Die letzte Rechnung - Peter Robinson - E-Book
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Die letzte Rechnung E-Book

Peter Robinson

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Beschreibung

Eine eiskalte Exekution – ein rätselhaftes Opfer … Es ist ein lauer Abend im Mai, als zwei vermummte Männer das idyllische Farmhaus der Familie Rothwell überfallen und den Familienpatriarchen mit einer Schrotflinte hinrichten. Als Inspector Alan Banks herausfinden will, warum ein augenscheinlich harmloser Steuerberater dieser grausamen Exekution zum Opfer fiel, muss er tief in dessen Vergangenheit eintauchen, die dunkle Schatten und schmutzige Geschäfte birgt. Als sich dann auch noch der skrupellose Richard Burgess von Scotland Yard einschaltet, steht plötzlich Banks Karriere auf dem Spiel – doch sein Sinn für Gerechtigkeit führt ihn weiter den Mördern entgegen … »Ein erstklassiger Krimi, der bis zur letzten Seite für Überraschungen und Spannung sorgt.« Bestsellerautorin Val McDermid Ein weiterer Fall für Inspector Banks – alle Bände der »Yorkshire-Morde«-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 508

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Es ist ein lauer Abend im Mai, als zwei vermummte Männer das idyllische Farmhaus der Familie Rothwell überfallen und den Familienpatriarchen mit einer Schrotflinte hinrichten. Als Inspector Alan Banks herausfinden will, warum ein augenscheinlich harmloser Steuerberater dieser grausamen Exekution zum Opfer fiel, muss er tief in dessen Vergangenheit eintauchen, die dunkle Schatten und schmutzige Geschäfte birgt. Als sich dann auch noch der skrupellose Richard Burgess von Scotland Yard einschaltet, steht plötzlich Banks Karriere auf dem Spiel – doch sein Sinn für Gerechtigkeit führt ihn weiter den Mördern entgegen …

Über den Autor:

Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.

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eBook-Neuausgabe April 2025

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1994 unter dem Originaltitel »Final Account« bei Penguin Books Canada Ltd, Toronto.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1994 by Peter Robinson

Published by Arrangement with Peter Robinson

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-622-8

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Peter Robinson

Die letzte Rechnung

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Andree Hesse

dotbooks.

Widmung

Motto

TEIL EINS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

TEIL ZWEI

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

TEIL DREI

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL VIER

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

TEIL FÜNF

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

TEIL SECHS

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

TEIL SIEBEN

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

TEIL ACHT

Kapitel 24

Kapitel 25

TEIL NEUN

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

TEIL ZEHN

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

TEIL ELF

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

TEIL ZWÖLF

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

TEIL DREIZEHN

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

TEIL VIERZEHN

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

TEIL FÜNFZEHN

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

TEIL SECHZEHN

Kapitel 49

Kapitel 50

TEIL SIEBZEHN

Kapitel 51

Kapitel 52

DANKSAGUNG

Lesetipps

Widmung

Für Sheila

Motto

Dry bones that dream are bitter.

They dream and darken our sun.

W. B. YEATS

The Dreaming of the Bones

TEIL EINS

Kapitel 1

Um dreizehn Minuten vor drei Uhr am Morgen hob der uniformierte Constable das Absperrband und winkte Chief Inspector Alan Banks durch.

Als Banks auf den holperigen Hof fuhr und anhielt, tanzten seine Scheinwerfer über die Szenerie. Links von ihm stand das gedrungene, massive Wohnhaus mit Mauern aus dickem Kalkstein und einem bemoosten Schindeldach. Sowohl in den Fenstern im Erdgeschoss als auch im zweiten Stock brannte Licht. Zu seiner Rechten bildete eine hohe Steinmauer die Grenze eines Wäldchens, das sich den Hang hinauf ausbreitete, wo sich die Bäume in der Finsternis verloren. Genau vor ihm stand die Scheune.

Vor den geöffneten Toren, hinter denen sich ein Lichtkegel zu bewegen schien, hatte sich eine Gruppe Beamter versammelt. Sie sahen aus wie die Mitwirkenden eines Science-Fiction-Films der fünfziger Jahre, die voller Ehrfurcht auf ein außerirdisches Raumschiff oder ein Wesen von einem anderen Stern starrten.

Als Banks sich näherte, traten sie schweigend beiseite, um ihn durchzulassen. Beim Eintreten in die Scheune bemerkte er einen jungen Constable, der gegen die Außenmauer lehnte und sich auf seine großen Schuhe übergab. Drinnen sah es aus wie auf einem Filmset.

Peter Darby, der Polizeifotograf, war mit Videoaufnahmen beschäftigt; die auf seiner Kamera angebrachte Lichtquelle erzeugte beim Umherstreifen durch das Innere der Scheune ein unheimliches Licht-und-Schatten-Spiel und leuchtete unvermittelt grässliche Details aus. Jetzt müsste nur noch jemand »Action!« brüllen, dachte Banks, dann würde sich der Ort plötzlich mit Leben erfüllen.

Aber keine Brüllerei der Welt hätte wieder Leben in die groteske Gestalt am Boden hauchen können, neben der ein milchgesichtiger junger Polizeimediziner namens Dr. Burns mit einem schwarzen Notizbuch in der Hand hockte.

Auf den ersten Blick erschien Banks die Körperhaltung der Leiche wie die Parodie eines betenden Moslems: Der kniende Mann lag mit dem Oberkörper vornüber gebeugt da, seine Arme waren nach vorn ausgestreckt, der Hintern ragte in die Luft, während die Stirn den Boden berührte und vielleicht gen Mekka zeigte. Seine auf dem staubigen Untergrund ruhenden Hände waren zu Fäusten geballt, und als sie in den Strahl von Darbys Scheinwerfer gerieten, fiel Banks ein goldener Manschettenknopf auf, der mit den Initialen »KAR« verziert war.

Tatsächlich aber war keine Stirn mehr vorhanden, die den Boden berühren konnte. Über dem schwarzen Jackett stand wenige Zentimeter hoch der blutgetränkte Kragen des Hemdes hervor, danach folgte nur noch eine dunkle, geronnene Masse aus Knochen und Gewebe, die sich wie eine Ölspur im Dreck ausgebreitet hatte. Allem Anschein nach eine Schusswunde. Wie abstrakte, expressionistische Muster prangten Flecken aus Blut, Knochen und Gehirnmasse an den weiß getünchten Mauern. Neben einer verrosteten Hacke fing Darbys umherschweifendes Licht etwas ein, das wie ein Teil des Schädelknochens aussah, aus dem ein Büschel blondes Haar spross.

Banks spürte, wie ihm die Galle hochkam. Er konnte noch das an Lagerfeuernächte der Kindheit erinnernde Schießpulver riechen, das sich mit dem Gestank von Urin und Kot und dem Geruch nach ranzigem, rohem Fleisch vermischte, der dem plötzlichen, gewaltsamen Tod eigen ist.

»Um wie viel Uhr kam der Anruf rein?«, fragte er den Constable neben ihm.

»Acht Minuten nach halb zwei, Sir. Constable Carstairs aus Relton war als Erster am Tatort. Er ist noch draußen am Kotzen.«

Banks nickte. »Wissen wir, wer das Opfer ist?«

»Detective Constable Gay hat seine Brieftasche überprüft, Sir. Sein Name ist Keith Rothwell. Und das ist auch der Name des Mannes, der hier wohnt.« Er zeigte hinüber zum Haus. »Arkbeck Farm heißt das Anwesen.«

»Ein Bauer?«

»Nee, Sir, Steuerberater. Auf jeden Fall irgendein Geschäftsmann.«

Einer der Constables fand einen Lichtschalter und machte die nackte Glühbirne an, deren Licht nun zu einer Art Grundierung für den helleren Spot von Peter Darbys Videokamera wurde. Da es schwer war, damit eine gute Qualität zu erhalten, arbeiteten die meisten Reviere nicht mit Video, doch Peter Darby war ein Technikfreak, der ständig neue Dinge ausprobierte.

Banks widmete sich wieder dem Tatort. Anscheinend hatte es sich bei dem Gemäuer einst um eine große, für Yorkshire typische Steinscheune mit Flügeltüren und einem Heuboden gehandelt, die man in dieser Gegend »field house« nannte. Ursprünglich hatte sie wohl dazu gedient, Futter zu lagern und zwischen November und Mai die Kühe unterzubringen; Rothwell schien sie jedoch in eine Garage verwandelt zu haben.

Rechts von Banks war ein silbergrauer BMW geparkt, der, etwas schräg stehend, ungefähr die Hälfte des Platzes in Anspruch nahm. In einer Reihe Metallregale vor der Mauer am anderen Ende, hinter dem Wagen, befanden sich Werkzeuge und allerlei Mittel zur Autopflege: Frostschutz, Wachspolitur, ölige Lappen, Schraubenzieher und Schraubenschlüssel. In der anderen Hälfte der Garage hatte Rothwell das ländliche Erscheinungsbild bewahrt. Er hatte sogar alte landwirtschaftliche Geräte an die weiß getünchte Steinmauer gehängt, unter anderem eine Mistgabel, eine Sense, eine Schaufel und einen Spaten, die alle, wie es sich gehörte, verrostet waren.

