Die Macht der Kindheit - Meg Jay - E-Book
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Meg Jay

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Beschreibung

»Es ist unmöglich, dieses Buch zu lesen, ohne sich darin zu erkennen – klarer, als je zuvor.« The New York Times Wer in jungen Jahren mit einer trinkenden Mutter, einem übergriffigen Vater oder mobbenden Mitschülern zu kämpfen hatte, weiß, dass solche Erlebnisse das eigene Verhalten prägen. Psychologin und Erfolgsautorin Meg Jay erklärt, wie wir aus frühen Rückschlägen Positives ziehen können, und aus vermeintlichen Schwächen eine ungeahnte mentale Stärke erwachsen kann.

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Meg Jay

Die Macht der Kindheit

Wie negative Erfahrungen uns stärker machen

Aus dem amerikanischen Englisch von Anabelle Assaf und Hainer Kober

Hoffmann und Campe

Für Jay und Hazel

Anmerkung der Autorin

Als praktizierende Psychologin und Lehrende höre ich den Menschen seit fast zwanzig Jahren zu und habe kürzlich begonnen, Bücher über das zu schreiben, was ich dabei erfahre. Das hat folgenden Grund: Meistens kommen die Menschen mit Problemen zu einem Therapeuten oder einem Lehrer, weil sie das Gefühl haben, dass sie mit niemandem reden können oder dass niemand sie verstehen würde. Die letzten zwei Jahrzehnte habe ich also hinter verschlossenen Türen verbracht und Dingen gelauscht, die meistens ebenfalls hinter verschlossenen Türen geschehen sind. Dabei habe ich eines gelernt: Sehr viele Menschen mit ganz ähnlichen Problemen fühlen sich alleingelassen und sind sich nicht bewusst, dass sie gar nicht so allein oder so verschieden von anderen Menschen sind, wie sie glauben.

Aber Therapie und Klassenraum eignen sich nicht für jeden, und das kann finanzielle, logistische oder auch kulturelle Gründe haben. Nicht allein durch Zuhören habe ich viel gelernt, sondern auch durch meine Forschung und die Lektüre über Probleme, die mir anvertraut wurden. Diese Informationen möchte ich nicht nur jenen vermitteln, die sich einen Schulbesuch oder einen Therapeuten leisten können, sondern auch all denen, denen das Internet, ein Buchladen oder eine Bibliothek zur Verfügung stehen. Bildung ist eine Intervention, sagte die feministische Theoretikerin Gloria Jean Watkins, die den meisten besser unter ihrem Künstlernamen »bell hooks« bekannt sein dürfte.[1]

Was hier also folgt, ist ein narratives Sachbuch. Ich werde mich in seinem Verlauf auf Hunderte von Studien beziehen, deren Verfasser ich – um der Lesbarkeit willen – nicht alle im Text nennen werde. Für vollständige Zitate und Informationen zur weiterführenden Literatur ziehen Sie bitte das Literaturverzeichnis am Ende des Buches zu Rate. Daneben zitiere ich aus Dutzenden von Memoiren und Autobiographien und aus einigen Biographien und Romanen. In den meisten Fällen sind die Literaturangaben vollständig. Nur in wenigen Ausnahmen habe ich sie verkürzt, aber statt Klammern oder Auslassungszeichen zu verwenden, habe ich – auch hier um den Lesefluss nicht zu unterbrechen – sichergestellt, dass der Sinn der Worte nicht verändert wurde. Die Anmerkungen liefern Hinweise auf die Primärtexte.

Am wichtigsten aber ist, dass ich die Geschichten hier so erzähle, wie sie mir vermittelt wurden, von jenen Klienten und Studenten, mit denen zu arbeiten ich das Privileg hatte. Jede Geschichte in diesem Buch basiert auf wahren Begebenheiten und ist der emotionalen Wahrheit verpflichtet. Um die Privatsphäre all derer zu schützen, die ihre Erfahrungen mit mir geteilt haben, sind einige Details verändert worden, die eine Identifizierung möglich gemacht hätten. Doch die grundlegenden Aspekte der Geschichten, die ich hier erzähle, sind unverändert geblieben. Die eingefügten Dialoge basieren auf dem Wortlaut, wie ich sie aus Gesprächen erinnere. Ich hoffe, jede Leserin und jeder Leser kann sich selbst auf den folgenden Seiten wiederfinden, doch sind Ähnlichkeiten mit bestimmten Personen rein zufällig.

1Supernormal

Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in dir herumzutragen.

Maya Angelou[2]

Im persönlichen Gespräch wirkte Helen auf mich genauso diszipliniert, wie sie am Telefon geklungen hatte. Zu ihrem ersten Termin erschien sie auf die Minute pünktlich, saß kerzengerade auf dem Sofa, eine Hand über die andere gelegt, wobei die untere Hand sich verkrampfte. Wir tauschten ein paar Freundlichkeiten aus, unter anderem fragte ich sie, ob sie meine Praxis ohne Probleme gefunden hatte. Auf diese Frage antwortete Helen, fast beiläufig, dass sie spät aus einer Besprechung gekommen und schnell ins Auto gestiegen sei, allerdings auf halbem Weg einen Platten hatte, in die nächste Werkstatt rollte, dort in aller Eile ihren Schlüssel abgab und im Fortgehen rief, sie sei in einer Stunde wieder da. Dann habe sie einen Bus genommen, der in die richtige Richtung fuhr, sei nach etwa anderthalb Kilometern ausgestiegen und von dort die paar Blocks hierher gerannt.

»Sie hören sich an wie eine Superheldin«, sagte ich.

Über Helens Wange liefen plötzlich Tränen, und sie schaute mich ironisch und traurig an. »Sie haben ja keine Ahnung«, erwiderte sie.

Helen erzählte mir, dass sie den größten Teil der letzten Jahre seit der Uni – »Wie viele sind das jetzt?« Sie machte eine Pause, um zu zählen. »Zehn? Elf?« – damit zugebracht hatte, im Auftrag von NGOs um die Erde zu reisen, um für eine bessere Welt zu kämpfen. Soziale Gerechtigkeit in Afrika. Klimagerechtigkeit in Südost-asien und Lateinamerika. Gerechtigkeit für Kinder und Jugendliche in Osteuropa und der Karibik. Helen ging dorthin, wo man sie brauchte. Doch dann, eines Tages, schickte ihre Mutter ihr eine Nachricht, dass sie zu Hause gebraucht würde.

Helens Vater hatte sich in dem Haus umgebracht, in dem sie aufgewachsen war. Es war ein schlichtes Haus in einem Vorort etwa zwei Stunden von San Francisco entfernt. Dort gab es einen Garten zum Spielen, und Helen und ihre zwei jüngeren Brüder hatten jeder ein eigenes Zimmer. Vielleicht war das der Grund, warum vor vielen Jahren niemand gehört hatte, wie der Jüngste mitten in der Nacht aus dem Haus zum Pool schlich. Vielleicht hatte deshalb niemand gesehen, wie er ertrank.

Noch bevor sie ein Teenager war, hatte Helen begonnen, ebenfalls in der Nacht aus dem Haus zu schleichen. Zuerst wollte sie einfach nur wissen, wie die Welt für ihren kleinen Bruder ausgesehen hatte, kurz bevor er starb. Doch dann machte sie damit weiter, weil sie so allem entfliehen konnte, wenigstens für eine Weile. Ihr Vater drängte nicht darauf, irgendwo anders einen Neuanfang zu machen. Ihre Mutter weinte nicht und weigerte sich, die Erinnerungen an ihr jüngstes Kind – einschließlich der Kerben im Rahmen der Küchentür, die sein Wachstum angaben – hinter sich zu lassen. Tagsüber lief Helen durch die Korridore der Schule, wo sie sich lächelnd gute Noten erarbeitete – für ihre Eltern war es wichtig, dass sie »die Starke« war, und so war sie es denn auch. Im Dunkel der Nacht jedoch wanderte Helen entlang der Häuserblocks, und wenn sie in den gelben Lichtschein der Straßenlaternen hinein- und wieder heraustrat, gab es niemanden, für den sie stark sein musste, niemanden, den sie retten musste.

Als sie von ihren beruflichen Reisen rund um den Erdball zurückkehrte, fuhr Helen mit dem Mietwagen durch dieselben Straßen und war sich nicht sicher, was ihr mehr gegen den Strich ging: die Tatsache, dass die Häuser alle gleich aussahen, oder das Gefühl, dass ihres nie wie der Rest gewirkt hatte. Danach fuhr sie zum Büro ihres Vaters und packte seine persönlichen Dinge in einen Karton, darunter eine leere Wasserflasche, die verdächtigerweise in der unteren Schublade versteckt lag. Als sie den Deckel abschraubte und ihre Nase daranhielt, roch sie Alkohol. Auch Helen hätte gern etwas getrunken, als sie sich im Bürostuhl ihres Vaters hin- und herdrehte und die Stapel von Ordnern betrachtete, die achtlos auf den restlichen Stühlen herumlagen. Als sie ging, dankte Helen den Kollegen ihres Vaters höflich, die ungeschickt nach tröstenden Worten suchten und sie für ihre Arbeit beglückwünschten: »Ihr Vater war so stolz auf Sie. Wissen Sie, er hat die ganze Zeit über Sie gesprochen.« Helen wusste es. Sie war immer der lebende Beweis gewesen, dass es ihrer Familie gut ging.

