Die letzten Monate der DDR - Ed Stuhler - E-Book

Die letzten Monate der DDR E-Book

Ed Stuhler

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Beschreibung

Nach den ersten freien Volkskammerwahlen der DDR am 18. März 1990 kam eine Regierung an die Macht, deren Aufgabe es war, sich selbst abzuschaffen. Die deutsche Einheit sollte hergestellt werden, möglichst binnen zwei Jahren. Dass dies dann innerhalb weniger Monate geschah, ahnte anfänglich niemand – und überforderte viele. Die Ereignisse überschlugen sich, die Wirtschaft kollabierte nach der schnellen Währungsunion, die Regierungskoalition zerbrach, der Streit über Eigentumsfragen und Stasi-Verstrickungen begann. Zugleich wurden Hunderte Gesetze und Verordnungen beschlossen, um eine Rechtsangleichung zu ermöglichen.
Ed Stuhler schildert die dramatische Übergangszeit bis zum 3. Oktober 1990 aus der Perspektive der ostdeutschen Regierungsmitglieder. Sie berichten in Interviews freimütig über ihre damaligen Erlebnisse – von den internen Parteiquerelen genauso wie von den außenpolitischen Konflikten und den Problemen mit den bundesdeutschen Beratern. Ein spannender Blick hinter die Kulissen der Macht.

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Seitenzahl: 318

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Ed Stuhler

Die letzten Monate der DDR

Ed Stuhler

Die letzten Monate der DDR

Die Regierung de Maizièreund ihr Weg zur deutschen Einheit

Das Buch entstand parallel zur Fernsehdokumentation der Firma Heimatfilm über die letzte Regierung der DDR, die auch die Interviews mit den Zeitzeugen führte. Das Gesamtprojekt wurde gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, November 2016entspricht der 1. durchgesehenen und erweiterten Druckauflage vom September 2010© Christoph Links Verlag GmbHSchönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines dpa-Fotos vom CDU-Vereinigungsparteitag am 1. Oktober 1990 in Hamburg

eISBN 978-3-86284-368-8

Inhalt

Vorwort

Prolog: Beitritt

1. Die Laienspieler

2. Ein Plebiszit

3. Arbeitsbeginn

4. Die große Umarmung

5. Der kleine und der große Klaus

6. Ein Wink mit dem Zaunpfahl?

7. Das letzte Parlament

8. Der erste Staatsvertrag

9. Der zweite Staatsvertrag

10. Strickjacken am Selemtschuk

11. Angst vor Großdeutschland

12. Pflastersteine für den Westen

13. Eier für den Staatssekretär

14. Pseudokrupp am Silbersee

15. Den Löffel abgeben

16. Blühende Stadtlandschaften

17. Beifall für den Minister

18. Gespräche mit dem Wolf

Epilog: Abschlussfeier

Nachwort: Die DDR im innerdeutschen und internationalen Kräftespielvon Marc-Dietrich Ohse

AnhangDas Kabinett de Maizière

Interviewpartner

Abkürzungsverzeichnis

Chronik zur deutschen Einheit 1990

Dank

Personenregister

Vorwort

Wenn von Deutschlands Vereinigung gesprochen wird, fallen immer die Namen Kohl, Gorbatschow, Bush, vielleicht noch Genscher. Der Name Lothar de Maizière wird weit seltener genannt, die Namen der Minister der von ihm geführten letzten DDR-Regierung, die politischen Entscheidungsträger der Ostseite, gar nicht. Die Akteure dieser überaus wichtigen Übergangszeit, die trotz extremer Bedingungen friedlich verlaufen ist, scheinen wie aus der Geschichte gefallen.

Im Mauermuseum Bernauer Straße wird eine Publikation mit dem Titel »Die Berliner Mauer 1961 – 1989« vertrieben. Dem Buch liegt eine DVD des Landesarchivs Berlin bei. Am Ende der 50-minütigen Dokumentation wird »der letzte Ministerpräsident der DDR« erwähnt: Hans Modrow!

Bei den zahlreichen Feiern zur Deutschen Einheit könnte man fast den Eindruck gewinnen, als habe sich die Bundesrepublik mit sich selbst vereinigt. Dass dies das komplizierte und dramatische Zusammenfinden von zwei souveränen Staaten mit, über einen langen Zeitraum, sehr unterschiedlicher politischer und sozialer Entwicklung war, gerät fast in Vergessenheit. Vergessen auch die Arbeit dieses einzigen demokratisch legitimierten Kabinetts der DDR, das unter dramatischen Umständen, wachsendem Zeitdruck und sich fast täglich verändernden Bedingungen einen ungeheuren Berg von gesetzesgeberischer Arbeit zu bewältigen hatte. Das Attribut »Riesen-« ist eines der meistgebrauchten in den Erinnerungen der damaligen Protagonisten; die entsprechenden Wortkombinationen würden eine ganze Seite füllen: Riesenprobleme, Riesenmenge (an Arbeit), Riesenunterschiede, Riesenherausforderung, Riesenarsenale (an Waffen, die zu sichern waren), Riesenapparate (die abzuwickeln waren), Riesenkoloss (MfS), Riesenaufmärsche, Riesenstreit, Riesendifferenzen, aber auch Riesenchancen. Dieses Buch soll eine längst überfällige Darstellung dieser Riesenarbeit sein, und zwar aus der subjektiven Sicht derer, die den Prozess der Einigung gestaltet haben.

Der vorliegende Band ist keine Chronologie und kein Geschichtsbuch. Er erhebt deshalb nicht Anspruch auf Vollständigkeit. Die Fülle der Probleme, aber auch die erzielten Erfolge konnten nur an einigen besonders signifikanten Teilgebieten deutlich gemacht werden, wie zum Beispiel der Umweltproblematik, dem Verfall der Städte, der Landwirtschaft, der Armee. Eine Betrachtung aller Teilbereiche und Ressorts lag nicht in der Absicht des Autors. Er wollte an einigen ausgewählten Schwerpunkten zeigen, mit welchen Herausforderungen und Sachzwängen die Akteure zu kämpfen hatten, wie sich die Arbeit gestaltet und, unter zunehmendem Zeitdruck, verändert hat.

Es ist eine Darstellung der sich überschlagenden Ereignisse einer historisch kurzen Phase, eines halben Jahres, vom 18. März bis 2. Oktober 1990. Gezeigt werden 199 Tage spannender deutscher Geschichte, das stürmische Ende der DDR-Geschichte in Geschichten.

