Die Liebe braucht ein ganzes Dorf - Kerstin Rubel - E-Book + Hörbuch

Die Liebe braucht ein ganzes Dorf Hörbuch

Kerstin Rubel

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Beschreibung

Wie ein Strand-Spaziergang mit der besten Freundin: »Die Liebe braucht ein ganzes Dorf« ist ein zauberhafter Wohlfühlroman mit viel Ostsee-Flair. Auch ohne Mann hat die 40-jährige Annika alles, was sie glücklich macht: Seit dem Verkauf ihrer erfolgreichen IT-Firma lebt sie in einem reetgedecktes Häuschen an der Schlei und genießt ihren blühenden Garten und die langen Strand-Spaziergänge an der Ostsee mit ihrem geliebten Hund Lux. Annikas beste Freundin Flora, die gerade ihr eigenes Deli eröffnet hat, ist trotzdem fest entschlossen, Annika endlich zu verkuppeln. Mit dem charmanten Fred zaubert sie sogar einen echten Hauptgewinn aus dem Hut. Prompt taucht auch noch Annikas Ex-Freund Titus auf und umgarnt sie nach allen Regeln der Kunst. Bereut er es wirklich so sehr, sie verlassen zu haben – oder steckt etwas ganz anderes hinter seinen Avancen? Warmherzig und klug erzählt Kerstin Rubel in ihrem sommerlichen Wohlfühlroman von selbstbewussten Frauen, Freundschaft, Lebensträumen und der großen Liebe.    

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Zeit:8 Std. 58 min

Sprecher:Karin Kaschub

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Kerstin Rubel

Die Liebe braucht ein ganzes Dorf

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Auch ohne Mann hat die 40-jährige Annika alles, was sie glücklich macht: Seit dem Verkauf ihrer erfolgreichen IT-Firma lebt sie in einem reetgedeckten Häuschen an der Schlei und genießt ihren blühenden Garten und die langen Strand-Spaziergänge an der Ostsee mit ihrem geliebten Hund Lux. Annikas beste Freundin Flora, die gerade ihr eigenes Deli eröffnet hat, ist trotzdem fest entschlossen, Annika endlich zu verkuppeln. Mit dem charmanten Fred zaubert sie sogar einen echten Hauptgewinn aus dem Hut. Prompt taucht auch noch Annikas Ex-Freund Titus auf und umgarnt sie nach allen Regeln der Kunst. Bereut er es wirklich so sehr, sie verlassen zu haben – oder steckt etwas ganz anderes hinter seinen Avancen?

Inhaltsübersicht

Abendluft

Fixsterne

Kohldampf

Sandkastenliebe

Sonnenhüte

Bakers Bar

Leitwölfin

Flausen

Reißaus

Tempranillo

Himmelblau

Strandpavillon

Königslöwe

Herrgottsfrühe

Shabby Chic

Wässerchen

Sandelholz

Wundertüte

Sommerfest

Bauchnabel

Windeseile

Unverblümt

Gewürzgärten

Kulleraugen

Kopfnuss

Tobak

Perplex

Funkien

Alfa

Feuerschein

Luftkuss

Westentasche

Fell

Lockenkopf

Kautz

Prinzen

Fersengeld

Standpauke

Donnerwetter

Pustekuchen

Sperenzchen

Eilfertig

Drachen

Landratte

Fundstück

Glück

Zum guten Schluss: Rezepte

 

 

 

Für alle Frauen, die beste Freundinnen haben

Abendluft

Der Land Rover strotzt nur so vor Dreck. Ich erkenne ihn von Weitem. Eine kleine Menschentraube hängt an dem Auto, versunken in ein leises Expertengespräch. Hipster. Je mehr Schmutz am Rover klebt, desto mehr lieben sie den Wagen. Mit großen Schritten, so wie sie meine hohen Pumps eben noch zulassen, pflüge ich durch die von Altbauten gesäumte Allee. Mir reicht es. Zwei Tage Meetings ohne Ende, dann noch der Zürich-Flug mit seiner Verspätung. Ich will nur noch eins: nach Hause. Und raus aus der Stadt, raus aus Hamburg. Noch während des Gehens krame ich in meiner bauchigen Handtasche nach dem Autoschlüssel, als ich ihn finde, stehe ich auch schon vor meinem Wagen.

»Sorry, darf ich mal?«

Zwei junge Männer, vollbärtig, treten überrascht zur Seite. Und: Sie taxieren mich: Ob ihr wohl der coole Wagen gehört? Ich kann die Denkblase förmlich über ihren Köpfen schweben sehen.

Während ich mich, entschuldigend lächelnd, an ihnen vorbeidrücke, bleiben meine Augen an einem Bizeps hängen. Er wölbt sich unter einem knapp geschnittenen Hemd und gehört zu einem der beiden Jungs.

Hübsch, denke ich, und entriegele das Türschloss. Der Bizeps folgt jeder meiner Bewegungen.

»Ach, Entschuldigung, ist der Land Rover ein Ninety?«, fragt er mich.

»Exakt. Ein Ninety, ein Original von 1984.«

»Krass. Dass der immer noch läuft.«

»Klar, für einen Klassiker ist der Wagen fast neu.«

»Voll krass. Und, ähm, wie ist der so outdoor?«

»Wie? Outdoor?« Irritiert blicke ich den Bizeps an.

»Na, ich meine, so offroad an krass steilen Hängen, voll mit Allrad halt. Oder im fetten Schlamm. Oder, mega, im Winter! Der geht doch wie nix durch Schnee – oder?«

Jetzt fällt mein Blick runter. Runter auf den Asphalt. Dort bleibt er kleben wie ein Kaugummi. Denn ich bin einfach zu müde, zu müde für einen Kommentar.

Stattdessen quetsche ich mich mit einem »Darf ich mal?« weiter in Richtung Kofferraum. Ich öffne ihn und hieve meinen Alukoffer hinein, dann schlage ich ihn zu. Rums. Erneut entschuldigend lächelnd, schiebe ich mich zurück in Richtung Fahrertür, ziehe sie auf und lasse mich rücklings auf den Sitz fallen. Die einzige Methode übrigens, um mit einem engen Bleistiftrock unbefleckt in ein äußerst schmutziges Auto zu gelangen. Möglichst elegant ziehe ich beide Beine nach und werfe meine Handtasche auf den Beifahrersitz. Geschafft. Ich schließe die Fahrertür, nicke in die Runde, dann starte ich den Motor. Kraftvoll wummert der Rover los. Nein, leise ist er nicht, der Kleine, aber das verlangt da, wo ich herkomme, ja auch keiner.

Als ich den Blinker setze, nehme ich den Bizeps noch einmal ins Visier: dunkelbrauner Vollbart, bis an die Haarwurzeln gepflegt. Gut gebaut. Chinos, geschmackvolle Kleidung, mit der gekonnt britischen Note. Hübsch, ja, wirklich.

Und er wirft mir einen langen Blick durch die Fahrerscheibe zu. Einen sehr langen.

»Lass ihn da nicht stehen!«, würde mir jetzt meine Freundin Flora zurufen. Ich sehe sie förmlich vor mir stehen, wie sie ihre Hände an den Mund legt und zu einem Trichter formt. »So ein süßer Typ, der hängt doch schon am Haken!«

Ob ich will oder nicht: Ich muss schmunzeln. Die gute Flora, nichts wünscht sie sich mehr, als mir einen passablen Mann zu verpassen. Nur ich spiele – leider – nicht mit.

