Unabhängigkeit lautstark forderten. Aber Schokolade ging in Belgien nun mal vor. Auf der Titelseite: die Chocofee, neue Galionsfigur des Schokoladenmuseums und nun auch der Weltmeisterschaft. Sie trug ein Kostüm, für den der Ausdruck ›Hauch von Nichts‹ erfunden worden war. Ein schulterfreies Negligé aus weißer, fast völlig transparenter Seide, mit Spitzenbesatz in Blütenform am oberen Ende, das von braunen Lederriemen auf ihrem schönen Körper gehalten wurde. Der Stoff gab alles darunter preis – auch dass es darunter kaum weiteren Stoff gab. In ihrem voluminös toupierten braunen Haar steckten unzählige Kakaoblüten, die aussahen wie rosa-weiße Lilien. Auf ihrer Brust eine weitere große Kakaoblüte sowie eine Brosche mit zwei Astern, als Armreifen Rosen und um die Hüfte ein Band aus Orchideen. Das Gesicht … es kam ihm bekannt vor … puppenhaft schön … das war doch … aber ja … tatsächlich! Die junge Frau vom Vorabend! Die Sängerin, welche Benno gleich so ins Herz geschlossen hatte.

Dem Bericht zufolge würde sie heute die Vorstellung der zehn besten Chocolatiers der Welt übernehmen. Die Teilnehmer waren schon seit einer Woche hier, hatten Zeit gehabt, sich aneinander zu gewöhnen, ans Englische, das während der Weltmeisterschaft von allen gesprochen werden musste, und alle ihre zum Teil exotischen Zutaten zu organisieren. Adalbert würde sich gleich auf den Weg zum Schokoladenmuseum machen – aber erst nach einem ausgiebigen Frühstück, bei dem nicht gehetzt wurde, sonst konnte man es auch gleich sein lassen.

Der Ort des offiziellen Startschusses, das Schokoladenmuseum, lag in der Wijnzakstraat 2 am Sint-Jansplein, einem Platz im Stadtzentrum. Es war nicht zu übersehen. Für ein Gebäude dieses Alters – errichtet worden war es im Jahr 1480 – war seine vierstöckige Bauweise in Brügge eine echte Seltenheit. Bietigheim hatte sich selbstverständlich im Vorfeld informiert, weshalb er wusste, dass hier einst eine Weinstube existiert hatte, die Fässer lagerte und weiterverkaufte – wie passend.

Ein roter Teppich war bereits vor dem Eingang ausgerollt worden, und eine flämische Musikkapelle in Tracht stand daneben und rauchte Zigaretten, als gelte es, den gesamten Platz einzunebeln. In den Rauch trat eine Frau wie eine Erscheinung. Ach was, keine Frau, ein Weib! Eine Matrone, eine … Walküre! Blond gelocktes Haar, breite Schultern, ein imposanter Busen, eine herrische Haltung. Sie trug zwar ein rotes Brokatkleid, das aussah wie eine Gardine, doch sie trug es wie ein Kettenhemd. Sie breitete die Arme aus und schloss Adalbert in dieselben, drückte ihm Küsse mit der Wucht von Backpfeifen auf die Wangen und stellte sich erst danach vor. Es war Josephine-Charlotte Baels, die Organisatorin, die Gastgeberin, die Herrin der Weltmeisterschaft. Belgiens erste Dame der Schokolade, Gründerin des Museums, eine direkte Nachfahrin von Jean Neuhaus, der 1912 im Keller seiner Brüsseler Apotheke Creme in eine Schokoladenhülle füllte – und damit die belgische Praline erfand. Diese Frau war fleischgewordene Schokoladengeschichte.

»Treten Sie ein in die gute Stube. Aber putzen Sie sich vorher bitte die Schuhe ab!«

Eine Frau, die Wert auf Sauberkeit legte, war eine Frau nach Adalberts Geschmack!

Doch als er eintreten wollte, hinderte ihn einer der livrierten Lakaien daran und blickte streng auf Benno. »Hunde sind im Museum nicht erlaubt.«

»Das ist kein Hund, das ist Benno von Saber. Sein Stammbaum ist länger und edler als der Ihrige. Er ist mein Personal Assistant und weiß sich sehr wohl zu benehmen.« Ohne den Hanswurst eines weiteren Blickes zu würdigen, marschierte Adalbert hinein, Personal Assistant Benno mit stolz erhobenem Kopf an seiner Seite.

Die Grandezza des alten Hauses war unübersehbar, doch es war viel kleiner und enger als erwartet, verschachtelt und verwinkelt, wie die Altstadt Brügges. Die Walküre nahm seine Hand und führte ihn das Treppenhaus empor.

»Gestern gab es bereits eine kleine Zusammenkunft der Top Ten, ein letztes Mal unbeschwert zusammen sein, bevor der Wettkampf startet. Es ging bis spät in die Nacht, unsere bezaubernde Chocofee war auch zugegen, und einige lokale Berühmtheiten durften natürlich ebenfalls nicht fehlen. Wie schade, dass Sie nicht dabei waren!«

»Professionelle Distanz«, antwortete Bietigheim. »Man darf sich mit den Wettbewerbern nicht gemein machen, schließlich muss man sie bewerten und kritisieren. Ich bin ihr Richter – und für einige der Henker.«

Madame Baels lächelte. »Oh, là, là, Professor Bietigheim. Das soll hier doch kein Schlachtfest werden!«

»Obwohl der Schotte Edward Macallan einige seiner Pralinen mit Blut anrührt.«

»Hören Sie mir bloß auf mit Macallan! Solch ein Krawallbruder!«

Sie führte ihn lautstark durch die verschiedenen Etagen des Museums, in denen Herstellung und Historie der Schokolade ausführlich dargestellt wurden. Es gab sogar einen künstlichen Kakaobaum. Eine ganze Horde Putzfrauen war unterwegs, um alles auf Hochglanz zu polieren und die Spuren der nächtlichen Feier zu beseitigen – Madame Baels trieb sie mit harschem Ton an. Bietigheim dagegen schenkte die Herrin des Hauses ihr süßestes Lächeln. »Sie sehen, hier oben ist bereits alles très chic, nur in unserer Versuchsküche müssen die Damen noch ordentlich ran, da muss natürlich auch alles tippitoppi sein!« Den letzten Teil des Satzes sagte sie so laut, dass die Putzfrauen ihn nicht überhören konnten. Auch nicht die Putzfrauen aus dem Nachbarhaus.