Der Text beruht in wesentlichen Teilen auf den Fernsehinterviews der Firma Heimatfilm zur Dokumentation über die letzte Regierung der DDR, die die Autoren Rainer Burmeister und Hans Sparschuh (Heimatfilm GbR) zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung mit Mitgliedern der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR geführt haben.

Ein paar persönliche Worte seien mir gestattet. Als ich begann dieses Buch zu schreiben, habe ich, um mich in die Stimmungslage des Jahres 1990 zurückzuversetzen, meine Tagebücher aus der Zeit hervorgesucht und gelesen. Unter dem Datum 19. März fand ich folgenden Eintrag:

»Das neue Zeitalter hat begonnen. Bei der gestrigen Wahl hat die CDU haushoch gesiegt. De Maizière wird Ministerpräsident von Kanzlers Gnaden. Die Leute sind Kohls stärkstem Argument gefolgt, der D-Mark. Von der CDU erhoffen sie sich deren schnelle Einführung. Daß die Folgen (Betriebsstillegungen, Arbeitslosigkeit) an ihm selbst vorbeigehen, hofft wohl jeder für sich. Und der zweite Grund für diesen (für viele überraschenden) Wahlausgang ist wohl das tiefe Mißtrauen allem gegenüber, was links ist. Leichte Traurigkeit und Enttäuschung. Bin mir aber der Irrationalität dieses Gefühls bewußt. Ich habe Bündnis 90 gewählt. Weniger als drei Prozent! Keiner will mehr was wissen von der Revolution und von der eigenen Vergangenheit. Bloß nicht erinnert werden, man hat ja schon perfekt verdrängt!«

Weitere Einträge handeln von Stasi-Verdächtigungen und -Entlarvungen, Gerüchten über plötzliche Währungsumstellung, rapide gestiegene Abtreibungszahlen, dem sinkenden Stern von Gorbatschow, von Trabbis und Wartburgs, die man jetzt plötzlich kaufen kann, von leeren Kaufhallen und vollen Sparkassen und einer gewonnenen Fußball-Weltmeisterschaft.

Den meisten Raum jedoch nehmen Notizen zu unserer kleinen Tochter ein. Das beglückte Staunen über ihr Wachsen und Werden war mir offensichtlich wichtiger als all die dramatischen politischen Ereignisse. Seltsame Duplizität: Genau wie ihr Vater wurde sie in eine Welt geboren, die es ein Vierteljahr später nicht mehr gab. In meinem Fall war es der Februar 1945, in ihrem der August 1989, ausgerechnet der 13. In der neuen Welt hat sie in diesen sechs Monaten, von denen dieses Buch handelt, das Krabbeln gelernt, ihre ersten Schritte gemacht, ihre ersten Worte gesprochen. Und genau wie ihrem Vater ist ihr die Welt, in die sie geboren wurde, bis heute sehr fern.

Übergangszeiten sind Zeiten überraschender Umbrüche, weitreichender Weichenstellungen, unvorhersehbarer Entwicklungen, aber auch ungewohnter Möglichkeiten; Treibende werden zu Getriebenen, die Dinge bekommen ihre eigene Dynamik – Übergangszeiten sind spannend.

Möge dieser Band denen, die diese Zeit nicht erlebt oder vergessen haben, das Besondere dieser Tage und das Handeln und die Motivationen der Akteure näherbringen.

Prolog: Beitritt

Um Mitternacht steigen Raketen in den nächtlichen Himmel. Vor dem Reichstag haben sich Tausende von Menschen versammelt, um ein Fest zu feiern, das Fest der deutschen Einheit. Vor dem Eingang des historischen Gebäudes stehen die Repräsentanten der Bundesrepublik, darunter Willy Brandt, Oskar Lafontaine, Richard von Weizsäcker und ein massiger, sichtlich zufriedener Helmut Kohl. Der schmale, in den letzten Monaten stark abgemagerte Lothar de Maizière ist neben ihm kaum auszumachen. Weitere Repräsentanten der DDR, die in diesen Minuten aufhört zu existieren, sind nicht zu sehen. Es erklingt Händels Feuerwerksmusik, geschrieben einst für eine andere Siegesfeier.

Auf einem extra errichteten vierzig Meter hohen Fahnenmast wird eine 60 Quadratmeter große Deutschlandfahne gehisst. Reden werden keine gehalten. Man ist peinlich darauf bedacht, jeden Anschein nationalen Überschwangs zu vermeiden. Dreihundertsiebenundzwanzig Tage nach dem Fall der Mauer ist die Einheit vollendet. Fünfundvierzig Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands ist die Phase des Kalten Krieges Geschichte. Die Zukunft ist ein europäisches Deutschland.

1.Die Laienspieler

»So eine asoziale Hurerei ist mit mir nicht zu machen!«

Lothar de Maizière

Als Lothar de Maizière am 19. April1 zum Rednerpult schreitet, um seine Regierungserklärung abzugeben, schaut er an sich herunter und stellt fest, dass seine Hosenbeine schlottern. Vor seinem inneren Auge sieht er die Fernsehbilder des polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, der ein Jahr vorher bei seiner Regierungserklärung umkippte, weil ihm vor Aufregung schlecht geworden war. So etwas, denkt er die ganze Zeit, darf mir nicht passieren! Und es passiert ihm nicht.

De Maizière, der gelernte Bratschist, feinsinnige Kunstliebhaber und Grafiksammler, verliest eine Erklärung, die später von allen Seiten als beeindruckende Botschaft eines demokratischen Neuanfangs gewertet wird. Als Hauptziel seiner Regierung nennt er die Verwirklichung der deutschen Einheit. Er spricht seinen Landleuten aus dem Herzen, als er sagt: »Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben.« De Maizière ist sich bewusst, dass es ein schwerer, ein steiniger Weg sein wird, und mahnt die Solidarität der bundesdeutschen Bevölkerung an: »Diese Einheit muss so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig sein wie nötig.« Und schon in dieser ersten Ansprache gibt er seiner Überzeugung Ausdruck, dass sich Tempo und Qualität am besten gewährleisten lassen, »wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen«.

