Die Lichter des Winters - Sabrina Schuh - E-Book
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Die Lichter des Winters E-Book

Sabrina Schuh

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Beschreibung

Die Fakriro Adventsanthologie unter dem Motto "Gemeinsam mehr erreichen" ist dein literarischer Adventskalender. Sie begleitet dich mit viel Gefühl, Spannung und Magie durch den Advent und stimmt dich mit winterlichen Geschichten perfekt auf das Weihnachtsfest ein. 1. Einer trage des anderen Last – Hanna Bertini 2. Eine unerwartete Zusammenkunft – Helge Böger 3. Dünnes Eis – Fyjell 4. Kaffee Kreativa – Sabrina Schuh 5. Die Crew – Emanuel Kessler 6. Weihnachtsmann auf Diebestour – Heidi Wagemann 7. Die Frage alle Fragen – Stephanie Katharina Braun 8. Unter der Blutbuche – Helge Böger 9. Die Stille nach dem Boom – Christin Tewes 10. Multiplayer – Juliet May 11. Vom Dämon der Weihnacht / Teil 1 - Mary Cronos 12. Vom Dämon der Weihnacht / Teil 2 - Mary Cronos 13. Perchtas Kinder – P.J. Hill 14. Ahiro, Drache der Zukunft – Sabrina Schuh 15. Magisches Weihnachtswunder – Rina MoCass 16. Der Dämon, den ich rief – Helge Böger 17. Die Krippe des Grauens – Andrea Reinhardt 18. Weihnachtslichter – Josephine Oxfart 19. Melangerié – Stephanie Helmel 20. Der vergessene Untermieter – Helge Böger 21. Einfach unperfekt – Jess Raelt 22. Von Gold und Silberstreifen – Juliet May 23. Mit Volldampf zum Fest – Stephanie Helmel 24. Die Weihnachtssendung – Mary Cronos Seiten des Printbuches: 378

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www.fakriro.de
Fakriro GbR
Bessemerstraße 82
10. OG Süd
12103 Berlin
1. Auflage Oktober 2022
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks, Kopie und Verbreitung in jeglicher Form sind vorbehalten.
Coverdesign: Mary Cronos, www.colors-of-cronos.de
Innenillustrationen: Mary Cronos, www.colors-of-cronos.de
Lektorat: Sabrina Schuh, www.sabrinaschuh.de
Korrektorat: Rosi Tippl
Buchsatz: Widest Solutions UG (haftungsbeschränkt)
Druck: booksfactory, 71-063 Szczecin (Polen)
Mit freundlicher Unterstützung von

Das Vorwort einer einsamen Weihnachtsgeschichte

Es begab sich zu jener Zeit, dass die Weihnachtszeit 2019 näher rückte, die Wohnungen dekoriert und die Lichter entzündet wurden. Alle Geschichten, die ich kannte, hatten andere Geschichten an ihrer Seite und befanden sich in dicken Büchern, die von den Menschen, die sich auf das Weihnachtsfest freuten, nur allzu gern zur Hand genommen wurden. Einzig ich blieb einsam und fand als winzige Kurzgeschichte keine Beachtung. Niemand wollte mich lesen, niemand einer alleinstehenden kleinen Geschichte eine Chance geben. Völlig verzweifelt suchte ich schließlich in einer ramponierten Hütte Unterschlupf, da ihn mir keine Menschenseele gewährt hatte. Ich vergrub mich unter herumliegenden Decken und wollte mich schon vollends meinem Elend ergeben, als plötzlich zwei Gestalten in der Tür auftauchten. Zuerst dachte ich, sie müssten Engel sein, die mich zu sich riefen, doch dann stellten sie sich als zwei junge Frauen heraus, denen ein Unternehmen namens Fakriro gehörte. Besorgt setzten sie sich an meine Lagerstätte und hörten mir geduldig zu, als ich ihnen mein Leid klagte. Nachdem ich geendet hatte, trat die eine murmelnd zur Seite, während die andere mir Trost spendete.
Es dauerte nicht lang, da kam Erstere zu Mary – so hatte sich die andere inzwischen vorgestellt – und mir zurück. Aufgeregt flüsterte sie Mary Worte ins Ohr, die diese mit begeistertem Nicken unterstützte, und alles danach ist Geschichte.
Die beiden Frauen – Sabrina heißt die zweite übrigens – haben mir das größte Geschenk gemacht, das sie vermochten: Sie haben andere Geschichten für mich gesucht, uns dabei geholfen, Freundschaften und Persönlichkeiten zu entwickeln, und uns in den besten Weihnachtszwirn gehüllt, sodass ich nun mit all meinen neuen Freunden selbst in die weihnachtlichen Stuben einziehen und Freude schenken darf.
Gemeinsam lässt sich eben so viel mehr erreichen als allein – und genau deshalb ist auch dies das Motto dieses Büchleins, das euch liebe Leser*innen hoffentlich genauso viel Freude bereitet wie uns.
Frohe Weihnachtszeit und erholsame Feiertage
wünschen euch
die gar nicht mehr einsame Weihnachtsgeschichte
und ihre Herausgeberinnen
Sabrina Schuh und Mary Cronos