Dann lege ich den ersten Gang ein und gebe Gas. Im Rückspiegel sehe ich den Bizeps, wie er mitten auf der Straße steht und mir nachschaut.

Gut zwei Stunden später, als ich die Kehre unten bei den alten Buchen nehme, sacken meine Schultern hinab. Wie auf Knopfdruck fällt die Anspannung von mir. In meinem Brustraum spüre ich ein tiefes Aufatmen. Das wäre geschafft, ich bin gleich daheim. Es ist schon fast dunkel geworden, die Scheinwerfer tasten sich am Waldrand entlang. Vor der Schranke stoppe ich den Rover, hüpfe in meinen Sneakers, die ich unterwegs gegen meine Pumps getauscht habe, aus dem Wagen und schließe das große Vorhängeschloss auf. Was nun kommt, ist rein privat: eine schmale Straße, zu der nur drei Menschen auf dieser Welt einen Schlüssel besitzen. Wie so oft muss ich jetzt grinsen. An meinem neuen Leben gefällt mir verdammt viel, ganz besonders aber diese Straße. Meine Privatstraße – und die zweier anderer, zugegeben.

Mein Land Rover und ich machen uns an die letzten Meter. Als sich der Wald öffnet und unsere Lichtung freigibt, schaue ich, wie immer, nach links. Kein Licht zu sehen, meine Teilzeitnachbarn sind nicht da. Wunderbar. Ich tuckere langsam an ihrem Haus vorbei, lasse meinen Blick über die fest verschlossenen Türen und Fensterflügel gleiten, die sich unter dem tiefen Reetdach ducken. Dann steuere ich auf mein Heim zu. Es steht am Ende der Lichtung, die Scheinwerfer meines Wagens lassen bereits seine Scheiben aufblitzen. Exakt in dem Moment, in dem ich vorfahre und den Motor stoppe, erklingt ein erwartungsvolles Fiepen hinter der Haustür. Ich greife eilig nach meiner Handtasche, wühle meinen Schlüsselbund hervor, springe heraus und öffne das Schloss. Sofort spüre ich eine feuchte Nase in meiner Hand und ein warmes Fell, das mich umtanzt.

»Lux, mein lieber Lux. Da bin ich ja wieder, ich bin wieder da!«

Der Bewegungsmelder ist kaputt, so begrüße ich meinen Hund im Dunklen. Laut schlägt seine Rute gegen die Tür, er trommelt wie ein wild gewordener Schlagzeuger. Sein ganzer Körper ist in ein einziges Wedeln übergegangen. Ich lasse meine Hände an ihm entlanggleiten, drücke kurz seinen schmalen Kopf an meinen Oberschenkel.

»Lieber Lux, mein lieber Lux.«

Ich kann mich gar nicht sattfühlen an meinem Hund, an dem wohligen Tanz, den er vollführt. Dabei umspielt mich so eine verlockend milde Abendluft, dass ich spontan beschließe, noch eine kleine Runde mit ihm zu drehen. Hier auf unserer Lichtung, hier versteckt im Wald.

Fixsterne

Als ich meine Augenmaske nach oben schiebe, blendet mich helles Sonnenlicht.

»Oh, Mann, was hab ich tief geschlafen«, murmele ich, wälze mich aus dem Bett und öffne die Tür in Richtung Bad. Sofort ertönt eine Etage tiefer ein rhythmisches Klopfen. Lux. Er wedelt. Und er freut sich auf den Tag. Wie schön das ist.

Schnell erledige ich das Notwendigste: Zahnbürste, Wasser ins Gesicht, fertig. Der Puderpinsel und die Make-up-Fläschchen können mich mal. Rasch binde ich meine Haare zu einem Pferdeschwanz hoch, springe in meine Lieblingsjeans, ziehe ein frisches weißes Shirt über meinen Kopf, und schon flitze ich barfuß die Wendeltreppe herunter. Unten sitzt mein Lux, der voller Erwartung mit den Vorderbeinen hoch- und runterhüpft.

»Ja, du Lieber, jetzt geht’s raus, recht hast du.«

Ich öffne die Terrassentür, und schon schießt er in die Freiheit. Als ich vor einem Jahr mit Lux hierherzog, begann auch für ihn ein neues Leben. Aufgewachsen als Großstadthund, der zu jedem Gassi-Gang brav an die Leine musste, genießt er nun das Landleben. Hier ist es selbstverständlich, dass Hunde einfach ihrer Wege gehen und frei herumlaufen dürfen. Ich blicke Lux durch das Küchenfenster hinterher und schmunzele darüber, wie pflichtbewusst und mit welch konzentrierter Miene er sein Revier markiert. Während ich die Kaffeemaschine in ihre Aufwärmphase schicke, checke ich kurz mein Handy. Flora hat geschrieben:

Sag mal, kommst du gleich? Wir müssen unbedingt über mein Sommerfest sprechen. Es gibt eine Überraschung!!

Oha, Flora! Ich liebe meine beste Freundin, aber für ihre Überraschungen bin ich noch nicht bereit. Erst brauche ich einen Kaffee. Während ich auf den Milchkaffee-Knopf an meinem Vollautomaten drücke, höre ich Lux. Er springt aufgeregt in dem feinen Kies herum, der meine Auffahrt bedeckt. Das Geräusch, das dabei entsteht, würde ich unter Tausenden erkennen. Dann ertönt das typische Knirschen, das Reifen erzeugen.

»Ah, wir bekommen Besuch. Das kann ja nur einer sein«, murmele ich vor mich hin und ziehe meine gut gefüllte Tasse aus dem Kaffeeautomaten. Kurz darauf taucht der erwartete Kopf in der offenen Terrassentür auf. »Moin, Annika.«

Heinrich trägt, wie immer, seine dunkelgrüne Latzhose, die etwas zu weit an seinem hageren Körper hängt. Seine fröhlichen Augen sind hellwach.

»Woll’n wir denn mal?«, schiebt er hinterher.

Auch das ist mir noch zu hoch. Was könnten wir denn mal wollen? Heinrich erkennt meine Ratlosigkeit sofort, zieht den rechten Mundwinkel nach innen, wackelt leicht mit dem Kopf und meint:

»Na, die Fichte!«

»Ach ja, die Fichte, die hatte ich ganz vergessen.«

»Das sehe ich. Was hast du nur wieder getrieben? Mädchen, Mädchen!«

Ja, auch das gehört zu meinem neuen Leben: Hier bin ich das Mädchen. Komme, was da wolle. Und sei es auch ein vierzigster Geburtstag. Ich bin und bleibe: das Mädchen. Wunderbar.

Heinrich gehört übrigens zu den drei Menschen auf dieser Welt, die einen Schlüssel zur Schranke besitzen. Denn Heinrich ist hier so etwas wie der gute Geist, der Mann, der alles kann, der alles weiß, und wenn nicht, jemanden kennt, der weiterhilft. Heinrich ist Gold wert.

Für heute haben wir beide uns die Fichte vorgenommen, die letzte Woche hinter meinem Haus »rumgekommen« ist, wie man hier in der Gegend sagt. Der Baum sah schon länger krank aus, und eines stürmischen Tages kam er eben rum. Heinrich hat danach ganz schön mit mir gemeckert, so viele Worte hatte ich ihm gar nicht zugetraut: Was doch alles hätte passieren können, wäre die Fichte nur ein paar Meter weiter in Richtung Dach gefallen, da muss man sich doch mal früher drum kümmern – und so weiter und so fort.