Im Handumdrehen hatte Helen einen Job in der Nähe ihres Heimatortes gefunden, diesmal als Spendensammlerin für einen Präsidentenwahlkampf. Sie redete sich ein, dass es auch in den USA wichtige Arbeit zu leisten gab; außerdem brauchte ihre Mutter sie. Im Büro wurden freundliche und neutrale Gespräche mit Geldgebern von Anrufen ihrer weinenden Mutter unterbrochen: Ihr Haus – das sie nie hatte verlassen wollen – sollte zwangsversteigert werden. An einem solchen Tag machte Helen sich zu meiner Praxis auf, um mir ihre Geschichte zu erzählen.

»Das alles habe ich noch nie jemandem erzählt«, teilte Helen mir mit, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Einige Leute wissen einige Dinge, aber niemand kennt die ganze Geschichte. Die Menschen schauen mich an und sehen all die großartigen Sachen, die ich geleistet habe – und dann sind sie überrascht, wenn sie etwas über meine Familie herausfinden. Aber niemand weiß, wer ich wirklich bin. Ich glaube, es hat mich noch nie jemand richtig gekannt. Das macht einsam.«

Lange saß Helen schweigend da, während sie unentwegt ein Taschentuch faltete und entfaltete.

»Ich bin so müde«, fuhr sie irgendwann fort. »Es ist mir peinlich, das zu sagen, hier zu sitzen und zu weinen, wenn ich an all die Menschen denke, denen es im Leben so viel schlechter geht als mir. Es ist, als hätte ich nicht das Recht, so erschöpft oder traurig zu sein. Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt. Manchmal fühlt es sich an, als würde ich nirgendwo hinpassen, als gäbe es kein Wort für … was immer ich auch bin. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich nicht wie andere Menschen bin«, schloss sie. »Dass ich nicht normal bin.«

Als ich Helen fragte, ob sie sich selbst jemals für resilient gehalten hätte, war sie nicht verwirrt, sondern vielmehr völlig verblüfft. Ihre Antwort kam sehr schnell und bestimmt: »Nein.«

»Wenn ich resilient wäre«, erklärte sie sachlich, so als wäre ich diejenige, die sich irrte, »hätte ich Sie wohl kaum aufgesucht. Dann brauchte ich niemanden wie Sie, um zu reden.«

Und dann blickte Helen mit unfehlbarem Timing auf ihre Uhr und unterbrach sich selbst: »Unsere Zeit ist um. Ich sehe Sie nächste Woche.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und verließ meine Praxis, um zurück zu ihrem Auto zu eilen.

***

Helen ist ein Wunder. Egal, ob es darum geht, dass sie ihre Kindheit überstanden hat oder dass sie es an diesem ersten Tag in meine Praxis geschafft hat: Sie hat Schwierigkeiten überwunden, große und kleine. Den Verlust des Bruders. Die Trauer ihrer Eltern. Den Tod ihres Vaters. Internationale Ungerechtigkeit. Einen Platten. Ganz gleich, was es war, Helen ist sofort aktiv geworden. Stark und bestimmt, mitfühlend und tapfer, war sie für ihre Familie eine Heldin und vielleicht auch für andere Personen. Unermüdlich, so scheint es, kam sie all jenen zu Hilfe, die sie brauchten, und hat sich dabei auch um fremde Menschen auf der ganzen Welt gekümmert. Für all jene, die sie kannten, war Helen ein Wunder, und nur wenige hätten geahnt, dass sie sich – hatte sie einmal die Tür hinter sich geschlossen – erschöpft, anders als andere und allein fühlte.

Aber Helen ist nicht in dem Maße anders als andere, wie sie glaubt. Es folgt eine Liste der häufigsten Schwierigkeiten, mit denen Kinder und Teenager aufwachsen. Wenn Sie sich fragen, ob Sie selbst zu dieser Gruppe von Kindern oder Jugendlichen gehören, stellen Sie sich einmal folgende Fragen.[3]

Haben Sie, bevor Sie zwanzig Jahre alt waren,

ein Elternteil oder ein Geschwister durch Tod oder Scheidung verloren?

ein Elternteil gehabt, das Sie beschimpft, klein gemacht, erniedrigt, isoliert oder in sonst einer Weise behandelt hat, dass Sie sich gefürchtet haben?

mit einem Elternteil oder Geschwister gelebt, die Problemtrinker waren oder andere Drogen genommen haben?

durch die Kinder in der Schule oder Ihrer Nachbarschaft Mobbing erfahren?

mit einem Erwachsenen oder Geschwister gelebt, die unter psychischen Störungen, einer schweren Krankheit oder Behinderungen litten?

mit einem Elternteil oder Geschwister gelebt, die sie oft geschubst, hart angefasst, geschlagen oder Dinge nach Ihnen geworfen haben oder die Sie sogar so sehr geschlagen haben, dass Sie blaue Flecken, Narben oder andere Verletzungen davontrugen?

in einem Zuhause gelebt, in dem es keine saubere Kleidung oder ausreichend Nahrung gab, nicht genug Geld für einen Arztbesuch da war und wo Sie das Gefühl hatten, nicht beschützt zu werden?

in einem Haushalt gelebt, in dem ein Mitglied im Gefängnis saß?

mit einem Elternteil oder einem Geschwister gelebt (oder jemanden in Ihrem Umfeld gekannt, der mindestens fünf Jahre älter als Sie war und) der oder die Sie auf sexuelle Weise bedrängt hat oder Sie gebeten hat, sexuelle Handlungen auszuführen?

in einem Haushalt gelebt, in dem ein Elternteil oder Geschwister manchmal geschlagen, getreten oder mit einer Waffe bedroht wurde?

Wenn Sie auf eine oder mehrere dieser Fragen mit Ja geantwortet haben – oder wenn Sie Schwierigkeiten erlebt haben, die oben nicht erwähnt wurden –, dann sind Sie nicht allein. Obwohl jede einzelne dieser Erfahrungen nur einer Minderheit in der Bevölkerung widerfahren sein mag, kann man sie unter dem Überbegriff »unglückliche Kindheit« zusammenfassen und feststellen, dass laut Studien in den USA und dem Rest der Welt bis zu 75 Prozent aller Kinder und Jugendlichen mindestens eines der oben genannten Unglücke erlebt – oder auch mehr, wenn ein Problem zum nächsten führt und so fort.[4] Trotzdem wissen wir, dass viele junge Menschen wie Helen – und vielleicht auch wie Sie selbst – aufwachsen und sich in der Welt gut zurechtfinden, nicht nur trotz dieser Widrigkeiten, vielleicht sogar gerade deswegen. Sozialwissenschaftler nennen solche Menschen »resilient«.[5]

Die American Psychological Association definiert Resilienz als eine gute Anpassungsfähigkeit angesichts von schwierigen Lebenssituationen, Traumata, Tragödien oder anhaltenden schwerwiegenden Stressfaktoren.[6] Die Forschung sagt, es sei eine unerwartete Kompetenz trotz signifikanter Risiken;[7] oder die Fähigkeit, Erfolge trotz ernsthafter Hindernisse zu erzielen.[8] Ganz gleich, für welche Formulierung man sich entscheidet, Resilienz bedeutet, dass man besser zurechtkommt, als zu erwarten wäre; dass man seine Sache gut gemacht hat, während so vieles schlecht gewesen ist. Und bestimmt hatte Helen es gut gemacht, nach allem, was ihr widerfahren war. Sie hatte sich gut angepasst und war kompetenter und erfolgreicher, als es viele vorausgesagt hätten. Also warum hielt sich Helen nicht für resilient?

Das Problem liegt darin, dass wir den Begriff Resilienz umgangssprachlich etwas vereinfacht verwenden. Wir sagen, dass resiliente Menschen »schnell wieder auf die Beine kommen«. Sie »kommen wieder zurück«. Und wenn wir in ein Wörterbuch schauen, finden wir unter Resilienz den Begriff Elastizität, also die Fähigkeit, sich schnell und leicht zu erholen – nach Krankheit, Unglück oder Schock wieder in den ursprünglichen Zustand zurückfinden können.[9] Es gibt alle möglichen Situationen, auf die man diese am Begriff der Elastizität orientierte Definition beziehen könnte, zum Beispiel wenn wir von einer Grippe genesen oder uns schnell wieder berappeln, nachdem wir unseren Job verloren haben. Aber keine dieser gängigen Beschreibungen lässt sich auf den inneren Zustand von Menschen wie Helen anwenden. Die meisten von ihnen erholen sich nicht so bald, sondern haben sich durch diese Erfahrungen für immer verändert. Wenn es darum geht, unglückliche Kindheitserfahrungen zu überwinden, ist Resilienz kein Kinderspiel.