Während Banks dort stand, versuchte er sich auszumalen, was passiert sein mochte. Offenbar hatte das Opfer gekniet und vielleicht um sein Leben gebeten oder gefleht. Es sah jedenfalls nicht so aus, als hätte der Mann versucht zu fliehen. Warum hatte er so einfach aufgegeben? Wahrscheinlich hatte er keine Wahl, dachte Banks. Wenn man sich dem Lauf einer Waffe gegenübersieht, widersetzt man sich für gewöhnlich nicht. Und dennoch ... würde sich ein normaler Mann einfach niederknien, sich seinem Schicksal ergeben und darauf warten, dass sein Henker den Abzug drückt?

Banks drehte sich um und verließ die Scheune. Draußen traf er auf Detective Sergeant Philip Richmond und Detective Constable Susan Gay, die gerade um das Gebäude herumkamen.

»Nichts, Sir, soweit ich das beurteilen kann«, sagte Richmond; er hatte eine große Taschenlampe in der Hand. Neben ihm wirkte Susan im Lichtschein, der aus dem Scheunentor drang, sehr blass im Gesicht.

»Alles in Ordnung?«, fragte Banks sie.

»Jetzt geht es wieder, Sir. Ich habe mich nur übergeben.« Richmond sah so aus wie immer. Für seine Seelenruhe war er in der ganzen Gegend berühmt; manchmal fragte sich Banks, ob der Kerl überhaupt jemals irgendwelche Gefühle hatte oder ob er mittlerweile schon zu einem dieser Computer geworden war, mit denen er sich die ganze Zeit beschäftigte.

»Weiß irgendjemand, was passiert ist?«, fragte Banks.

»Constable Carstairs hat kurz mit der Frau des Opfers gesprochen, als er hier eintraf«, sagte Susan. »Sie konnte ihm nur erzählen, dass ein paar Männer gewartet hatten, als sie nach Hause kamen, die ihren Mann mit nach draußen nahmen und erschossen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Dann ist sie hysterisch geworden. Ich glaube, sie hat jetzt ein Beruhigungsmittel bekommen, Sir. Aber ich habe seine Brieftasche aus der Jacke gezogen«, fuhr sie fort und hielt einen Plastikbeutel hoch. »Demnach lautet sein Name ...«

»Ja, ich weiß«, unterbrach Banks sie. »Hat schon jemand Beweismaterial eingesammelt?«

»Nein, Sir«, antwortete Susan, und dann schauten sie und Phil Richmond weg. Das Sammeln des Beweismaterials war eine der unbeliebtesten Aufgaben bei einer Ermittlung. Es bedeutete, jedes mögliche Beweisstück aufzuspüren und einen lückenlosen Bericht darüber anzufertigen. Normalerweise wurde dieser Job demjenigen aufgehalst, der gerade in Ungnade gefallen war.

»Dann setzen Sie Farnley an die Sache«, bestimmte Banks. Constable Farnley war zwar niemandem auf die Füße getreten und hatte auch keinen Mist gebaut, aber es mangelte ihm an Fantasie und auf dem Revier stand er gemeinhin im Rufe des Langweilers vom Dienst.

Sichtlich erleichtert, marschierten Richmond und Susan zum Spurensicherungsteam, das gerade in einem großen Transporter auf den Hof gefahren war. Als sich die Männer in ihren weißen Overalls aus dem Wagen zwängten, sahen sie aus wie eine Gruppe von Wissenschaftlern, die von der Regierung losgeschickt worden war, den Landeplatz eines Ufos unter die Lupe zu nehmen.

Die Nacht war kalt und ruhig, die Luft feucht und mit einem leichten Jauchegeruch versetzt. Trotz des Schocks durch das, was er gerade in der Garage gesehen hatte, fühlte sich Banks immer noch schläfrig. Vielleicht träumte er nur. Nein. Er dachte an Sandra, die zu Hause im warmen Bett lag, und seufzte.

Detective Superintendent Gristhorpes Ankunft gegen halb vier Uhr verscheuchte seine Träumereien. Gristhorpe humpelte von seinem Wagen herüber. Er trug eine alte, gefütterte Jacke über seinem Hemd, und allem Anschein nach hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren oder seinen wilden grauen Haarschopf zu kämmen.

»Verdammt und zugenäht, Alan«, sagte er zur Begrüßung, »du siehst aus wie Inspector Columbo.«

Das schlägt dem Fass doch den Boden aus, dachte Banks. Aber der Superintendent hatte Recht. Er hatte nur schnell einen alten Trenchcoat übergeworfen, weil er wusste, dass die Nacht kühl werden würde.

Nachdem Banks berichtet hatte, was er bisher herausgefunden hatte, warf Gristhorpe einen kurzen Blick in die Scheune, befragte Constable Carstairs, den Beamten, der als Erster am Tatort gewesen war, und gesellte sich dann wieder zu Banks, wobei sein für gewöhnlich rötliches, pockennarbiges Gesicht nun ein wenig blasser war als sonst. »Gehen wir ins Haus, ja, Alan?«, sagte er. »Ich habe gehört, Constable Weaver setzt einen Tee auf. Vielleicht kann er uns mit ein bisschen Hintergrundwissen versorgen.«

Sie gingen über den ungepflasterten Hof. Über ihnen schienen die Sterne kalt und leuchtend wie Eissplitter auf schwarzem Samt.

Im Inneren des Bauernhauses war es mollig warm, eine angenehme Abwechslung zu der kalten Nacht und dem schaurigen Tatort in der Scheune. Das Haus war so renoviert worden, wie sich Yuppies eine ursprüngliche, ländliche Einrichtung vorstellen: freigelegte Balken und rohe Steinmauern in einem offenen, sich über beide Stockwerke erstreckenden Wohnzimmer, das ganz und gar in erdigen Braun- und Grüntönen gehalten war. In einem Steinkamin glimmten die Reste eines Holzfeuers, daneben stand ein Paar antiker Ständer für Holzscheite und ein dazu passendes Gestell, an dem Schürhaken und Zange hingen.

Vor dem Kamin bemerkte Banks zwei sich gegenüberstehende Lehnstühle. Einer von ihnen war umgefallen oder umgestoßen worden. Neben beiden lagen Seilrollen. Der Sitz des einen Stuhles sah nass aus.

Banks und Gristhorpe gingen weiter in die ultramoderne Küche, die aussah, wie einer grellen Broschüre entnommen und in der Constable Weaver gerade kochendes Wasser in eine große rote Teekanne goss.

»Fast fertig, Sir«, sagte er, als er die Beamten der Kriminalpolizei sah. »Ich lasse ihn nur noch ein paar Minuten ziehen.«

Die Küche war mit hellen, rot und weiß gemusterten Kacheln gefliest, und jeder verfügbare Quadratzentimeter war passgenau mit Mikrowelle, Ofen, Kühlschrank, Geschirrspülmaschine sowie Schränken ausgefüllt worden. Außerdem gab es in der Mitte ein freistehendes Tischelement, das mit hohen Barhockern aus Kiefer flankiert war. Banks und Gristhorpe nahmen Platz.

»Wie geht es seiner Frau?«, wollte Gristhorpe wissen.

»Seine Frau und die Tochter sind im Haus, Sir«, sagte Weaver. »Der Doktor hat sich um sie gekümmert. Beide sind unverletzt, aber sie haben einen Schock erlitten. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sie die Leiche gefunden haben. Sie sind oben mit Constable Smithies. Anscheinend gibt es noch einen Sohn, der sich gerade irgendwo in Amerika herumtreibt. «

»Wer war dieser Rothwell?«, fragte Banks. »Es dürfte ihm nicht gerade an Kohle gefehlt haben. Wird irgendetwas vermisst?«

»Wissen wir noch nicht, Sir«, antwortete Weaver. Er schaute sich in der makellosen Küche um. »Aber ich verstehe, was Sie meinen. Ich glaube, er war so eine Art Finanzgenie. Diese neumodischen Küchen sind nicht billig, das kann ich Ihnen versichern. Meine Frau hat die Angewohnheit, die Werbebeilage der Mail on Sunday immer bei dem einen oder anderen Modell aufgeschlagen liegen zu lassen. Das ist ihr ganz dezenter Wink mit dem Zaunpfahl. Bei den Preisen kriege ich jedes Mal eine Gänsehaut. Ich sage ihr immer, dass unsere Küche vollkommen ausreicht, aber sie ...«

Während er redete, begann Weaver den Tee in die Tassen und Becher zu schenken, die er aufgestellt hatte. Nachdem er den zweiten gefüllt hatte, hielt er jedoch plötzlich inne und starrte zur Tür. Banks und Gristhorpe folgten seinem Blick und sahen dort ein junges Mädchen stehen, deren zierliche Figur von den Türpfosten eingerahmt war. Sie rieb sich die Augen und streckte sich.

»Hallo«, sagte sie. »Sind Sie die Detektives? Ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Ich heiße Alison Rothwell, jemand hat gerade meinen Vater getötet.«

Kapitel 2

Sie war ungefähr fünfzehn Jahre alt, schätzte Banks, machte aber im Gegensatz zu vielen anderen Teenagern keinerlei Versuche, älter zu erscheinen. Sie trug ein ausgeleiertes graues Sweatshirt mit dem Emblem eines amerikanischen Footballteams und eine blaue Trainingshose mit einem weißen Streifen auf beiden Seiten. Abgesehen von den wie blaue Flecken aussehenden Tränensäcken unter ihren hellblauen Augen, war ihr Gesicht blass. Ihr dünnes blondes Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel in ungekämmten Strähnen auf ihre Schultern. Ihr Mund mit seinen blutleeren, schmalen Lippen war zu klein für ihr ovales Gesicht.