Als er damit fertig war, bot er an, mir beim »Wegmachen« zu helfen. Und genau das fällt mir nun wieder ein. Wir waren für 9 Uhr verabredet, für jemanden wie Heinrich ist das mitten am Tag. Für jemanden wie mich, eine Großstädterin, allerdings verdammt früh. Ich schaue auf meine Mikrowelle und sehe auf ihrer Digitalanzeige: 9.02 Uhr. Heinrich ist pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk.

»Ich bin gleich so weit. Nur schnell einen Kaffee. Magst du nicht auch einen?«

»Ne, lass mal«, meint er knapp und schüttelt spärlich sein weißhaariges Haupt. Das hätte ich mir ja denken können. Für Heinrich gibt es nur zweimal am Tag Kaffee: um sieben in der Früh und dann noch mal um vier am Nachmittag. Dann ist Kaffeezeit, aber nicht jetzt, so mitten am Tag.

»Ich fahr schon mal ran, muss zu Mittag wieder zu Hause sein«, meint er – und recht hat er. Denn um 12 Uhr wartet seine Annegret mit dem Essen. Und das ist heilig. Ihm und seiner Annegret auch.

Ich nicke kurz und schaue ihm nach, wie er mit immer noch elastischen Schritten zum Schlepper läuft. Hier auf dem Land sagen nur die Städter Trecker oder – noch schlimmer – Traktor. Die Einheimischen sagen: Schlepper. So wie Architekten immer nur von Leuchten sprechen. Oder von Vorhängen. Wer Lampe oder gar Gardine sagt, der hat sich verraten.

Nur bei Heinrich ist das nicht so, ihm ist all das wurscht, und seiner Annegret auch. Sie schert der Traktor ebenso wenig wie die Leuchte. Die beiden gehören als helle, warme Fixsterne zu meinem neuen Leben auf dem Land. Als ich vor einem Jahr hier auftauchte, haben sie mich quasi adoptiert. »Das Mädchen kann ja nicht so allein da oben im Wald wohnen!« So etwas in der Art werden sie sich wohl gesagt haben.

Seither passen sie auf mich auf, schauen hier und da nach dem Rechten, auch wenn sie das natürlich niemals zugeben würden. Und ich? Ich wehre mich nicht, ich genieße es! Auch wenn »das Mädchen« jetzt erst mal tüchtig ranmuss. Hastig spüle ich den letzten Kaffeeschluck herunter, schlüpfe in meine derben Gartenschuhe und eile, flankiert von Lux, zu Heinrich hinters Haus.

Kohldampf

11.14 Uhr zeigt die Digitalanzeige meiner Mikrowelle, als Heinrich, mit der Fichte im Schlepptau, davontuckert. Er hat es nicht weit, selbst bei diesem Schneckentempo wird er pünktlich am Mittagstisch sitzen. Als ich meinen Blick von ihm löse, schaue ich in Lux’ große Augen. Mit seiner langen Zunge schleckt er sich einmal über die Nase und reißt seine Augen noch ein wenig mehr auf.

»Ach, du armes Tier, ich hab ja ganz vergessen, dich zu füttern!«, entfährt es mir. Schnell greife ich zu einem seiner Edelstahlnäpfe und fülle ihn. Während Lux sein überfälliges Mahl herunterschlingt, gebe ich in seinen zweiten Napf frisches Wasser.

»Ein schönes Rabenfrauchen hast du, also wirklich.«

Dabei fällt mir mein eigenes Magenknurren auf. Auch ich habe ganz vergessen, zu frühstücken, wofür es jetzt auch eigentlich zu spät ist. Ich greife zu meinem Handy, aha, Flora hat noch einmal geschrieben:

Ihr Lieben, heute Mittag habe ich für euch Lauchquiche mit Salat oder Hühnerfrikassee mit Reis …

Mehr Text brauche ich nicht. Was dem Heinrich seine Annegret ist, ist mir meine Flora. Flora betreibt in Arnis, dem nächsten Dorf, ein kleines Deli mit Café. Jeden Tag serviert sie ihrer stetig wachsenden Fangemeinde, die sich in einer WhatsApp-Gruppe vereint, zwei unterschiedliche Mittagessen. Ich für meinen Teil weiß schon, was es heute geben wird: Hühnerfrikassee. Floras Lauchquiche ist zwar köstlich, aber ihr Frikassee der Knaller.

»Komm, Lux, wir fahren Mittag essen«, beschließe ich, und schon sind wir beide aus dem Haus.

Auf dem Weg zu »Floras Deli« genieße ich, eigentlich wie immer, den schönen Ausblick auf all die sanften Hügel, die sich vor mir auftun. Bin ich erst mal aus meinem Wald heraus, dann reißt die Landschaft auf: Ein Bilderbuch aus sattgrünen Rinderweiden, Äckern, beschaulichen Baumgruppen und Schilfgrasfeldern, hinter denen immer wieder das Wasser aufblitzt. Es ist von so einem tiefen, metallischen Blau, dass man fast danach greifen möchte. Die Farben der Natur scheinen mir hier, wieder einmal, etwas kräftiger auszufallen als anderswo.

Arnis liegt an der Schlei, einem malerisch schönen Fjord, mit dem sich die Ostsee weit ins schleswig-holsteinische Land hineinschiebt. Auf den ersten Blick könnte man diesen Meeresarm für einen breiten Fluss halten, so sanft schmiegt er sich an die geschwungenen Ufer. Von der Anhöhe aus, die der Land Rover gerade nimmt, sehe ich die schneeweißen Segelschiffe der Förde aufblitzen. Sie prägen den ländlich maritimen Flair, der stets über Arnis schwebt. In ihn einzutauchen – nach all der Großstadt zuvor –, bedeutet für mich pure Entspannung.

Als ich das Dorf erreiche, stoppe ich kurz bei »Feder & Papier«. Der kleine Schreibwarenladen betreibt auch die Postagentur, die meine Briefe und Pakete lagert. Denn die Schranke hat einen klitzekleinen Haken: Der Postbote kommt nicht durch. Privat ist eben privat – und so hole ich mir meine Post eben selbst.

»Moin, Irmi, hast du etwas für mich?« Ich bleibe im Türrahmen stehen und recke den Kopf in Richtung Verkaufstresen. Hinter dem steht besagte Irmi und packt Ware aus einem riesigen Karton. Wie immer freue ich mich, in ihr breites, warmherziges Gesicht zu blicken. Auch sie gehört zu den hellen Fixsternen in meinem neuen Leben.

»Nein, heute leider nicht«, erwidert sie und lächelt, »es sei denn, du brauchst ein neues Federmäppchen.« Irmi zieht ein pinkfarbenes Etwas aus dem Karton und hält es in die Höhe.

Ich schüttele energisch den Kopf, winke zum Abschied und öffne schon wieder die Wagentür. Beim Einsteigen fällt mein Blick auf mein Handy, das auf dem Beifahrersitz liegt. Sein Display leuchtet, eine neue Nachricht ist eingegangen. Neugierig greife ich danach und bereue es sofort, als ich sehe, wer der Absender ist. Titus. Mein Ex. Oder auch: der Arsch. Sorry für den Ausdruck, aber er ist absolut angemessen. Titus war an meinem Auszug aus der Stadt alles andere als unbeteiligt. Der Mann, der mir, Zitat: »die ganze Erde zu Füßen legen« wollte, hatte von heute auf morgen seine Gefühle für eine andere Frau entdeckt. Zwölf Jahre lang waren wir ein Paar. Und wir hatten es verdammt gut miteinander. Wir hatten Pläne, Träume, ein gemeinsames Leben. Und dann das.