»Haben Sie schon die Wettquoten gesehen?«

»Die … was haben Sie gesagt, Gnädigste?«

»In England bei den Buchmachern ist Urs Egeli, der Schweizer Chocolatiermeister, haushoher Favorit. Pierre Cloizel aus Frankreich folgt dahinter und mit etwas Abstand Edward Macallan. Wunschdenken, wenn Sie mich fragen. Macallan ist bloß ein verrückter Außenseiter, Egeli dagegen ein Großmeister, und Cloizel will die Krone unbedingt, ohne Frage. Und er hat immerhin ein französisches Schokoladenimperium hinter sich.«

»Ich weiß nicht, ob Sie es wussten, aber einst waren es die Spanier, welche die Schokolade nach Frankreich brachten«, setzte Adalbert an, der diese überwältigende Frau von Anfang an mit seinem Wissen zu überwältigen gedachte. »Es war 1615, als die spanische Infantin Anne von Österreich den französischen König Ludwig XIII. ehelichte. Erst dank ihr fand die Schokolade den Weg vom spanischen Königshof, wo sie schon Mode war, in die Grande Nation. Im Jahre 1659 …«

»… wurde dann ein Königliches Privileg für den Vertrieb einer ›Komposition, die sich Schokolade nennt, als Getränk, Pastillen oder in Dosen‹ an den Franzosen David Chaillon ausgestellt. Wie könnte ich dies nicht wissen, mein lieber Professor Bietigheim?«

Zunder und Donner, was für ein Weib. Schön und klug!

»Wissen Sie denn, dass auch Ludwig XIV. eine spanische Königstochter …«

»… ehelichte? Natürlich. Maria-Theresia. Durch sie wurde Schokolade in Versailles erst richtig en vogue. Dreimal die Woche wurde Kakao serviert. Die kleine Küstenstadt Bayonne wurde aufgrund von Juden, die vor der Inquisition nach Frankreich flohen, zum Zentrum der Schokoladenwelt, und 1780 …«

»… wurde dort die erste mechanisierte Schokoladenfabrik errichtet! Potztausend. Sie sind eine Frau ganz nach meinem Geschmack, wenn ich das sagen darf.«

»Aber immer gern.« Sie lächelte verschmitzt und hakte sich bei ihm ein. »Und nun kommen wir in den inspiriertesten Teil unserer Ausstellung. Kunst aus Schokolade! Ihnen werden die Augen übergehen – auch weil Sie unbändigen Appetit bekommen werden.«

Benno sah sich um – Appetit hatte er augenscheinlich jetzt schon. Die Frage war nur, in welche Schokolade er zuerst beißen sollte. Sein Köpfchen schoss ständig von einer zur anderen Seite.

Die hohen Decken und die weißen Wände des großen Raums wirkten majestätisch und bildeten den perfekten Rahmen. Ein großes, mannshohes Schokoei mit Schleife kündete von der Eröffnung des Museums 2004, doch was folgte, waren keine Weihnachtsmänner und Osterhasen, sondern wahre Kunstwerke. Die Skulpturen waren teils sehr realistisch, teils abstrakt und erinnerten an Rodin, Giacometti oder Henry Moore. Für Adalberts Geschmack alles viel zu modern.

Eine junge Frau lief aufgeregt hinein. Sie trug ein schokoladenbraunes Etuikleid, schokoladenbraune Ballerinas, ihre Haare waren dunkel wie hundertprozentige Schokolade, und ihre Zähne waren … blendend weiß. Ihr Namensschild wies sie als Mareijke Dovendaan aus.

»Madame Baels! Unsere Chocofee ist nirgends zu finden. Dabei sollte Bea schon seit einer Stunde hier sein. Und sonst ist sie immer pünktlich. Wir müssen ihr doch noch das Kostüm anziehen und sie schminken, das schaffen wir schon gar nicht mehr vor der Pressekonferenz!«

»Haben Sie versucht, Bea auf dem Telefon zu erreichen?«

»Natürlich, Madame Baels. Seit einer Stunde, Festnetz und Handy. Habe auch bei ihren Eltern angerufen und in dem Studio, wo sie ihr Album aufnimmt. Sie ist nirgendwo. Und keiner weiß was.«

Madame Baels tststste. Und wie sie das machte. Laut und vorwurfsvoll, wie es nur die Besten hinbekamen. Dann musterte sie ihre Mitarbeiterin. »In diesem Fall ziehen Sie halt das Kostüm an. Hopphopp!«

»Aber wir haben Bea angekündigt! Und sie sollte doch das Lied zur Weltmeisterschaft singen.«

»Playback!«

Professor Adalbert Bietigheim tippte Madame Baels sachte auf die Schulter, doch diese reagierte nicht.

»Aber es gibt doch auch ein Fotoshooting neben ihrer Schokoladenskulptur. Da fällt auf, dass ich nicht sie bin.«

»Abgesagt!«

Bietigheim versuchte es abermals, diesmal fester, denn er hatte etwas entdeckt. Es war groß. Und ziegenkäseweiß.

»Und sie sollte sich ins Goldene Buch der Stadt eintragen!«

»Meinetwegen fälschen Sie die Unterschrift, merkt sowieso kein Mensch.«

Bietigheim griff nun zu drastischeren Maßnahmen. Er schüttelte Madame Baels an der Schulter.

Endlich drehte sie sich um. Ihr Blick herrisch, wie der einer nordischen Göttin.

Bietigheim schmolz dahin wie Schokolade im Hochsommer.

»Ich bin mir ja nicht sicher«, begann er, »also nicht völlig. Aber ich glaube, dass dieser Mann hier, nun ja, dass er, wie soll ich es sagen, normalerweise anders aussieht. Gesünder.«

Im Raum war ein Mann aufgetaucht. Eine Bergkette von einem Mann. Mindestens Alpen, vielleicht sogar Himalaja. Beim heiteren Beruferaten hätte bei ihm niemand auf Chocolatier getippt, eher auf Mammutmetzger. Doch es war, wie Bietigheim wusste, Franky van der Elst, der belgische Kandidat. Seine blasse Haut war stets gerötet, seine Schweinsäuglein leicht glasig. Er hatte ungefähr die Ausmaße von Bietigheims altem Freund, dem Rocker Pit Kossitzke, doch bei diesem lagen mächtige Muskeln unter dem Speckmantel, wogegen bei van der Elst vor allem eines unter dem Speck lag: noch mehr Speck.