Einer trage des anderen Last

Hanna Bertini

Aus dem Radio dröhnte Last Christmas von Wham. Der Toyotafahrer trommelte den Takt aufs Lenkrad, begleitete die Melodie mit einem aus vollstem Herzen gesungenen Na, na, na, drückte gut gelaunt noch etwas mehr aufs Gas und raste durch den Nebel. Zu spät sah er das Auto vor sich. Er stieg in die Bremsen, doch der Schneematsch auf der Straße ließ ihn weiterrutschen und sein Auto krachte von hinten auf den Opel vor ihm. Die Wucht schleuderte den Opelfahrer aus dem Auto und er schlug hart auf dem Asphalt der Gegenfahrbahn auf. Dort blieb er bewegungslos liegen. Die Scheinwerfer der bremsenden Autos tauchten den Mann in ein fahles Licht und brachten die Blutlache unter ihm zum Glitzern, während sie sich von Minute zu Minute weiter ausbreitete.
TOD saß am Rand der Landstraße auf einem großen Findling und beobachtete den Verletzten, das Kinn in die Hand gestützt. Er wartete. Ein Großteil seines Jobs bestand daraus. Und immer auf das Ende. Diesmal wartete er zudem auf seinen Sohn Todd, der längst hier sein sollte, um bei TOD zu hospitieren. Sein erster Tag. Todd sollte die Abläufe kennenlernen, um TOD mittelfristig etwas Arbeit abzunehmen.
Die Weltbevölkerung wuchs rapide – das sorgte ebenso für Mehrarbeit wie die Tatsache, dass sich kaum jemand beim ersten Versuch verabschiedete. TOD war schon jetzt an vielen Orten gleichzeitig, aber es wurden stetig mehr und das Pensum konnte er schlicht nicht mehr schaffen. Er war schließlich auch nicht mehr der Jüngste. Gerade zum Beispiel befand er sich in einem Bandenkrieg einer Favela, einem Dürregebiet in Angola und standardmäßig in den meisten Hospizen. Die Überforderung lähmte ihn. TOD schaute auf die Uhr. Wo blieb der Bursche? Gleich würde da vorn ein Lebenslicht verlöschen und keine Spur vom Sohnemann. Er seufzte und beugte sich vor, um besser zu sehen. Winter war Unfallzeit, Straßenzeit. Im Sommer lohnten die Seniorenheime.
In dem Moment, in dem er sich aufrichtete, um den Sterbenden abzuholen, streifte ihn ein Lufthauch und er merkte auf. Na endlich! TOD blickte hoch und verdrehte die Augen. Schultz mal wieder!
Dieser klappte seine großen Schwingen ein, als er auf einem Baum am Straßenrand landete.
Herrje, was wollte der verdammte Schutzengel? Vor ihnen lag doch eine todsichere Angelegenheit.
Ein Martinshorn durchschnitt die Stille. Schnell näherte es sich dem Stau an der Unfallstelle. Ohne Weiteres würde der Rettungswagen nicht durchkommen. Es gab schließlich genug Autofahrer, die zu langsam oder zu dumm waren, eine Rettungsgasse zu bilden.
Tatsächlich standen dort gleich drei Autos mit Fahrern, die mit dem Smartphone filmten, statt die Straße zu räumen. Schultz hatte es ebenfalls gesehen.Er schwebte von einem Auto zum anderen und – oh, Wunder – sie rollten fix aus dem Weg, sodass der Krankenwagen das Unfallopfer problemlos erreichte.
Die Sanitäter sprangen heraus und im kommanix hatten sie den verletzten Fahrer mit dem Defibrillator wiederbelebt und an den Tropf gehängt. Aus dem Rettungswagen waberten die Radioklänge zu Chris Reas Driving Home for Christmas.
TOD murrte. Unnütze Anfahrten! Ständig Rettungen vorm Exitus in letzter Sekunde! An wie vielen Orten sollte er noch warten und unverrichteter Dinge wieder davonziehen? Früher war der Jobbefriedigender gewesen. Wenn die Menschen so ausgesehen hatten, als würden sie sterben, hatten sie es auch getan. Jetzt verbrachte er immerzu nutzlose Stunden in Krankenhäusern. Weiß Gott, kein gemütliches Ambiente. Und nur, um dann weggeschickt zu werden. Er schnaufte. Die Intensivmedizin raubte ihm den letzten Nerv. Wie oft wollte man die Menschen auf halbem Weg zurückholen? Und wozu? Das bisschen zusätzliche Lebenszeit!
Schultz machte es sich erneut auf dem Baum bequem und winkte lässig herüber. Immer dieselben Gestalten auf denselben ausgetretenen Pfaden.
TOD seufzte und nickte ihm kurz zu.
»Hey, Paps!«
Da war er ja endlich! »Auch schon da?« TOD hob tadelnd eine Augenbraue und verzog grimmig die Mundwinkel. »Sieht nicht gut aus«, murmelte er.
»Wieso?« Todd sah sich um.
Mit der Sense wies TOD auf Schultz. »Wegen ihm«, knurrte er.
»Ist doch ein netter Kerl«, Todd zuckte die Schultern. »Seid ihr nicht befreundet, so oft, wie ihr euch begegnet?«
Schultz nickte, während er die Beine baumeln ließ.
»Kann ich gar nicht ausstehen diese übertriebene Lässigkeit«, grummelte TOD. »Ein bisschen mehr Demut!« Er schlurfte davon.
Todd sprang hinterher. »Wo gehen wir hin, Papa?«
TOD schaute ihn ungeduldig an. »Wohin wohl? Ans Stauende.«
»Darf ich mich anschließen?«, Schultz schwebte ihnen nach.
»Es wäre effizienter, wenn wir nicht ständig am selben Ort auftauchen«, brummte TOD. »Geh doch lieber zu jemandem, den ich nicht auf der Liste habe.«
Schultz schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.« Er dachte nach. »Ich finde mich recht effektiv.«
TOD schnaufte. »Alles eine Frage der Perspektive.« Mittlerweile sahen sie das Stauende – falls es blieb, wo es war und sich nicht in Windeseile um weitere Kilometer nach hinten verschob.