In dieser Rede erinnert de Maizière daran, dass die DDR nie in den Genuss eines milliardenschweren Marshallplans gekommen sei, sondern im Gegenteil Milliarden an Reparationsleistungen zu erbringen hatte. »Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden«, gibt er seiner Überzeugung Ausdruck. Es ist das Bild des Abendmahls, das der Christ und Nachfahre hugenottischer Einwanderer da heraufbeschwört. Und er zitiert aus Hölderlins Hyperion den schönen Satz »Denn das hat den Staat zur Hölle gemacht, dass wir ihn zu unserm Himmel machen wollten.« Der Staat, weiß er, ist nicht der Himmel, sondern der Staat ist der Garten und Rahmen, in dem sich menschliche Kreativität in Freiheit zu entfalten hat: »Dies als Ziel einer Gesellschaft zu beschreiben, das war mir damals wichtig.«

De Maizière steht einer Regierung vor, die aus 23 Kabinettsmitgliedern besteht.2 (Noch die Vorgängerregierung Modrow hatte über 40 Minister und Industrieminister.) Er hat das Kabinett, wie er es nennt, spiegelbildlich zur Bundesregierung geschnitten. Das hat den einfachen Grund, dass bei den bevorstehenden Verhandlungen zur Deutschen Einheit die Ressorts miteinander in Verbindung treten können. Allerdings gibt es zwei zusätzliche Ministerien, die der besonderen Situation der DDR geschuldet sind: ein Medienministerium, das im Wesentlichen die Aufgabe hat, die monopolisierte Medienlandschaft umzugestalten, und ein Ministerium für Handel und Versorgung, um die zentralistischen Strukturen aufzuweichen. Ebenfalls abweichend von der bundesdeutschen Struktur siedelt de Maizière das Energieressort nicht beim Wirtschafts-, sondern beim Umweltministerium an, weil er der Meinung ist, wer Energie produziert, soll auch wissen, wie er den Dreck wegkriegt, der damit zusammenhängt.

Es ist eine Koalitionsregierung aus Christlich Demokratischer Union (CDU), Demokratischem Aufbruch (DA) und Deutscher Sozialer Union (DSU), die als »Allianz für Deutschland« zur Volkskammerwahl angetreten waren, Sozialdemokratischer Partei (SPD) und der liberalen Partei Bund Freier Demokraten (BFD).

Lothar de Maizière hätte auch mit seiner Allianz allein regieren können. Aber noch gilt die Verfassung der DDR von 1968, und er ist sich bewusst, dass es in der nächsten Zeit eine Reihe von verfassungsändernden Beschlüssen geben muss, für die eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist.

Und de Maizière hat einen zweiten Grund, vor allem die Sozialdemokraten an Bord zu holen, der ihn als vorausschauenden und cleveren Politiker zeigt:

»Ich wusste schon, dass im Zuge der nächsten Monate von der bundesdeutschen Seite eine ganze Menge Zumutungen auf uns zukommen würden, die uns sagen würden, wir sollten dieses, jenes, sonst was machen. Und ich hoffte, sagen zu können: ›Ja, liebe Leute, ich muss aber Rücksicht nehmen auf meinen Koalitionspartner! Und der sieht das ganz anders, und insofern kann ich diesem Ansinnen nur bedingt folgen‹«.

So zum Beispiel kommt Graf Lambsdorff, Vorsitzender der West-FDP, zu ihm mit der Vorstellung, nach der Wiedervereinigung müsse der § 613a des BGB mehrere Jahre ausgesetzt werden. Dieser Paragraph beinhaltet Folgendes: Kauft A von B eine Firma, kauft er die Belegschaft mit und tritt für die sozialen Verpflichtungen des vorherigen Arbeitgebers ein. Lambsdorff will Firmenkäufe ohne jegliche soziale Bindung an die Mitarbeiter ermöglichen. De Maizières Antwort: »Wissen Sie, Graf Lambsdorff, so eine asoziale Hurerei ist mit mir nicht zu machen! Das kriege ich auch nicht bei meinem Koalitionspartner durch.«

Und auch die SPD will die große Koalition. Markus Meckel, Parteivorsitzender der Ost-SPD und Außenminister der Koalitionsregierung: »Wir wollten diese Vereinigung mitgestalten, das war unser zentraler Wille. Die deutsche Vereinigung sollte nicht an uns vorbeilaufen, sondern wir wollten die Dinge, die uns wichtig sind, international wie auch im Inneren, das wollten wir mitgestalten. Und wir trauten auch den anderen nicht zu, dass sie es allein gut machen würden.«

Fraktionsvorsitzender Richard Schröder ist ein leidenschaftlicher Verfechter der großen Koalition. Und er hat einen guten Draht zum Vorsitzenden der Ost-CDU: »Lothar de Maizière war vielen sozialdemokratischen Forderungen von sich aus schon geneigt. Es hat ja freche Zungen gegeben, die behauptet haben, Lothar de Maizière hätte auch in die SPD gepasst. Das kann man, glaube ich, auch so sagen. Dass der Übergang so weit wie möglich abgefedert wird, das war auch ein fundamentales Interesse von Lothar de Maizière.«

Dennoch gibt es vor der Koalitionsbildung harte Auseinandersetzungen in der SPD-Fraktion. Richard Schröder versteht es, die widerstrebenden Kräfte in den Prozess der Ausarbeitung des Koalitionsvertrages einzubeziehen, so dass am Ende viele sagen konnten, das Regierungsprogramm trägt auch sozialdemokratische Züge. Vor allem Wolfgang Thierse, einer von Schröders Stellvertretern in der SPD-Fraktionsspitze, ist gegen eine Regierungsbeteiligung: »Die große Koalition, das war mir schon aus grundsätzlichen Überlegungen etwas Unsympathisches. Aber dann fand ich doch in den Verhandlungen, dass man mit Lothar de Maizière eine vernünftige, belastbare Vereinbarung treffen könnte, dass wir das gemeinsame Anliegen haben, in diesem Prozess der Vereinigung vernünftige Schritte zu gehen und gegen den übermächtigen westdeutschen Partner, Helmut Kohl und seine Regierung, ostdeutsche Interessen nur gemeinsam stark vertreten könnten. Das war unsere Basis.«