Tatsächlich behaupten Sozialwissenschaftler, dass man Resilienz nicht einfach als eine Art Charaktereigenschaft der Elastizität betrachten sollte, die man entweder hat oder nicht, sondern als ein Phänomen – als etwas, das wir sehen, aber nicht vollständig verstehen können.[10] Dieses Resilienz-Phänomen finden wir in Geschichten wie der von Helen, und wir entdecken sie ebenfalls in den Geschichten bekannterer Frauen und Männer, über die wir auf den folgenden Seiten etwas mehr erfahren werden. Ihre Erlebnisse zeigen uns, dass Menschen wie Helen nicht so allein sind, wie sie sich fühlen, sondern sich tatsächlich in guter Gesellschaft befinden. Hier sind einige Beispiele:

Andre Agassi, Tennischampion

Maya Angelou, Autorin

Alison Bechdel, Cartoonistin

Johnny Carson, Comedian

Johnny Cash, Countrysänger

Stephen Colbert, Comedian

Misty Copeland, Balletttänzerin

Alan Cumming, Schauspieler

Viola Davis, Schauspielerin

Viktor Frankl, Psychiater und Holocaust-Überlebender

LeBron James, Basketballchampion

Barack Obama, 44. Präsident der Vereinigten Staaten

Paul Ryan, 54. Sprecher des Repräsentantenhauses der USA

Oliver Sacks, Neurologe

Howard Schultz, Vorsitzender von Starbucks

Akhil Sharma, Autor

Elizabeth Smart, Verfechterin von Kindersicherheit und Kinderrechten

Sonia Sotomayor, Richterin am Obersten Bundesgerichtshof in den USA

Andy Warhol, Künstler

Elizabeth Warren, US-Senatorin

Oprah Winfrey, Medienmogul und Philanthropin

Jay Z, Rapper und Geschäftsmann

Doch natürlich sind die meisten resilienten Menschen keine Prominenten. Für gewöhnlich handelt es sich um durchschnittliche Frauen und Männer, Ärzte, Künstler, Unternehmer, Juristen, Nachbarn, Eltern, Aktivisten, Lehrer, Schüler, Leser und viele mehr. Diese Leute verdienen eine bessere Metapher als Stehaufmännchen oder Gummiband. Sie verdienen eine Metageschichte, die ihrer gesamten Resilienz-Erfahrung Rechnung trägt, und genau darum geht es in diesem Buch.

In den folgenden Kapiteln werden uns die Geschichten von Privatleuten und von Personen des öffentlichen Lebens vor Augen führen, dass resiliente Kinder und Jugendliche nach Schwierigkeiten nicht einfach schnell wieder auf die Beine kommen, sondern einen weit komplizierteren Prozess durchlaufen, der viel mehr Mut erfordert. Sie sind die Protagonisten ihres eigenen Lebens und müssen oft schwere und sehr harte Kämpfe austragen, die im Verborgenen ablaufen. Wie wir sehen werden, ist dies eine mutige, gewaltige und gefährliche lebenslange Reise, wahrhaftig ein Phänomen – und eines, das uns trotz jahrzehntelangen Interesses und Forschens noch immer verblüfft und fasziniert.

***

1962 veröffentlichte der Psychologe Victor Goertzel zusammen mit seiner Frau Mildred ein Buch mit dem Titel Cradles of Eminence: A Provocative Study of the Childhoods of Over400Famous Twentieth-Century Men and Women.[11] Zu ihren berühmten Männern und Frauen zählten nur jene, über die mindestens zwei Biographien verfasst worden waren und die einen positiven Beitrag zur Gesellschaft geleistet hatten: Louis Armstrong, Frida Kahlo, Pablo Picasso, Eleanor Roosevelt, um nur ein paar zu nennen. »Provokativ« oder wenigstens überraschend am Buch der Goertzels war die Enthüllung, dass drei Viertel dieser Prominenten als Kinder unter Armut, kaputten Elternhäusern, gewalttätigen Eltern, Alkoholismus, Handicaps, Krankheiten oder anderen Problemen gelitten hatten. Nur 85 von ihnen, weniger als 15 Prozent, schienen in einem behüteten, unbeschwerten Elternhaus aufgewachsen zu sein.[12] »Der normale Mensch«, so schlossen die Goertzels, »hat nicht die besten Chancen auf die Hall of Fame.«[13]

Vielleicht hatte die ehemalige First Lady der USA Abigail Adams recht, als sie sagte: »Die Gewohnheiten eines wachsamen Verstandes bilden sich heraus, indem er gegen große Schwierigkeiten ankämpft. Wenn der Verstand sich in einer Umgebung entwickelt und seine ersten Eindrücke empfängt, die sein Herz fordern, dann werden diese Qualitäten, die sonst brachlägen, zum Leben erwachen und den Charakter eines Helden und Staatsmannes herausbilden.«[14] Oder vielleicht ist es einfach auch so, dass widrige Lebensumstände viel verbreiteter sind als angenommen, wenn man nur genau genug hinschaut. Statt uns auf das schwere Schicksal der wenigen Unglücklichen zu konzentrieren, werden wir in vielen persönlichen Geschichten von berühmten, heldenhaften und unzähligen normalen Menschen schwierige Zeiten entdecken, in denen sie große Resilienz bewiesen.

Anfangs stießen die Sozialwissenschaftler auf solche Beispiele für die Resilienz normaler Menschen eher zufällig. Seit den Anfängen der Psychologie als wissenschaftliche Disziplin, also seit fast hundert Jahren, befassen sich die Forscher mit psychischen Störungen und vor allem mit der Frage, wie Probleme in der Kindheit zu Problemen im Erwachsenenalter führen. Sigmund Freud gilt als der Wissenschaftler, der diese Auffassung im 19. Jahrhundert erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vermittelte, tatsächlich aber war diese Theorie damals schon sehr weit verbreitet.[15] »Wohin ich auch gehe, ist vor mir schon ein Dichter gewesen«, soll Freud gesagt haben[16], und tatsächlich war es der Dichter Alexander Pope, der im 18. Jahrhundert das berühmte Sprichwort prägte: »Wie der Zweig gebogen ist, ist der Baum geneigt.«[17]

Doch in den siebziger Jahren begann eine kleine, höchst unterschiedliche Gruppe von Forschern zu beobachten, dass sich der Baum nicht immer dorthin neigt, wo der Ast sich hinbog. An der University of Minnesota hatte der Psychologe Norman Garmezy angefangen zu untersuchen, ob Kinder, deren Mütter psychisch gestört waren, ebenfalls dazu neigten, ihrerseits psychische Störungen zu entwickeln. Nur um sich dann vor allem aber für die Kinder zu interessieren, die am wenigsten Anzeichen von Schwierigkeiten erkennen ließen.[18] Am Institute of Psychiatry in London untersuchte Michael Rutter Mädchen und Jungen, die alle relativ unbeeinträchtigt von Armut oder anderen Entbehrungen zu sein schienen.[19] Emmy Werner, eine Psychologin an der University of California in Davis, begründete die »Kauai Langzeit-Vergleichsstudie«, die gefährdete Kleinkinder über einen gewissen Zeitraum begleitete, und war fasziniert von Kindern, die offenbar über ihre Benachteiligung im Kindesalter und die Schwierigkeiten innerhalb ihrer Familien hinauswuchsen.[20] An der Menninger Foundation leiteten Lois Murphy und Alice Moriarty gemeinsam das Coping-Project, ein wissenschaftliches Programm, das sich mit Kindern befasste, die widrige Lebensumstände leichter als andere bewältigten.[21] Und der Schweizer Psychiater Manfred Bleuler – der Sohn von Egon Bleuler, der den Begriff Schizophrenie geprägt und der mit erwachsenen Schizophrenen gearbeitet hat – stellte überrascht fest, dass die meisten Kinder seiner Patienten recht erfolgreich waren. Daraufhin entwickelte er die These, dass ihre schwierigen frühkindlichen Erfahrungen einen »stählenden Effekt« auf ihre Persönlichkeit hatten und sie zu erstaunlich starken Menschen machte.[22]

1987 schrieb der britische Psychoanalytiker James Anthony: »Man möchte meinen, dass das Bild von Kindern, die über verzweifelte, erniedrigende, deprimierende, deprivierende und mangelhafte Umstände triumphieren, die unmittelbare Aufmerksamkeit von Medizinern und Forschern auf sich ziehen würden, doch [bis vor kurzem] sind die Überlebenden und Erfolgreichen offenbar fast unbemerkt geblieben.«[23] Aber plötzlich war das Interesse an diesen Überlebenden und Erfolgreichen sehr groß. Junge Menschen wie Helen nannte man »Hüter des Traums« (keepers of the dream), weil es zumindest so aussah, als repräsentierten sie alle Verheißungen des amerikanischen Traums: Triumph über Schwierigkeiten, steiniger Weg zur Unabhängigkeit, Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die Chancengleichheit auf Erfolg.[24]

Resiliente Kinder haben die Phantasie von Spezialisten und Laien gleichermaßen beflügelt, frühe Studien in wissenschaftlichen Abhandlungen und der Publikumspresse beschrieben sie überschwänglich. Schlagzeilen, Zeitungsartikel und Buchtitel überboten sich in Superlativen: »Superkinder.«[25] »Unverwundbar.«[26] »Unbezwingbar.«[27] »Kinder aus Stahl.«[28] »Supernormal.«[29] Diese unverwundbaren, unbezwingbaren Kinder bewiesen eine fast überirdische Fähigkeit zu Anpassung und Erfolg, aber wie kam es dazu?