»Ich habe mich verliebt«, gestand er mir mit Dackelblick. Der Depp. Gerade erst, ich erinnere mich noch ganz genau, hatten wir Platz in einem schicken Restaurant genommen und unser Essen bestellt. Flucht unmöglich. Hatte er das extra so eingefädelt? Oder bewies Titus nur wieder einmal sein ausgeprägtes Talent für schlechtes Timing? Als Vorspeise servierte er mir jedenfalls seine Offenbarung. Zu meinem Glück stand schon ein Aperitif vor mir. Hastig griff ich danach und spülte den kalten Crémant hinunter, geradewegs über mein Gemüt. Das ermöglichte mir, erst mal zuzuhören. Zu hören, dass nicht er, sondern sie, also seine Tennispartnerin Nina, den ersten Schritt gemacht hatte. Oh ja, sie war es! Dass man sich nur zwei-, drei-, na, vielleicht viermal gesehen habe. Dass aber nichts passiert sei, nein, eine Affäre habe er nicht, also wirklich! Nina hätte ja auch einen Partner, also genau genommen sei sie verheiratet. Und er, Titus, habe geglaubt, alles im Griff zu haben. Freundschaft halt. Warum also hätte er mir von den gemeinsamen Treffen erzählen sollen? Ja, warum nur? Sie hatten doch wirklich keine Bedeutung. Also, erst mal. Also, ganz am Anfang. Dann aber entdeckte er, oh Schreck, doch Gefühle … in seinem Herzen … also Liebe … für Nina.

Und jetzt all die Verwirrung.

Und dieses schiefe Lächeln unter dem Dackelblick.

Ich sehe mich noch immer dort sitzen, mit dem leeren Glas in der Hand und dem immer gleichen Gedanken im Kopf: Warum, lieber Gott, nicht einfach ein Seitensprung? Der wäre mir lieber gewesen.

Dann denke ich gar nichts mehr. Ich friere nur noch.

Meine Hände liegen auf dem Lenkrad, bewegungslos, ich fühle mich wie in einer Eiskammer. Trotz der sommerlichen Temperaturen spüre ich nur Kälte. Sie sitzt in mir drin, im Mark meiner Knochen. Von da strahlt sie aus. Meine Arme bestehen nur noch aus Gänsehaut. Meine Oberschenkel sind fast taub. Ich fühle diese Eiseskälte, die von damals, von der Trennung. Mein ganzer Körper ist bis zum Zerspringen verletzt. Mein Kopf voller Watte, schneeweißer Watte. Da ist nur noch Kälte, starre …

Etwas gerät in mein Blickfeld, etwas da draußen: Irmi schiebt ihren Kopf durch die offene Tür. Das reißt mich aus meinen Gedanken. Sie hat wohl von innen beobachtet, dass ich in den Wagen eingestiegen, aber nicht losgefahren bin. Jetzt höre ich auch Lux im Kofferraum rumoren, er rutscht nervös hin und her.

»Alles okay?«, kann ich von Irmis Lippen ablesen.

Automatisch recke ich meinen Daumen nach oben, strecke mein Rückgrat und starte direkt den Motor. Es fühlt sich gut an, wie er loswummert. Das bringt mich zurück in die Gegenwart.

»Alles okay! Absolut!«, sage ich laut zu mir.

Das ruft Lux erst recht auf den Plan, er mag es nicht, wenn ich Selbstgespräche führe. Den kleinsten Ansatz davon quittiert er mit Unruhe. Ich beobachte ihn in meinem Rückspiegel. Was für ein lieber Kerl er doch ist. Er hat sich kerzengerade aufgesetzt und starrt in meine Richtung.

»Keine Sorge, mein Süßer, es geht schon wieder«, sage ich beruhigend zu ihm – und gleichsam zu mir. Lux hat für meinen Gefühlshaushalt einen siebten Sinn. Es ist gut, ihn bei mir zu wissen.

Ohne Titus’ Nachricht zu lesen, lösche ich sie mit einem Wisch über das Display und werfe das Handy auf den Beifahrersitz. So etwas wie mit ihm will ich nie, nie wieder erleben. Diesen Verrat. Diesen Schmerz. Die ersten Wochen nach der Trennung, sein Auszug aus unserer Wohnung … ein einziger Albtraum. Ich magerte völlig ab, verlor jeden Appetit und meine Kraft noch dazu. Wenn Lux damals nicht gewesen wäre, ach, ich mag es mir gar nicht vorstellen. Eins jedenfalls steht fest: Männliche Wesen, wenn sie nicht zufällig vier Beine haben, können mir gestohlen bleiben. Aber so was von.

Als »Floras Deli« wenig später in mein Blickfeld gerät, fühle ich, wie mein Körper wieder lebendig wird. Es liegt ganz am Ende der Langen Straße, einer Lindenallee, die das Rückgrat von Arnis bildet. Dieses ist gesäumt von gedrungenen Giebelhäusern, die sich wie Wirbel aneinanderschmiegen. Aus den einst bescheidenen Behausungen, in denen Fischer lebten, sind wahre Dorfschönheiten geworden. Ihre farbigen Sprossenfenster schauen freundlich in die Welt, und die duftenden Rosenstöcke, die fast jede Fassade schmücken, haben Tradition.

Auch »Floras Deli« passt in die Reihe. Von Weitem schon erspähe ich einen freien Parkplatz vor der Tür. In einem schwungvollen Zug parke ich rückwärts ein. Die Maße meines Land Rovers habe ich auf den Zentimeter genau im Hinterteil, denn eine Piep-Piep-Einparkhilfe wäre weit unter unser beider Niveau.

Drinnen steht Flora und winkt durch die ebenerdige »Utlucht«, den erkerartigen Vorbau mit hohem Sprossenfenster, heraus. Sie lacht. Sie lacht, so warm und strahlend, wie nur sie es kann. Wie gut das jetzt tut. Wie gut es ist, eine solche Freundin zu haben. Schnell steige ich aus und lasse auch Lux aus dem Wagen springen. Er saust die drei Treppenstufen hinauf, umtanzt einmal, wild wedelnd, Flora und verschwindet dann in dem gemütlichen Hundekorb, der im Eck für alle Gasthunde bereitsteht.

Mich nimmt die Hausherrin fest in den Arm und gibt mir, indem sie sich ein wenig nach oben reckt, einen dicken Schmatz auf die linke Wange. Noch ist kein anderer Gast da, wir sind allein.

»Gut, dass du zurück bist, Annika«, sagt sie.

Ich nicke kräftig, lass mich noch einmal feste drücken – und schon ist Titus in weite Ferne gerückt.

»Na, wie war es in der großen weiten Welt? War die Geschäftsfrau erfolgreich?«, fragt sie mich.

»Jep! Die Katze ist im Sack.«

»Was anderes war von dir ja auch nicht zu erwarten.« Flora grinst. »Aber nicht, dass du wieder Blut leckst und mir eines schönen Tages davonläufst.«

»Das wird nicht geschehen, liebste Freundin, beileibe nicht.« Jetzt grinse ich, und Flora nickt zufrieden.

»Wo hattest du denn Lux untergebracht? Bei Annegret?«

»Ja, sie freut sich doch immer so, wenn sie ihn haben darf. Gestern Abend hat sie ihn mir sogar zurück ins Waldhaus gebracht, damit einer da ist, wenn ich später heimkomme. Full Service also!«

»Typisch Annegret. Sie wird sich wohl nie mit der Tatsache abfinden, dass du da im Forst alleine wohnst.«

Ich zucke mit den Schultern – und wechsle lieber mal das Thema. Denn in diesem Punkt sind sich Annegret und Flora ganz und gar einig.