»Wir haben vor der 2. Volkskammersitzung am 12. April im Foyer der Volkskammer den Koalitionsvertrag unterschrieben, und wir haben uns bei den Koalitionsverhandlungen darüber geeinigt, welche Partei welche Ressorts bekommt. Nicht, welche Personen sie besetzen sollen, sondern die Ressorts. Allerdings hatte ich als Ministerpräsident mir ausbedungen, dass ich bei der Besetzung der Personen ein Veto-Recht habe, dass ich sage, ja gut, ihr Sozialdemokraten dürft die Posten besetzen. Aber schon bei der Besetzung der Ressorts gab es natürlich Schwierigkeiten. Die Sozialdemokraten beanspruchten selbstverständlich für sich das Ressort Arbeit und Soziales. Und ich habe damals gesagt, also das kann nicht sein, dass ihr alle Lob- und Dankministerien kriegt und wir alle Prügelministerien! Und vor allem, wer soziale Botschaften verteilen will, muss wissen, wer sie finanziert. Also Arbeit und Soziales geht an euch, wenn ihr wollt, aber dann nehmt ihr auch Finanzen. Und das führte dann zu der Konstellation Regine Hildebrandt und Walter Romberg. Dann gab es noch einen Streitpunkt. Ich habe gesagt, wir sollten eigentlich alles aus uns heraus besetzen, aber Wirtschaft, der Transformationsprozess, da sollten wir jemanden haben, der in der Marktwirtschaft zu Hause ist. Es gab da Überlegungen, Elmar Pieroth, den früheren West-Berliner Wirtschaftssenator, als Wirtschaftsminister zu berufen. Und dann sagten die Sozialdemokraten zwingend: ›Es muss ein DDR-Bürger sein!‹ So wurde es schließlich Gerhard Pohl.

Es war natürlich auch so, dass ich ein paar Leute meiner Regierung kurz vor der Vereidigung das erste Mal in meinem Leben gesehen habe. Das mag abenteuerlich anmuten, aber es hängt mit der Zeit und der Schnelllebigkeit der Zeit zusammen. Wenn heute Bundestagswahlen sind, dann dauert es ein Vierteljahr, bis das Bundeskabinett steht. Wir waren quasi nach vier Wochen alle in Amt und Würden, weniger als vier Wochen. Am 18. März sind wir gewählt worden, am 12. April stand die Regierung.«

Diese letzte DDR-Regierung unterscheidet sich ganz grundsätzlich von allen ihren Vorgängerinnen. Es ist ein völlig anderes Kabinett, eines, das nicht nur frei gewählt worden ist, sondern vor allen Dingen eines, das von keinem Politbüro Befehle bekommt, so wie es bisher in der DDR üblich war; eine souveräne Regierung, die in enger Zusammenarbeit mit dem Parlament ihre Arbeit organisiert. Pfarrer Rainer Eppelmann: »Es gab auf einmal eine frei gewählte Regierung, in der keine SED-Leute drin waren, die über viele, viele Jahre alles bestimmt haben, was in der DDR passiert ist. Und wir, die wir vorher nicht ernst genommen wurden, deren Meinung gar nicht interessant war, höchstens hat die Staatssicherheit sich dafür interessiert, wir waren auf einmal diejenigen, die politische Verantwortung zu übernehmen bereit waren. Und jetzt ging es darum, aus einer Diktatur eine demokratische, rechtsstaatliche, möglichst freie und effiziente Gesellschaft zu machen.«

Es sind keine Politprofis, sondern Leute, die im heißen Herbst des Jahres 1989 spontan in die Politik gekommen sind. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass überdurchschnittlich viele Regierungsmitglieder einen kirchlichen Hintergrund haben3, war doch die Kirche Keimstätte und Schutzraum der Oppositionsbewegung, die im Dezember 1989 den Zentralen Runden Tisch zur Kontrolle der SED erzwang. Hier sammelten einige der späteren Regierungsmitglieder und Parlamentarier ihre ersten Politikerfahrungen. Es sind Wissenschaftler, Techniker, Lehrer. Sie kommen mitten aus dem Leben in die Politik und nicht, wie der Großteil der westdeutschen Politiker, über die Nachwuchsorganisationen der Parteien und über entsprechende Studiengänge. Juristen gibt es kaum. »Mir wären ein paar Juristen mehr im Kabinett lieber gewesen«, seufzt de Maizière. »Machen Sie mal mit einer Reihe von Pastoren Gesetze. Auweia. Gesetze kann man mit so einem Gutmenschenansatz nicht machen, die müssen einfach logisch stimmen. Da können Sie noch soviel Herz-Jesu-Sauce haben und drüberkippen wollen – das bringt nichts. Das wurde mir dann als unfreundliche Nüchternheit angelastet, aber damit musste ich leben.«

Dennoch wird die Zusammenarbeit im Kabinett als hervorragend bezeichnet, alle ziehen am gleichen Strang: »Bis in den August hinein hätten Sie im Kabinett nicht gemerkt, wer sitzt von der CDU, den Liberalen oder der SPD dort«, erinnert sich Peter Pollack, der parteilose Landwirtschaftsminister. »Sicher gab es auch mal scharfe Diskussionen, vor allem, wenn es um Geld ging. Das ist normal und hing nicht damit zusammen, dass Herr Romberg nun von der SPD war und der andere, der Geld haben wollte, von der CDU. Das war in der Sache begründet.«

Die meisten der Regierungsmitglieder geraten zufällig in die Politik. Diese Karriere ist nicht geplant und wird auch in der Regel als Übergangszeit betrachtet. In der Lebensplanung von Lothar de Maizière war Politik überhaupt nicht vorgesehen – als Vizepräses der Synode des Bundes der evangelischen Kirchen bestand auch gar keine Chance, in die DDR-Politik zu geraten. Mit dem Amtsantritt Gorbatschows gab es Hoffnung auf Reformen, aber er glaubte, dass diese nur innerhalb des Systems möglich sind. Einen Systemwechsel konnte er sich nicht vorstellen. Doch dann kommt der Herbst 89, und nun kann man nicht zurück, hat man doch jahrelang in den kirchlichen Gremien Möglichkeiten zur Partizipation, zur Teilhabe, zur Mitbestimmung gefordert: »Man kann nicht plötzlich sagen: ›Ja, das haben wir zwar gefordert, aber jetzt, wenn es ernst wird, bitteschön, Freiwillige durchtreten, ich nicht.‹ Ich habe aber, in meinem Anwaltsbüro, gesagt: ›Mein Stuhl bleibt frei, ich komme wieder. Das ist nicht mein Lebensberuf‹«.