»Ich finde, ihr seid ein tolles Team«, vermittelte Todd. »Gehen irgendwie Hand in Hand euere Jobs.« Er grübelte. »Wobei, ganz ehrlich, Papa, Schultz ist ein bisschen proaktiver. Du lässt das doch ziemlich laufen.« Er rieb die Nase. »Outfit ist natürlich Geschmackssache. Schultz ist etwas leichter in der Erscheinung, gefällt mir.«
TOD runzelte die Stirn. Auch das noch. Wollte der Bengel Schutzengel werden, statt ihm zu helfen? Der Tag wurde ja immer besser. »Dann begleite halt ihn.« Seine Stimme klang genervt.
»Au ja, darf ich?«
Schultz’ Blick wanderte zwischen Vater und Sohn hin und her. »Marschieren wir beiden schon mal vor«, schlug er Todd vor. Am Stauende würde es bald eine Reihe Auffahrunfälle geben, sagte ihm sein kribbelnder linker Zeigefinger.
»Klar, macht ihr euch auf den Weg. Meine Knie können heute nicht so schnell.« TOD stützte sich auf seine Sense und schaute ihnen gedankenverloren nach.
Todd schlenderte unterdessen neben Schultz her. Die Vorstellung, eine Berufswahl zu haben, beflügelte ihn. Plötzlich stutzte er. »Braucht man Flügel?«
Schultz, der konzentriert vorwärtsstrebte, sah sich kurz irritiert um und schwieg.
Sie hatten das Stauende erreicht.
Die Autos rasten heran. Die letzten vier waren nicht mehr zu bremsen.
Schultz flatterte hin und her, streckte hier und da seine Hand aus. Immerhin drosselte er auf diese Weise die Geschwindigkeit und verhinderte das Schlimmste.
Wenig elegant, dachte TOD aus der Entfernung. Eher wie aufgescheuchtes Geflügel, das passenderweise die ein oder andere Feder verlor.
Als die Rettungswagen eintrafen, luden die Sanitäter einen Verunfallten nach dem anderen ein. Ihre langsamen Bewegungen wiesen daraufhin, dass die Vitalwerte der Unfallopfer stabil waren und niemand in Lebensgefahr schwebte.
TOD seufzte. Es gab weiterhin nichts für ihn zu tun.
Schultz und Todd schlenderten ihm entgegen, an den schaulustigen Autofahrern vorbei.
»Gott sei dank!«
»Gute Notfallinfrastruktur!«
»Zufall!«
»Exzellente medizinische Versorgung.«
Schultz wurde immer muffiger. Das Engelsgesicht zog eine echte Flappe.
»War super, du hast ganze Arbeit geleistet, hat sich gelohnt, nicht?«, munterte Todd den Engel auf.
»Ach was, das war nicht ich, das waren der Zufall, das Glück, die medizinische Versorgung und das vorausschauende Fahren. Mit mir hat das nichts zu tun, rein gar nichts, hast du nicht gehört?« Schultz schnaubte.
Jetzt hatten sie zu TOD aufgeschlossen. Todd legte Schultz die Hand auf die Schulter: »Das meinen die sicher nicht so, die wissen doch um dich.«
»Schutzengel? Kennst du einen Menschen, der an Engel glaubt? Die wenigen, die mir untergekommen sind, waren sehr merkwürdig. Von denen ist hier allerdings keiner dabei.« Schultz stapfte weiter. »Dafür hetzt man sich nun ab – und was ist der Dank?«
»Nimms nicht so schwer«, mischte sich TOD ein.
»Du hast gut reden.« Schultz schoss mit dem Fuß einen Kiesel gegen den nächsten Baum. »Wenn du kommst, werfen sich alle in den Staub und flehen um Gnade. Das nenn ich Respekt. Bei mir hingegen, egal was ich mache und tue: nicht das kleinste bisschen Feedback. Wie auch, wenn keiner an mich glaubt.« Er schniefte. »Ist es zu viel verlangt, einfach gesehen zu werden?«
Der sonst etwas steife TOD fühlte sich bemüßigt, Schultz auf die Schulter zu klopfen.
Todd knuffte ihn tröstend gegen den Oberarm.
Vater und Sohn ließen Schultz einen Moment stehen und zogen sich flüsternd hinter einen Baum zurück.
»Hör mal«, TOD schloss zu Schultz auf, stupste ihn an und kramte ein verknittertes Blatt aus seinem grauen Gewand. »Ich habe hier gleich eine so todsichere Sache, dass du noch nicht einmal Bescheid bekommst. Jedenfalls sagt das die rote Markierung.« Er wies mit seinem dicken Finger auf einen Namen. »Fünfeinhalb ist das Kind – mag ich gar nicht erledigen, das verdirbt mir die Laune. Wäre es nicht etwas Anspruchsvolleres für dich? Dann halte ich mich zurück.«
Schultz nahm ihm das Papier aus der Hand und überflog es schnell. 14.30 Uhr. »Das ist ja schon in einer halben Stunde und nicht gerade um die Ecke«, er zögerte. »Willst du mich da in irgendwas reinreißen? Hat das nen Haken? So was machen wir sonst nie …«
»Ach, mir geht es heute nicht so gut.« TOD hielt sich den Kopf und blinzelte Todd unauffällig zu. »Für so einen kleinen Menschen so einen riesigen Aufwand, das muss ja nicht sein …«
Schultz schaute ihn prüfend an. »Und die Zählkarte? Das schlägt sich doch auf deine Statistik nieder, oder?«
TOD winkte ab. »Bald sind wir ja zu zweit, das holen wir locker wieder rein.«
»Wenn du meinst – dann geh ich mal«, sagte Schultz, breitete die Schwingen aus und stieß sich sacht ab. »So long!«
Kaum war er außer Hörweite, starteten auch die anderen beiden. »Am besten sehen wir uns das vor Ort an«, brummte TOD.
Todd sah ihn aufmerksam an.
»Nur um sicherzugehen, dass er alles im Griff hat,« ergänzte TOD.
»Kannst wohl nicht loslassen, wie?«
TOD schwieg.
Kurz darauf landeten sie in einem Dorf am Elm.