»Könnte ich bitte einen Tee haben?«, fragte sie. Banks bemerkte, dass sie leicht lispelte.

Constable Weaver wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. »Nur zu«, sagte Gristhorpe. »Geben Sie dem Mädchen einen Tee.« Dann wandte er sich an Alison Rothwell. »Glauben Sie nicht, dass Sie besser oben bei Ihrer Mutter bleiben sollten?«

Alison schüttelte den Kopf. »Mama kommt schon klar. Im Moment schläft sie, außerdem ist eine Polizistin bei ihr. Ich kann nicht schlafen. Mir geht die ganze Zeit durch den Kopf, was passiert ist. Ich möchte es Ihnen am liebsten gleich erzählen. Darf ich?«

»Selbstverständlich.« Gristhorpe bat Constable Weaver, Notizen zu machen. Er stellte Banks und sich selbst vor und zog dann einen Hocker für sie heran. Alison schenkte ihm ein trauriges, schüchternes Lächeln, nahm Platz und hielt den Teebecher mit beiden Händen vor ihre Brust, als bräuchte sie dringend seine Wärme. Gristhorpe gab Banks unauffällig zu verstehen, dass er die Befragung übernehmen sollte.

»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie bereits so weit sind?«, fragte Banks als Erstes.

Alison nickte. »Ich glaube schon.«

»Würden Sie uns dann bitte erzählen, was passiert ist?«

Alison holte tief Luft. Ihr Blick konzentrierte sich auf etwas, das Banks nicht sehen konnte.

»Es war gerade dunkel geworden«, begann sie. »Ungefähr zehn Uhr, vielleicht viertel nach oder so. Ich habe gelesen. Da meinte ich ein Geräusch im Hof zu hören.«

»Was für ein Geräusch?«, wollte Banks wissen.

»Ich ... ich weiß es nicht. Es hörte sich einfach so an, als wäre jemand draußen. Ein dumpfer Laut, als wäre jemand irgendwo angestoßen oder als wäre irgendetwas runtergefallen.«

»Fahren Sie fort.«

Alison schmiegte ihren Becher noch näher an sich. »Zuerst dachte ich mir nichts dabei. Ich habe weitergelesen und dann hörte ich noch etwas, eine Art Kratzen, ungefähr zehn Minuten später.«

»Und was haben Sie dann getan?«, fragte Banks.

»Ich habe das Hoflicht angeschaltet und aus dem Fenster geschaut, aber ich konnte nichts sehen.«

»Hatten Sie den Fernseher oder Musik an?«

»Nein. Deswegen konnte ich die Geräusche draußen ja auch so deutlich hören. Normalerweise ist es völlig still und friedlich hier oben. Nachts hört man nur den Wind durch die Bäume rauschen, manchmal blökt ein Schaf, das sich verlaufen hat, oder oben im Moor schreit eine Schnepfe.«

»Hatten Sie Angst, so ganz allein?«

»Nein. Ich mag das. Selbst als ich die Geräusche gehört habe, dachte ich, es wird ein herumstreunender Hund sein oder ein Schaf oder so.«

»Wo waren Ihre Eltern zu der Zeit?«

»Sie waren ausgegangen. Es war ihr Hochzeitstag, der einundzwanzigste. Sie waren zum Essen in Eastvale.«

»Wollten Sie die beiden nicht begleiten?«

»Nein. Äh, ich meine, es war ihr Hochzeitstag, oder?« Sie zog die Nase kraus. »Außerdem mag ich schicke Restaurants nicht. Und italienisches Essen kann ich erst recht nicht ausstehen. Ich brauche ja auch keinen Babysitter mehr. Ich bin schließlich fast sechzehn. Und es war meine Entscheidung. Ich bleibe lieber zu Hause und lese. Das Alleinsein macht mir nichts aus.«

Banks hatte den Eindruck, dass die Eltern sie nicht eingeladen hatten. »Fahren Sie fort«, sagte er. »Nachdem Sie das Hoflicht angeschaltet hatten, was taten Sie dann?«

»Da ich draußen nichts sehen konnte, habe ich mich nicht weiter um die Sache gekümmert. Aber dann vernahm ich wieder ein Geräusch, als würde ein Stein auf eine Mauer treffen oder so. Mittlerweile hatte ich die Nase voll davon, ewig gestört zu werden, und beschloss, runterzugehen und nachzusehen.«

»Hatten Sie immer noch keine Angst?«

»Ein bisschen vielleicht, inzwischen. Aber ich war nicht wirklich beunruhigt. Ich dachte immer noch, dass es wahrscheinlich ein Tier oder so etwas wäre, vielleicht ein Fuchs. Die tauchen hier manchmal auf.«

»Und was passierte dann?«

»Ich habe die Eingangstür aufgemacht, und kaum bin ich einen Schritt rausgegangen, packte mich jemand und schleppte mich wieder rein und fesselte mich an den Stuhl. Dann stopften sie mir einen Lappen in den Mund und machten Klebeband darüber. Ich konnte nicht mehr richtig schlucken. Der Lappen war ganz trocken und schmeckte nach Salz und Öl.«

Banks fiel auf, dass ihre Fingerknöchel, die den Becher umschlossen, weiß geworden waren. »Wie viele waren es, Alison?«, fragte er.

»Zwei.«

»Können Sie sich erinnern, wie sie ausgesehen haben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie waren beide ganz in Schwarz gekleidet, nur dass der eine weiße Turnschuhe angehabt hat. Der andere trug eine Art Wildlederslipper, braune, glaube ich.«

»Ihre Gesichter konnten Sie nicht sehen?«

Alison klemmte ihre Füße hinter die Querstrebe des Hockers. »Nein, sie trugen beide schwarze Kapuzenmützen. Aber keine Wintermützen. Die Dinger, die die beiden aufhatten, waren aus Baumwolle oder einem anderen dünnen Material. Sie hatten kleine Schlitze für die Augen und einen Schlitz unter der Nase, damit sie Luft bekommen konnten.«

Banks bemerkte, dass sie blasser geworden war. »Geht es Ihnen gut, Alison?«, fragte er. »Wollen Sie jetzt lieber aufhören und sich ausruhen?«

Alison schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf. »Nein, mir geht es gut. Lassen Sie mich nur ...« Sie nippte an ihrem Tee und schien sich ein wenig zu entspannen.

»Wie groß waren die Männer?«, fragte Banks.

»Einer war ungefähr so groß wie Sie.« Sie schaute Banks an, der mit einem Meter zweiundsiebzig recht klein war für einen Polizisten – um genau zu sein, erreichte er gerade die vorgeschriebene Mindestgröße. »Aber er war dicker. Nicht richtig fett, aber auch nicht so, Sie wissen schon, drahtig ... wie Sie. Der andere war ein paar Zentimeter größer, vielleicht einsachtzig, und ziemlich dünn.«

»Sie machen das sehr gut, Alison«, sagte Banks. »Fällt Ihnen zu den beiden sonst noch etwas ein?«

»Nein, ich kann mich nicht erinnern.«

»Hat einer von ihnen gesprochen?«

»Als er mich zurück ins Haus geschleppt hat, sagte der Kleinere: ›Halt den Mund und tu, was wir sagen, dann geschieht dir nichts.‹«

»Haben Sie seinen Akzent erkannt?«

»Eigentlich nicht. Es klang normal. Ich meine, nicht fremd oder so.«

»Hier aus der Gegend?«

»Aus Yorkshire, ja. Aber nicht aus den Dales. Vielleicht aus Leeds oder so. Kennen Sie den Unterschied, diesen städtischen Einschlag?«

»Ja. Sie machen das ausgezeichnet. Was passierte dann?«

»Sie fesselten mich mit irgendeinem Seil an den Stuhl und setzten sich dann einfach hin und sahen fern. Zuerst liefen die Nachrichten und dann so ein fürchterlicher amerikanischer Film über einen Frauen aufschlitzenden Psychopathen. Das schien ihnen zu gefallen. Einer von den beiden lachte sich halb tot, als eine Frau umgebracht wurde, so als wäre das lustig.«

»Sie haben sie lachen gehört?«

»Nur den einen, den Größeren. Der andere sagte, er sollte die Klappe halten. Er klang so, als hätte er das Kommando.«

»Der Kleinere?«

»Ja.«

»Er hat nur gesagt: ›Halt den Mund‹?«

»Ja.«

»War an dem Lachen des größeren Mannes irgendetwas ungewöhnlich?«

»Ich ... ich ... ich kann mich nicht erinnern.« Mit dem Ärmel ihres Sweatshirts wischte Alison eine Träne aus ihrem Auge. »Es war einfach ein Lachen, mehr nicht.«

»Schon in Ordnung. Machen Sie sich keine Gedanken. Haben sie Ihnen auf irgendeine Art wehgetan?«

Alison errötete und schaute in ihren halb leeren Becher. »Als ich gefesselt war, kam der Kleinere zu mir und legte eine Hand auf meine Brust. Aber der andere brachte ihn dazu aufzuhören. Es war das einzige Mal, dass er etwas gesagt hat.«

»Wie hat er ihn dazu gebracht aufzuhören? Was hat er gemacht?«

»Er hat nur gesagt, das wäre nicht Teil der Abmachung.«

»Hat er genau diese Worte benutzt, Alison? Hat er gesagt, ›Das ist nicht Teil der Abmachung‹?«

»Ja, ich glaube. Ich meine, ich bin mir nicht vollkommen sicher, aber irgendetwas in der Art hat er gesagt. Dem Kleineren schien es nicht zu gefallen, dass der andere ihm sagte, was er zu tun hat, aber er hat mich danach in Ruhe gelassen. «

»Haben Sie irgendwelche Waffen gesehen?«, wollte Banks wissen.