***

Oft erhofft man sich von resilienten Kindern zu Hause oder in der Schule die Lösung schwieriger Probleme. Eine Zeit lang schien es, als erwarteten die Forscher von resilienten Kindern auch die Rettung der Sozialwissenschaften. Diese »Kinder, die nicht brechen«, wie der Traumaexperte Julius Segal 1978 schrieb, schienen besondere Kräfte zu besitzen. Wenn es der Wissenschaft gelänge, hinter das Geheimnis der Resilienz zu kommen, dann, so glaubte man, wäre sie auch in der Lage, der Welt das Geheimnis des Erfolges zu offenbaren. »Die unverwundbaren Kinder«, schrieb Segal in seinen Schriften über resiliente Mädchen und Jungen emphatisch, »sind vielleicht unsere größte Hoffnung für die Wissenschaft.«[30]

Segal war nicht der Einzige, der so dachte, und überall beschäftigten sich die Forscher intensiv mit dem Leben resilienter Kinder. Die Suche nach persönlichen Eigenschaften, die einem Menschen Resilienz verleihen sollten, produzierte eine ziemlich lange Liste von mutmaßlichen Fähigkeiten, die nicht unbedingt alle bei einem Individuum vorkommen müssen, denn sonst wäre diese Person tatsächlich in jeder Hinsicht »super«: mit mindestens durchschnittlicher Intelligenz, einem angenehmen oder einnehmenden Wesen, guten Problemlösungsfähigkeiten, einem hohen Maß an Selbstkontrolle und Unabhängigkeit, mit viel Selbstvertrauen, überdurchschnittlichen Kommunikationsfertigkeiten, Humor und Zielstrebigkeit, mit der Fähigkeit, Freundschaften zu schließen, Optimismus, Attraktivität, einer Neigung zu Glaubens- oder Sinnfragen, Gewissenhaftigkeit und einem Talent oder Hobby, das die Aufmerksamkeit anderer Menschen erregt.[31]

Diese Superkinder würden ihre Superkräfte dazu verwenden, um alles in ihrer Umgebung zu bekämpfen, was schlecht und hinderlich war, mutmaßte man. Doch so verführerisch diese Annahme auch sein mochte, es stellte sich schnell heraus, dass viele von ihnen Hilfe aus den positiven Anteilen ihres Umfelds bezogen.[32] Die Glücklichsten unter ihnen erhielten Unterstützung von wenigstens einem Elternteil oder Erwachsenen, der sie liebte und von dem sie beständig Wärme und Anleitung empfingen. Einige überlebten und hatten Erfolg ohne Hilfe ihrer Eltern, weil sich ein Geschwister um sie kümmerte. Andere wurden von stabilen Beziehungen außerhalb ihres Zuhauses unterstützt, zum Beispiel durch Lehrer, Trainer, Mentoren, Verwandte oder Freunde. Vielleicht kamen ihnen auch die Ressourcen in ihrem Umfeld zu Hilfe: gute Schulen, die ihren Verstand oder Magen fütterten; sichere Nachbarschaften oder Gemeindezentren, in denen sie Kinder sein durften; Bibliotheken, Kirchen, Sporthallen oder Musikschulen, in die sie sich flüchten und in denen sie sich Inspiration holen konnten.

Wie die bekannte Resilienz-Forscherin Ann Masten es so treffend beschrieben hat, haben Menschen wie Helen keine Superkräfte. Viel überraschender ist vielleicht die Tatsache, so Masten, dass sie die »Kräfte des Normalen« nutzen – die alltäglichen Eigenschaften, die dem Verstand, der Familie oder der Gemeinschaft innewohnen –, um etwas aus dem Nichts zu schaffen, viel aus wenig zu machen, ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern.[33] Doch wie immer bei der Zauberei trügt der Schein.

Je genauer – und je länger – die Wissenschaftler dem Leben resilienter Kinder folgten, desto deutlicher erwies sich, dass Resilienz ins Blickfeld gerät und wieder verschwindet, je nachdem, wie und wann man sie betrachtet.[34] Oft suchen Forscher nach einer »messbaren Erfolgsbilanz« guter Leistungen, wobei schulische oder berufliche Leistungen am einfachsten zu beobachten sind.[35] Doch was ist mit den Lebensbereichen, die für die Forscher nicht so ersichtlich sind? Schnell fand man heraus, dass Kinder, die zu Hause unter schwierigen Umständen lebten und trotzdem gute schulische Leistungen erzielten – vor allem Kinder, die man für resilient hielt –, sich gestresst und einsam fühlten, und zwar tief im Innern, was deshalb nur schwer festzustellen ist.[36] Genauso zeigte sich, dass viele Erwachsene, die – scheinbar unbeeindruckt von Jahren voller Schwierigkeiten – in ihrem Job glänzten, unbemerkt unter Beeinträchtigungen ihrer Beziehungen und ihrer Gesundheit litten.[37] Vielleicht hat die jahrzehntelange Forschung ja doch das Geheimnis der Kindheitsresilienz gelüftet: Kein Kind – und auch kein Erwachsener – ist wirklich unverwundbar.

***

Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb Heinz Hartmann, dass eine normale Entwicklung in einem – von ihm so bezeichneten – durchschnittlichen, erwartbaren Umfeld stattfindet.[38] Das deckt sich mit dem, was der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott eine Erziehung nannte, die »gut genug«[39] ist; ein durchschnittliches, erwartbares Umfeld ist ein Zuhause – oder eine Schule oder eine Nachbarschaft –, in dem ausreichend für Sicherheit, Nahrung, Zuneigung, Frieden, Disziplin, Betreuung, Vorbilder, Aufmerksamkeit, Liebe gesorgt ist und in dem es mindestens ein Elternteil oder einen Erwachsenen gibt, der genügend Fürsorge aufbringt.[40] In einer Kindheit, die in diesem Sinne gut genug ist, muss das Leben nicht ohne Probleme verlaufen, denn vernünftige, altersgemäße Herausforderungen sind gut für uns.[41] Doch, so führen Hartmann und Winnicott aus, sollten diese Probleme voraussehbar sein, und sie sollten als normal empfunden werden, was immer wir als Kultur auch darunter verstehen.

Paradoxerweise ist das durchschnittliche, erwartbare Umfeld, das Hartmann beschrieb, vielleicht gar nicht so durchschnittlich oder erwartbar. Sehr viel mehr Menschen, als wir glauben mögen, wachsen mit dem auf, was laut Hartmann als überdurchschnittliche Belastungen durch ihr Umfeld gelten kann.[42] In einem Bericht der Centers for Disease Control and Prevention aus dem Jahr 2010 wird geschätzt, dass 25 Prozent aller Erwachsenen als Kinder verbal missbraucht wurden, 15 Prozent von ihnen unter körperlichen Misshandlungen zu leiden hatten und 10 Prozent von ihnen Opfer sexuellen Missbrauchs wurden. Rund 30 Prozent von ihnen erlebten die Scheidung der Eltern, und ebenso viele befanden sich in einem Zuhause, in dem ein Familienmitglied drogen- oder alkoholabhängig war; 15 Prozent wurden Zeugen irgendeiner Form von Gewalttätigkeit. Ungefähr 5 Prozent wuchsen mit einem Elternteil im Gefängnis auf, und 20 Prozent teilten ein Zuhause mit einem Familienmitglied, das unter psychischen Störungen litt.[43]

Das mag nach Problemen klingen, die »andere Leute« haben oder die sich unterhalb der Armutsgrenze abspielen. Sicherlich können finanzielle Notlagen zu solchen häuslichen Schwierigkeiten führen oder aus ihnen resultieren.[44] Doch die bahnbrechende Studie, die die gesamte medizinische Fachwelt damit überraschte, wie verbreitet und gefährlich diese Stressoren tatsächlich sind – die »Adverse Childhood Experiences (ACE) Study«, die Ende der neunziger Jahre unter der Leitung der beiden verantwortlichen Forscher Vincent J. Felitti und Robert F. Anda durchgeführt und vom CDC und Kaiser Permanente gesponsert wurde –, basierte auf fast 18000 Familien, die überwiegend der Mittelschicht angehörten.[45] Fast zwei Drittel der teilnehmenden Familien gaben an, von einem der genannten Probleme betroffen zu sein, und die Hälfte berichtete von zwei oder mehr dieser Schwierigkeiten.

Mit anderen Worten, eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen haben mit diesen Widrigkeiten zu kämpfen.[46] Manchmal erleben sie – wie Helen in ihrer Kindheit – in vielerlei Hinsicht belastete Zeiten als eine Art »Problem-Bündel«, das heißt, eine Situation, in der ein Unglück andere Erschwernisse nach sich zieht.[47]2004 untersuchte man in einer Studie die Wechselbeziehungen zwischen schwierigen Lebensumständen und fand heraus, dass 80 Prozent aller Kinder, die eines dieser Probleme erlebten, mit mindestens einem weiteren zu tun bekamen, während sich die Hälfte von ihnen mindestens zusätzlich drei weiteren ausgesetzt sah.[48]

Darüber hinaus sind die meisten vorherrschenden Probleme in der frühen Kindheit keine einmaligen Ereignisse; sie beeinträchtigen das Leben des Kindes immer wieder. Dabei haben wir es nicht mit »Schocktraumata«[49] zu tun – um einen Begriff des Psychoanalytikers Ernst Kris zu wählen –, sondern meist mit »Belastungstraumata«, Widrigkeiten, die das Kind und den späteren Erwachsenen anhaltend heimsuchen.[50] Masud Khan, ein weiterer Psychoanalytiker, spricht in diesem Zusammenhang von »kumulativen Traumata«, also Problemen, die sich in der Kindheit ansammeln und deren ganzes Ausmaß sich möglicherweise erst später im Erwachsenenalter offenbart: »nur kumulativ und im Nachhinein«, wie Khan schreibt.[51]

Folglich sind die meisten Kindheitsprobleme nicht so gefährlich, weil sie besonders groß sind, sondern weil sie permanent sind, weil sie sich auf den Alltag der Kinder und auf die Entwicklung ihrer Körper und ihrer Gehirne zermürbend auswirken.[52] Schwierige Erfahrungen gehen uns unter die Haut und äußern sich in dem, was wir heute allgemein als toxischen oder chronischen Stress bezeichnen.[53] Chronischer Stress fordert seinen Tribut – bildlich gesprochen – in ähnlicher Weise wie wiederholte Schläge gegen den Kopf. Wenn zum Beispiel ein Sportler ein einziges Mal so stark getroffen wird, dass er das Bewusstsein verliert – wenn er sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hat –, schreiten wir ein und nehmen ihn aus dem Spiel. Wenn ein Spieler aber einen kleineren Schlag abbekommt und vielleicht unbeeinträchtigt wirkt, dann schicken wir ihn wieder zurück ins Spiel, zurück in sein Leben. Doch Neurologen haben herausgefunden, dass sich alle Schläge, ob klein oder groß, summieren.[54]

Robert Block, der ehemalige Präsident der American Academy of Pediatrics, sagte 2011 vor einem Unterausschuss des US-Senats über Kinder und Familien aus, dass schwierige Kindheitserfahrungen »der entscheidende Faktor für Gesundheitsprobleme bei Erwachsenen in den USA sein könnten«.[55] Das liegt daran, dass chronischer Stress uns für alle möglichen späteren gesundheitlichen Beschwerden anfällig macht – angefangen bei Geschwüren über Depression bis hin zu Krebs und Autoimmunkrankheiten.[56] Und wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass resiliente Kinder und Erwachsene keineswegs gegen diese Art von Stress immun sind. Sie mögen vielleicht erfolgreicher dagegen ankämpfen als andere – sich trotz aller Widrigkeiten ein Leben einrichten –, aber hier kommt der Haken: Der Kampf gegen den Stress ist auch Stress.