»Mensch, ich habe richtig Kohldampf. Lux und ich haben unser Frühstück verpasst, deshalb bin ich heute auch schon so früh dran«, erkläre ich und schaue nach meinem Hund, der sich konzentriert seiner Fellpflege hingibt. Auch die kam heute früh einfach zu kurz.

»Also, gegen Kohldampf, da weiß ich was. Was darf es denn sein? Lauchquiche oder Hühnerfrikassee?«

»Frikassee!«

»Das habe ich gewusst!«, triumphiert Flora. »Ich habe deine Leibspeise heute extra auf die Speisekarte gesetzt. Zur Feier deiner Rückkehr.«

»Du bist ein Schatz. Her damit!«

Mit einem »Sehr wohl!« verschwindet Flora hinter ihrer Ladentheke und kommt kurz darauf mit einem dampfenden Teller zurück.

»Bitte, lass es dir schmecken«, sagt sie und stellt ihn vor mir ab.

»Ach, wie großartig«, entfährt es mir, verzückt schaue ich auf mein Essen und greife nach dem Besteck, das sie mir dazugelegt hat. In den nächsten Minuten herrscht Stille. Ich genieße – und Flora lässt mich. Erst nach der dritten Gabel fragt sie: »Und?«

»Köstlich. Mein Gott, ist das lecker«, stöhne ich. »Also, wenn du einfach immer so für mich weiterkochst, dann verlasse ich dich nie. Niemals!«

Flora lacht kurz auf und meint zufrieden: »Liebe geht eben doch durch den Magen.«

Mit diesem Satz endet unser Gespräch, denn die Tür fliegt auf – und geht vorerst nicht wieder zu. Es ist Mittagszeit, und die Menschheit hat Hunger. Ein bekanntes Gesicht nach dem anderen kommt herein und lässt sich nach kurzer Bestellung einen gut gefüllten Teller vorsetzen. Ich grüße fröhlich in die immer größer werdende Runde und beobachte das lebendige Treiben. Auch einige Touristen haben sich eingefunden, irgendwie erkennt man die ja immer sofort. Gerade kommt eine Familie herein, eindeutig Feriengäste, die sich nach einem freien Platz umschaut. Arnis liegt nur gut zwei Stunden von Hamburg entfernt, viele Hanseaten, aber auch Berliner besitzen hier eine Zweitwohnung.

Flora kann die zusätzliche Kundschaft nur recht sein. Sie hat ihr Deli mit einem langen, zentral positionierten Tisch möbliert, auf dessen Bänken leicht zwanzig Leute Platz finden. Die meisten sitzen hier, man kommt so schön ins Plaudern. Aber auch die gemütliche Couch und die kleinen Bistrotische an der Seite haben ihre Liebhaber. Gerade hat sich dort ein junges Pärchen niedergelassen, symphytisch sieht es aus. Neben der Eingangstür, vor den beiden vorgelagerten Fenstern, stehen schmale Stehtische mit Barhockern. Der ganz linke ist mein Stammplatz. Von hier aus lässt es sich wunderbar nach draußen schauen und dabei den Tag verbummeln.

Fast alle Möbel sind aus unlackiertem Holz, ihr skandinavisches Design ist pur und zurückhaltend. Ein geschickter Coup, denn die Stars unter der Einrichtung sind eigentlich andere: der historische, wunderschön gestaltete Terrazzoboden und die riesige Apothekerwand hinter dem Verkaufstresen. Über sie hinweg verteilen sich unzählige kleine Laden und Schübe, fast alle sind mit schwarz beschrifteten Emaille-Schildern versehen. In endloser Kleinarbeit haben Flora und ich das gewaltige Möbelstück restauriert, es gehörte zu der leer stehenden Apotheke, die jetzt ihren zweiten Frühling erlebt. Ein Durchbruch in die benachbarten Räume vergrößerte die Fläche, und »Floras Deli« war geboren.

Vor der Apothekerwand, hinter ihrer Ladentheke hantiert seither Flora und ist gerade jetzt in ihrem Element: Wie ein Kapitän regiert sie über Teller, Kochtöpfe und Backformen, mag die See auch noch so stürmisch werden, sie hat alles im Griff. Ihre Bewegungen sind sicher, ihr Blick fest, ihr Lachen, das immer wieder aufwallt, herzerwärmend. Niemand, wirklich niemand kommt in diesen Räumen an Flora und ihrer lebensfrohen Ausstrahlung vorbei. In Windeseile hat sie alle hungrigen Mäuler versorgt und findet auch noch die Zeit, mir einen Espresso »wie immer« hinzuschieben. Ich greife nach der passenden Beilage – den Tageszeitungen – und beschließe, noch ein bisschen länger zu bleiben. Lux scheint das längst zu wissen, er hat sich wie ein Füchslein zusammengerollt und ist in seinen unschuldigen Hundeschlaf versunken. Ich hingegen widme mich nun ausgiebig den Nachrichten.

»Das hätte ich mir ja denken können«, höre ich plötzlich neben mir, »die Unternehmerin steckt im Wirtschaftsteil.« Flora hat sich herangepirscht und linst mir über die Schulter.

»Logisch«, gebe ich zurück und schaue ihr nach, wie sie zum Nebentisch läuft und leere Teller abräumt. Gut schaut sie aus: Ihre dunklen Locken hat sie zu einem Knoten hochgesteckt, ein knielanges, rot gemustertes Wickelkleid schmiegt sich um ihre schönen, rundlichen Formen. Ihre nackten, sommerbraunen Füße stecken in kirschroten Clogs. Ich für meinen Teil würde mich nicht wundern, wenn die vielen männlichen Wesen, die täglich hierherpilgern, nicht nur wegen der guten Küche, sondern auch wegen der schönen Köchin kämen. »Floras Deli« ist eben ein Gesamtkunstwerk, da gibt es nichts. Und ich bin stolz darauf. Stolz auf meine Freundin und auf das, was sie geschaffen hat.

Ein munteres Trommeln reißt mich aus meinen Gedanken, Lux ist aufgewacht. Das Pärchen hat seinen Bistrotisch verlassen, es steht jetzt bewundernd vor dem Hundekorb. Meinen Vierbeiner wiederum begeistert so viel Aufmerksamkeit völlig, er wedelt, als ob es kein Morgen gäbe.

»Ja, was bist denn du für ein Schöner, sag einmal«, höre ich die junge Frau leise sprechen.

Ich schaue zu und lasse Lux einmal machen: Der reckt sich erst mal genüsslich, indem er seinen Po tüchtig nach oben streckt und die Vorderläufe weit nach vorne schiebt. Manchmal überkreuzt er bei dieser Dehnübung seine Pfoten, so auch jetzt. Das junge Pärchen ist nun endgültig verzückt, und recht haben die beiden, Lux ist zuckersüß.

Nun ist er fertig mit seiner Aufwachgymnastik und beschnuppert interessiert sein Gegenüber, nicht ohne eine neue Wedel-Offensive zu starten.

»Ja, hallo, du bist aber ein ganz Feiner«, geht die eher einseitige Unterhaltung weiter. »Wie heißt du denn?«

Das ist nun mein Einsatz, ich verlasse meinen Barhocker und geselle mich zu den dreien.

»Lux heißt er«, werfe ich ein. Überrascht drehen sich die beiden um.