Ein verschlafener Ort ohne Läden, mit einer gedrungenen Dorfkirche im Zentrum, vor der bereits der Weihnachtsbaum stand und mit Lichtern geschmückt war, und einer großen Durchfahrtsstraße. Hier machten im Sommer Fotografen gern malerische Fotos von blumengesäumten weißen Bänken vor Fachwerkhäusern. Nun sorgten Nebel und Schnee für eine weihnachtlich-romantische Atmosphäre, in der man mit geschlossenen Augen meinte, die Kaminfeuer in den Häusern knistern zu hören.
TOD stieß Todd an. »Da ist sie!«
Die kleine Lena-Marie spielte im Garten ihrer Oma an der Durchfahrtsstraße. Sie versteckte sich vor einer Fantasiefreundin und suchte gerade einen Platz in einem besonders dichten Gebüsch. Dafür fegte sie den Schnee unter dem Busch mit der Hand weg. Plötzlich lugte ein schmutziger, vermooster Ball unter dem Schnee hervor. Lena-Marie grub ihn frei und kletterte mit dem Ball aus dem Gestrüpp. Sie war ja schon groß und wollte schauen, wie weit sie ihn fliegen lassen konnte. Mit drei Schritten nahm Lena-Marie Anlauf und schoss. Doch der Fuß rutschte an der glitschigen Oberfläche ab, sodass er den Ball nicht ordentlich traf und dieser im weiten Bogen auf die Straße flog. Vor Schreck flitzte Lena-Marie hinterher und sprang kurzerhand über die Findlinge im Vorgarten auf die Fahrbahn.
TOD und Todd spähten um die Hausecke. Sie erfassten mit einem Blick beides: das laufende Kind und den SUV, der es eilig hatte und natürlich keine Fünfzig fuhr, wie es sich innerorts gehört hätte, sondern mit hundert heranraste. Und wo war Schultz? Näher und näher kam das Auto und selbst TOD, der tagtäglich viel erlebte, schaute weg. Sie warteten auf den Zusammenstoß. Und warteten. Stille. Von einem Moment auf den anderen schwieg der Motor. Dafür quietschten Bremsen.
Todd hatte sich die Hand auf die Augen gelegt und linste zwischen seinen Fingern hindurch. Er sah nur noch, wie die Hinterachse des Autos durch die abrupte Bremsung leicht abhob und der Wagen dann stehen blieb.
Lena-Marie brüllte. Sie hockte regungslos mitten auf der Straße.
Ein junger Mann stieg aus dem Auto. Leichenblass betrachtete er das Kind und sein Auto. Hatte er tatsächlich vergessen zu tanken, weil die Tanknadel urplötzlich auf Null gerutscht war? Wie konnte das zeitgleich eine automatische Bremsung auslösen? Das Auto musste dringend in die Werkstatt. Hier stimmte etwas nicht. Gleichzeitig beglückwünschte er sich, dass es ihm ausgerechnet hier und kurz vor einem unausweichlichen und schrecklichen Unfall passiert war.
Lena-Maries Oma kam aus dem Haus gestürzt und riss das Kind an sich. »Wie oft habe ich dir gesagt …« Ihr Schluchzen unterbrach die geplante Standpauke. Sie wiegte das Mädchen in den Armen. »Dein unglaublicher Schutzengel!«, wiederholte sie immer und immer wieder. So oft, dass schließlich auch der junge Autofahrer von einem Schutzengel sprach.
Und in dieser Version landete es in der Lokalzeitung, die in dieser trüben Zeit auf der Suche nach anrührenden Geschichten war und nur zu gern über Frühes Weihnachtsgeschenk: Lena-Maries Schutzengel auf der B49 berichtete. Der Internetredakteur seufzte gerührt und setzte die Geschichte auf der Website nach oben unter die beliebte Rubrik: Fürs Herz. Von dort fand sie ihren Weg in die sozialen Medien, in denen sie als Weihnachtsgeschichte viele Daumen und Herzen erhielt.
TOD und Todd gaben sich High five, als sie die Schlagzeile lasen. Der Junior hatte vielleicht recht: alles eine Frage des Marketings. Schon ein, zwei legendäre Rettungen konnten genügen, um Schultz Aufmerksamkeit zu verschaffen. So ermutigt, spielten sie Schultz von nun an häufiger mal einen Tipp zu.
Besonders groß herauskam er mit der Rettung des brennenden Urlaubsfliegers. Die Schlagzeile schaffte es sogar in die Fernsehnachrichten – Schutzengel fliegt mit Flieger, hieß es.
Als mehrere Zeitungen schließlich wöchentliche Kolumnen unter dem Titel Schutzengel aktuell, Schutzengel vor Ort und Schutzengel am Werk einführten, gingen sie wieder zum Alltag über.
»Alles bloß inszeniert?« Schultz verschüttete beleidigt sein Guiness, als TOD und Todd ihn am folgenden Weihnachten in ihre Machenschaften einweihten. »Ist doch nur fair«, TOD klopfte Schultz beruhigend auf die Schulter.
»Papa hat ja auch seine eigene Rubrik.«
TOD nickte. »Immer befriedigend, das persönliche Werk nachhalten zu lassen.«
»Aber, wenn das alles abgekartet war …« Schultz ließ die Schultern hängen. »Damit ist es gar nicht mein Verdienst.«
»Ach was«, widersprach TOD. »Wir sind einfach ein funktionierendes Netzwerk. So was braucht man heutzutage, um sichtbar zu sein. Das hat nichts mit deiner Leistung zu tun.«
»Wenn ihr meint …«, Schultz nahm einen großen Schluck und wandte sich Todd zu. »Ursprünglich ging es doch um dich und die Berufswahl! Steigst du nun bei deinem Vater ein oder greifst du mir unter die Flügel?«
Todd zögerte und schaute auf seine Füße. »Ganz ehrlich?« Er räusperte sich. »Eure Reisetätigkeit, also dieser Außendienst, das ist nix für mich. Backoffice nutzt meine Talente optimal – und ist genau, was ihr benötigt: perfekte Einsatzplanung und strategisches Ressourcenmanagement.«
TOD und Schultz verzogen das Gesicht.
»Synergien, sage ich nur. Dann schafft ihr den Rest auch allein.« Damit ließ Todd die alten Herren sitzen und verschwand grinsend auf der Toilette.