»Ja. Ein Gewehr, so eins, wie die Bauern es haben, mit zwei Läufen. Eine Schrotflinte.«

»Wer hatte es?«

»Der kleinere Mann, der, der das Kommando hatte.«

»Haben Sie irgendwann einmal einen Wagen gehört?«

»Nein. Erst als Mama und Papa nach Hause kamen. Also, ich habe ab und zu Autos auf der Straße vorbeifahren hören, wissen Sie, die Straße, die nach Relton führt und über das Heidemoor ins nächste Tal geht. Aber ich habe niemanden gehört, der auf unsere Auffahrt gefahren ist oder sie verlassen hat.«

»Was passierte, als Ihre Eltern nach Hause kamen?«

Alison hielt inne und schwenkte den Tee auf dem Grund ihres Bechers, als versuchte sie, die Zukunft darin zu lesen.

»Es muss halb zwölf gewesen sein oder kurz danach. Die Männer warteten hinter der Tür, und während der Große Mama packte, hielt der andere sein Gewehr an Papas Hals. Ich habe versucht zu schreien und sie zu warnen, aber mit dem Lappen in meinem Mund ... Ich kriegte einfach keinen Ton heraus ...« Sie fuhr sich erneut mit ihrem Ärmel übers Auge und schniefte. Banks gab Weaver ein Zeichen; der Constable fand auf dem Fensterbrett eine Packung Papiertaschentücher und brachte sie herüber.

»Danke«, sagte Alison. »Es tut mir leid.«

»Sie müssen nicht weitermachen, wenn Sie nicht wollen«, sagte Banks. »Es hat Zeit bis morgen.«

»Nein. Ich habe ja angefangen. Ich will weitermachen. Außerdem gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Sie fesselten Mama genauso wie mich und wir saßen uns gegenüber. Dann gingen sie mit Papa nach draußen. Und dann hörten wir den Knall.«

»Wie viel Zeit verstrich zwischen dem Moment, als sie hinausgingen, und dem Schuss?«

Alison schüttelte abwesend den Kopf. Sie hielt den Becher ganz nah vor ihre Kehle. Die Ärmel ihres Sweatshirts waren hochgerutscht, Banks konnte die wunden, roten Striemen sehen, wo ihr das Seil ins Fleisch geschnitten hatte. »Ich weiß es nicht. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich kann mich nur daran erinnern, dass Mama und ich einfach dasaßen und uns anguckten, ohne zu wissen, was da vor sich ging. Ich weiß noch, dass ich einen Vogel schreien hörte. Keine Schnepfe. Keine Ahnung, was es war. Es kam mir wirklich wie eine Ewigkeit vor, die Zeit zog sich endlos in die Länge, und Mama und ich kriegten nun richtig Angst; es war grässlich, nur so dazusitzen und uns anzustarren, ohne zu wissen, was sich abspielte. Dann hörten wir die Explosion und ... und es war so, als würde alles zusammenbrechen.

In Mamas Augen sah ich etwas sterben, es war so, so ...« Alison ließ den Becher fallen, der über die Tischkante rollte, auslief und ohne in Stücke zu gehen auf den Boden knallte. Die Schluchzer schienen von ganz tief aus ihr herauszukommen, dann begann sie zu zittern und zu weinen.

Banks ging zu ihr und legte einen Arm um sie, und das Mädchen klammerte sich mit aller Kraft ihres Lebens an ihn und weinte an seiner Brust.

Kapitel 3

»Sieht aus wie sein Büro«, sagte Banks, als Gristhorpe das Licht in dem letzten Zimmer im oberen Stockwerk anschaltete.

Zwei große Schreibtische waren in L-Form aneinandergestellt. Auf dem einen standen ein Computer und ein Laserdrucker, auf einem kleinen Tisch daneben ein Faxgerät mit einem an der Vorderseite angebrachten Korb für die abgeschnittenen Blätter. Auf der Rückseite des Computertisches stand ein Schrank an der Wand. Die Fächer waren mit Diskettenschachteln und Softwarehandbüchern gefüllt, von denen die meisten von normalen Betriebssystemen sowie Textverarbeitungs- und Buchhaltungsprogrammen handelten.

Der andere Schreibtisch stand direkt vor dem Fenster, das einen Blick auf den Hof bot. Noch immer gingen dort unten die Beamten der Spurensicherung ihrer Arbeit nach und sammelten Proben von so gut wie allen Dingen, deren sie habhaft werden konnten, maßen Entfernungen, versuchten Abdrücke von Fußspuren zu bekommen und siebten die Erde. In der Scheune hatten ihre hellen Bogenlampen Darbys umherschweifenden Spot ersetzt.

An diesem Schreibtisch hatte Rothwell die handgeschriebene Korrespondenz erledigt und Telefonate geführt, vermutete Banks. Es gab einen Durchschlagblock, der neu aussah und deshalb leider keine praktischen Anhaltspunkte enthielt, ein Marmeladenglas voller Kugelschreiber und Bleistifte, einen leeren Notizblock, eine elektronische Rechenmaschine mit Druckfunktion sowie einen Terminkalender, aufgeschlagen auf der Seite des Mordtages, des 12. Mai.

Es gab lediglich zwei Eintragungen neben der 10-Uhr-Spalte: »Dr. Hunter« sowie »Reservierung bei Mario’s 20.30«. Darunter stand in Großbuchstaben quer über den gesamten Nachmittag »BLUMEN?«. Im Wohnzimmer hatte Banks eine Vase mit frischen Blumen bemerkt. Ein Geschenk zum Hochzeitstag? Traurig, wenn Gesten wie diese den Geber überlebten. Er dachte wieder an Sandra, und plötzlich wollte er unbedingt in ihrer Nähe sein, um die Distanz, die in letzter Zeit zwischen ihnen größer geworden war, zu überwinden, um sie zu halten und ihre Wärme zu spüren. Ihn schauderte.

»Alles in Ordnung, Alan?«, erkundigte sich Gristhorpe.

»Bestens.«

»Schau dir das mal an.« Gristhorpe zeigte auf zwei Aktenschränke aus Metall und die Arbeitsregale, welche die einzige undurchbrochene Wand des Zimmers vollständig einnahmen. »Sieht aus wie Geschäftsakten. Irgendjemand wird sie sichten müssen.« Er schaute zu dem Computer und verzog sein Gesicht. »Am besten schaut sich Phil diesen Ramsch morgen mal an«, sagte er. »Ich traue mir nicht zu, das verdammte Ding anzuschalten, aus Angst, ich könnte es in die Luft jagen.«

Banks grinste. Er kannte die Haltung des alten Maschinenstürmers Gristhorpe zu Computern. Banks selbst wusste ihren Wert zu schätzen. Natürlich besaß er nur die rudimentärsten Kenntnisse und schien nie irgendetwas richtig zu machen, aber Phil Richmond, »Phil, der Hacker«, wie man ihn auf dem Revier nannte, sollte dazu in der Lage sein, ihnen das eine oder andere über Rothwells System zu erzählen.

Da sie im Büro momentan keine weiteren interessanten Entdeckungen machten, verließen sie das Haus durch die nach Norden führende Hintertür und fanden sich mit Tau benetzten Hosensäumen im hinteren Garten wieder. Mittlerweile war es nach fünf Uhr, die Dämmerung nahte. Langsam ging im Osten die Sonne hinter einem am Horizont malvenfarbenen Wolkenschleier auf, der während der letzten Stunden aufgezogen war und den Rest des Himmels in einen leichten Dunst hüllte. Er ließ die Landschaft wie ein Aquarell wirken. Ein paar Vögel sangen und gelegentlich durchbrach das Geräusch eines Traktors die Stille. Die Luft roch feucht und frisch.

Sie standen tatsächlich in einem Garten und nicht nur auf einem Hinterhof. Irgendjemand – Rothwell? Seine Frau? – hatte in ordentlich gekennzeichneten Reihen Gemüse angepflanzt: Bohnen, Kohl, Salat. Außerdem gab es eine kleine Kräuterecke und ein Erdbeerfeld. Am anderen Ende, hinter einer Natursteinmauer, fiel das Land steil ab zu einem Bach, der sich den Hang hinunterwand, bis er bei Fortford in den Swain mündete.

Das Dorf Fortford, etwas mehr als einen Kilometer talwärts gelegen, erwachte gerade. Unterhalb der bis hier oben sichtbaren Fundamente des römischen Forts auf dem Hügel im Osten kauerten sich die Cottages mit ihren Schindeldächern um die Dorfwiese und die Kirche mit dem quadratischen Turm. Während sich die Bauern und die Ladenbesitzer für den kommenden Tag fertig machten, quoll aus den Schornsteinen einiger Häuser bereits Rauch. Die Menschen auf dem Land waren Frühaufsteher.