»Oh, ein schöner Name. Ist das dein Hund? Das ist ja wirklich ein toller Kerl.«

Ich nicke und streichle zärtlich über Lux’ rechte Flanke, mit der linken hat er sich fest gegen meine Beine gedrückt. Würde ich nun weggehen, er würde glatt umfallen.

»Was für eine Rasse?«, werde ich weitergefragt. Ich kenne das Spiel, die nächste Frage wird die nach seinem Alter sein.

»Er ist ein Magyar Vizsla, ein Vorstehhund«, antworte ich; als ich ihren unsicheren Blick sehe, schiebe ich »ein Jagdhund, nicht so bekannt« hinterher.

Lux ist eine Schönheit und besitzt einen zugewandten, ausgesprochen höflichen Charakter. Ich wäre früher wohl nie darauf gekommen, das Attribut höflich für einen Hund zu verwenden, aber seitdem ich Lux kenne, weiß ich, dass das geht. Er wirkt auf viele Menschen geradezu magnetisch. Schwere Jungs mit stümperhaft gestochenen Tattoos sanken schon vor ihm auf die Knie, nur um ihn zu knuddeln. Alten Damen schossen plötzlich Tränen in die Augen, nur weil er sie anstupste. Einmal begegnete uns im Wald ein älterer Mann, Lux und ich waren mit dem Mountainbike unterwegs: Ich sah den Typen schon von Weitem, eine schwerfällige, große Statur, die nur langsam vorankam. Den Blick hatte er stoisch auf den Boden gerichtet. Und irgendwie machte er den Eindruck, nicht »ganz auf der Höhe zu sein«, wie man hier so sagt. Bevor ich das alles komisch finden konnte, lief mein Hund ihm schon fröhlich entgegen. Erst als er bei ihm ankam, erblickte der Mann ihn. Lux umrundete ihn einmal und kuschelte sich dann an sein Hosenbein. Dieser nahm den Hundekopf darauf zärtlich in seine großen Hände und schaute ihm in die Augen. Dann, zum ersten Mal, hob er den Kopf.

»Der mag mich«, sagte er mit völlig klarem, unendlich überraschtem Blick.

»Ja, genau, der mag Sie«, bestätigte ich betont locker, um meine Rührung zu überspielen.

Mittlerweile waren wir auf gleicher Höhe angekommen. Lux drehte eine flotte Pirouette und stürmte weiter den Waldweg entlang. Ich winkte noch einmal und trat fester in die Pedale, um meinem Vordermann hinterherzukommen.

Der Mann blieb noch länger stehen und schaute uns – vielmehr Lux – hinterher. Später habe ich mich oft gefragt, wann er das wohl das letzte Mal gedacht haben mag: Der mag mich.

»Wie alt ist er denn?« Die junge Frau blickt mich interessiert an. Aha, wusste ich es doch.

»Lux ist gerade drei geworden«, antworte ich routiniert.

»Dann ist er im besten Alter. Nelli, so heißt unsere Australian Shepherd-Hündin, würde von ihm begeistert sein.«

»Oh, Lux steht total auf Australian Shepherds, vor allem auf die weiblichen«, sage ich und muss schmunzeln. »Ich glaube, er hat sich in ihr plüschiges Fell verliebt, da steckt er liebend gerne seine Nase hinein.«

Wir müssen alle drei lachen, dann hält mir die junge Frau ihre Hand hin.

»Schön, dich kennenzulernen, ich bin Christin. Und das ist mein Freund David.«

Als ich Davids Hand schüttele, bleibt sein Blick an meinem Mund hängen. Das kenne ich schon. Es passiert fast allen Leuten, mit denen ich mich zum ersten Mal unterhalte. Ich besitze nämlich ein unveränderliches Kennzeichen: eine deutliche Lücke zwischen den Schneidezähnen. Nicht ganz so krass wie bei Vanessa Paradis, aber in die Richtung geht es schon. Ihr kann ich nur dankbar dafür sein, dass sie aus dem Schönheitsmakel ein sympathisches Markenzeichen machte. Wenn ich auch als Kind, erst recht als Teenager ganz schön unter meiner Zahnlücke gelitten habe, komme ich heute gut damit zurecht. Nur das Kennenlernen neuer Leute, ihr verdutztes Innehalten ist immer noch ein bisschen blöd.

»Bist du öfter hier?«, fragt David, der genug gesehen hat.

»Oh ja, Flora und ich sind Freundinnen.«

»Also, der Laden gefällt uns total. Wir sind bestimmt nicht das letzte Mal hier gewesen. Das Frikassee war der Hammer.«

Der Mann hat Geschmack, denke ich mir und frage: »Wo kommt ihr denn her? Macht ihr Ferien hier?«

»Nein, wir sind – tada! – gerade hergezogen, knapp zwei Wochen ist das her.« Christin strahlt mich an. In ihren Augen glitzert der Zauber des Neubeginns.

»Wir haben das alte Küsterhaus gekauft und sehen seit Tagen nur noch Farbpinsel und Umzugskartons.«

Ah, das Küsterhaus mit seinem verwunschenen Garten, es steht direkt neben unserer Kirche, überlege ich, sofort habe ich seinen idyllischen Anblick vor Augen.

»Mensch, heute Mittag mal rauszukommen, das hat richtig gutgetan«, meint Christin nun an David gewandt. »Jetzt kann es weitergehen!«

»Jawoll, Frau Majorin«, grinst David und spannt die Muskeln seines Oberarms wie Meister Propper an. Christin kichert daraufhin wie eine Sechzehnjährige, sie ist total verliebt, so viel steht fest.

»David gibt gerade alles«, meint sie dann zu mir. »Puh, so ein Umzug ist anstrengend, macht aber auch tierisch Spaß.«

»Das stimmt«, erinnere ich mich. »Anstrengend und aufregend und einfach großartig. Ich wünsche euch jedenfalls alles Gute und herzlich willkommen hier im Dorf!«

David und Christin strahlen um die Wette, sie sind ein wirklich süßes Paar.

»Darf man ›Dorf‹ hier eigentlich laut aussprechen? Eigentlich ist Arnis doch eine Stadt.« David hat den Tonfall gesenkt.

»Oh ja«, ich schlage mir theatralisch gegen die Stirn, »das stimmt. Arnis, die kleinste Stadt Deutschlands! Jeder der dreihundert Einwohner ist mächtig stolz auf diesen Titel. Wobei, Entschuldigung, mit euch sind es ja nun dreihundertzwei Einwohner. Also noch mal einmal: Herzlich willkommen in der schönen Stadt Arnis.«

Beide bedanken sich ausführlich, herzen Lux noch einmal tüchtig und schreiten dann, fröhlich winkend, zur Tat.

Ich schaue ihnen kurz hinterher, der Neuzugang freut mich. Als ich mich abwende, spüre ich Lux’ kalte Hundenase in der Kniekehle. Aha, er will was. Ich drehe mich herum und sehe auch in seinen Augen den Tatendrang aufblitzen. Recht hat er. Wir haben genug gechillt, nun brauchen wir zwei Auslauf. Ich schiebe einen Geldschein unter meine Espressotasse, winke der schwer beschäftigten Flora quer durch den Raum zu und hüpfe – zusammen mit Lux – die drei Stufen hinunter auf die Straße.

Als ich den Wagen starte und den blauen Himmel vor mir sehe, überfällt mich eine irre Lust nach Meer, Strand und Sonnenschein. Ich zögere keine Sekunde, steige ein und gebe Gas. Die Ostsee ist von Arnis aus ganz schnell erreicht. Als ich dort einparke, kann ich mein Glück darüber, wieder einmal, kaum fassen. Am Meer zu wohnen, habe ich mir schon als Kind gewünscht, und jetzt, jetzt ist der Traum Realität geworden.