Van der Elst war blass. Wo auch immer sein Blut steckte, es war nicht zu sehen. Er zeigte in Richtung der Demonstrationschocolaterie, in welcher vor den Augen der Besucher und geschützt durch eine deckenhohe Plexiglasscheibe Pralinen und Schokoladen erzeugt werden konnten.

»Die Skulptur«, stotterte er. »Die gehört da nicht hin.«

»Mein lieber van der Elst«, erwiderte Madame Baels genervt. »Skulptur hin oder her, wir haben gerade ganz andere Sorgen.«

Bietigheim blickte um die Ecke in die Chocolaterie und ging ein paar Schritte näher. Er schreckte zurück. Dann machte er eiligst kehrt und ergriff Madame Baels’ Hand. Sie war groß, fleischig und mit festem Griff. Atemberaubend, diese Frau! Nur widerwillig ließ sie sich mitziehen.

»Diese Skulptur, von der Mijnheer van der Elst spricht … also, sie ist wohl gar keine. Nicht im eigentlichen Sinne.«

Er zog Madame Baels vor die Plexiglasfront.

»Was reden Sie denn da, Herr Professor? Fangen Sie nicht auch noch …«

Doch weiter kam sie nicht, denn ein Schrei aus der Kehle Mareijke Dovendaans zerriss die Luft. Und sie hörte erst auf zu schreien, als Madame Baels ihr eine scheuerte.

Erst danach erblickte die Museumsleiterin den Grund des Schreckens und verhinderte nur durch beherztes Pressen der Hand auf ihren Mund eine ähnlich lautstarke Gefühlsäußerung.

Auf der riesigen Marmorplatte der Chocolaterie, auf welcher sonst die Schokoladenmasse bewegt wurde, um sie kontrolliert und gleichmäßig abzukühlen, lag etwas definitiv Abgekühltes. Eine tote Frau. Sie war nackt, soweit man dies sagen konnte, da ihr ganzer Körper, auch ihr Gesicht und ihre Haare, von Schokolade überzogen waren. Ihr Mund stand offen und war bis zu den Lippen mit Kuvertüre gefüllt worden.

»Sechzigprozentige Madagaskar-Kuvertüre von Walrhano, würde ich meinen«, sagte Bietigheim, der den besonderen Farbton sofort wiedererkannt hatte. »Gehe ich recht in der Annahme, dass wir die Chocofee hiermit gefunden haben?«

»Absolut, Professor«, sagte Madame Baels, um Atem ringend.

Dann fiel sie in Ohnmacht.

Adalbert dachte darüber nach, wie sich ein Raum veränderte, sobald ein Toter darin lag, wie es merkwürdig ruhig wurde, die Welt lauernd und gefahrvoll wirkte, einer sich langsam schließenden Wolfsfalle gleich.

Es war van der Elst, der als Erster die Worte wiederfand. »Wie bei Goldfinger«, sagte er stotternd. »Sie ist mit Schokolade statt Gold erstickt worden. Ihr Körper konnte nicht mehr atmen.« Van der Elst sprach damit aus, was alle dachten. Die tote Chocofee sah aus wie Goldfingers Gespielin Jill Masterson, die von James Bond komplett vergoldet und komplett tot in ihrem Hotelzimmer aufgefunden wird. Die schönste Leiche der Filmgeschichte.

Und Beatrice Reekmans, die Chocofee, war fraglos die schönste Leiche, die Adalbert Bietigheim je gesehen hatte. Und er hatte in seinem Leben bereits mehr Leichen gesehen als geplant.

Doch diese hinter der Plexiglaswand wollte er unbedingt genauer in Augenschein nehmen. In seinem Kopf tauchten Fragen auf wie Bläschen in frisch eingeschenktem Champagner.

»Ist Madame Baels im Besitz des Schlüssels für die Glastür?«

Mareijke Dovendaan nickte und holte ihn aus der Sakkotasche ihrer immer noch bewusstlosen Chefin, deren Kopf sie auf ihre Jacke gebettet hatte. Während Adalbert die Tür öffnete, instruierte er van der Elst, die Polizei zu rufen. Er selbst besaß aus Überzeugung keines dieser neumodischen tragbaren Telefone. Er leistete sich mit größtem Vergnügen den Luxus, nicht jederzeit für Krethi und Plethi erreichbar zu sein.

Der schwere, wärmende Duft der Schokolade schlug ihm verheißungsvoll entgegen – kein Wunder bei der Menge, die sich auf Beatrice Reekmans sowie dem Fußboden befand. Die junge Frau lag auf dem Rücken, die Beine ausgestreckt, die Arme anliegend. Die dick und gleichmäßig auf dem Körper verteilte Schokolade gab ihre wohlgeformten Proportionen preis. Der Täter musste eine Unmenge erwärmt und über sie gegossen haben. So erschreckend die Situation war, so bedrückend der Tod einer jungen Frau in der Blüte ihres Lebens, in Adalberts Kopf feuerten die wissenschaftlichen Synapsen unbeeindruckt aus allen Rohren – wegen des Glanzes der Schokolade. Oder genauer: wegen des Fehlens von diesem. Beim Abkühlen bildete die Kakaobutter nur dann stabile Kristalle und damit einen samtigen Glanz, wenn es langsam geschah, ansonsten wurde die Schokolade brüchig und matt. Sein Blick wanderte über die braune Masse.

Adalbert ging ganz nah heran, um die Struktur der Schokolade auszumachen.

Doch das Auge verriet ihm nicht alles.

Er blickte sich rasch um. Van der Elst telefonierte, aber wohl nicht mehr mit der Polizei, sondern mit seiner Frau. Madame Baels kam langsam zu sich, und Mareijke Dovendaan blickte hektisch abwechselnd auf das Ziffernblatt ihrer Uhr und in Madame Baels’ Gesicht, dem sie mit einem Museumsprospekt Luft zufächelte.

Niemand sah zu ihm. Da drückte er fest auf den Ellbogen der Toten und brach ein Stück Schokolade heraus. Noch immer achtete keiner auf ihn.

Er biss in das Stück abgebrochene Schokolade.

Die Erhitzung war fraglos korrekt gelaufen, aber die Abkühlung … Bietigheim war sich nicht sicher. Er musste noch ein Stück probieren.

»Was haben Sie da in der Hand?«

Die Stimme war es gewohnt, dass ihre Fragen umgehend beantwortet wurden und man ihren Befehlen Folge leistete. Die Stimme war es überhaupt nicht gewohnt, warten zu müssen. »Was haben Sie da in der Hand? Legen Sie es sofort auf den Boden!«

Bietigheim ließ die Schokolade augenblicklich fallen. Selbstverständlich zu seiner rechten Seite, wo Benno von Saber stand, allzeit hungrig.