Eine unerwartete Zusammenkunft

Helge Böger

Der Schneesturm verfolgte mich und Pete Coherty bis in die Höhle. Ein Windstoß trieb den Schnee zu uns in den Felsraum. Dort blieb er wie Watte liegen und bei jedem Schritt knarzte er unter dem Gewicht unserer Stiefel. Die Rehböcke, die vor die beiden Lastenschlitten gespannt waren, schüttelten sich. Wassertropfen perlten von ihrem Fell. Pete stellte seinen Schlitten an eine Höhlenwand, während ich meinen noch hineinschob. Leichter gesagt als getan, wenn trotz der Trolllederhandschuhe die Finger taub waren.
»Elende Schneeteufel!« Pete klopfte sich den Schnee aus dem Fellmantel. »Warum speit der Winterdrache ausgerechnet heute seinen frostigen Odem?«
Ich setzte meinen Reiserucksack ab. »Du tust, als wäre dieser Sturm etwas Ungewöhnliches. Wir haben das in Deren Oak doch jede Woche. Sieh es positiv: Das bedeutet, wir befinden uns schon in der Nähe des Dorfes.«
»Aber warum jetzt? Am Sonntag wäre es mir lieber gewesen. Da war eh Kirchendienst. Wenn er ausgefallen wäre, hätte ich nichts einzuwenden gehabt. Bloß nicht heute – nicht mitten im Rennen.«
»Krieg dich mal wieder ein. Die übrigen Teilnehmer sitzen genauso fest wie wir.«
»Darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich weiß ja, dass ich vorne liege.«
»Dass du vorne liegst? Interessant, was du dir da im Fieberwahn zusammenträumst. Falls du es nicht raffst, ich bin ebenfalls hier.«
Wir sahen uns einen Moment lang an.
Pete grinste. »Glaub mir: Ich werde als Erster über die Ziellinie fahren. Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Bei der Sache mit dem Gift lasse ich dir gerne den Vortritt.«
Petes Grinsen gefror. Er räumte sein Gepäck vom Schlitten und verkroch sich in eine Ecke der Höhle.
Dieses Verhalten passte zu ihm. Er war wie eineRatte, die im Schmutz hauste. Sogar seine Nasezuckte ständig, als witterte er, wo es etwas zu holen gab. Im Dorf kroch er immer allein durch die Straßen, musterte mit zusammengekniffenen Augen die Leute und tauchte lautlos auf, wenn jemandem ein Unglück passierte. Jeder mied ihn und ich hätte nie im Leben geglaubt, einmal gezwungen zu sein, einen Unterschlupf mit ihm zu teilen.
Doch manchmal besaßen die kleinsten Dinge die größten Auswirkungen. Wie zum Beispiel die Ausschreibung des Schlittenrennens. Das alleinige Recht, Post und Ware für das Dorf zu transportieren, war als Preis nicht von der Hand zu weisen. Genauso gut hätten die Dorfältesten sagen können: »Hey, fahr als Erster über die Linie und wir überschütten dich dein Leben lang mit Gold.«
Ich nahm Holzscheite vom Schlitten und schichtete sie zu einer Feuerstelle. Allerdings fand ich meine Zündsteine nicht.
»Nimm die so lange. Ich weiß ja nicht, aber damit könnte es funktionieren.«
Beim Schrei einer Banshee. Ich sprang beiseite. Da hatte ich tatsächlich nicht mitbekommen, wie sich die Ratte angeschlichen hatte. Pete hielt mir die Hand unter die Nase. Zwei schiefergraue Brocken waren auf die Handfläche gebettet.
Zündsteine – meine Zündsteine. Ich hätte sie überall wiedererkannt. Die Initialen meiner Schwester prangten an den Seiten: C.H. – Clery Hollow.
»Das sind meine, du diebischer …«
»Komm mal runter. Die lagen am Höhleneingang.«
»Wer’s glaubt, wird selig.«
Pete zuckte mit den Schultern und verkroch sich wieder in seine Ecke. Dort schnitzte er mit einem Jagdmesser an einem Stück Holz. Unentwegt zielten seine Augen dabei wie Pfeilspitzen auf mich und nur der heulende Wind verhinderte, dass ich hörte, was er murmelte.
Meine Finger zitterten. Verdammte Kälte. Selbst durch die Handschuhe drang sie. Ich benötigte drei Anläufe, um Feuer zu entfachen. Erst dann sprangen Funken über und ich pustete, bis die Scheite endlich brannten.
Das Feuer entzündete sich keinen Augenblick zu früh. Ein Brüllen röhrte aus den Tiefen des Schneesturms. Die Rehböcke scharrten mit den Hufen. Petes und mein Kopf ruckten in Richtung Eingang, als befänden sich beide an einer Schnur. Die Nacht verlieh dem hereinwehenden Schnee das Aussehen von Asche.
Pete kniff die Augen zusammen. »Was war das?«
»Vermutlich ein Troll. Wir befinden uns schließlich auf den Eisfeldern, das ist ihr Territorium.«
»Was, wenn eins der Viecher hier hereinspaziert?«
Ich warf Scheite in die Flammen. »Sie meiden das Feuer.«
»Lächerlich. Das reicht doch nie im Leben.«
»Wenn du eine bessere Idee hast, Coherty, bin ich ganz Ohr.«
Pete biss sich auf die Lippe. Er wühlte in den Sachen auf seinem Schlitten und förderte weiteres Holz zutage.
Wir opferten sämtliches Holz, außer die Schlitten. Mit dem Brüllen im Ohr konnte das Feuer nicht schnell genug wachsen.
Bald darauf brannte eine mannshohe Flamme. Sie vertrieb die Dunkelheit und an einigen Stellen in der Höhle taute das Eis. Wasser tropfte zu Boden. Was aber wesentlich wichtiger war: Das Brüllen verstummte, als erstickte es unter einem Kissen.
Wir atmeten auf.
»Warum machst du diesen Mist?«
»Was genau meinst du, Coherty?«