Ich rutsche auf dem Fahrersitz hinunter, tausche Jeans und T-Shirt gegen einen Bikini. Mindestens einen davon habe ich immer im Auto herumfliegen, sicher ist sicher. Lux kann es kaum noch erwarten, dass es endlich losgeht, und als ich wieder auf der Bildfläche erscheine, beginnt er, herzerweichend zu jaulen. Schnell steige ich aus, lasse ihn aus dem Kofferraum springen und sehe zu, dass wir beide Sand unter die Pfoten bekommen.

Lux jagt voraus und steht im nächsten Moment bis zum Bauch im Wasser. Dort wartet er auf mich, angespannt bis in die Schwanzspitze. Ich sprinte los, laufe ins offene, blitzeblaue Meer hinein. Darauf hat er gewartet. Mein Hund springt, so schnell er kann, durch die Wellen. Dann, als seine Pfoten den Boden nicht mehr erreichen, beginnt er zu paddeln. Auch ich habe mich nach vorne geworfen und schwimme in großen Zügen hinaus. Das Wasser ist herrlich. Frisch und weich und, im ersten Moment, ganz schön kalt. Ich kenne nichts, was mich so sehr vitalisiert wie dieses Meer. Noch Stunden später kann ich seine Lebendigkeit, seine pulsierende Kraft in mir spüren. Ich schwimme und schwimme. Und als ich nach rechts schaue, sehe ich Lux. Er schwimmt und schwimmt. In seiner ganzen Redlichkeit, kraftvoll und schön. Und immer weiter.

Sandkastenliebe

Als ich mein Buch zuklappe, meine Augen erkennen kaum noch Buchstaben, leuchtet mein Handy auf. Flora schreibt:

Bist du noch wach?

Ja, ich sitze im Garten und lese. Es ist so ein wunderbarer Abend heute, da mag ich gar nicht reingehen.

Kaum, dass ich geantwortet habe, flattert die nächste Nachricht herein:

Du bist echt ein Naturburschi geworden!

Direkt hinterher kommt:

Wir haben heute ganz vergessen, über mein Sommerfest zu sprechen. Ich bin total aufgeregt, es haben sich soooooooo viele Gäste angemeldet. Alle Tickets sind verkauft!

Ein stolzes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Flora ist einfach klasse. Es freut mich unheimlich, dass ihr Deli, das sie erst vor einem halben Jahr eröffnet hat, so gut angenommen wird. Schnell schreibe ich ihr zurück:

Ach, das wuppst du locker, es wird ein tolles Fest! Und wozu hast du Freunde? Plan mich bitte voll mit ein, ich bin zu hundert Prozent für dich da.

Das hatte ich gehofft, ganz lieben Dank.

Klaro! Nun schlaf mal schön, wir quatschen morgen über alles.

Das machen wir. Ich hab dann auch noch eine Überraschung für dich …

Hm, eine Überraschung, das schätze ich ja gar nicht. Es kommt noch eine Nachricht hinterher:

… eine männliche!!

Oh, nein, bitte nicht! Bitte nicht der nächste Verkupplungsversuch. Ich spüre, wie leiser Ärger in mir aufsteigt. Was für Typen ich im letzten Jahr schon alles vorgeführt bekommen habe, oh Gott, ich will mich gar nicht daran erinnern. Vor meinem inneren Auge steigt die ganze Armada der örtlichen Junggesellen auf. Und ich dachte, wir hätten sie alle durch. Flora und ich kennen uns seit Ewigkeiten, aber was das Thema Männer angeht, hat sie einen Spleen. Sie meint, dass das Alleinleben nur eine möglichst schnell zu überwindende Zwischenphase sei und kein Zustand, schon gar kein Lebensmodell. Frau und Mann gehören für Flora zusammen, basta, da kennt sie nichts. Ich habe es mir abgewöhnt, mit ihr darüber zu diskutieren. Das Einzige, was dabei herauskommt, ist ein ausgewachsener Streit – und das will bei uns beiden schon etwas heißen. Wieder leuchtet mein Smartphone auf:

Huhu, ist da noch einer?

Als ich nicht antworte – ich weiß einfach nicht, was –, fragt sie:

Sauer?

Und es geht weiter:

Der Fred ist echt was Besonderes. Ein Hingucker! Und er hat richtig was auf dem Kasten. Ihr würdet suuuuper zusammenpassen. So ein schönes Paar!

Fred also, aha. Und er sieht gut aus, na denn.

Ich hatte gehofft, dass er zum Sommerfest kommt. Und gestern hat er zugesagt! Jetzt bist du platt, was?

Nun habe ich endlich eine Antwort:

Ja, Flora, ich bin echt platt und hau mich deshalb direkt aufs Ohr. Schlaf gut!

Ich lese eben noch:

Träum schön, am besten von Fred …

und schalte den Flugmodus ein. Etwas zu hart landet mein Handy neben mir auf der Holzbank. Lux, der sich im Gras ausgestreckt hat, schaut verwundert auf.

»Ach ja, stimmt doch. Das nervt, schon wieder so ein Typ«, mache ich meinem Ärger Luft. Lux schlägt genau zweimal mit seiner Rute auf und versucht angestrengt, meine Stimmung zu sondieren. Sein feines Näschen bewegt sich dazu zart in der Luft. Was für ein redliches Geschöpf er doch ist, denke ich zum tausendsten Mal. Mein aufkeimender Ärger ist bei seinem Anblick direkt wieder verflogen.

»Lux, es ist so schön heute Abend, lass uns doch noch eine Runde in der Dämmerung drehen«, sage ich zu ihm.

Begeistert springt er auf und läuft, ohne zu zögern, in Richtung Wald. Mein Hund liest in mir wie in einem offenen Buch.

Ich folge ihm, und als ich den geschützten Garten verlasse, schlägt mir eine kühlere Brise entgegen. Es fühlt sich gut an, sich noch etwas frische Luft um die Nase wehen zu lassen. Ich nehme den schmalen Pfad über die Wiese, laufe durch den immer leise rauschenden Pappelwald den Hügel hinunter und stehe schon am Wasser, an der Schlei. Die kleine Sandbucht, die sich hier auftut, gehört mit zu meinem Grundstück und liegt völlig versteckt. Ich lasse meinen Blick über das Wasser gleiten, schwer und glatt, wie Tinte liegt es vor mir. Vom Holzsteg aus ertönt ein schnelles Klack-Klack, Lux ist mir schon wieder voraus, das Geräusch seiner Krallen tönt über dem Wasser. Ich balanciere über die großen, rund gewaschenen Steine und folge ihm.

Flora kommt mir wieder in den Sinn. Ihr würde es Angst machen, in der Dämmerung so allein unterwegs zu sein – während ich mir gar nichts Schöneres vorstellen kann. In vielen Dingen sind wir völlig unterschiedlich und doch ein Herz und eine Seele. Wie viele Jahre kennen wir uns nun schon? Ich muss ein bisschen rechnen, dann weiß ich es: dreiundzwanzig Jahre. Herrje, wenn man so etwas von sich behaupten kann, dann zählt man wahrlich nicht mehr zum Grünzeug.