Das Angebot, ein Ministerium zu übernehmen, erreicht in dieser atemlosen Zeit fast alle überraschend, und es gibt kaum Bedenkzeit. Cordula Schubert erinnert sich: »Für mich kam es sehr überraschend; denn bekanntlich war das mit den Telefonverbindungen in der DDR ja nicht so weitverbreitet. Ich musste am Tag vorher schon zur Volkskammersitzung anreisen, das war der 10. April, die Volkskammersitzung begann irgendwann um 10.00 oder 9.30 Uhr. Jedenfalls hätte ich da früh nicht mehr mit dem Zug von Chemnitz nach Berlin fahren können. So musste ich also einen Tag vorher anreisen. Und Auto hatte ich natürlich keins; denn die Wartezeit war noch nicht erfüllt. Und die hatten versucht, von Berlin aus mich telefonisch über die CDU-Geschäftsstelle zu erreichen. Aber ich war ja schon weg. Ich bin dann direkt zur Volkskammersitzung gegangen.

Und unten vor der Tür wartete der Geschäftsführer der Christlich-Demokratischen Jugend und meinte: ›Also, ich wollte nur sagen, du bist die designierte Ministerin für Jugend und Sport. Und wenn du jetzt die Treppen hochgehst, da oben steht Elf99, das Jugendfernsehen der DDR, und will als Erstes von dir hören, welche Politik du beabsichtigst in der nächsten Zeit.‹ Ein Gespräch hat eben halt auf Grund der Zeitprobleme und Erreichbarkeiten vorher nicht stattgefunden.«

Herbert Schirmer: »Ich war in Potsdam und bin von da aus durch West-Berlin gefahren, was damals noch mit einigen Kontrollmechanismen verbunden war, und kam demzufolge zu spät in die Präsidiumssitzung der CDU an dem damaligen Platz der Akademie, heute wieder Gendarmenmarkt, und betrete den Raum, der sozusagen besetzt war von den Gremien der Partei. Und alle guckten irgendwie so ein bisschen auf mich und lächelten milde. Und ich hatte das Gefühl, als ich den Raum betrat, alle wissen etwas, was ich nicht weiß. Ich habe dann meinen Platz eingenommen und irgendeine Entschuldigung wegen des Zuspätkommens geflüstert, und die Tagesordnung lief weiter.

Und plötzlich wurden Zettel verteilt. Und da lag vor mir das Schreiben, in dem der zukünftige Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, mich beglückwünscht zum Amt des Kulturministers der DDR. Es hat bis zu diesem Zeitpunkt keine Vorgespräche gegeben.«

Regine Hildebrandt wird von der frohen Botschaft in der Kirche überrascht. Ihr Staatssekretär Alwin Ziel: »Wir wussten, wo sie ist, die sang im Domchor. Und dann kriegten zwei von uns, Wolfgang Thierse und ich, den Auftrag, zu Regine zu gehen und ihr zu sagen, also jetzt wird es ernst, wir haben beschlossen, du sollst Arbeitsund Sozialministerin werden. Und als wir dahin kamen in die Kirche, da war das so, dass der Chor gerade sang und Regine mittendrin. Und wir mussten warten, bis die mit ihrem Lied zu Ende sind. Und dann haben wir gesagt: ›Regine, du musst Ministerin werden!‹ Und ihre wörtliche Reaktion war: ›Ihr seid verrückt geworden!‹ Das heißt, sie wollte gar nicht.«

Markus Meckel findet sich schwer in die Ministerrolle: »Ich bin ja vorher eigentlich immer nur mit einem Pullover rumgerannt. Ich habe auch als Pfarrer keine Anzüge getragen. Ich besaß nur einen, und der passte mir nicht mehr so richtig. Vor meiner USA-Reise habe ich mir dann einen Anzug gekauft. Und am Anfang meiner Außenministerzeit war das der einzige Anzug, den ich hatte. Und ich hatte dann kaum Zeit, mir andere zu kaufen, weil einfach die Tage von morgens bis abends so voll waren, dass also allein schon diese Banalität ein Problem darstellte. So dass es schon schwierig war, sich darauf einzustellen und immer den notwendigen protokollarischen Gepflogenheiten zu entsprechen, die man ja nicht kannte. Man musste beraten werden. Wichtig war, aber auch das dauerte eine Weile, dass ich mir dann ein paar Leute ausgeborgt habe aus dem Auswärtigen Amt. Das heißt, Hans Dietrich Genscher hat mir angeboten, ein paar Leute zu schicken. Aber ich war ja durchaus misstrauisch und wollte nicht unbedingt, dass dann vom Auswärtigen Amt mein Haus auch noch intern mitgeleitet wird.«

Der Bayerische Ministerpräsident Streibl spricht von der Laienspielerschar, die da im Osten am Werk sei, und meint das durchaus abschätzig. Wolfgang Thierse: »Das war schon ärgerlich, aber wir hatten dann auch ein bestimmtes Selbstbewusstsein entwickelt. Ja, wir waren Laienspieler, wir haben Politik gelernt, miteinander, nicht gegeneinander. Wir haben debattiert. Aber es gab so eine grundlegende, emotionale Verbindung, eben weil wir noch nicht Profis, noch nicht abgebrüht, noch nicht zynisch waren.«

Klaus Reichenbach: »Wir haben bei den Koalitionsverhandlungen mit der SPD gesessen, und es ging in der Nacht. Ich glaube, halb eins war irgendwie so der letzte Punkt, bei dem es darum ging, die Ministerposten zu besetzen. Und dann gab es einen Riesenstreit mit der SPD. Die wollten einen Ministerposten mehr haben, als die CDU ihnen zusagen konnte oder wollte. Und der goldene Kompromiss kam von de Maizière, der da in seiner üblichen Art und Weise an der Zigarette gezogen hat, muffig vor sich hinguckte und dann sagte: ›Mache einen Vorschlag! Mein Amtsleiter wird Minister, im Amt des Ministerpräsidenten, dann haben wir eben mehr, und dann kriegt ihr euern.‹ Und da wurde bei allen zugesagt. Und so bin ich, ohne dass ich überhaupt gefragt wurde, ich saß nämlich rechts neben ihm, bin ich in dieser Nacht zum Minister gekürt worden. Und wollte es überhaupt nicht werden, denn Amtsleiter, damit wäre ich ja durchaus zufrieden gewesen.«

Die erste Kabinettssitzung findet am 12. April im Anschluss an die Vereidigung der Regierung im Berliner Stadthaus, dem Amt des Ministerpräsidenten, statt. Die Versammlung ist für 14.00 Uhr angesetzt. Einer kommt zu spät, Regierungssprecher Matthias Gehler. Ein wichtigerer Termin hat ihn aufgehalten: seine für 13.00 Uhr anberaumte standesamtliche Eheschließung.