»Spiel nicht den Ahnungslosen. Ich meine all das hier. Das Rennen. Was hat dich dazu bewogen, für diesen Scheiß deinen Hals zu riskieren? Hast du die Dovery-Zwillinge nicht gesehen? Eine Lawine hat sie am Riesen-Pass erwischt. Keine Ahnung, wie viele Teilnehmer überhaupt noch leben.«
Was glaubte Pete Coherty, wer er war? Etwa mein Bruder, bei dem ich alle Sorgen ausschüttete? Sicher nicht! Ein verhinderter Trollangriff machte uns nicht zu Freunden! Nicht mit diesem Typ. Der würde doch sogar seinen Erstgeborenen verkaufen, wenn es ihm eine ordentliche Summe einbrächte.
»Ich mag es halt, Schlitten zu fahren. Die Weiten der Eisfelder zu spüren. Den Nervenkitzel. Das ist mein Ding. Dafür lebe ich.« Genug war genug! Mehr brauchte er nicht zu wissen.
»Erzähl den Unfug wem anders. Nervenkitzel – lachhaft. Davon kriegst du nichts zu beißen und diese Klatschmäuler im Dorf halten dann auch nicht ihre Fresse.«
»Verstehe. Nur Bares ist Wahres.«
»Exakt. Das mag hart klingen, ist aber die Wahrheit.«Pete lehnte sich nach vorn. An seiner Stirn pochte eine Ader, als kröche ein Wurm unter seiner Haut umher. »Wenn ich dieses Rennen erst mal gewonnen habe und der Schotter aus meinen Taschen quillt, werden sie angewinselt kommen. Alle, die mich zuvor wie die Pest gemieden haben – sie alle werden sich in den Staub zu meinen Füßen werfen.«
Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen.
Pete bemerkte es. Seine Mundwinkel näherten sich dem Kinn. »Du wirst schon sehen. Pete Coherty – der seltsame, hässliche, widerliche Pete –, wird als Letzter lachen. Also, was ist es bei dir? Willst du Land erwerben oder hat dir ein Mädchen schöne Augen gemacht? Raus mit der Sprache.«
»Wie ich sagte: Ich fahre gerne Schlitten.«
Stille breitete sich zwischen uns aus. Wir starrten beide in die Flammen.
»Dann frag ich halt Clery, wenn ich wieder im Dorf bin.«
»Du wirst dich ihr nicht nähern.«
»Jemand muss ihr doch davon berichten, dass du ins Eis gebissen hast. Für den Fall der Fälle. Wir haben ja gesehen: Bei diesem Rennen kann alles passieren.«
»Meine Schwester wird deine dreckige Visage nicht zu Gesicht bekommen!«
»Ich kann tun und lassen, was ich will, sobald ich zurück bin.«
Diese elende Ratte. Allein wie er mir gegenübersaß und mich selbstgefällig angrinste, sorgte dafür, dass ein Pochen hinter meiner Stirn einsetzte. »Wenn du zurückkehrst, Pete … wenn.«
Damit war alles gesagt. Ich stapfte zu den Rehböcken, fütterte sie und striegelte ihr Fell.
Pete schnitzte weiter. Durch die kräftigen Schnitzer seines Messers flogen die Holzsplitter durch die Luft. Keiner von uns ließ den anderen aus den Augen.
Die Nacht schritt unbarmherzig voran. Bald schon mischte sich das Licht der Morgendämmerung in den fallenden Schnee vor der Höhle. Der Mantel lastete schwer auf meinen Schultern. Hätte ich es nicht bessergewusst, hätte ich geschworen, dass ich anstelle des Stoffes ein Kettenhemd trug.
Pete hielt sich eine Hand vor den Mund und ich unterdrückte ebenfalls ein Gähnen. Das Lagerfeuerwar bis auf ein paar Scheite niedergebrannt. Die Schatten von den Wänden waren unter unsere Augen gesickert, trotzdem wäre es keinem von uns im Traum eingefallen, nur für eine Sekunde die Augenlider zu entspannen. Man hätte sie nicht mehr aufbekommen – nie wieder.
Es tropfte nach wie vor von der Decke. Pfützen spiegelten sich im Licht der Flammen wie kleine Seen im Sonnenschein und es zischte, wenn ein Tropfen ins Feuer fiel.
»Willst du dich nicht hinlegen?«, fragte Pete, das Messer wippte in seiner Hand. »Nur zu. Ich halte so lange Wache.«
»So müde bin ich gar nicht. Ich lasse dir gerne den Vortritt.«
Ein hoher, durchdringender Pfiff schallte durch die Höhle.
Wir zuckten zusammen, als wären wir mit Eiswasser übergossen worden.
Ein Fauchen folgte, ungemein lauter als das Brüllen am Vorabend.
Das war zu viel für die Rehböcke. Sie bockten, sprangen wild durcheinander und ehe einer von uns es verhindern konnte, flüchteten die meisten von ihnen aus der Höhle. Mitten hinein in den Sturm.
Wir sprangen auf und jagten dem Rest hinterher.
Mit Müh und Not schaffte ich es, einige meiner Rehe in den Felsraum zurückzudrängen.
Pete erging es nicht besser.
Jedem von uns blieben etwa die Hälfte seiner Zugtiere. Das reichte niemals, um die Schlitten zu bespannen.
Das eigentliche Problem kam aber erst auf uns zu, genauer gesagt, es betrat in diesem Augenblick die Höhle.
»Was ist das denn?«
Ein geschuppter grauer Schwanz fegte über Pete hinweg und krachte gegen die Wand.
Ich griff mir eines der brennenden Scheite und hielt es dem Eindringling entgegen.
Einem Troll hätte die Flamme auf Abstand gehalten, doch bei dem, was da hereinstampfte, half es wenig.
Eine Kreatur von der Gestalt eines Bären versperrte den Höhleneingang. Das Licht des Feuers glänzte auf ihren Schuppen, messerscharfe Klauen kratzten nach uns. Das Wesen lief auf zwei Beinen und ein Schwanz peitschte hinter ihm unablässig in der Luft. Das Gesicht eines Schneeleoparden saß auf einem Hals, der dieselbe Länge wie seine Körperweite betrug. Mit gebleckten Fangzähnen fauchte es uns an.