Und blitzschnell.

Adalbert drehte sich um.

Der Mann hatte seine Dienstwaffe gezogen und auf ihn gerichtet, nicht um zu schießen, sondern nur um zu zeigen, wer die Hosen anhatte. Der Polizist schien einem Film noir entsprungen zu sein. Lässig gekleidet, einer dieser Trenchcoattypen mit fusseligem Vollbart, auf dessen Haut man jede Zigarette, jeden Genever und jede nächtliche Überstunde erkennen konnte wie sechsspurige Autobahnen auf einer Landkarte. »Hauptkommissar Pieter Aspe, Politie Brugge«, stellte er sich vor. »Und wen sollen Sie darstel… Sie sind der Professor, nicht wahr? Dieser lustige Schokoladenonkel?«

Schlimmer hätte er Adalbert nicht beleidigen können.

»Ich bin beileibe kein …«

»Weg von meiner Leiche, die Spurensicherung trifft jeden Augenblick ein, wahrscheinlich haben Sie schon etliche Spuren verwischt und vernichtet. – Holt mir den Kerl da raus, dann großräumig absperren, ich will hier keinen mehr sehen, der keine Hundemarke trägt. Snel!«, wandte er sich lautstark an zwei Lakaien, die hinter ihm standen. Unsanft beförderten sie Bietigheim hinaus, und kaum dass er sich’s versah, bugsierte ihn Mareijke Dovendaan in den großen Saal des Museums, welcher bis auf den letzten Platz von Journalisten, Fotografen und Kamerateams besetzt war.

Bietigheim drehte sich zu der jungen Frau um, die ihn unaufhaltsam in Richtung Bühne schob. »Ist Madame Baels in der Lage, die Weltmeisterschaft abzusagen, oder soll ich diese schmerzhafte Aufgabe übernehmen?«

»Sie wird die richtigen Worte finden.«

Hinter der Bühne hing ein weiteres schreckliches Weltmeisterschaftsplakat, das Adalbert auf einem Schokoladenschwan reitend zeigte, einem Brugsche Swaentje, der hiesigen Pralinenspezialität. Benno hatte es sogar noch schlimmer erwischt, er flog auf dem Rücken eines Schokoladenschwans um den Brügger Belfried.

Wenn das seine Hamburger Kollegen sahen! Oder die göttliche Hildegard zu Trömmsen, Hohepriesterin der feinen Hamburger Gesellschaft.

Er würde auf Jahre hinaus mit Brugsche Swaentje verspottet werden. Gott sei Dank hatte der Spuk bald ein Ende!

Neben dem Rednerpult stand eine Schokoladenskulptur der toten Beatrice Reekmans in ihrem Kostüm als Chocofee. Die Ähnlichkeit war beängstigend, und Adalbert wurde das Gefühl nicht los, im Inneren stecke eine weitere Leiche. Benno beschnupperte die Skulptur aufgeregt. Hoffentlich hob er nicht das Beinchen.

Madame Baels Turbosanierung war erfolgreich, sie sah wieder aus, als zöge sie gleich in Walhalla ein – allerdings mit etwas zu viel Rouge auf den Wangen. Sie trat ans Mikrofon und räusperte sich, gleichermaßen damenhaft wie kraftvoll. Bärinnen räusperten sich bestimmt so.

»Herzlich willkommen in Brügge, das für eine Woche das Herz der Schokoladenwelt sein wird!«, setzte sie an. Es folgte die Erwähnung von allerlei Honoratioren und Sponsoren, auch Adalbert wurde ausgiebig gewürdigt und von Madame Baels als »Schokoladenpapst« tituliert. Eine gewagte Bezeichnung, wie Adalbert fand, aber inhaltlich nicht unverdient. Selbst Benno wurde erwähnt, als Hund mit der feinsten Trüffelnase – ein doppeldeutiger Witz –, gleichzeitig wurde er quasi zum Maskottchen der Weltmeisterschaft ausgerufen. Dann holte Madame Baels tief Luft, und ihr gewaltiger Brustkorb hob sich, als würden sich Berge aus dem Meer erheben. Jetzt war es also so weit.

»Leider kann unsere bezaubernde Chocofee Beatrice Reekmans heute nicht bei uns sein«, begann die Schirmherrin. »Aber sie hätte sicher gewollt, dass wir uns davon nicht abhalten lassen, die erstmals in Brügge stattfindende Weltmeisterschaft der Chocolatiers heute offiziell zu eröffnen. Und damit darf ich die Wettbewerber auf die Bühne bitten, die zehn besten Chocolatiers der Welt, welche sich in den kontinentalen Vorrunden gegen vielköpfige Konkurrenz durchgesetzt haben. Das Thema der Weltmeisterschaft lautet: Schokolade & Wein – Eine göttliche Verbindung, und sie ist hiermit eröffnet!«

Sie zog es wirklich durch, obwohl gerade erst eine junge Frau ermordet worden war, nur wenige Meter entfernt!

Das Licht wurde gedimmt, dann begann sich an der Decke eine Discokugel zu drehen, die Titelmelodie von »Rocky« dröhnte aus den Boxen, und Madame Baels klang plötzlich wie eine Rummelplatzansagerin.

»Und nun darf ich Ihnen die Wettbewerber vorstellen. Aus Schottland: Edward Macallan, der Jamie Oliver der Chocolatiers!«

Ein junger Mann mit wilder Lokenmähne sprang unter dem Applaus der anwesenden Medienmeute in Bermudashorts, Badelatschen und Surfer-T-Shirt auf die Bühne.

»Aus Österreich Leopold Ribisel, Chef-Patissier im Hotel Sacher, der Mozart unter den Chocolatiers.« Ein älterer Herr mit buschigen Augenbrauen und perfekt sitzendem Frack ging gesetzten Schrittes neben Macallan und streckte die Arme in Siegerpose empor.

Wer kam als Nächstes? Der Carl Lewis der Chocolatiers? Der Picasso? Oder das Krümelmonster unter den Chocolatiers?

»Aus der Schweiz Urs Egeli, der Denker, der Sokrates unter den Chocolatiers – und nicht zuletzt: der Titelverteidiger.«

Sokrates, na klar, der hatte noch gefehlt.