In dieser konstituierenden Kabinettssitzung benennt Lothar de Maizière die merkwürdige psychologische Situation, in der sich seine Regierung befindet: »Meine Herren, wir dürfen vom jetzigen Moment, vom ersten Moment an nicht vergessen, dass wir eine Aufgabe haben, die lautet, wir müssen uns selber überfällig machen, wir müssen uns abschaffen!« Sicherlich eine Konstellation, wie man sie so schnell in der Weltgeschichte nicht wieder finden wird: eine Regierung, deren Hauptziel ihr Verschwinden ist. Was übrigens auch für das Parlament gilt, die erste und letzte frei gewählte Volkskammer der DDR.

Dabei ist de Maizière klar, dass es mental nicht einfach ist zu wissen, ich gehe in so ein Amt mit dem Ziel, die Macht stückchenweise abzugeben. Einige, wird er 20 Jahre später sagen, ohne Namen zu nennen, fanden durchaus Gefallen daran, Minister zu sein, und veranstalteten lieber irgendwelche Besuche durch das halbe Land, als gediegene Kabinettsvorlagen zu erarbeiten. Im April 1990 geht er jedoch noch von einer Übergangszeit von mindestens zwei Jahren aus. Als Nahziel erhofft er sich bei den Sommerspielen 1992 in Barcelona eine gemeinsame deutsche Olympiamannschaft.

Schon in der ersten Kabinettssitzung benennt der Premier fünf wesentliche Punkte, die durch seine Regierung zu erledigen seien:

Erstens müsse die kommunale Selbstverwaltung wiedereingeführt werden, damit die Kommunen wieder Macht und Stimme haben. Der Einzelne solle vor Ort erfahren können, was Demokratie heißt. Also Schluss mit dem Zentralismus.

Zweitens müsse die Länderstruktur wiederhergestellt werden, damit eine grundgesetzkompatible Struktur entsteht und die östlichen Länder beim Bundesrat ihre Interessen einbringen können.

Drittens müsse so schnell wie möglich die Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion geschaffen werden.

Viertens gelte es, den ›Adapter‹ zu schaffen, um die zwei in 40 Jahren auseinandergelaufenen Rechtsordnungen wieder miteinander verzahnen zu können, einen Adapter zwischen zwei inkompatiblen Systemen.

Und fünftens, die außenpolitischen Aspekte müssen Zwei-plus-Vier geregelt werden, also zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges. »Und wenn wir diese fünf Punkte geschafft haben, dann gibt es eigentlich für uns keinen Grund mehr, weiter Regierung der DDR zu sein. Und diese fünf Punkte haben wir abgearbeitet.«

Fast alle Mitglieder des Kabinetts de Maizière bezeichnen die sechs Monate ihrer Amtszeit als die intensivste, als die rasanteste Zeit ihres Lebens, als beschleunigte Zeit, als schnell, spannend, aufregend – und stressig.

»Das Jahr 1990 war natürlich phantastisch«, sagt Klaus Reichenbach. »Ich habe gesehen, es gab die Chance der deutschen Einheit, das war ein politisches Ziel, was ich schon als Kind erträumt hatte und was natürlich zu erreichen an und für sich schon phantastisch war. Die Ereignisse haben mich dann einfach dahin gespült, wo wahrscheinlich der liebe Gott mich irgendwie vorgesehen hat. Meine Planung ist das nicht gewesen.«

»Die sechs Monate sind natürlich die prägendsten Monate meines Lebens gewesen«, sagt de Maizière. »Es gibt harte Erinnerungen, aber es gibt eben auch großartige Erinnerungen. Das Gefühl, in Moskau am 12. September den Friedensvertrag mit Deutschland zu unterschreiben und eine Geschichte abzuschließen, die mit dem Reichstagsbrand begonnen hat und die zu so grässlichen Stationen wie Novemberpogrom 1938 und 1. September 1939 und 22. Juni 1941 geführt hat und in die deutsche Teilung und in den Kalten Krieg, dann zu sagen: ›Mit Zustimmung unserer Nachbarn und der Siegermächte unterschreiben wir hier eine endgültige Regelung‹, das ist schon ein Moment, den ich in meinem Leben nicht missen möchte.«

»Es war die kreativste Zeit in meinem Leben«, resümiert Günther Krause, CDU-Fraktionsvorsitzender, Parlamentarischer Staatssekretär des Ministerpräsidenten und Verhandlungsführer bei den Gesprächen zum Einigungsvertrag. »Es war auch eine sehr aufreibende Zeit. Biologisch gesehen, ist man da nicht ein halbes Jahr gealtert, sondern drei oder gar vier Jahre, weil man so wenig geschlafen hat.«

Viele beschreiben einen Arbeitstag, der um 6.00 Uhr beginnt und oft erst nach 22.00 Uhr endet. Amtsminister Klaus Reichenbach berichtet, dass es oft an die Grenzen des Machbaren ging. Er sei im Schnitt nachts zwischen 23.00 und 1.00 Uhr aus dem Gebäude des Ministerrates gekommen und habe um 7.00 Uhr wieder am Schreibtisch gesessen. Er erleidet in der Zeit zwei Hörstürze.