Im ersten Licht des Tages schimmerte die weiß getünchte Fassade des Rose and Crown in zartem Rosa. Auch in der Gaststätte war bestimmt schon jemand in der Küche, um Speck und Eier für die Gäste zuzubereiten, besonders für die Wanderer; die gerne früh loszogen. Bei dem Gedanken ans Essen knurrte Banks’ Magen. Er kannte Ian Falkland, den Wirt des Rose and Crown, und dachte, dass es keine schlechte Idee wäre, sich einmal mit ihm über Keith Rothwell zu unterhalten. Obwohl er wie Banks ein ausgewanderter Londoner war, kannte Ian die meisten Einheimischen, und in seinem Gewerbe schnappte er eine ganze Menge Klatsch auf.

Schließlich wandte sich Banks an Gristhorpe und beendete das Schweigen. »Die schienen eindeutig gewusst zu haben, was sie hier vorfanden, oder?«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Zufall war, dass sie das Mädchen alleine erwischt haben.«

»Du hast den gleichen Gedanken wie ich, nicht wahr, Alan?«, meinte Gristhorpe. »Eine Exekution. Ein Auftragsmord. Wie man es auch nennen will.«

Banks nickte. »Im Moment wüsste ich nicht, in welche Richtung man sonst denken sollte. Alles deutet darauf hin. Die Art und Weise, wie sie sich Zutritt verschafft und gewartet haben, die Körperhaltung der Leiche, die gesamte kaltschnäuzige, professionelle Vorgehensweise. Und auch die Aussage des einen, das Mädchen anzufassen wäre nicht Teil der Abmachung. Die Sache war geplant. Ja, ich glaube, es war eine Hinrichtung. Auf jeden Fall war es kein Raub und kein zufälliger Mord. Soweit wir das bisher beurteilen können, haben sie das Haus nicht durchsucht. Alles scheint an Ort und Stelle zu sein. Und selbst wenn es ein Raubüberfall war, dann hätten sie ihn nicht töten müssen, erst recht nicht auf diese Weise. Die Frage, die sich stellt, ist: Warum? Warum sollte jemand einen Steuerberater hinrichten?«

»Mmmh«, brummte Gristhorpe. »Vielleicht ein unzufriedener Klient? Jemand, den er beim Finanzamt verpfiffen hat?« Neben ihnen fühlte sich ein Kiebitz durch ihre Nähe zu seinem Nest am Boden bedrängt und versuchte sie mit seinem schrillen Piepsgesang zu verscheuchen. »Eine Sache, die wir rausfinden müssen, ist, wie ehrlich unser Mr. Rothwell als Steuerberater war«, fuhr Gristhorpe fort. »Aber wir sollten noch nicht zu viel spekulieren, Alan. Zum Beispiel wissen wir gar nicht, ob irgendetwas verschwunden ist. Wer weiß, vielleicht hatte Rothwell eine Million in Goldbarren in seiner Garage versteckt. Aber du hast Recht, es sieht wie eine Hinrichtung aus. Und das bedeutet, wir könnten es mit einer richtig großen Sache zu tun haben, groß genug, um dafür einen Mord in Auftrag zu geben.«

In diesem Augenblick kam einer der Beamten der Spurensicherung durch die Hintertür in den Garten.

»Sir?«

Gristhorpe wandte sich um. »Ja?«

»Wir haben etwas gefunden, Sir. In der Garage. Ich denke, Sie beide sollten besser kommen und es sich selbst anschauen.«

Kapitel 4

Sie folgten dem Beamten zurück in die hell erleuchtete Garage. Rothwells Leiche war zum Glück bereits ins Leichenschauhaus abtransportiert worden, wo Dr. Glendenning, der Pathologe der Zentrale, so schnell er konnte mit seiner Arbeit beginnen würde. Zwei Männer des Spurensicherungsteams standen neben dem Scheunentor. Der eine hielt etwas mit einer Pinzette und der andere schaute es sich genau an.

»Was ist das?«, wollte Banks wissen.

»Granulat, Füllmaterial, Sir. Von der Schrotflinte«, sagte der Beamte mit der Pinzette. »Man kann kommerziell erzeugte Patronen für Schrotflinten kaufen, Sir, man kann aber die Hülsen auch in Heimarbeit neu füllen. Eine Menge Bauern und Hobbyschützen machen das so. Spart Geld.«

»Und das hat der Kerl getan?«, fragte Banks.

»Sieht so aus, Sir.«

»Um Geld zu sparen? Typisch Yorkshire. Geizhälse wie die Schotten.«

»Hey, du frecher Mistkerl aus dem Süden«, sagte Gristhorpe und wandte sich dann an den Mann der Spurensicherung. »Fahren Sie fort.«

»Nun, Sir, ich weiß nicht, wie viel Sie von Schrotflinten verstehen, auf jeden Fall verwendet man Patronenhülsen und keine Kugeln.«

So viel wusste immerhin auch Banks, und er vermutete, dass sich Gristhorpe, Spross einer alteingesessenen Bauernfamilie, noch wesentlich besser mit solchen Dingen auskannte. Aber normalerweise hielten sie es für das Klügste, die Beamten der Spurensicherung ein bisschen angeben zu lassen.

»Wir hören«, sagte Gristhorpe.

Durch diese Worte ermutigt, fuhr der Beamte fort. »Die Patrone einer Schrotflinte besteht aus einem Zünder, einer Ladung Schießpulver, den Schrotkugeln und einer Füllung. Es gibt keine Kugel im eigentlichen Sinne und keine Rillen im Lauf; deshalb entstehen auch keine charakteristischen Markierungen auf der Patrone, die Aufschlüsse über die benutzte Waffe geben. Außer der Patronenhülse selbst natürlich, die den Abdruck der Abfeuerung und des Lademechanismus’ aufweist. Aber wir haben keine Hülse gefunden. Nur das hier.« Er hielt das Füllmaterial hoch. »Handelsübliche Füllung wird entweder aus Papier oder aus Plastik erzeugt und manchmal kann man dadurch den Hersteller der Patrone herausfinden. Aber dies hier ist keine Handelsware.«

»Was genau ist es dann?«, fragte Banks und streckte seine Hand aus.

Der Beamte reichte ihm die Pinzette. »Genau wissen wir das noch nicht«, antwortete er. »Aber es sieht aus wie ein Schnipsel aus einem Farbmagazin. Und glücklicherweise ist er in der Mitte nicht zu stark verbrannt, nur etwas verkohlt an den Rändern. Er ist ziemlich fest zusammengeknüllt, aber im Labor werden wir ihn auseinanderfalten und glätten. Dann können wir Ihnen vielleicht den Namen des Magazins, das Veröffentlichungsdatum und die Seitennummer angeben.«

»Und dann müssen wir nur noch die Liste der Abonnenten überprüfen«, ergänzte Banks, »und schon haben wir unseren Mörder. Träumen Sie weiter.«

Der Beamte der Spurensicherung lachte. »Wir können auch keine Wunder vollbringen, Sir.«

»Hat jemand ein Vergrößerungsglas da?«, fragte Banks in die Runde. »Und ich will keine blöden Witze von wegen Sherlock Holmes hören.«

Einer der Beamten reichte ihm eine dieser rechteckigen Lupen, die man zusammen mit der in winziger Schrift gedruckten, zweibändigen Ausgabe des Oxford English Dictionary erhält. Banks hielt das Füllmaterial hoch und begutachtete es durch das Glas.

Was er sah, war ein unregelmäßig geformter Schnipsel zusammengeknüllten Papiers, der an der breitesten Stelle nicht größer als drei Zentimeter war. Zuerst konnte er außer den verrußten Rändern des verknitterten Papiers nichts erkennen, doch es sah eindeutig so aus, als stammte es aus irgendeinem Magazin. Er schaute genauer hin, drehte den Schnipsel mal so und mal so, hielt ihn mal näher an das Glas und mal weiter weg, bis sich schließlich die abstrakten Formen zu etwas Erkennbarem fügten. »Verdammte Scheiße«, murmelte er und ließ langsam seinen Arm sinken.

»Was ist es denn, Alan?«, wollte Gristhorpe wissen.

Banks reichte ihm das Vergrößerungsglas. »Guck es dir lieber selbst an«, sagte er. »Du würdest mir nicht glauben.«

Banks trat zurück und beobachtete, wie Gristhorpe den Schnipsel eingehend untersuchte. Er wusste, dass es nur eine Frage von Sekunden sein würde, bis der Superintendent genau wie vorher Banks die Spitze einer rosafarbenen Zunge erkannte, die einen Tropfen Sperma von der Eichel eines erigierten Penis leckte.

TEIL ZWEI

Kapitel 5

Eine traditionelle Polizeiweisheit besagt, dass man sich, wenn ein Fall in den ersten vierundzwanzig Stunden keine Spuren hervorbringt, auf eine lange und mühselige Ermittlung einstellen muss. In der Praxis handelt es sich bei dieser Frist natürlich nicht immer um genau vierundzwanzig Stunden; es können dreiundzwanzig sein, neun, vierzehn oder sogar achtundvierzig. Und da liegt das Problem: Ab wann kann man mit bestem Gewissen ein bisschen ruhiger Weiterarbeiten? Die Antwort, so fiel Banks ein, als er um zehn Uhr am Morgen seine müden Knochen in den »Sitzungssaal« des Polizeireviers von Eastvale schleppte, lautet schlicht und ergreifend: nie.