In einem Artikel der New York Times, der 2017 unter dem Titel »Why Succeeding Against the Odds Can Make You Sick«[57] erschien, wurde die Arbeit von Wissenschaftlern vorgestellt, die resiliente, erfolgreiche Menschen untersuchten, also jene, die eine sehr problematische Kindheit überwinden konnten. Je häufiger Aussagen waren wie »Wenn die Dinge mal nicht so laufen, wie ich es mir wünsche, dann strenge ich mich mehr an« oder »Ich habe schon immer das Gefühl gehabt, dass ich aus meinem Leben das machen kann, was ich möchte«, desto größer war das Risiko von Gesundheitsbeeinträchtigungen. Das veranlasste einen der Forscher zu der Vermutung, dass Resilienz – soweit es unsere Gesundheit betrifft – eventuell nur oberflächlich ist.[58]

***

Und hier sind wir nun, im 21. Jahrhundert, rund fünfzig Jahre nach der zufälligen »Entdeckung« der Resilienz. Was damit begann, einigen Superkindern zu folgen und ihre Superkräfte zu finden, wurde zu einer Reise, die die Wissenschaftler nicht vorausgesehen hatten – eine Reise, die keine einfachen Antworten bot, dafür aber einige wichtige Wahrheiten offenbarte: Es ist wahrscheinlicher, dass wir schon früh in unserem Leben auf Widrigkeiten stoßen und Rückschläge erleiden, als dass es nicht der Fall ist. Viele von uns nutzen die alltäglichen Kräfte, die uns zur Verfügung stehen, um gegen diese Probleme zu kämpfen, und einige von uns sind erfolgreich. Solche Siege werden jedoch fast nie so leicht oder entschlossen errungen, wie es erscheinen mag.

Heute bezeichnet man resiliente Kinder oder Jugendliche kaum noch als Superkinder, als unverwundbar, unbezwingbar oder supernormal, doch die frühen Wissenschaftler hatten vielleicht gar nicht so unrecht, als sie sie mit Superhelden verglichen. Denn wir sollten nicht vergessen, dass Superhelden komplexe Charaktere sind.

Der erste Superheld der Welt – Superman – ist eine amerikanische Erfindung, eine Ikone, ein unvergängliches Symbol des amerikanischen Traums.[59] Als Baby mit einer Rakete von seinem Heimatplaneten Krypton auf die Erde gesandt, landete Superman – in seinem prachtvollen rot-gelb-blauen Glanz – das erste Mal 1938 auf dem Titelblatt eines Comichefts. Er ist »schneller als eine Pistolenkugel. Stärker als eine Lokomotive. Kann durch einen einzigen Sprung Hochhäuser überwinden«.[60] Und natürlich kann er auch fliegen: »Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug? Nein, es ist Superman!« Lediglich ein Stück Kryptonit von seinem Heimatplaneten – ein Stück seiner Vergangenheit – kann ihn bezwingen.

Doch wie die Welt noch erfahren sollte, ist es nicht leicht, ein Mann aus Stahl zu sein. Als Waise und Außerirdischer wird Superman von guten Menschen aufgenommen und umsorgt – den Kents –, und dennoch fühlt er sich, aufgrund seiner Geschichte und seiner Superkräfte, die er selbst nicht versteht, anders als die Menschen, die ihn umgeben. Als er älter wird, hofft er, seine Fähigkeiten nutzen zu können, um anderen zu helfen, und aus diesem Grund zieht er von Smallville nach Metropolis. Dort beginnt er seinen langen – und bislang nicht beendeten – Kampf, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sosehr sich Superman auch wünscht, ein alltägliches Leben als Clark Kent zu führen – und vielleicht in Lois Lane seine große Liebe zu finden –, die Welt ruft ihn immer wieder zu Hilfe. Frieden, so scheint es, kann er nur in seiner Festung der Einsamkeit finden.

Ein resilienter Mensch muss nicht Superman sein, aber vielleicht ist er supernormal – ein Wort, dessen Bedeutung als »das Normale oder Durchschnittliche übertreffend« definiert wird.[61]

Wenn »die Normalen« einer Gesellschaft, wie der Soziologe Erving Goffman in seinem Klassiker Stigma schrieb,[62] jene sind, die nicht von den Erwartungen abweichen, dann sind die »Supernormalen« vielleicht jene, die genau davon auf viel zu viele Arten abweichen. Ihre täglichen Kämpfe liegen weit über dem, was wir für »durchschnittlich und erwartbar« halten.[63] Indem sie sich gegen alle Widrigkeiten durchsetzen und Rückschläge wegstecken, leben resiliente Menschen ein wenig wahrscheinliches Leben, und nach Jahrzehnten wissenschaftlicher Forschung weiß niemand so genau, wie sie das machen.

Auf den folgenden Seiten werde ich mich auf dieses Wort – supernormal – stützen, wobei ich es sowohl als Adjektiv wie als Substantiv verwende, um die resilienten Menschen zu beschreiben. Diese Wortwahl hat eher empathische als besonders intellektuelle Gründe. Ich wollte ein wenig mit Sprache spielen – und auch mit dem Konzept der Normalität – und ein Wort finden, das widerspiegeln kann, wie es sich anfühlt, resilient zu sein und ein Leben zu führen, das außerhalb dessen liegt, was durchschnittlich und erwartbar ist. Meiner Erfahrung nach identifizieren sich all jene, die, wie Helen, am ehesten berechtigt wären, sich selbst für resilient zu halten, nicht mit diesem Begriff – noch nicht. Allerdings identifizieren sie sich, wie wir bald sehen werden, mit den Geschichten von Superhelden oder anderen kühnen Charakteren.

Superman war der Prototyp für fast alle Superhelden, die ihm folgten, und die meisten haben entscheidende Merkmale mit ihm gemein – Merkmale, die wir auch im Leben vieler Supernormaler finden können. Genau wie Superhelden müssen Supernormale Kugeln ausweichen und über Hochhäuser springen, die ihnen im Weg stehen, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in ihrer Umgebung, die das nicht tun, obwohl sie im Leben mit sehr viel weniger Hindernissen konfrontiert sind. Supernormale kämpfen gegen die Gefahren, die sich ihnen entgegenstellen, und es sieht einfach aus. Doch wie Helen bei unserem ersten Treffen schon andeutete, ist dies meist nicht die ganze Geschichte. Viele erreichen unglaubliche Erfolge, nur um sich zu fragen, wie lange sie das noch durchhalten oder wann alles zusammenbrechen wird.

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Als Kultur, die sich sowohl Superman wie den amerikanischen Traum ausgedacht hat, sehen wir sozialen Aufstieg in all seinen Formen durch eine rosarote Brille und vergessen dabei seine Nachteile: Erschöpfung, Verletzlichkeit, Einsamkeit. Natürlich bewundern wir jene, die resilient sind, doch während wir der Frage Wie machen die das? nachgingen, haben wir vergessen, gleichzeitig zu fragen: Wie fühlt sich das an?

In den kommenden Kapiteln wird das Buch versuchen, mit Hilfe von Wissenschaft und Geschichten diesen beiden Fragen nachzugehen.

Wie machen die das? Resilienz ist mit Sicherheit ein Phänomen: eine sehr individuelle Erfahrung, die wir niemals auf eine einzige Formel oder einen Algorithmus werden reduzieren können.[64] Doch nach Jahrzehnten wissenschaftlicher Forschung haben Sozialwissenschaftler einige Erkenntnisse über Resilienz zusammengetragen, und die Supernormalen überall auf der Welt haben das Recht, diese zu erfahren. Supernormale fühlen sich entfremdet – »nicht normal«, wie Helen es ausdrückte –, und das liegt zum Teil daran, dass sie nicht nur glauben, auf andere merkwürdig zu wirken, sondern sich auch selbst merkwürdig vorkommen. Sie können weder das, was sie erlebt und wie sie es bewältigt haben, in Worte fassen, noch, wer sie selbst sind. In diesem Buch werden Leser folglich wenig bekannte Tatsachen über die häufigsten Widrigkeiten erfahren, denen Kinder ausgesetzt sind, und wie sie sich – nach dem neuesten Stand der Wissenschaft – an diese Situationen anpassen:[65]

Was Angst im Gehirn bewirkt und warum das die Betroffenen zu Hütern von Geheimnissen macht.

Wie chronischer Stress dafür sorgt, dass unser Kampf-oder-Flucht-Mechanismus fortwährend eingeschaltet ist und wie das dazu beiträgt, dass wir uns ständig in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit und Entschlossenheit befinden.