Ich schluckte den Stein in meiner Kehle hinunter. Das war gewiss kein Troll. Bei allen Eisheiligen. Das war eine ältere Bestie – ein Tatzelwurm!
Die Kreatur holte mit einer Klaue aus und erwischte Pete am Bein. Hatte der Idiot geträumt, oder was?
Er stieß einen Schrei aus und kauerte sich auf den Boden.
Blut tropfte von der Klaue der Bestie. Der Hals wand sich wie eine Schlange; das Maul schnappte nach seiner Beute.
»Verschwinde! Verpiss dich, Mistvieh.« Pete schob sich mit einer Hand fort. Mit dem Messer fuchtelte er vor sich herum, ehe es ihm ein Schlag des geschuppten Schwanzes mühelos entriss. Es flog durch die Luft und landete direkt vor meinen Füßen.
Ich sah es, doch der Tatzelwurm blockierte den Höhleneingang nicht mehr. Messer oder Ausgang? Keine schwere Wahl. Ich ließ die Fackel fallen und hechtete den Schneewehen entgegen. Selbst die letzten Rehböcke waren derselben Ansicht und flohen. Ein Glück, dass die Kreatur auf Pete fixiert war. Sie würdigte die Tiere und mich kaum eines Blickes. Das war meine Chance. Ja, ich musste hier unbedingt raus. Egal zu welchem Preis.
Pete wimmerte.
Meine Schwester. Clery wartete auf mich. Wir hatten nur einander. Für sie bin ich dieses verdammte Rennen überhaupt erst angetreten. Pete besaß niemanden. Es war logisch, dass …
»Nein. Bitte. Hilfe.«
Meine Beine stoppten wie von selbst.
Genau. Auf ihn wartete keiner. Absolut niemand.
Langsam drehte ich mich um. »Das werde ich so was von bereuen. Clery wird mir dafür die Hölle heiß machen.«
Ich rannte zurück, schnappte im Lauf das Messer und mit einem Brüllen wilder Verzweiflung sprang ich der Bestie auf den Rücken.
Der Tatzelwurm hielt Pete wie eine Puppe in seinen Klauen, ließ ihn aber fallen, nachdem ich auf seinem Rücken landete.
Pete schrie erneut, als er auf sein verwundetes Bein fiel; zusammengekrümmt rollte er zur Seite.
Mühsam klammerte ich mich an die Rückenzotteln der Bestie, die hin- und hersprang. Sie schlug mit ihren Klauen nach mir. Immer wieder stach ich mit dem Messer auf sie ein, doch der Tatzelwurm reagierte darauf kaum. Meine Versuche waren Stiche einer Mücke, die ihn höchstens verärgerten, statt ihn zu verletzen. Diese elenden Schuppen waren undurchdringlich wie eine Rüstung.
Und dann bog sich der Hals. Mit kopfüberstehendem Gesicht wandte die Kreatur mir ihr Maul zu. Der Gestank von verwestem Fleisch lag in ihrem Atem.
Ich würgte. Fangzähne schnappten nach mir. Jeden Moment war es so weit – ihre Zähne würden sich in meinem Fleisch versenken. Allerdings hatte ich Pete völlig vergessen.
Mit entschlossener Miene stand er vor dem Leib der Bestie. »Stirb endlich, Mistvieh.« Er rammte ein brennendes Scheit in den ungeschützten Magen des Tatzelwurms. Das war meine Rettung. Die Bestie kreischte auf und schloss die Augen. Da war sie – eine zweite Chance.
Ich stach zu und jagte das Messer bis zum Heft in ihre Stirn.
Ein Schauder bebte durch den Körper der Kreatur. Das Kreischen verwandelte sich in ein Jaulen. Sie schwankte, taumelte, ehe sie zusammenbrach. Ich fiel wie ein nasser Sack zu Boden.
Als ich mich aufrichtete, zitterte ich überall.
Pete humpelte zu mir und setzte sich. Wir schwiegen einen Augenblick, hypnotisiert vom Anblick der toten Bestie, und lauschten dem Wind.
Pete räusperte sich. »Du hättest abhauen können.«
»Ja, keine Ahnung, was mich da geritten hat. War wohl auch so ein Ding von mir.«
»Du faselst schon wieder dummes Zeug.« Pete lächelte. Sein Blick wanderte durch die Höhle, als würdeer etwas suchen. Er kratzte sich am Hals. »Danke.«
»Ich dachte, du hast dir dein Bein verletzt …«
»Muss gehen.«
»… und nicht den Kopf. Wenn du mir gleich noch einen Antrag machst, bin ich raus.«
»Idiot.«
Wie zwei Kinder, die bei einem Streich erwischt worden waren, grinsten wir uns an.
»Tja, wir leben«, sagte Pete. »Das ist gut, aber das Rennen können wir beide abhaken. Die Rehböcke sind fort. Jedenfalls die, die es an der Bestie noch vorbeigeschafft haben oder später abgehauen sind. Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Sturm auszusitzen.«
»Das sowieso. Jedenfalls so lange, bis man draußen wieder unbeschwert atmen kann. Ich habe für danach eine Idee, dafür bräuchte ich allerdings deine Hilfe.«
»Wenn ich dadurch hier rauskomme, bin ich dabei.«
Später erfuhren wir, dass kaum einer mit uns gerechnet hatte. Mit keinem der Teilnehmer. Umso erstaunterwar man, als Pete und ich einen unserer Schlitten gemeinsam über die Ziellinie schoben. Clerys anschließende Umarmung würgte mir beinahe vollständig die Luft ab. Dieser Tag war die Geburtsstunde des Handelsunternehmens Cohertys & Hollows Lieferungen für denalltäglichen und besonderen Bedarf.Jeder übernahm dabei, was er am besten konnte. Pete den Papierkram und den Mist mit den Zahlen. Das mochte er. Da hatte er seine Ruhe. Ich hingegen fuhr über die Weiten der Eisfelder, wie ich es schon immer gewollt hatte, und entdeckte ihre volle Schönheit.