Der Fall Suzy Lamplugh war ein gutes Beispiel. Er begann mit einer Vermisstenanzeige. Eines Tages, zur Mittagszeit, verließ eine junge Frau das Büro des Maklers in Fulham, wo sie beschäftigt war, und verschwand. Erst nach einem Jahr intensiver Ermittlungsarbeit, die mehr als sechshundert eidesstattliche Aussagen, Tausende von Befragungen, sechsundzwanzigtausend Karteikarten und wer weiß wie viele Arbeitsstunden zur Folge hatte, wurde die Untersuchung zurückgeschraubt. Suzy Lamplugh war nie gefunden worden, weder lebendig noch tot.

Kurz bevor Banks auf dem Revier ankam, hatte Superintendent Gristhorpe Phil Richmond zum Büroleiter ernannt und ihn gebeten, sozusagen die Schaltzentrale für den Fall Keith Rothwells aufzubauen, in der alle eingehenden Informationen sorgfältig registriert, untereinander in Beziehung gesetzt und gespeichert werden sollten. Zuerst dachte Gristhorpe daran, die Zentrale in Fortford oder Relton einzurichten, nahe am Tatort, aber dann entschied er, dass ihnen im Revier in Eastvale bessere Möglichkeiten zur Verfügung standen. Außerdem war Fortford nur ungefähr zehn Kilometer entfernt.

Richmond war zudem der Einzige von ihnen, der Übung im Gebrauch des Computerprogrammes HOLMES hatte, ein Ermittlungssystem der Kripozentrale mit einem effektvollen Namen. Ganz ohne Probleme arbeitete auch HOLMES nicht, besonders weil nicht alle Polizeikräfte des Landes das gleiche Computersystem verwendeten. Doch wenn in dem Fall nicht bald Entwicklungen eintraten, könnten sich Richmonds Fähigkeiten als nützlich erweisen.

Als erste Handlung am frühen Morgen hatte Gristhorpe eine Pressekonferenz abgehalten. Je eher Fotos von Keith Rothwell und Beschreibungen der Mörder, der Kapuzenmützen und anderer Details neben den Frühstückstellern der Bevölkerung lagen oder über die Fernsehbildschirme flimmerten, desto eher würden sie Informationen erhalten. Für die Morgenzeitungen kam die Nachricht zu spät, aber für die lokalen Radio- und Fernsehsender sowie die Yorkshire Evening Post würde es reichen. Morgen wäre die Meldung dann in allen überregionalen Tageszeitungen.

Natürlich hatte Gristhorpe kaum Einzelheiten zu dem Mord selbst weitergegeben. Anfänglich hatte es ihm sogar widerstrebt, Rothwells Namen zu veröffentlichen, denn schließlich hatte es noch keine offizielle Identifizierung gegeben und Rothwells Fingerabdrücke waren nicht aktenkundig, um verglichen werden zu können. Andererseits gab es wenig Zweifel daran, was vorgefallen war, und sie konnten kaum Alison oder ihre Mutter in die Leichenhalle schleppen, um die Überreste zu identifizieren.

Darüber hinaus hatte sich Gristhorpe mit dem Antiterrordezernat von Scotland Yard in Verbindung gesetzt. Aktionen der IRA waren Yorkshire alles andere als fremd. Die Bevölkerung erinnerte sich immer noch an 1974 und die M62-Bombe, mit der ein Eisenbahnwaggon, in dem britische Militärangehörige und ihre Familien saßen, in die Luft gejagt worden war; wobei es elf Tote und vierzehn Verletzte gegeben hatte. Nicht wenige behaupteten sogar, die Explosion bis in Leeds oder Bradford gehört zu haben. Und erst in jüngster Zeit waren zwei Polizisten bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolle auf der A1 von Mitgliedern der IRA erschossen worden.

Das Antiterrordezernat würde Gristhorpe sagen können, ob Rothwell irgendwelche Verbindungen gehabt hatte, so schwach sie auch sein mochten, die ihn zu einem Ziel gemacht haben könnten. Als Steuerberater hätte er zum Beispiel mit Geld für eine terroristische Vereinigung umgegangen sein können. Ferner würden dem Dezernat die kriminaltechnischen Ergebnisse und Einzelheiten der Vorgehensweise der Täter zugänglich gemacht werden, damit sie diese Information mit ihren Akten vergleichen konnten.

Während sich Gristhorpe um die Medien kümmerte und Richmond die Schaltzentrale einrichtete, hatten Banks und Susan zur Frühstückszeit eine Haus-zu-Haus-Befragung in Relton und Fortford durchgeführt, einschließlich eines Besuches im Rose and Crown und eines üppigen Frühstücks von Ian Falkland, um ein paar Informationen über Rothwell zu erhalten und zu erfahren, ob jemand in der Mordnacht etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hatte.

Gristhorpe, Richmond und Susan Gay waren bereits im Zimmer als Banks eintraf und sich einen großen Becher schwarzen Kaffee einschenkte. Das Konferenzzimmer hatte den Spitznamen »Sitzungssaal« wegen des gut polierten, schweren ovalen Tisches und der zehn harten Stühle erhalten, ganz zu schweigen von der groben burgunderroten Strukturtapete, die dem Raum eine Aura der Düsterkeit gab, sowie dem großformatigen Ölgemälde (in einem verzierten Goldrahmen) eines von Eastvales erfolgreichsten Wollhändlern des neunzehnten Jahrhunderts, der in seinem eng sitzenden Anzug und dem gestärkten Kragen ausgesprochen ernst und steif dreinschaute.

»Okay«, sagte Gristhorpe, »es wird Zeit, dass wir anfangen. Alan?«

Banks zog ein paar Blätter Papier aus seiner Aktentasche und rieb sich die Augen. »Viel haben wir leider noch nicht. Rothwell war als Steuerberater ausgebildet. Auf jeden Fall ist uns das bestätigt worden. Ein paar Einheimische aus Relton und Fortford kannten ihn, allerdings nicht gut. Anscheinend war er eher ein ruhiger Typ. Zurückgezogen.«

»Für wen hat er gearbeitet?«

»Er war selbständig. Das hat uns Ian Falkland erzählt, der Wirt des Rose and Crown in Fortford. Er sagte, Rothwell hätte ab und zu mal auf ein schnelles Glas vor dem Abendessen vorbeigeschaut. Hat nie mehr als ein paar kleine Biere getrunken. Ein sympathischer, ziemlich anständiger Bursche. Wie auch immer, bevor er sich selbständig gemacht hat, arbeitete er bei Hatchard und Pratt, einer Kanzlei in Eastvale. Falkland hat sich von ihm die Buchführung für den Pub machen lassen. So wie ich es sehe, hat er ihm die eine oder andere Mark vor dem Finanzamt gerettet.« Banks kratzte die kleine Narbe neben seinem rechten Auge. »Aber das ist noch nicht alles«, fuhr er fort. »Falkland hatte den Eindruck, dass Rothwell außerdem ein paar Geschäfte besaß und dass die Steuerberatung immer mehr zu einer Nebeneinnahme für ihn wurde. Mehr haben wir nicht herausbekommen, aber heute werden wir uns sein Büro mal genauer ansehen.«

Gristhorpe nickte.

»Und das war es auch schon«, sagte Banks. »Die Familie Rothwell wohnt jetzt seit fast fünf Jahren auf der Arkbeck Farm. Davor haben sie in Eastvale gelebt.« Er schaute auf seine Uhr. »Ich werde gleich nach dieser Versammlung wieder raus zur Farm fahren. Ich hoffe, Mrs. Rothwell hat sich so weit erholt, dass sie uns erzählen kann, was passiert ist.«

»Gut. Gibt es irgendwelche Hinweise auf die beiden Männer?«

»Noch nicht, aber Susan hat mit jemandem gesprochen, der meint, einen Wagen gesehen zu haben.«

Gristhorpe schaute Susan an.

»Das stimmt, Sir«, bestätigte sie. »Das war bei Sonnenuntergang letzte Nacht, bevor es ganz dunkel wurde. Ein pensionierter Lehrer aus Fortford kam gerade von einem Besuch bei seiner Tochter in Pateley Bridge zurück. Er sagte, er nimmt gerne die verlassenen Straßen über das Heidemoor. «

»Wo hat er den Wagen gesehen?«

»Am Rande des Moors über Relton, Sir. Er parkte in einer Abzweigung, nur ein kleines Stückchen vom Straßenrand gelegen. Ich glaube, da führte einmal ein alter Schafpfad hinein, aber er wird nicht mehr benutzt und nur der Abschnitt direkt an der Straße ist befahrbar. Der Rest ist überwuchert. Auf jeden Fall führt der Weg in einem weitläufigen Halbkreis um die Farm herum. Zu Fuß ist man von der Stelle, wo der Wagen stand, nur einen halben Kilometer von dem Hof entfernt. Erinnern Sie sich an das Wäldchen gegenüber dem Bauernhaus? Es ist das gleiche Wäldchen, das sich den Hang hinauf bis zu dieser Abzweigung erstreckt. Ein ausgezeichneter Schutz, wenn jemand ungesehen zur Farm gelangen will. Außerdem konnte Alison so auch keinen Wagen hören, wenn er oben an der Straße geparkt war.«

»Klingt vielversprechend«, sagte Gristhorpe. »Ist dem Zeugen irgendetwas an dem Wagen aufgefallen?«

»Ja, Sir. Er sagte, er sah aus wie ein alter Escort. In einer hellen Farbe. Der Mann hat es für Hellblau gehalten. Und im unteren Bereich der Karosserie war entweder Rost oder Matsch oder Gras.«

»Das ist nicht gerade die Stretchlimousine, die man mit Auftragskillern verbindet, oder?«, meinte Gristhorpe.