Wie Supernormale Wut nutzen, um sich fähig und optimistisch zu fühlen – und warum auch Selbstbeherrschung eine mächtige Waffe sein kann – und wie beide bewusst eingesetzt werden müssen.

Wie Supernormale im Kindesalter Gefahren ausweichen, ohne dass sie ihr Zuhause oder ihre Nachbarschaft verlassen müssen, und wie sie als Erwachsene ihre zweite Chance nutzen, um der Gefahr endgültig zu entkommen.

Wie die Rüstung der Erfolge die Pfeile und Schleudern der Vergangenheit abwehrt.

Wie Supernormale ihr Gehirn, ihre Gesundheit und ihr Umfeld verändern, indem sie kleine und große Geheimgesellschaften bilden.

Warum es gut für uns ist, Gutes in der Welt zu tun, und warum Liebe die beste – wenn auch die am schwersten zu fassende – Superkraft überhaupt ist.

Wie fühlt sich das an? Während meiner Arbeit an diesem Buch wurde mir sehr oft die Frage gestellt: »Wo wirst du Menschen finden, über die du schreiben kannst?« Einer der Resilienz-Mythen besagt, dass es sich dabei um Menschen handelt, die Sonderfälle sind und nach denen man mühselig suchen muss oder die keine Hilfe brauchen. Dabei sind wir umgeben von Supernormalen, und viele sind fast zwei Jahrzehnte lang in meine Privatpraxis gekommen – genau wie in Beratungsstellen und Vorlesungssäle, in denen ich unterrichtet und gewirkt habe. In den kommenden Kapiteln erzähle ich – in abgeänderter Form – Geschichten von gewöhnlichen Supernormalen, mit denen ich arbeiten durfte. Ich habe die folgenden Erzählungen nicht ausgewählt, weil sie zu den schockierendsten oder ungewöhnlichsten ihrer Art gehören. Vielmehr sind sie eindrucksvolle Beispiele dafür, wie brutal und schmerzlich die häufigsten Schwierigkeiten sind, mit denen sich Millionen von Kindern und Jugendlichen täglich auseinandersetzen müssen:

Wie schwierige Zeiten die Welt in »Insider« und »Outsider« und die Zeit in »Davor« und »Danach« einteilen.

Wie es kommt, dass Geheimnisse uns das Gefühl geben, eher unnormal als supernormal, eher Antiheld als Held zu sein.

Wie es sich anfühlt, für unsere guten Taten oder unsere Errungenschaften anerkannt zu werden, während niemand den Menschen, der dahintersteckt, kennt, noch nicht einmal man selbst.

Wie es ist, so unverwundbar und unbesiegbar zu erscheinen, dass man nur noch von wenigen Leuten als menschlich wahrgenommen wird.

Wie es ist, eine geheime Identität zu haben und dabei zu entscheiden, wie viel man über sich und wem gegenüber offenbaren kann.

Warum manche Supernormale Angst haben, Partner oder Eltern zu werden, und weshalb sie oft auf Erfahrungen verzichten, durch die alles wieder ins Lot kommen könnte.

Warum es in der größten – und oft auch letzten – Schlacht des Supernormalen nicht um das Gute und das Böse in der Welt geht, sondern um das Gute und das Böse in seinem Inneren.

Warum es für Supernormale letztlich das Gewöhnliche ist, das so einzigartig erscheint.

Ralph Nichols, der vor allem bekannt ist, weil er die wissenschaftliche Disziplin des Zuhörens geschaffen hat, sagte einmal, dass es »das grundsätzlichste aller menschlichen Bedürfnisse ist, zu verstehen und verstanden zu werden«.[66] Ich hoffe, Supernormale werden nach der Lektüre dieses Buchs ihr Leben und sich selbst besser verstehen – und begreifen, dass es zahllose andere Menschen gibt, die sie ebenfalls verstehen.

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Eines der Zitate, das man über Familien am häufigsten hört, das aber vielleicht auch das falscheste ist, stammt von Leo Tolstoi: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.«[67] Alle Menschen, die unter unglücklichen Umständen groß geworden sind, mögen sich vielleicht nach außen hin unterscheiden, doch innerlich haben sie viel gemeinsam. Allerdings fanden Diskussionen und Forschungsarbeiten über Kindheitsprobleme bislang nur in getrennten Kategorien statt, wodurch Supernormale unfreiwillig voneinander ferngehalten wurden. Kinder von Alkoholkranken haben das Gefühl, dass nur andere Kinder von Alkoholkranken sie verstehen können; die Opfer von sexuellem Missbrauch können sich nicht vorstellen, irgendwo anders Unterstützung zu finden als in einer Beratungsstelle für Opfer von sexueller Gewalt; Forschungsergebnisse über emotionalen Missbrauch werden meist nur von anderen Forschern gelesen. Und obwohl grundsätzlich etwa ein Drittel der Klienten in meiner Praxis aus Frauen und Männern besteht, die zu Hause nicht unter ihren Eltern, sondern ihren Geschwistern gelitten haben, werden ihre Erfahrungen nur selten in die Diskussion einbezogen oder überhaupt in die Statistiken von Kindheitsproblemen aufgenommen. Wenn wir Erzählungen von verschiedenen Widrigkeiten und Menschen – zwischen zwei Buchdeckel – zusammentragen, können wir vielleicht erkennen, dass sich hier eine größere Geschichte offenbart. Es ist die unerzählte Geschichte von verschiedenen Frauen und Männern, die verbunden sind durch durch den Versuch, sich außerhalb sogenannter durchschnittlicher und erwartbarer Erfahrungen zu behaupten und zu entwickeln. Es ist eine Geschichte, die die Frage aufwirft, was unter normal – oder auch durchschnittlich und erwartbar – eigentlich zu verstehen ist.

Die Macht der Kindheit stellt diese unerzählte Geschichte von Widrigkeiten und Resilienz vor und wie negative Erfahrungen uns stärker machen. Das Buch berichtet von Menschen, die nach unglücklichen Lebensumständen und Kummer in ihrer Kindheit zu unerwarteten Höhen aufstiegen. Es zeigt der Welt, dass der Kampf gegen die eigene Vergangenheit genauso mutig – und komplex – ist, wie es Supernormale sind. Supernormale Erwachsene sind alltägliche Superhelden – und manchmal auch Antihelden, die Stärken und Geheimnisse besitzen, von denen selbst die engsten Vertrauten oft nichts ahnen. Im Namen des Dienstes an anderen werfen sie sich ihren Superhelden-Umhang um und nutzen ihre Kräfte, um gut zu sein und Gutes zu tun, selbst wenn es sie an den Rand der Erschöpfung bringt. Um sich selbst zu schützen, tragen sie eine Maske und leben in unglaublicher Entfremdung, auch dann noch, wenn sie nur noch durch Beziehungen zu anderen gerettet werden könnten. Die Macht der Kindheit wird schließlich der Frage nachgehen, ob das Leben ein nie endender Kampf sein muss, ob das Gute am Ende siegen kann und wie die Liebe in dieses Bild passt. Doch zuerst beginnen wir dort, wo solche Sagen immer beginnen – mit einer Ursprungsgeschichte. Es gibt Augenblicke oder Umstände, die alles in Bewegung setzen.

2Ursprungsgeschichte

Gott vermisse ich nicht wirklich, aber Santa Claus ganz bestimmt.

Eric Erlandson und Courtney Love,Gutless[68]

Das Geräusch von Kleiderbügeln, die hin- und hergeschoben wurden, weckte Sam auf. Es war ein bekanntes Geräusch, das er im Dickicht des Schlafes an jedem Wochentag ganz früh hörte, solange er sich erinnern konnte. Sams Vater war Geschäftsmann – eine Art Manager – in einem Papierwerk in einer Nachbarstadt, also begann er seinen Tag früher als der Rest der Familie, schob seine Anzüge und Hemden auf der Metallstange des Schrankes hin und her und entschied, was er anziehen wollte. Wenn Sam aufstand, um sich für die Schule fertig zu machen, war die einzige Spur, die erkennen ließ, dass sein Vater überhaupt im Haus gewesen war, die fast leere Kaffeetasse am Kopf des Frühstückstisches. Wenn Sam sie fand, war der Kaffee schon kalt, aber durch Zucker und Sahne war er süß und gehaltvoll, und Sam begann seinen Morgen gern damit, dass er ihn austrank.

Doch als Sam die Kleiderbügel dieses Mal hörte, war es anders. Es konnte noch nicht Morgen sein, dazu war es zu dunkel, und das Geräusch dauerte länger als üblich. Außerdem hatte es zwischen seinen Eltern am Abend zuvor einen Streit gegeben – einen ungewöhnlich schlimmen Streit. Als er hörte, wie sein Vater vom Schlafzimmer in den Flur trat, wusste Sam, dass er ging – nicht zur Arbeit, sondern für immer. Sam tappte zur Tür und spähte hinaus, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sein Vater im Begriff war, mit dem braunen Hartschalenkoffer in der Hand auf dem dunklen Flur zu verschwinden. Bei diesem Anblick wollte Sam etwas rufen, seinem Vater etwas sagen; vielleicht so etwas wie: Warte! Geh nicht!

Stattdessen sagte er zu sich selbst: Es ist am besten so.

Sam schob seine komplizierteren Gedanken beiseite und schlich ins Zimmer seiner Schwester, wo seine Mutter schlief, und rüttelte sie an der Schulter, bis sie einen müden Laut ausstieß: »Hmm?«

»Papa ist weg«, flüsterte Sam ihr zu, weil er glaubte, er müsste jemandem diese entscheidende Wendung des Schicksals mitteilen.