Dünnes Eis

Fyjell

Draußen sind es minus fünfzehn Grad. Minus fünfzehn verdammt …
Schon seit Tagen müssen wir mit diesen Temperaturen zurechtkommen.
Rein optisch ist das ja auch wunderschön. Die weiße Schneeschicht, die alles irgendwie heller erscheinen lässt, und die kahlen Bäume verwandeln die Welt hinterden Fenstern unseres Hörsaals in einen wahr gewordenen Wintertraum.
Leider täuscht der Eindruck.
Das Wetter ist gefährlich und lebensverachtend.
Drei nächtliche Feuerwehreinsätze diese Woche, das hat eindeutig Spuren in meiner Gemütslage hinterlassen. Ich bin müde und friere schneller. Zum Glück ist morgen Wochenende. Endlich einmal ausschlafen.
Eigentlich liebe ich Schnee. Nur eigentlich ist halt eigentlich auch wieder eine Einschränkung.
Unsere Dozentin beendet die heutige Vorlesung.
Mechanisch verlasse ich das Gebäude und verabschiede mich vor der Tür von meiner Sitznachbarin, die in Richtung Wohnheim hastet.
Auf dem Weg zum Auto lege ich mich beinahe auf die Nase. Anschließend fische ich mit meinen durch die Kälte bereits steif werdenden Fingern einen Eiskratzer aus meiner Jackentasche und befreie dann mit stoischen, routinierten Bewegungen meinen kleinen Liebling von seinem Panzer. Eigentlich will ich direkt nach Hause, mich in die wärmste Decke einkuscheln, die ich besitze, und einfach endlich einmal die Augen schließen. Aber: Da war ja was mit eigentlich.
Der Verkehr ist, wie meistens um diese Zeit, gnadenlos und die Abkürzung über die Reiferbahn probiereich bei der Glätte lieber nicht. Auf Höhe der Polizeiwache beginnt mein Fuß vom ständigen Durchtreten der Kupplung zu schmerzen, als ich jedoch über die Brücke fahre, bleibt mir vor Freude beinahe das Herz stehen.
---ENDE DER LESEPROBE---