Und der Premier: »Ich wurde in aller Regel morgens um halb sieben abgeholt und nachts um halb zwei wieder ausgekippt. Und dann habe ich, wenn es Dienstag war, noch die Kabinettsvorlagen von Mittwoch gelesen. Und das war Sonnabend, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Sonnabend, Sonntag so. Ich habe ein großes Glück: Ich kann in jeder Lebenslage schlafen. Wenn ich mich in den Dienstwagen hinten reinsetze, kippe ich um und schlafe von Treptow bis zum Ministerrat. Und wenn ich vom Ministerrat irgendwohin fahren muss, dann schlafe ich die nächste Runde. Ich habe immer zu meinen Sicherheitsleuten gesagt: ›Ihr wechselt euch ab in drei Schichten, aber ich werde nie ausgetauscht.‹

Ich hatte dem Justus Frantz versprochen, ich spiele in Greifswald bei der Eröffnung der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern als Solist ein Konzert. Und habe dann mein Instrument mitgenommen und habe jeden Mittag von eins bis zwei im Ministerrat eine Stunde geübt. Meine Mitarbeiter dachten zuerst, jetzt ist er völlig verrückt geworden! Aber es hat mir damals sehr geholfen, weil ich das Gefühl hatte, das teilt den Tag und du tust etwas nur für dich und versuchst, deine Seele wieder in Einklang zu bringen mit dir selbst.«

Günther Krause: »Also aufstehen um 6.00 Uhr, zu Bett gehen morgens zwischen 1.00 und 2.00 Uhr. Ich kann mich entsinnen, dass ich im Mai irgendwann mal gesagt habe: ›Ich schwitze so, ich glaube, ich habe Fieber.‹ Und mein Fahrer sagte nur: ›Nein, der Winter ist vorbei.‹ Man hat überhaupt nichts mehr mitbekommen, man war so sehr im Stress und hatte jeden Tag neue Probleme.«

Es ist auch eine Zeit ungeheurer Möglichkeiten, wo Dinge ohne Bürokratie schnell und unkompliziert zu regeln sind. Diese Erfahrung macht zumindest Almuth Berger, die Ausländerbeauftragte: »Ich bin am Donnerstag zu Rainer Eppelmann gegangen und habe gesagt: ›Ich brauche eine Kaserne!‹ Und dann sagte er: ›Hm, wann?‹ Ich sagte: ›Na, vorgestern!‹ Also sofort. Und dann haben wir uns ans Telefon gehängt. Und er hat geguckt, welche Kaserne ist schon geräumt von der NVA. Die musste dann wieder bestückt werden mit Mobiliar, und am nächsten Tag konnte ich Flüchtlinge da unterbringen.

Oder ich bin zum Finanzminister gegangen und habe gesagt: ›Ich brauche Geld für die Versorgung der jüdischen Flüchtlinge, die kamen!‹ Da sagte er: ›Wie viel?‹ Ich sagte: ›Weiß ich nicht! Kann ich einfach nicht sagen!‹ Da sagte er: ›Setz dich einfach zusammen mit meinen Abteilungsleitern und überlege das, und dann komm wieder!‹ Und dann habe ich mich mit denen hingesetzt, und wir haben versucht, da irgendwelche Berechnungen anzustellen, die sicher abenteuerlich waren, und sind auf irgendeine Summe gekommen, so und so viele Millionen. Und dann bin ich wieder hingegangen und habe gesagt: ›Also, wir haben was ausgerechnet!‹ Dann sagte er: ›Okay, kriegst du!‹«

Lothar de Maizière nennt Zahlen, die den enormen Arbeitsanfall in diesen sechs Monaten illustrieren: Es werden 759 Kabinettsvorlagen behandelt, manche zwei- oder dreimal. Er unterschreibt 143 Verordnungen. Die Volkskammer bearbeitet und beschließt 96 Gesetze, die vom Ministerrat vorgelegt werden.

Der Prozess der Gesetzgebung ist folgendermaßen organisiert: Am Montag tagt die Staatssekretärsrunde. Hier werden alle aus den Ministerien vorgeschlagenen Gesetzesänderungen bzw. Änderungen der Verordnungen durchgearbeitet und auf Fehler, auf technische Durchführbarkeit und politische Brisanz geprüft. Die Ergebnisse werden am Dienstag mit den Fraktionsvorsitzenden der Koalition besprochen. Mittwochs früh um 8.00 Uhr tagt der Ministerrat und behandelt die Vorlagen. Anschließend werden sie, mit eventuellen Korrekturen, in die Volkskammer geschafft. In der Regel ist dort am Donnerstag die erste, am Freitag die zweite Lesung und Verabschiedung der Gesetze. Am schlimmsten Tag, an den sich Amtsminister Reichenbach erinnern kann, waren es 35 Gesetzesentwürfe und 23 Verordnungen – ein ganzer Koffer voll.

Gemessen am Arbeitsanfall ist das Gehalt eher bescheiden und für alle gleich: 2750,00 Mark. Der Premier bekommt 1000,00 Mark mehr. Umweltminister Karl-Hermann Steinberg: »Bei Töpfer, in seinem Ministerium, gab es keine Putzfrau, die weniger hatte als ich als Minister.« Am 1. Juli wird aus der Ostmark die Westmark. Die Höhe des Gehaltes bleibt gleich.

Fast alle Minister und Staatssekretäre wohnen in Gästehäusern der Regierung, im Johannishof an der Friedrichstraße oder im Pankower Schloss Niederschönhausen. Die Zimmer sind schlicht und unpersönlich, aber man hält sich ja auch nur zum, viel zu kurzen, Schlafen dort auf. Die Miete für ein Zimmer beträgt 75 DDR-Mark im Monat, für ein Appartement ca. 250 Mark – nach dem 1. Juli natürlich in DM.

Dennoch erinnern sich fast alle gern an diese Zeit. Innenminister Diestel: »Ich habe selten mit so vielen klugen Leuten in einer Gemeinschaft wie in diesem Kabinett zusammengearbeitet. Es waren sehr, sehr Leistungsstarke. Wenn ich an Forschungsminister Terpe denke, wenn ich an Regine Hildebrandt denke, die eine hervorragende Arbeit gemacht hat, die zwar intellektuell sehr chaotisch, aber sehr menschlich und damals schon auch weitsichtig klug war, auch Günther Krause letztendlich als Staatssekretär im Amt des Ministerpräsidenten – das war eine Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, die sehr intensiv war, und wo trotz dieser relativ kurzen Zeit, einem halben Jahr, irrsinnig viel geschehen ist.«

1 Wenn nicht anders vermerkt, handelt es sich bei den Datumsangaben immer um das Jahr 1990.

2 Siehe Anhang: Das Kabinett de Maizière.

3 Neun von 24 Kabinettsmitgliedern und sieben Staatssekretäre kamen aus dem Kirchenbereich.

2.Ein Plebiszit

»Robust, clever, parteipolitisch genial und gemein zugleich!«

Wolfgang Thierse

Am 28. Januar 1990 trifft sich Ministerpräsident Hans Modrow mit Vertretern der Opposition. Das Ergebnis dieser Zusammenkunft ist eine Allparteienregierung der »nationalen Verantwortung«. Man beschließt, die Volkskammerwahlen vom 6. Mai auf den 18. März vorzuziehen. Der Zentrale Runde Tisch stimmt am nächsten Tag zu. Es werden die ersten und letzten freien Volkskammerwahlen der DDR sein, und das Ergebnis wird die meisten überraschen, denn in den Vorabumfragen hatte die SPD immer die Nase vorn – alles rechnete mit einem Sieg der Sozialdemokraten.