Ein asketischer Mann betrat die Bühne, die grau melierten Haare streng nach hinten gelegt, nicht eine Strähne stand ab, eine Nickelbrille auf der Nase, mehr Bibliothekar als Künstler. Es folgte William »Bill« Bulldoss aus den USA – der Schöpfer der größten Praline der Welt war überraschenderweise ein kleines Männchen, um nicht zu sagen: ein Zwerg. Aus Brasilien kam die erste Frau, Jana Elisa da Costa, eine junge, dunkelhaarige Schönheit, deren Augen in Groschenromanen sicher als glutvoll beschrieben worden wären. Sie trug eine schlichte schwarze Kochuniform und trat ganz ohne große Geste auf. Ihr Lächeln war schüchtern und vielleicht gerade deshalb bezaubernd.

Dann war es Zeit für van der Elst, der die Menge mit einem »Goedemiddag« herzlich begrüßte, kein Anzeichen des Schocks mehr in seinem Gesicht, stattdessen Siegesgewissheit.

Was Corporate Design bedeutet, zeigte Pierre Cloizel aus Frankreich, genauer gesagt aus Bayonne, dem alten Herzen der Schokoladenindustrie. Der Erbe des mächtigen Marelle-Konzerns, der auch Produktionsstätten im belgischen Knokke-Heist, in Amsterdam, London und sogar Tokio hatte, trug eine Kochjacke, auf welcher ein farbenprächtiger Schmetterling zu sehen war, nicht gedruckt, sondern gestickt und mit Swarovski-Kristallen geschmückt. Cloizel verbeugte sich höflich und elegant, sein Lächeln war fein. Die blonden Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden, selbst das Band zierte der Schmetterling, welcher auf der erfolgreichsten Schokoladenlinie des Hauses prangte.

Auch Deutschland schickte eine Frau ins Rennen, Vanessa Hohenhausen aus Bad Neuenahr-Ahrweiler, die als Patissière im Sternerestaurant »Zur Alten Eiche« arbeitete. Eine Frau mit einem Lachen, nicht nur auf ihren Lippen, auch in den Augen. Ihre Korkenzieherlocken wurden nur notdürftig von einem Haarband zusammengehalten, ihre Brille war regenbogenbunt, ihre Lippen strahlend lila.

Italien hatte Ottavio Bertinotti entsandt, einen Mann, der in einem Armani-Katalog nicht fehl am Platze gewesen wäre. Volles schwarzes Haar, perfekter Dreitagebart, gebräunte Haut und ein austrainierter Körper, der in einem Maßanzug steckte.

Und schließlich die Nummer 10, der absolute Außenseiter, die Überraschung schlechthin: Jón Gnarr aus Kópavogur in Island, einem Land ohne Pralinentradition, und ein Mann, der niemals zuvor international Aufmerksamkeit erregt hatte. Er arbeitete in einer kleinen Bäckerei, die kaum mehr als Schokoweckchen verkaufte.

Doch das war es nicht, weswegen Adalbert Bietigheim den jungen Glatzkopf nun so fassungslos anstarrte.

Der Grund war ein anderer.

Jón Gnarr war der Mann, der ihm gestern Arm in Arm mit Beatrice Reekmans auf dem Brügger Grote Markt begegnet war.

Alle Teilnehmer wollten Bietigheim die Hand schütteln und einen guten Eindruck machen. Alle bis auf Jana Elisa da Costa aus Brasilien, die wortlos die Pressekonferenz verließ. Als Letzte trat die deutsche Teilnehmerin Vanessa Hohenhausen zu ihm.

Mit beiden Händen ergriff sie seine Rechte. »Ich soll Sie ganz herzlich von meinem Chef Julius Eichendorff grüßen, Sie kennen sich wohl.«

»Seit Jahren verbindet uns das Band der Freundschaft«, entgegnete Bietigheim erfreut.

»Ich soll Ihnen sagen –«, sie grinste, »also wirklich, das kommt von Julius! Ich soll Ihnen sagen, dass ich die beste Patissière bin, die er je hatte und je haben wird. Und …«, jetzt grinste sie noch breiter, »Sie sollen mich hart rannehmen.« Vanessa Hohenhausen lachte schallend. »Also nicht so, nicht was Sie jetzt meinen, sondern im Wettbewerb.«

»Selbstverständlich.«

»Aber ich sage Ihnen jetzt schon: Ich werde Sie umhauen! Also, meine Pralinen werden Sie umhauen. Damit überstehe ich die Vorrunde bestimmt, und dann bin ich die glücklichste Patissière auf der ganzen Welt.«

Die Weltmeisterschaft bestand aus Vorrunde, Halbfinale, Finale – und nach jeder Runde schieden Kandidaten aus. Nur vier kämpften schließlich um die Krone im härtesten Finale, das die Chocolatierwelt je gesehen hatte – das war Professor Dr.Dr.Adalbert Bietigheim seinem Ruf schließlich schuldig.

Die junge Ahrtalerin zog einen Beutel aus ihrer Tasche. »Das ist noch von Julius, selbst gebackene Hundekuchen für Benno. Keine Bestechung, sagt er! Benno sitzt ja nicht in der Jury.«

»Sagen Sie ihm bitte vielmals Dank – auch im Namen von Benno.«

Adalbert wollte seinem Foxterrier eine Kostprobe geben, doch mit einem Mal wurde er von einem rüpelhaften Polizeilakaien zur Vernehmung geführt.

Die Befragung war ebenso kurz wie unangenehm. Er und dieser schreckliche, unhöfliche, ungehobelte, müffelnde, unausstehliche Kommissar würden bestimmt keine Freunde mehr werden. Und eines war Bietigheim danach ebenfalls klar: Ein solcher Popanz von einem Polizisten würde niemals herausfinden, wer die Chocofee ermordet und damit Adalbert Bietigheims Weltmeisterschaft besudelt hatte. Der Mörder musste schnell ausgemacht werden, damit der Wettbewerb Ruhe fand. Und wenn die belgische Polizei nur solche labbrigen Fritten in ihrer Belegschaft hatte, dann musste er eben selbst ran. Schließlich hatte er Übung darin! Deswegen ging Adalbert nun entschlossenen Schrittes Richtung Steenstraat, wo sich die Pralinerie von Franky van der Elst befand – des Mannes, der die Leiche gefunden hatte.