»Eher die Yorkshire-Version«, sagte Banks.

Gristhorpe lachte. »Genau. Gehen Sie der Sache besser nach, Susan. Geben Sie eine Beschreibung des Wagens raus. Ich nehme mal an, Ihr pensionierter Lehrer hat nicht zufällig zwei schwarz gekleidete Männer mit einer Schrotflinte gesehen, oder?«

Susan grinste. »Nein, Sir.«

»Rothwell hat selbst keine Landwirtschaft betrieben, oder?«, fragte Gristhorpe Banks.

»Nein. Nur den Gemüsegarten, den wir hinter dem Haus gesehen haben. Den Rest seines Landes hatte er an benachbarte Bauern verkauft. Ich kenne da einen Typen, der in der Nähe von Reiton Landwirtschaft betreibt. Mit dem will ich mal sprechen. Pat Clifford. Wenn es irgendwelche Probleme in der Gegend gegeben hat, dann müsste er es wissen.«

»Gut«, sagte Gristhorpe. »Wie man weiß, mögen viele Einheimische die Neulinge nicht, die leerstehende Höfe kaufen und sie nicht anständig nutzen.«

Gristhorpe, das wusste Banks, hatte in seinem Bauernhaus über Lyndgarth schon sein ganzes Leben lang gewohnt. Vielleicht war er sogar dort geboren worden. Nach dem Tod seiner Eltern hatte er den größten Teil des Landes verkauft und nur genug Platz für einen kleinen Garten und für sein wichtigstes Freizeitvergnügen behalten: eine Natursteinmauer, an der er von Zeit zu Zeit arbeitete und die ins Nirgendwo führte und nichts eingrenzte.

»Auf jeden Fall«, fuhr Gristhorpe fort, »hat es da ein paar Verstimmungen gegeben. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass ein Bauer von hier ein paar Killer anheuert. Die Leute hier kümmern sich selbst um ihre Angelegenheiten. Andererseits sind schon seltsamere Dinge passiert. Und denken wir daran: Schrotflinten sind auf den Bauernhöfen so normal wie Kuhfladen. Gibt es schon was über diesen Papierschnipsel?«

Banks schüttelte den Kopf. »Das Labor arbeitet noch daran. Ich habe bereits in West Yorkshire angefragt, ob sie untersuchen können, wo solche Magazine verkauft werden. Ich habe mit Ken Blackstone von Millgarth in Leeds gesprochen. Er ist dort Inspector, ein alter Kumpel.«

»Gut«, sagte Gristhorpe und wandte sich dann an Richmond. »Phil, wollen Sie Alan zur Arkbeck Farm begleiten und einen Blick auf Rothwells Computer werfen, bevor Sie sich auf die Leitung des Büros stürzen?«

»In Ordnung, Sir. Würde es nicht Sinn machen, wenn wir ihn gleich mitnehmen, nachdem ich ihn mir kurz angeschaut habe?«

Gristhorpe nickte. »Okay, gute Idee.« Er kratzte seine pockennarbige Wange. »Hören Sie, Phil, ich weiß, dass Sie uns Ende der Woche Richtung Scotland Yard verlassen wollen, aber ...«

»Schon in Ordnung, Sir«, sagte Richmond. »Verstehe. Ich bleibe so lange, wie Sie mich brauchen.«

»Guter Junge. Susan, haben Sie etwas Interessantes in dem Terminkalender gefunden?«

Susan Gay schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Sir. Er hatte gestern Morgen einen Arzttermin bei Dr. Hunter. Ich habe in der Praxis angerufen. Er hat den Termin wahrgenommen. Eine Routineuntersuchung, keine Probleme. Ich arbeite mich gerade durch. Er hat nicht viel aufgeschrieben, vielleicht hat er im Computer mehr eingetragen. Ein paar Namen gibt es, die man überprüfen kann. Hauptsächlich regionale Firmen. Allerdings muss ich sagen, Sir, er hatte nicht gerade einen vollen Terminkalender. Es gibt eine Menge leere Tage.«

»Vielleicht hat er das Geld nicht gebraucht. Vielleicht konnte er es sich leisten, nur die Rosinen rauszupicken. Reden Sie mal mit jemandem von seinem früheren Arbeitgeber, Hatchard und Pratt. Sie haben ihre Kanzlei direkt an der Market Street. Die können uns vielleicht etwas über seine Vergangenheit erzählen.« Gristhorpe schaute auf seine Uhr. »Na gut, wir haben alle eine Menge zu tun, packen wir es an.«

Kapitel 6

»Meine Mutter schläft leider noch«, erfuhr Banks auf der Arkbeck Farm von Alison. »Ich habe ihr gesagt, dass Sie hier waren ...« Sie zuckte mit den Schultern.

Merkwürdig, dachte Banks. Man sollte doch annehmen, dass eine Mutter ihre Tochter tröstet und vor neugierigen Polizisten in Schutz nimmt. »Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«, fragte er.

Alison Rothwell sah erschöpft und sehr mitgenommen aus. Ihr ungewaschenes und leicht fettiges Haar war zurückgebunden, was ihre hohe Stirn betonte. Sie trug ein schlichtes weißes T-Shirt und eine stonewashed Designerjeans. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen da, und während sie redete, drehte sie den Ring am kleinen Finger ihrer rechten Hand. »Eigentlich nicht«, sagte sie. Durch das Lispeln klang sie wie ein kleines Mädchen.

Sie saßen in einem kleinen, freundlichen Zimmer mit elfenbeinfarbenen Wänden und blauen Polstermöbeln im hinteren Bereich des Hauses. Vor einer Wand stand ein Bücherregal, in dem sich hauptsächlich Taschenbücher befanden, deren Rücken eine flimmernde Fläche aus orange, grün und schwarz bildeten. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Klavier, dessen Kirschholzschliff auf Hochglanz poliert war. Auf dem Klavier lag ein unordentlicher Stapel Noten. Constable Smithies, die Polizistin, die bei den Rothwells geblieben war; saß mit aufgeschlagenem Notizbuch diskret in einer Ecke. Phil Richmond beschäftigte sich oben in Keith Rothwells Arbeitszimmer mit dem Computer.

Durch das große Erkerfenster, das ein wenig geöffnet war und Vogelgezwitscher und frische Luft hereinließ, sah man hinaus über Fortford und das jenseitige Tal. Für Banks war dies ein recht vertrauter Blick; er kannte ihn bereits von der anderen Seite Reltons, von »Maggie’s Farm« aus, sowie vom Haus eines Mannes namens Adam Harkness in der Talsohle. Die Landschaft beeindruckte ihn immer wieder, selbst an einem trüben Tag wie heute. Die graubraunen Ruinen der Devraulx-Abtei schimmerten durch die Bäume auf ihrem Gelände, die Häuser von Lyndgarth gruppierten sich um ihre abfallende Rasenfläche, und über dem Mosaik aus blassgrünen Feldern und Natursteinmauern, die steil in die Höhe ragten, thronte die bedrohliche Silhouette von Aldington Edge, einer langen Kalksteinwand, von oben bis unten mit Spalten durchzogen, die funkelten wie die Zähne eines Skeletts.

»Mir ist klar, dass es schmerzhaft ist, sich zu erinnern«, fuhr Banks fort, »aber wir benötigen jede Hilfe, die wir bekommen können, wenn wir diese Männer fassen wollen.«

»Ich weiß. Es tut mir leid.«

»Können Sie sich erinnern, zwischen dem Moment, als die Männer hinausgegangen sind, und dem Knall irgendwelche Geräusche gehört zu haben?«

Alison runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht.«

»Haben Sie keine Geräusche eines Kampfes gehört? Oder ein Schreien?«

»Nein. Es war alles vollkommen still. Daran erinnere ich mich.«

»Kein Wortwechsel?«

»Ich habe nichts gehört.«

»Und Sie können nicht sagen, wie lange sie vor dem Schuss draußen waren?«

»Nein. Ich hatte Angst und machte mir Sorgen. Mama saß mir genau gegenüber. Ich konnte sehen, wie verängstigt sie war, aber ich konnte nicht das Geringste tun. Ich habe mich vollkommen ohnmächtig gefühlt.«

»Nachdem es vorbei war, haben Sie da irgendwelche Geräusche gehört?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Versuchen Sie sich zu erinnern. Haben Sie gehört, in welche Richtung die beiden Männer verschwunden sind?«

»Nein.«

»Haben Sie Geräusche von einem Wagen gehört?«

Sie hielt inne. »Ich glaube, ich habe eine Tür zuschlagen hören, aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe nicht gehört, dass ein Wagen wegfahren ist, aber ich denke, ich war auch nicht ganz bei mir. Mir kam es jedenfalls so vor, als hätte ich in der Ferne die Tür eines Wagens zuschlagen hören.«

»Wissen Sie, aus welcher Richtung das Geräusch kam?«

»Von weiter oben am Hang, würde ich sagen. Richtung Relton.«

»Gut. Nun zu den Männern. Ist Ihnen zu den beiden noch etwas eingefallen?«

»Ja, zu dem einen, der mich angefasst hat. Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht. Er hatte große braune Augen, so eine Art Rehbraun. Und sie waren feucht. Wie bei einem kleinen Hund.«

»Wie bei einem Cockerspaniel?«

»Ja, genau. Er hatte tränende Augen wie ein Cockerspaniel. Oder ein Dackel. Aber normalerweise ... Sie wissen schon, von einem Dackelblick ist man normalerweise gerührt, aber diese Augen haben mich nicht gerührt. Sie hatten einen grausamen Blick.«

»Hat einer der Männer noch etwas gesagt?«

»Nein.«

»Sind sie durch das Haus gegangen? In andere Zimmer?«

»Nein.«

»Haben Sie beobachtet, ob die beiden etwas mitgenommen haben?«

Alison schüttelte den Kopf.