Wir beide haben uns während unseres Studiums kennengelernt. Sie vermietete ein winziges Zimmer in ihrer Hamburger Wohnung – und ich war auf der Suche. Wenn es unter Freundinnen so etwas gibt wie Liebe auf den ersten Blick, dann schlug sie bei uns zu. Vom ersten Tag an hat es zwischen uns gestimmt, und wir bildeten für die nächsten Jahre eine unverbrüchliche Zweier-WG auf fünfunddreißig Quadratmetern. Wie das ging, ist mir im Nachhinein ein Rätsel. Ich liebe es heute, viel, sogar sehr viel Raum für mich zu haben. Damals aber hingen wir andauernd zusammen. Wir feierten, tanzten, lachten miteinander, freuten uns füreinander und weinten aneinandergelehnt.

Damals begann Flora auch zu backen. Sie studierte Betriebswirtschaft und all die Theorie, all diese Zahlen trieben die so handfeste und sinnliche Frau in den Irrsinn. Wenn sie an unserem Küchentisch saß und lernte, hatte sie irgendwann einen »Kurzschluss im Hirn«, wie sie es nannte. Das war der Moment, in dem sie wie eine Ertrinkende den Kühlschrank und die Küchentüren aufriss, Butter und Eier, Nudelholz und Rührschüssel herauszerrte und anfing zu backen. Erst wenn sie warmen, weichen Hefeteig unter ihren Händen spürte, wenn sie eine Backform buttern und Wolken von Eischnee schlagen konnte, kam sie wieder zu sich. Standen dann – mindestens – ein duftender Gugelhupf und eine Quiche auf dem Tisch, hatte sie genug Ruhe, um sich wieder über ihre Bücher zu beugen. Flora musste »fabrizieren«, wie sie es nannte, um lernen zu können.

Ich tat mein Möglichstes, all ihre Köstlichkeiten zu vertilgen, kam aber, je näher ihr Diplom heranrückte, an meine Grenzen. So fingen wir an, Apfeltarte, Zwiebelkuchen und Nussecken unter unseren Nachbarn zu verteilen. Schließlich begann ich, Rosinenweckchen und Zimtschnecken in meinem Rucksack zu verstauen und mit zur Uni zu schleppen. Es dauerte nicht lang, und ich erntete enttäuschte Blicke, wenn ich einmal nichts dabeihatte.

Bald hatte sich herumgesprochen, was für eine exzellente Bäckerin Flora doch war. Erste Aufträge gingen ein. Nicht nur Geburtstagskuchen und köstliches Brunch-Gebäck wurden bei ihr bestellt, sondern auch Mitternachtssuppen, Gemüseaufläufe und allerlei Partygerichte. Sie buk und kochte, was das Zeug hielt. Und all das brachte sie schließlich durch ihr hart erkämpftes BWL-Diplom.

Als sie es in der Tasche hatte, hatte sie auch ihren Businessplan im Kopf: Sie wollte ein Bakery-Café mit Lieferservice eröffnen, alles hausgemacht, alles zu hundert Prozent Flora. Wir hatten uns schon die ersten Räumlichkeiten angeschaut, um ihren Traum zu verwirklichen – doch dann kam alles anders.

Es kam: ein Klassentreffen. Flora fuhr an die Schlei, in ihre alte Heimat, und traf dort Bastian, eine fast vergessene Sandkastenliebe. Von einem Tag auf den anderen war sie wie ausgewechselt. Bald sah das jeder. Denn sie war schwanger. Und wie. Gleich die erste Nacht war ein Volltreffer gewesen. Zwillinge. Dann schnell die Heirat, schnell das traute Heim. Floras Caféeröffnung war, von jetzt auf gleich, vergessen.

Und ich? Ich saß allein in unserer Hamburger Zweier-WG mit aufgeblasenen Frühstücksbrötchen aus dem Back-Shop. Als die Zwillinge, beides Jungs, zur Welt kamen, verschwand Flora endgültig von der Bildfläche. Sie lebte nun wieder dort, wo sie aufgewachsen war, und ihre drei Männer hatten sie voll im Griff.

Nur kurz vor Weihnachten war es wieder so wie früher, sobald ich das Päckchen öffnete, das sie mir jedes Jahr schickte. Ihre duftenden Vanillekipferl, Kokosmakronen und Kardamomschnecken erfüllten dann die Küche, die jetzt nur noch meine war. Dann atmete ich einmal tief durch, schloss die Augen und biss in die erste Herrlichkeit hinein.

Sonnenhüte

Ihr Lieben, da es heute heiß werden soll, gibt es spanische Küche: kühle Gazpacho oder Tortilla mit Salat. Bis später!

Als ich verschwitzt aus dem Garten komme, lese ich Floras Nachricht.

»Ich habe eigentlich gar keinen Appetit«, murmele ich teilnahmslos und stehe unschlüssig in meiner Küche herum. Die Digitalanzeige meiner Mikrowelle zeigt 13.50 Uhr. Es wird allerhöchste Zeit für mein Mittagessen. Aber dann wird Flora wieder von diesem dusseligen Fred anfangen … ach ne, darauf habe ich so gar keine Lust. Ich bin von ihren nervigen Verkupplungsversuchen echt angefasst, das merke ich. Deshalb greife ich erst mal nach einer Banane und lasse mich auf mein Küchensofa sinken.

»Puh, das war eine anstrengende Arbeit«, sage ich zu Lux, der sich hechelnd auf dem kühlen Fußboden ausgebreitet hat.

Den ganzen Vormittag haben wir uns im Garten herumgetrieben, ich hätte nie gedacht, dass mir diese Schufterei so viel Freude machen könnte. Es ist wirklich großartig, was in so kurzer Zeit aus meinem verwahrlosten Stückchen Land geworden ist. Den Vorgarten habe ich ganz den Hortensien gewidmet, sie stehen gerade in voller Blüte. Prächtig! Ihre Pastelltöne verstehen sich wunderbar mit den zartgrünen Sprossenfenstern meiner Fassade und den beiden Linden, die vor meiner Haustür wachsen.

Auf der hinteren Seite, im Süden, öffnet sich dann der eigentliche Garten, in den ich mich immer mehr hineingrabe. Direkt am Haus habe ich zwei Staudenbeete angelegt, ein Staketenzaun schützt sie vor den Wildtieren, die gerne mal auf einen Mitternachtssnack vorbeischauen. Dann kommt eine Wiese mit alten Obstbäumen und schließlich der Wald. Die Gräser und Wildblumen im hinteren Teil lasse ich einfach hochwachsen, nur einmal im Sommer – und das war heute – mähe ich sie mit der Akku-Sense runter. Ein ganz schöner Knochenjob, denn mein Garten ist groß.

Mittlerweile ist meine Banane aufgegessen, und ich weiß, was ich will.

»Lux, wir gehen heute nicht zu Flora, sondern besuchen Annegret. Das ist eh überfällig«, sage ich zu ihm und bin schon auf der Treppe nach oben. In meinem Schlafzimmer schlüpfe ich in ein frisches Shirt und greife nach den Pralinen, die ich vor zwei Tagen am Züricher Flughafen gekauft habe. Annegret liebt Schokolade, vor allem die gute aus der Schweiz. Ich verpacke die elegante Schachtel in meinem Rucksack, schlüpfe in meine Wanderschuhe, und schon sind Lux und ich aus dem Haus.

Zum Hof von Annegret und Heinrich führt ein Wanderweg, wie ich ihn liebe. Erst schlängelt er sich durch einen schattigen Laubwald, dann entlang eines kleinen, leise murmelnden Bachs. Hier liegen Heinrichs Kuhweiden, gerne verweile ich ein paar Minuten und labe meine Augen an der gemütlich grasenden Herde.