Der Laden des schweinehaften Belgiers war keine der schicken modernen Schokoladenboutiquen, sondern einer der alten Art, der nur so platzte vor Süßigkeiten, Schokoladen und Pralinen, die in jeder Ecke neben- und übereinandergestapelt waren. Sexualität war dem Belgier nicht fremd und nackte Brüste etwas, das man sich hierzulande neben dem Meer und Fritten stets gerne anschaute. Warum also nicht auch Brüste aus Schokolade? Eben! Sowohl in ganz nackig als auch in Netz-BHs, die nur bis kurz unter die Brustwarzen gingen, hatte van der Elst sie im Angebot. Der Auswahl wegen. Und wo man schon mal dabei war: So ein Schokoladenpenis war doch auch nicht schlecht – vor allem wegen der Gleichberechtigung. Und da der Penis ein Körperteil war, aus dem praktischerweise etwas herauskam, das wie Zuckerguss aussah, durfte dies hier natürlich auch nicht fehlen. Der Authentizität halber. Und um die Sache komplett zu machen, mussten wohlgerundete Schokoladenhinterteile natürlich ebenfalls sein. In Vollmilch, Zartbitter und Weiß sowie in vielen Größen. Für jeden Geschmack etwas.

Das Schaufenster war voll mit dem sündigen Zeug. So viele Brüste sah man sonst selten auf einmal. Und nie in 100-Gramm-Packungen.

Bietigheim war froh, dass Bennos Blickwinkel ihn vor diesen zuckersüßen Obszönitäten bewahrte.

Er selbst schoss ein paar Fotos für sein nächstes Schokoladenseminar. Das glaubte ihm ja sonst keiner. Und erst recht nicht, dass van der Elst bei Weitem nicht der einzige Chocolatier Brügges war, der mit derlei Gussformen arbeitete.

Van der Elst stand hinter dem Tresen des vor Touristen überquellenden Ladens und verpackte gerade eine gigantische Schokoladentafel mit Meersalz in Cellophanfolie. Als er den Professor eintreten sah, übergab er diese Aufgabe umgehend einer seiner Mitarbeiterinnen.

»Herr Professor! Welche Ehre. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Pralinen, Penisse, Brüste?«

»Nein danke. Heute keine Pornoschokolade.«

Van der Elst war kein bisschen pikiert. »Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Was hatten Sie in der Skulpturenhalle zu suchen, in deren Chocolaterie die Tote lag?«

»Das habe ich der Polizei doch alles schon gesagt.«

»Und jetzt sagen Sie es mir noch einmal. Natürlich müssen Sie nicht mit mir sprechen, natürlich können Sie mich, den Vorsitzenden der Jury, den Mann also, der den Weltmeister krönt, einfach wie einen dummen Jungen stehen lassen.« Er blickte van der Elst ruhig an. Und lächelte.

Alle Augen in der Pralinerie waren nun auf sie gerichtet, und etliche Münder standen offen. Man hätte einen Schokopenis fallen hören können.

Van der Elst zwang sich ein Lächeln auf die feisten Wangen. »Lassen Sie uns nach hinten gehen. Bitte!«

»Wenn ich mich nicht täusche«, setzte Bietigheim in der Chocolaterie hinter den Verkaufsräumen wieder an, »gab es keinen Grund für Sie, in der Probeküche zu sein.«

»Ich hab die Bea gesucht.«

»Warum?«

»Ich wollte dem Mädchen vor der Pressekonferenz noch etwas sagen …«

Van der Elst strich ein paar Schokokrümel von der Marmorplatte im Zentrum des Raums.

»Was sagen? Herrgott noch mal, muss ich Ihnen denn alles aus der Nase ziehen?« Bietigheim wurde allmählich ungeduldig.

»Dass sie sich fernhalten sollte von diesem Typen, mit dem sie gestern auf der Party geflirtet hat, dass der kein Guter ist.«

»Wieso sind … waren Sie denn so besorgt um Beatrice Reekmans?«

»Wir kennen uns … kannten uns. Unsere Familien sind seit Generationen befreundet, beides alte Brügger Geschlechter, ihres hat seit langer Zeit mit dem Aalfang zu tun, im Kanal von Damme, und meine macht in Schokolade. Mein Großvater kam auf die Idee, dunkle Schokolade in Aalform zu gießen, und so lernte man sich kennen.«

»Das erklärt immer noch nicht, warum Sie Beatrice in der Chocolaterie gesucht haben! Es gab keinen Grund, warum sie gerade dort sein sollte.«

»Das sagen Sie nur, weil Sie die Bea nicht kennen … also kannten. Sie liebte die Schokoladenskulpturen, konnte sich gar nicht an ihnen sattsehen.«

»Im wahrsten Sinne des Wortes.«

Van der Elst lächelte gequält. »Genau, sie war oft in der Skulpturenhalle, immer schon, hatte ja bereits mehrere Jahre im Museum gejobbt, bevor sie zur Chocofee auserkoren wurde. Eigentlich ist sie damit ja nur das Gesicht einer Werbekampagne geworden, aber für sie war es wie eine Krönung. Als sie das damals erfuhr, ist sie auch in die Halle, hat sich auf einen Stuhl gesetzt und sich die Arbeiten von Fred de Vaele angeschaut. Das gab ihr irgendwie Ruhe. Na ja, und wo ich wegen der Pressekonferenz schon mal im Museum war, habe ich eben um die Ecke geguckt. Und sie gesehen … und das ist mir so auf den Magen … jetzt schon wieder …«

Hektisch öffnete er eine Dose mit Schokostreuseln und ließ sich den Großteil davon in den Mund rieseln.

»Sie kannten sich gut?«

»Seit sie ein Kind war. Es hat mich wahnsinnig gefreut, als sie Chocofee wurde. Aber das sollte ja nur eine Zwischenstation sein, sie war ja eigentlich Sängerin. War dieses Jahr Vierte bei ›Belgien sucht den Superstar‹ geworden und hatte einen Plattenvertrag bekommen. Sie wollte mit ihren 24Jahren durchstarten.« Van der Elsts Blick haftete auf dem dunkel gekachelten Boden. »Ihr Vater hoffte dagegen, dass sie das Aalgeschäft übernehmen würde.«

»Oder zumindest über Aale singt.«

»Wieso sollte sie über Aale singen? Ach so! Ja, natürlich. Aber über Aale singt man nicht.«

Van der Elst blickte auf die Uhr. »Ich muss los, gleich beginnt die Vorbereitungszeit. Eine Stunde, oder?«

Bietigheim nickte. »Und keine Minute mehr!«

»Können Sie mir vielleicht einen Tipp geben, zu welchem Wein wir morgen eine Praline kreieren müssen? So einen klitzekleinen Hinweis? Aus Versehen? Sie können sich auch eine Tafel Schokolade mitnehmen. Gerne auch mehr!« Er zwinkerte.