»Als Ihr Vater die beiden gesehen hat und dann mit ihnen hinausgegangen ist, wie hat er da gewirkt?«

»Was meinen Sie?«

»War er überrascht?«

»Als er hereinkam und die beiden ihn packten, ja.«

»Und danach?«

»Kann ... kann ich nicht sagen. Er hat nichts gemacht und nichts gesagt. Er stand einfach da.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass er die Männer erkannt hat?«

»Wie denn? Sie waren doch völlig vermummt.«

»Schien er überrascht zu sein, nachdem der erste Schock überwunden war?«

»Nein, ich glaube nicht. Nur ... resigniert.«

»Hatte er sie erwartet?«

»Ich ... ich weiß nicht. Ich glaube nicht.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass er sie kannte, dass er wusste, wer sie waren?«

»Wie denn?«

In ihrer Stimme klang ein solcher Zweifel mit, dass Banks sich fragte, ob sie bemerkt hatte, dass ihr Vater in Wirklichkeit gar nicht so geschockt und überrascht war, und sie gerade dadurch verwirrt war. »Glauben Sie, er wusste, was passieren würde?«, drängte er weiter. »Und warum es passieren würde?«

»Vielleicht. Nein. Keine Ahnung. Das konnte er doch gar nicht, oder?« Sie verdrehte die Augen. »Ich weiß es nicht genau. Und ich will es auch gar nicht genau wissen.«

»In Ordnung, Alison. Alles in Ordnung. Es tut mir leid, aber ich muss diese Fragen stellen.«

»Ich weiß. Ich will auch keine Heulsuse sein.« Sie rieb sich mit dem nackten Arm über ihre Augen.

»Sie sind sehr tapfer. Nur noch eine Frage zu dem Ablauf und dann lassen wir es gut sein. Okay?«

»Okay.«

»Ist Ihr Vater ruhig mitgegangen oder mussten sie ihn mit Gewalt hinausschleppen?«

»Nein, er ist einfach mit ihnen hinausgegangen. Er hat nichts gesagt.«

»Hat er verängstigt ausgesehen?«

»Man konnte ihm überhaupt nichts ansehen.« Sie wurde rot. »Und er hat überhaupt nichts getan. Er ließ Mama und mich einfach gefesselt dasitzen und sich hinausführen ... und sich wie ein Tier töten.«

»Schon gut, Alison, beruhigen Sie sich. Wie haben Sie sich von dem Stuhl befreien können, nachdem die Männer verschwunden waren?«

Alison schniefte und putzte sich die Nase. »Es hat lange gedauert«, sagte sie schließlich. »Vielleicht Stunden. Einige Zeit saß ich einfach nur da, aber ich war nicht wirklich da, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich glaube, Mama ist ohnmächtig geworden. Sie hatten die Seile wirklich fest verknotet, ich konnte meine Hände gar nicht mehr richtig spüren.«

Während sie sprach, rieb sie ihre Handgelenke, auf denen man immer noch die wunden Striemen sehen konnte. »Schließlich habe ich meinen Stuhl umgekippt und bin rüber zum Tisch gerutscht, wo der Nähkorb meiner Mutter war. Ich wusste, dass eine Schere darin lag. Ich musste meine Hände lange reiben, bis ich wieder etwas gespürt habe, und ich weiß nicht, wie, aber am Ende habe ich das Seil zerschnitten und dann meine Mama losgemacht.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl umher. »Ich mache mir Sorgen um Mama. Sie ist nicht mehr sie selbst. Sie will nichts essen. Was wird mit ihr passieren?«

»Mir geht es gut, Alison, mein Schatz. Du musst dir keine Sorgen machen.«

Die Stimme kam von der Tür, Banks drehte sich um und sah zum ersten Mal Mrs. Rothwell. Sie war eine große Frau mit kurzem grauem Haar und feingliedrigen, kantigen Zügen, wobei die kleine Nase vielleicht etwas zu scharf geschnitten war. Der Abstand zwischen der Nase und ihrer schmalen Oberlippe schien ungewöhnlich groß zu sein, dachte Banks, was ihrem geneigten Kopf eine überhebliche, herrische Note verlieh. Und Banks konnte sehen, von wem Alison ihren kleinen Mund hatte.

Ihre kastanienbraunen Augen sahen trübe aus, Banks vermutete, dass die Beruhigungsmittel, die ihr Dr. Burns verschrieben hatte, schuld daran waren. Wahrscheinlich erklärten die Pillen auch ihre schlaffen Bewegungen. Ihre Haut war blass, fast blutleer, obwohl Banks auffiel, dass sie sich etwas geschminkt hatte. Sie hatte sogar die größten Anstrengungen unternommen, den besten Eindruck zu machen. Schwarze Seidenhosen lagen über ihren schmalen, knabenhaften Hüften; dazu trug sie einen Zopfmusterpullover mit einem Regenbogenmotiv, der für Banks unwissendes Auge nach einem exklusiven Designerstück aussah. Auf jeden Fall hatte er so etwas noch nie gesehen. Selbst in ihrem mit Beruhigungsmitteln gedämpften Kummer hatte sie etwas Kontrolliertes, Herrisches und Aufmerksamkeit Forderndes an sich, eine Art im Zaum gehaltener Kraft.

Sie setzte sich in den anderen Sessel, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände auf dem Schoß. Banks bemerkte die dicken Ringe an ihren Fingern: Diamanten, ein großer Rubin und ein breiter, goldener Ehering.

Banks stellte sich vor und sprach ihr sein Beileid aus, das sie mit einer leichten Neigung des Kopfes entgegennahm.

»Leider muss ich Ihnen ein paar unangenehme Fragen stellen, Mrs. Rothwell«, sagte er.

»Nicht über letzte Nacht«, erwiderte sie und fasste mit einer Juwelen besetzten Hand an ihren Hals. »Ich kann darüber nicht reden. Ich fühle mich schwach, meine Stimme versagt und ich kriege einfach kein Wort heraus.«

»Mama«, sagte Alison. »Ich habe ihm ... davon erzählt. Nicht wahr?« Und sie schaute Banks an, als sollte er sich davor hüten, ihr zu widersprechen.

»Ja«, sagte er. »Eigentlich wollte ich Ihnen keine speziellen Fragen stellen. Wir brauchen nur mehr Informationen über die Tätigkeiten Ihres Mannes. Können Sie uns helfen?«

Sie nickte. »Entschuldigen Sie, Chief Inspector. Normalerweise bin ich nicht so durcheinander.« Sie berührte ihr Haar. »Ich muss furchtbar aussehen.«

Banks murmelte ein Kompliment. »Hatte Ihr Mann Feinde, von denen Sie wussten?«, fragte er.

»Nein. Keine. Aber andererseits hat er mich mit den Einzelheiten seiner Arbeit auch nicht belästigt. Ich habe wirklich keine Ahnung, mit welcher Art von Leuten er zu tun hatte.« Sie sprach mit dem Akzent Eastvales, bemerkte Banks, der jedoch durch einige Stunden Sprecherziehung abgeschliffen worden war. Sprecherziehung. Er hatte nicht geglaubt, dass man heutzutage noch solche Stunden nahm.

»Er hat also seine Arbeit sozusagen nie mit nach Hause gebracht?«

»Nein.«

»Ist er viel gereist?«

»Meinen Sie ins Ausland?«

»Wohin auch immer.«

»Nun, er ist ab und zu ins Ausland gereist, geschäftlich. Außerdem haben wir natürlich Urlaub gemacht, in Mexiko, Hawaii oder auf den Bermudas. Geschäftlich bedingt ist er auch in der Gegend herumgereist. Er war oft unterwegs.«

»Wo zum Beispiel?«

»Ach, überall. Leeds, Manchester, Liverpool, Birmingham, Bristol. Manchmal auch in London oder in Europa. Er hatte einen sehr wichtigen Job. Er war ein ausgezeichneter Finanzberater und sehr gefragt. Keith konnte sich seine Klienten aussuchen, er musste nicht jeden Auftrag annehmen, der sich ihm anbot.«

»Sie erwähnten Finanzberatung. Was genau hat er getan?«