Wolfgang Thierse allerdings bezeichnet die Monate vor der Wahl als eine Zeit geradezu rasanter Stimmungsveränderungen. Etwa bis zum 4. November 1989, dem Tag der riesigen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz, ging es darum, die Grundfreiheiten gemeinsam einzufordern und das Land zu verändern. Der Schlachtruf war: »Wir sind das Volk!«

Nach der Öffnung der Mauer schlug die Stimmung um. Jetzt rief man plötzlich überall »Wir sind ein Volk!« Das hieß, was sollen wir uns lange streiten um Veränderungen im Land, wir wollen soziale Marktwirtschaft und Vereinigung. Wir wollen die D-Mark. Auf den Demos im ganzen Land wurde skandiert: »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!« Und das war keine leere Drohung. Im Januar verließen täglich über zweitausend vor allem junge, gut ausgebildete Leute die DDR. Mit 600 000 bis 700 000 Übersiedlungen aus der DDR rechnete der Deutsche Städtetag der Bundesrepublik für 1990. Deren Vorsitzender Herbert Schmalstieg befürchtete gravierende Probleme auf dem Wohnungsmarkt: »Das ist Sprengstoff, der den sozialen Frieden stark gefährdet!« Baden-Württembergs Ministerpräsident Lothar Späth sprach sich für Rückkehrprämien für DDR-Bürger aus.

Am 5. Februar, in Vorbereitung der Volkskammerwahl, schließt sich die DDR-CDU mit dem Demokratischen Aufbruch (DA) und der DSU, unter Anwesenheit und wesentlichem Einfluss von Helmut Kohl, zum Bündnis »Allianz für Deutschland« zusammen.

Schon der Name »Allianz für Deutschland« ist psychologisch klug gewählt, weist er doch auf das Ziel Deutschland einig Vaterland hin und bedient damit geschickt die Erwartungen im Volk. Gewinnen wird der, der am konsequentesten für die Herstellung der deutschen Einheit eintritt.

Thierse nennt es Einmischung in die ostdeutschen Belange: »Die haben das am robustesten betrieben und waren nicht zimperlich. Blockparteien übernehmen und eine Allianz schmieden und gleichzeitig der SPD vorwerfen, sie wolle irgendetwas mit der alten SED machen! Das war schon robust, clever, parteipolitisch genial und gemein zugleich. Der einzigen neu gegründeten Partei, der SPD, die den Machtanspruch der SED als Partei bestritten hat, dieser Partei vorzuwerfen, sie wollte den DDR-Sozialismus in irgendeiner Weise verlängern. Also die Geste, mit der Helmut Kohl diesen Wahlkampf in Ostdeutschland entschieden hat, war doch ganz einfach: ›Ich richte es für euch. Es wird schnell gehen, es wird keine Schmerzen verursachen.‹ Der Patriarch, der mit paternalistischer Geste die ängstlichen, verunsicherten, ungeduldigen Ostdeutschen an die Hand nahm und sagte: ›Ich führe euch in das gelobte Land.‹ Das hat funktioniert.«

»Ein paar Tage vor der Wahl wurde ich von der taz interviewt«, erzählt Sabine Bergmann-Pohl, »die mich dann am Schluss fragte, wie meiner Meinung nach die Wahl ausgehen wird. Da antwortete ich: ›Ich glaube, wir kriegen ein ganz gutes Ergebnis, die Allianz für Deutschland. Wir sind ja für die Wiedervereinigung eingetreten. Ich schätze, wir kriegen so 28 bis 30 Prozent.‹ Und da bekam die Interviewerin einen Lachkrampf und sagte: ›Das glauben Sie doch alleine nicht!‹«

Oft waren die Sympathien im Lande bei der SPD und bei den Vertretern der Bürgerbewegung. »Wenn ich euch so sehe«, sagt ein älterer Arbeiter zu Thierse, »und wenn ich an meinen Vater und Großvater denke, dann möchte ich eigentlich Sozialdemokratie wählen. Aber ihr habt nicht die große Kohle, die hat Herr Kohl.«

Oskar Lafontaine, Kanzlerkandidat der West-SPD, versucht zu bremsen. Richard Schröder, Fraktionschef der Ost-SPD: »Lafontaine hatte ganz andere Motive. Der hat immer gesagt, das würde unbezahlbar werden und der Sozialstandard im Westen würde gefährdet. Ich wundere mich sehr, dass Lafontaine inzwischen gehandelt wird als jemand, der dafür gekämpft hat, dass alles sanfter zugehe. Nein, er hat gesagt: ›Die sollen uns nicht in unsere Kassen reinstürzen, die brauchen wir für uns selbst. Das gibt böses Blut, wenn hier so viele Ausländer von draußen reinkommen.‹ Das sind Lafontaines Sprüche gewesen. Ich habe ja auch oft das Argument gehört, ob die Geschwindigkeit der Änderungen nicht die Leute überfordert. Da habe ich etwas schnodderig geantwortet: ›Revolutionen überfordern die Menschen immer!‹«

Das Ergebnis der Wahlen am 18. März: Allianz für Deutschland 46,8 Prozent (CDU 40,6 Prozent, DSU 6,3 Prozent, DA 0,9 Prozent), SPD 21,8 Prozent, PDS 16,3 Prozent, BFD 5,3 Prozent, Bündnis 90 2,9 Prozent.

Thierse ist enttäuscht, aber nicht bestürzt. Er hatte das Ergebnis schon geahnt, als er kurz vor der Wahl zur Beerdigung seines Vaters nach Thüringen gefahren war und feststellen musste, dass die Stimmung im Lande ganz anders ist als in Berlin. Auch Richard Schröder roch den Braten. Ihm war klar, dass die Umfrageergebnisse, die die SPD klar vorn sahen, nur bedingt aussagefähig sind, waren sie doch telefonisch erhoben worden. In der DDR hatten ja nur sehr wenige ein privates Telefon, und das waren oft Funktionsträger. Das Ergebnis dieser Umfrage konnte nicht repräsentativ sein.