Bietigheim hatte noch nie ein Schweinchen zwinkern sehen.

»Noch ein Bestechungsversuch, und Sie fliegen raus!«

»Ist ja gar keine Bestechung, nur Verpflegung. Der Mensch lebt nicht von Luft allein.« Van der Elst band sich die Schürze ab und griff nach einem in der Ecke bereitstehenden Alukoffer, den er stolz tätschelte. »Hier ist alles drin, was ich morgen benötige. Zwei Stunden sind zwar knapp, um alles vorzubereiten, aber ich kriege das hin. Für Belgien!« Mit stolz in die Höhe gerecktem Kopf öffnete er die Hintertür. »Lassen Sie uns lieber hier rausgehen, drinnen ist so viel los.«

Bietigheim folgte ihm schweigend in die enge Hintergasse. Doch mit einer Frage musste er seinem Hauptverdächtigen noch auf den Zahn fühlen. »Haben Sie denn auch Ihrem jungen Kollegen nahegelegt, dass er die Finger von Beatrice Reekmans lassen sollte?«

»Na klar, gestern Abend noch«, gab van der Elst ohne Umschweife zu. »Aber meinen Sie, so ein Schnösel schert sich darum? Bei denen zu Hause ist es doch ganz normal, Frauen auf den Pelz zu rücken.«

»In Island?«

»Wieso Island? Frankreich!«

»Frankreich?«

»Na, Pierre hat sie doch abgeschleppt. Und diesem hochwohlgeborenen Herrn traue ich nicht weiter, als ich spucken kann.«

Van der Elst spuckte.

Er schaffte es gerade vor die Spitze seines Schuhs.

Die 47Glocken des Belfried spielten die Melodie zur Viertelstunde, als Bietigheim mit Benno und van der Elst den Grote Markt überquerte. Gestern in der Nacht noch leer, herrschte hier nun ein Gewusel wie in einem Ameisenhaufen. Rund um das 1887 im Gedenken an die Freiheitskämpfer Jan Breydel und Pieter de Coninck geschaffene Denkmal warteten Pferdekutschen auf Touristen mit zu viel Geld, vor den beiden Frittenbuden, die unzählige Saucen zur Auswahl boten, hatten sich lange Schlangen gebildet. Unaufhörlich klickten Fotoapparate und Handys, die Schönheit des Platzes in digitaler Form bannend. Dem Aussehen nach stammten die meisten Touristen aus Asien oder Schottland – viele stellten in Kilts ihre knubbeligen Knie zur Schau. Es gab wirklich Schöneres.

Und wenig Hässlicheres.

Die erste Runde der Weltmeisterschaft wurde im prächtigen, gotischen Saal des Rathauses ausgefochten. Geschmückt war dieser mit Wandmalereien aus dem 19.Jahrhundert, die den Eindruck vermittelten, als befände man sich mitten in einem historischen Bilderbuch. Sie schilderten die ruhmreiche Vergangenheit der alten Handelsstadt. Selbst mit Gold war gemalt worden, die Decken gingen hoch hinauf, ebenso die Fenster. Der Saal erzählte mit jedem Quadratzentimeter von Reichtum und Pracht.

Zehn Kochstellen waren darin aufgebaut worden, in zwei Reihen und mit exakt demselben Abstand zueinander. Die Chocolatiers durften ihren Arbeitsplatz erstmals in Augenschein nehmen, Herd und Ofen austesten und ihre Kochutensilien bereitlegen für die morgige erste Runde, doch beginnen durften sie noch nicht. Es hätte auch wenig Sinn gemacht, denn erst morgen wurde ihnen der Wein genannt – und jeweils eine Flasche übergeben –, zu dem sie eine Praline kreieren sollten. Ob es ein Weiß-, Rot- oder Roséwein sein würde, ein trockener oder süßer, nichts war im Vorfeld bekannt. Deshalb hatten sich die Chocolatiers mit Gewürzen, Obst, Nüssen und anderen Zutaten für alle denkbaren Kreationen eingedeckt.

Nur Edward Macallan nicht. Dieser Schotte stellte demonstrativ eine Zweiliterflasche mit Rinderblut auf die Arbeitsplatte und ließ einige Stücke Schweinespeck im Backofen trocknen. Er machte seinem Ruf alle Ehre.

Die Pressefotografen stürzten sich auf ihn.

Adalbert blickte sich um. Alle Kandidaten waren da – bis auf Jana Elisa da Costa, die schweigsame Schönheit aus Brasilien. Ihr Tisch war leer.

Der Professor behielt Jón Gnarr und Pierre Cloizel genau im Blick. Ob sich noch eine Gelegenheit ergab, mit ihnen über ihre Beziehung zu Beatrice Reekmans zu sprechen? Er hoffte es sehr.

»Ist das Ihr Foxterrier, Herr Professor?«, war plötzlich Macallans Stimme zu hören. »Er bewegt sich keinen Zentimeter von meinem Backofen weg.«

Adalbert wandte sich um. »Weil er ein kluger Hund ist und in dem Backofen Speck. Aber keine Sorge, er ist, soweit ich Kenntnis habe, nicht in der Lage, die Tür zu öffnen. Doch er lernt schnell.«

Bietigheim trat sicherheitshalber zum Backofen und hob den empört strampelnden Benno empor – es war wohl an der Zeit zu gehen. Hier wurde er momentan ohnehin nicht benötigt, die Atmosphäre war angespannt, die Kandidaten beäugten sich wie Gladiatoren vor einem Kampf, und er würde erst morgen beurteilen, wie der Arbeitsplatz und das Mise en Place, also die Vorbereitung und Anordnung der Zutaten, gelungen war. Gnarr und Cloizel würden ihm nicht weglaufen – und hier vor aller Augen würden sie sowieso nicht mit ihm sprechen.

Um den immer noch zappelnden Benno zu beruhigen, verabreichte er ihm einen der Eichendorff’schen Hundekuchen – er wirkte sofort. Benno war mit einem Mal zahm wie ein Lämmchen. Er ging sogar ohne Leine brav bei Fuß.

Was steckte bloß für ein Kraut in dem Canidengebäck?

Baldrian, Engelskraut oder Haschisch?

Eigentlich war es ihm völlig egal. Der neue, bekekste Benno passte wunderbar zu ihm.

Die Gänge des Rathauses waren dunkel und leer, denn alle Mitarbeiter hatten längst Feierabend. Nur der Saal mit den Chocolatiers war belebt, Publikum heute jedoch noch nicht zugelassen.