»Geh wieder ins Bett«, war alles, was sie zu ihm sagte.

Sam gehorchte.

Er war neun Jahre alt, und am nächsten Tag musste er zur Schule.

***

Jedes resiliente Kind hat eine Ursprungsgeschichte. Diese Geschichte beginnt nicht mit »Ich wurde geboren«; stattdessen gibt es – genau wie bei Superman, der von seinem Heimatplaneten Krypton fortgeschickt wurde, oder bei Spider-Man, der von einer Spinne gebissen wurde – ein Ereignis oder andere Umstände, die dieses Kind auf seinen verzweifelten und mutigen Weg schicken. Mit den Worten des Kinderarztes und Psychoanalytikers Donald Winnicott, »tritt eine Veränderung auf, die das gesamte Leben des Kindes verwandelt«.[69] Ein Geschehen ist so entscheidend, dass das Leben danach einfach nie mehr so sein wird, wie es einmal war, und dass es sich jetzt irgendwie anfühlt, als sei etwas zerbrochen. »Mir ging meine sieben Jahre alte Welt in die Brüche und ließ sich nicht wieder zusammenleimen«, schreibt Maya Angelou, als sie über den Augenblick berichtet, da sie im Kindesalter vergewaltigt wurde.[70] Manchmal aber gibt es Umstände, die nicht von Anfang an vorhanden sind – wie der Biss der Spinne oder wie bei dem Kind, das in Armut oder eine Familie mit einem psychisch gestörten Elternteil hineingeboren wird. Bei supernormalen Kindern sind Kontinuität und Zusammenhänge auf die eine oder andere Weise gebrochen: Es gibt ein Davor und Danach. Oder ein Damals und Jetzt. Oder ein Ich und alle anderen.

Meistens finden Veränderungen, die das Leben eines Kindes verwandeln, über Monate oder Jahre statt – wenn ein Geschwister krank wird, wenn eine Stadt verwahrlost oder ein Elternteil zu trinken anfängt – und trotzdem wird die Veränderung als abrupt und dramatisch empfunden. »Niemand hat einen Himmelsschreiber engagiert und die Ankunft von Crack verkündet«, erinnert sich Rapper Jay Z an seine Kindheit in einer Sozialsiedlung in Brooklyn. »Aber wenn es in deiner Nachbarschaft landete, dann war es eine totale Übernahme. Plötzlich und vollständig. Es war, als würde man einen Kumpel durch einen tödlichen Schuss verlieren. Oder als würde dein Vater für immer das Haus verlassen. Es war eine unumkehrbare neue Realität. Was gewesen war, war für immer verloren, und an seiner Stelle war eine neue Lebensweise getreten, die plötzlich überall und scheinbar schon immer da war.«[71]

Für Sam war diese totale Machtübernahme der Moment, als sein Vater ging, das war seine Ursprungsgeschichte. Wenn er über sein Leben nachdachte, dann begann seine Geschichte meist genau da. Diese Nacht war nicht Sams erste Erinnerung, aber die Erinnerung an den ersten Augenblick seiner unumkehrbaren neuen Realität. Es war die Veränderung, die Sams Familie und die Rollen der Familienmitglieder für die kommenden Jahrzehnte neu festlegte. Als er in der Tür stand und sah, wie sein Vater mit seinem alten Leben fortging, versuchte Sam, vernünftig – und stark – zu sein, indem er sich sagte, es sei das Beste: Die meiste Zeit über schienen seine Eltern unglücklich miteinander zu sein. Aber als er fortschlich, um seine Mutter zu informieren, schwante ihm, dass es noch schlimmer kommen würde.

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Ein Drittel aller Ehen enden innerhalb der ersten fünfzehn Jahre.[72] Das macht Scheidung zum häufigsten Unglück, mit dem Kinder konfrontiert sind.[73] Es wird geschätzt, dass eine Million Kinder jedes Jahr mitansehen, wie ihre Eltern sich trennen. Doch die Tatsache, dass Scheidungen so häufig sind, bedeutet nicht, dass sie für Kinder ohne Konsequenzen sind, genauso wenig wie die Tatsache, dass die Geburt von 350000 Kindern täglich dieses Ereignis weniger schmerzhaft oder bewegend für die Menschen macht. Obwohl sie allgegenwärtig sind, sind Scheidungen doch fähig, wie Winnicott sagt, die ganze Welt der Kinder auf den Kopf zu stellen, denn normalerweise sind die Eltern die ganze Welt für ihre Kinder. Die Scheidung der Eltern führt dem Kind vor Augen, dass seine Welt in zwei Teile gerissen werden kann, nicht durch einen seltenen, extremen Akt des Missbrauchs oder Terrors, sondern durch ein so alltägliches – und manchmal auch gut gemeintes – Ereignis wie die Tatsache, dass beide Eltern getrennte Wege gehen.

Im Jahr 1969 unterzeichnete der damalige kalifornische Gouverneur Ronald Reagan das erste Gesetz zur Scheidung ohne Schuldfrage in den USA.[74] Vor der Einführung dieses Gesetzes musste ein Ehepartner – wenn er oder sie die Ehe auflösen wollte – nachweisen, dass der andere eindeutig die Schuld am Scheitern der Partnerschaft trug. Dabei zählten Untreue, Missbrauch, mutwilliges Verlassen, Unzurechnungsfähigkeit und Mangel an ehelicher Intimität zu den häufigsten Gründen für eine Scheidung. Für viele Juristen und Vertreter der Frauenrechte bedeuteten diese Bedingungen, dass Scheidungen zu unnötig komplexen und feindseligen Angelegenheiten wurden, und die Beweispflicht schien zu schwer, vor allem für Ehefrauen, die oft wenig Zugang zu Geld oder anderen Ressourcen hatten, um ihren Fall erfolgreich vor Gericht zu vertreten. Nach Kalifornien wurden Gesetze zur Scheidung ohne Schuldfrage in den siebziger und achtziger Jahren überall in den USA eingeführt, wo Frauen und Männer die Aussicht begrüßten, sich aus zerrütteten und lieblosen Ehen befreien zu können. Bis 1985 war es möglich, sich in neunundvierzig von fünfzig US-Staaten ohne Schuldfrage scheiden zu lassen. Freiheit und Flexibilität, so schien es, würde es Partnern und Eltern erleichtern, bessere Entscheidungen zu treffen und ein glücklicheres Leben zu führen. Dies schien auch im Interesse der Kinder zu sein.

Zweifellos ist Scheidung oftmals notwendig und im Interesse aller Beteiligten – einschließlich der Eltern und Kinder. Und nicht jede Scheidung ist gleichbedeutend mit widrigen Umständen. Aber auch nicht jede Scheidung ist eine »gute Scheidung«, und manchmal, selbst wenn es »das Beste ist« – wie Sam in jener Nacht zu sich selbst sagte –, kommt es zu Veränderungen und Verlusten. Umfangreiche, landesweite Studien haben ergeben, dass etwa 20 bis 25 Prozent aller Kinder nach einer Scheidung Gefühls- oder Verhaltensstörungen zeigen – etwa Depressionen, Angststörungen, Aggression, Aufsässigkeit oder schulische Probleme –, gegenüber rund 10 Prozent solcher Probleme bei Kindern in intakten Familien.[75] Zwar folgt daraus, dass Scheidungskinder im Vergleich zu anderen Kindern doppelt so häufig unter auffälligen oder gar diagnostizierbaren Problemen leiden, gleichzeitig geht aus diesen Daten auch hervor, dass 75 bis 80 Prozent gut zurechtkommen.[76] »Den Kindern geht es gut«, möchten wir vielleicht erleichtert daraus schließen, aber das Fehlen von sichtbaren Störungen heißt nicht, dass sie keinen Kummer hätten.[77] »Ausschlaggebend ist«, so der Psychologe und Scheidungsexperte Robert Emery, »die Symptome vom Schmerz zu unterscheiden.«[78] Klinische und empirische Untersuchungen der letzten vierzig Jahre weisen darauf hin, dass Scheidungskinder »resilient, aber nicht unverwundbar« sind.[79] Von außen betrachtet, scheinen sich viele tapfer zu schlagen; sie übernehmen mehr Aufgaben im Haus, erledigen ihre Hausaufgaben, kümmern sich um die Geschwister und sich selbst und sind Vermittler zwischen den Elternteilen. Doch das alles tun sie, während sie mit den unausgesprochenen Konflikten leben, die sich erst Jahre oder gar Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Familie offenbaren.[80] Psychologin Judith Wallerstein erklärt, dass »Scheidung eine kumulative Erfahrung ist. Ihre Wirkung nimmt mit der Zeit zu […] und steigert sich im Leben der erwachsenen Scheidungsopfer zum Crescendo.«[81] Das mag vielleicht nicht auf jeden jungen Menschen zutreffen, dessen Eltern sich haben scheiden lassen, aber viele leben mit schmerzlichen Gefühlen und Erinnerungen.

Robert Emery und seine Kollegen stellten in ihren Untersuchungen fest, dass bei Erwachsenen aus geschiedenen Familien die Wahrscheinlichkeit dreimal so hoch ist wie bei Personen aus intakten Elternhäusern, eine »schwerere Kindheit als die meisten Menschen zu erleben«.[82] Etwa die Hälfte von ihnen gibt an, die Trennung der Eltern habe die gespannte Atmosphäre entschärft, während die andere Hälfte meint, viele Probleme seien nur durch andere ersetzt worden. Erwachsene, deren Eltern sich scheiden ließen, haben ihren Familien gegenüber meist negative Gefühle, Erinnerungen und Ansichten, und sie bezweifeln dreimal so häufig wie andere Befragte, dass beide Elternteile sie geliebt haben. Sie sind nicht in der Lage, ihre Situation so optimistisch zu beurteilen wie andere. Stattdessen nehmen sie das Leben und die Liebe durch einen »Filter der Scheidung« wahr.[83] Ein solcher Filter war es auch, der Sam dazu bewog, sich als Erwachsener in Therapie zu begeben: »Ich fühle mich wie ein Stück Tesafilm, das man mehrmals benutzt hat, und jetzt klebe ich nicht mehr. Ich habe Beziehungen, die genauso aussehen wie bei anderen Leuten, aber mir ist die Gutgläubigkeit abhandengekommen. Wenn deine eigenen Eltern dich verlassen können, dann können andere Menschen das auch. So ist das Leben. Die Dinge verändern sich. Manchmal fangen sie gut an, und dann entwickeln sie sich negativ. Ich kann nicht einfach so tun, als wüsste ich das nicht.«

Viele Kinder scheinen Scheidung mit Leichtigkeit zu meistern, auch wenn sie später sagen werden, dass die Scheidung der Eltern das prägende Ereignis ihrer Kindheit war – die Ursprungsgeschichte ihres Lebens.

Drei Viertel aller Scheidungskinder geben an, dass sie heute andere Menschen wären, wenn ihre Eltern sich nicht getrennt hätten.[84] Doppelt so oft wie andere empfinden sie ihre Kindheit als verkürzt,[85] und einige sagen, sie hätten die Fähigkeit zu spielen verloren.[86] Ihre glücklichsten Tage, so scheint es, hatten sie, bevor die Familie auseinanderbrach. Und ihre glücklichsten Tage, so fürchten sie, liegen bereits hinter ihnen.

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Sylvia Plaths Vater starb, als sie neun Jahre alt war, und später erinnert sie sich so an diese Zeit: »Mein Vater starb, wir zogen ins Landesinnere. Woraufhin diese ersten neun Jahre meines Lebens sich verschlossen, wie ein Schiff in einer Flasche – wunderschön, unerreichbar, obsolet, ein feiner, weißer fliegender Mythos.«[87] Sams Vater lebt noch, doch ähnlich wie im Fall von Sylvia Plath erschienen ihm die neun Jahre, die er mit seinem Vater verbracht hatte, jetzt plötzlich wie in einer Flasche verschlossen zu sein. Vielleicht waren sie nicht so schick oder fein modelliert wie ein Schiff, sondern eher wie Pfennige, die darin klimperten. Diese Pfennige waren die glücklichsten Erinnerungen, die Sam von seinem Vater hatte und vielleicht auch von seinem bisherigen Leben, und obwohl er dachte, er würde über die Jahre hinweg weitere Pfennige in die Flasche werfen, schien es ihm jetzt so, als hätte er nach wie vor nur wenige Münzen.

Sams Vater stammte aus Brooklyn – und im Virginia der siebziger Jahre war das eher fremdartig als hip. Er war ein Nordstaatler, was – wie Sam merkte – nicht gut ankam, doch er hatte immer den Eindruck gehabt, seinen Vater hätten einige Besonderheiten ausgezeichnet, von denen seine Umgebung nichts ahnte. Das schien wunderbar greifbar zu sein an den müßigen Samstagen, wenn sie sich durch die alten Dias klickten, die sein Vater von Coney Island gemacht hatte, oder gemeinsam die Briefmarkensammlung betrachteten, die dem Vater seines Vaters gehört hatte. Sam gefiel es, wie wichtig und offiziell sich die Schutzseiten aus Kunststoff unter seinen Fingerspitzen anfühlten, und er liebte das knisternde Geräusch, das sie beim Umblättern verursachten. Sam mochte die altmodischen Bilder und Preisangaben – 1 Cent! 3 Cent! – auf den Briefmarken und war von den Jahreszahlen beeindruckt, die viele Jahre zurückreichten.

An anderen Samstagen machten »die Jungs« Ausflüge ans Meer, wo sein Vater ihm beibrachte, auf einer rot-blauen Luftmatratze auf den Wellen zu reiten. Bei den größten stießen sie sich mit den Füßen ab und ließen sich mit dem Körper darauf treiben, Sam auf dem Rücken seines Vaters, die Arme um seinen Hals geschlungen. Sein Vater zeigte ihm auch, wie er unter den Wellen durchtauchen konnte, die ihm zu hoch waren, und wie er seinen Atem anhalten musste, bis die Woge über seinen Rücken hinweggerollt war und seine Füße erreicht hatte. Bei Ebbe suchten sie nach Muscheln, indem sie nach winzigen Luftblasen im nassen Sand Ausschau hielten und dann so tief und so lange gruben, wie sie konnten. Bei Flut fingen sie Krebse, indem sie Hühnerhälse an kleine Netze banden und sie an der Seite des Kais ins Wasser hinunterließen. Es war Sams Aufgabe, den Strick zu halten und zu warten, bis er ein Knabbern bemerkte; wenn er spürte, wie etwas am Strick zog, sprang er aufgeregt von einem Bein aufs andere, während sein Vater kam und die Schnur Hand über Hand einholte, sodass sich das Netz über den ahnungslosen Krebsen zusammenzog.

Wenn sie ein Dutzend oder mehr Krebse gefangen hatten, die in ihrer Kühlbox herumliefen, brachten Vater und Sohn sie triumphierend nach Hause, um sie bei lebendigem Leib zu kochen. Sams Vater warf die rudernden Krebse von der Kühlbox in einen hohen Topf mit dampfendem, blubberndem Wasser, und sie machten ein zischendes Geräusch, wenn sie auf der Oberfläche auftrafen. Manchmal schaffte es ein Krebs, aus dem Topf zu springen und über den Küchenfußboden zu eilen. Dann lief Sam weg und beobachtete aufgeregt schreiend vom Flur aus, wie der orientierungslose Krebs seitwärts durch die Küche lief, mal hierhin, mal dorthin, und dabei gegen eine Kommode oder den Kühlschrank lief, für wenige Sekunden in Freiheit, bis der Vater auf den Panzer trat, den Krebs an den Hinterbeinen packte und ihn wieder in den Topf warf, diesmal endgültig. Sam gehörte zu den Kindern, die bei dem Gedanken daran, dass Tieren wehgetan wird, das Gesicht verziehen, aber er war der Liebling seines Vaters und umgekehrt, also hatte er entschieden, dass diese Krebse – mit ihren scharfen, gezackten Zangen, die einmal einen Zeh des Vaters zum Bluten gebracht hatten – nur bekamen, was sie verdienen.

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Nach Ansicht der bekannten Psychologin und Familientherapeutin Virginia Satir »ziehen die meisten Menschen die Gewissheit des Elends dem Elend der Ungewissheit vor«.[88] Als Erwachsener hätte Sam nicht gewollt, dass seine Eltern an einer unglücklichen Ehe festhielten, aber die Unsicherheit, die ihrer Trennung folgte, war schwierig für ihn. Wenn Eltern sich trennen, zerbrechen fundamentale Vorstellungen über Liebe und Familie, Ordnung und Beständigkeit, und Kinder fangen an, sich verstörende Fragen über die Grundlagen ihres Lebens zu stellen: Ist es meine Schuld? Was passiert als Nächstes? Wer wird sich um mich kümmern? Wenn meine Eltern eines Tages aufhören, sich zu lieben, können sie dann auch aufhören, mich zu lieben? Wo werde ich leben? Wer kümmert sich um das Elternteil, das mit mir zusammenlebt? Wer kümmert sich um das Elternteil, das allein lebt? Wer wird unser Essen kaufen? Wird auch meine Ehe eines Tages scheitern? Sosehr sich ein Elternteil oder auch beide bemühen, zu trösten und zu versprechen, dass alles gut wird – oder vielleicht sogar besser als vorher –, sieht die Wirklichkeit doch oft anders aus.

Kindern geht es gut, wenn es den nun alleinstehenden Müttern oder Vätern auch gut geht, aber manchmal leiden Eltern und Elternverhalten unter einer Scheidung.[89] Für moderne Familien ist es schwierig, Karriere und Kinder unter einen Hut zu bringen, und das gilt natürlich in weit höherem Maße für Alleinerziehende. Eltern, die sich einmal Haushalt, Rechnungen, Kochen, Badezeit, Schlafenszeit, Wochenenden und Krankheitstage geteilt haben, fühlen sich überfordert, wenn sie alles allein bewerkstelligen müssen. Fast zwei Drittel aller Erwachsenen leben in einer Gemeinschaft, in der sie nicht aufgewachsen sind.[90] Das bedeutet, dass Verstärkung in Form von Großeltern, Tanten und Onkeln vielleicht kilometerweit oder gar Ozeane entfernt liegen. Fast die Hälfte aller Erwachsenen berichten, dass sie nur einen Menschen haben – wenn überhaupt –, mit dem sie wichtige Angelegenheiten besprechen können, und da dieser eine Mensch meist der Ehepartner ist, stehen Eltern nach einer Scheidung nicht nur mit logistischen, sondern auch mit ihren emotionalen Nöten allein da.[91] Wenn einige Kinder dann für die Eltern zur Schulter werden, an der diese sich ausweinen, sehen sie sich mit Erwachsenenproblemen konfrontiert, die sie nicht lösen können, beispielsweise wie Fahrgemeinschaften organisiert oder Rechnungen bezahlt werden sollen.[92]