Als Bietigheim um eine Ecke bog, sah er Jana Elisa da Costa auf sich zukommen, doch sie war nicht allein.

Hinter ihr schlich ein Mann, der nicht nach Brügge passte, ja nicht einmal nach Europa und ganz sicher nicht in diese Zeit.

Er trug einen hauchdünnen, eng anliegenden schwarzen Ganzkörperoverall, der alles bedeckte, sogar sein Gesicht. Darüber einen Lendenschurz und ein Jaguarfell um seine Schultern, das am Hals zusammengebunden war. Ein aufgerissener Jaguarschädel zierte seinen Kopf. Es wirkte, als blicke einem das vermummte Gesicht des Mannes aus dem Rachen des Raubtiers entgegen.

Als er den Professor erblickte, hob er blitzschnell den rechten Arm, in dem er eine Art Schlagstock von der Breite eines Paddels hielt, holte aus – und versetzte der dunkelhaarigen Brasilianerin einen kräftigen Schlag auf den Kopf.

Jana Elisa da Costa ging sofort zu Boden.

Dann rannte der Verkleidete davon.

Adalbert stürzte zu der bewusstlosen Frau und fühlte ihre Halsschlagader.

Sie hatte noch einen Puls.

Die Schritte des Angreifers hallten in dem langen Gang nach, während Adalbert die junge Patissière zu einer nahe stehenden Sitzbank trug.

Es kam selten vor, dass er sich wünschte, eines dieser tragbaren Telefone zu besitzen – doch dies war ein solcher Moment.

Und es war ein Moment – der erste in seinem Leben –, in dem ihm ein Mann mit Jaguarschädel nicht aus dem Kopf ging.

KAPITEL 2

Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen …

… irgendwer schnappt dir immer das Beste weg.

Ohne es zu merken, schmierte sich Adalbert fünfmal hintereinander Lavendelhonig auf sein Brot und streichelte Benno weiter, nachdem dieser seinen Kopf längst weggezogen hatte und nur noch ein Kissen neben ihm lag. Denn der Professor studierte die vor ihm neben dem Teller liegende Zeitung, welche zwar über Beatrice Reekmans’ Tod berichtete, jedoch kein Wort zu den genauen Umständen verlor. Es war nur die Rede von einem »nicht natürlichen Tod«. Hauptkommissar Pieter Aspe hielt den Deckel fest drauf. Kein Wort über den Angriff des Kostümierten auf Jana Elisa da Costa – obwohl es nicht weit hergeholt schien, einen Zusammenhang mit dem Mord herzustellen. Der Brasilianerin ging es wieder besser, die Bewusstlosigkeit war nur von kurzer Dauer gewesen. Über Nacht hatte man sie zur Beobachtung im Krankenhaus behalten, doch rechtzeitig zum Wettbewerb würde sie wieder entlassen werden.

Unruhe ergoss sich über Adalbert wie zähflüssige Schokolade. Irgendetwas stimmte nicht. Dabei strahlte die Sonne wärmend durch das alte Bleiglasfenster herein, das Frühstück war exzellent, und sogar der Scottish Breakfast Tea war korrekt zubereitet.

Und doch.

Nur wenige andere Gäste saßen im Frühstücksraum des »Relais Bourgondisch Cruyce« – und keiner blickte zu ihm. Drei Gäste waren hinter der heutigen Ausgabe des »De Standaard« versteckt. Keiner der Chocolatiers konnte darunter sein, da diese in einem separaten Hotel am Rande Brügges untergebracht waren. Es galt, allzu große Nähe zwischen Jury und Wettbewerbern zu vermeiden.

Selbst Benno benahm sich und knabberte nicht die Schuhe, Taschen oder Hunde anderer Gäste an.

Apropos Benno: Wo steckte er eigentlich? Eben war er doch noch … und jetzt: nirgendwo zu sehen. Vielleicht würden gleich Schreie aus der Küche erklingen und ein Ober mit einem Foxterrier am Arm heraussprinten.

Adalbert schüttelte den Kopf, vertrieb den Gedanken damit und ließ die morgendliche Gelassenheit des alten Brügge wieder den Takt vorgeben.

Doch dann verdunkelte sich die Welt.

Ein Schatten fiel über sie, als wäre ein Ufo von der Größe New Yorks über der Stadt aufgetaucht.

»Moin!« Es schallte durch den Raum wie ein Paukenschlag.

»Moin«, erwiderte Bietigheim reflexartig, als Hamburger Jung ging es einfach nicht anders.

Dann gewöhnten sich seine Augen an den verminderten Lichteinfall. Er kannte den Verdunkler, sehr gut sogar. Es war ein Mann, den man nicht vergaß, wenn man ihn einmal erblickt hatte. Ungefähr so, wie man den Eiffelturm nicht vergaß, wenn man ihn einmal gesehen hatte. Oder passender: eine Massenkarambolage auf der A1. Der Mann wirkte wie ein ausgewachsener Gorilla, den man komplett rasiert, in schwarzes Leder mit Nieten gewickelt und mit einem schlohweißen Bart versehen hatte. Sein Name: Pit Kossitzke. Eigentlich war er Hamburger Taxifahrer, doch die Liebe hatte ihn nach Cambridge verschlagen, wo er nun – Adalberts Hirnwindungen knirschten immer noch, wenn er versuchte, sich dies vorzustellen – mit seiner Freundin ein Teehaus leitete. Ein Steakhouse wäre naheliegender gewesen.

Doch nun war er offenbar weder in Hamburg noch in England, sondern hier in Brügge. Stand genau vor ihm.

»Das ist ja ein unfassbarer Zufall!«, sagte Pit grinsend. »Kann ich mich zu Ihnen setzen, Professore? Zwei Hamburger im Exil, da müssen wir doch zusammenrücken.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, holte er seinen Teller vom anderen Ende des Raumes und machte sich gegenüber von Adalbert an dessen Tisch breit. Erst dabei fiel diesem auf, dass Pit seinen geliebten Benno unter dem Arm trug – welcher gerade auf irgendetwas herumkaute. Ja, er hatte die Backen prall gefüllt. So hatte Pit den Foxterrier also zu sich gelockt!

»Erzählen Sie mir doch nicht, Sie seien zufällig hier und hätten mich zufällig getroffen!«, empörte sich Bietigheim. »Es geht um den Mord, Sie haben wegen unserer Ermittlungserfolge so viel Spaß daran gefunden, dass Sie nicht mehr davon lassen können!«

Ende der Leseprobe