Die Macht der Verborgenen - Sarah Kleck - E-Book
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Die Macht der Verborgenen E-Book

Sarah Kleck

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Beschreibung

Wenn Liebe unsterblich ist: Der Fantasy-Roman „Die Macht der Verborgenen“ von Erfolgsautorin Sarah Kleck jetzt als eBook bei jumpbooks. Die Liebe, die Evelyn und Jared verbindet, hat bereits Jahrhunderte überdauert: denn sie sind die letzten Nachkommen von Merlin, dem größten Magier aller Zeiten und Nimue, der Herrin vom See. Doch nun ist diese unsterbliche Liebe bedroht! Jared ist in die Fänge der bösen Morgana geraten. Die dunkle Magierin will ihn töten, um seine Kräfte an sich zu reißen. Für das magische Ritual verschleppt sie ihr Opfer auf die sagenumwobene Insel Avalon. Evelyn ist die einzige, die ihr dorthin folgen kann. Sie muss Jared retten, egal um welchen Preis … Wie bereits in ihrem Bestseller „Die Verborgene“ verwebt Sarah Kleck auch in diesem mitreißenden Roman gekonnt die mystische Welt der Artussage mit einer modernen und berührenden Lovestory. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Macht der Verborgenen“ von Sarah Kleck. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

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Über dieses Buch:

Die Liebe, die Evelyn und Jared verbindet, hat bereits Jahrhunderte überdauert: denn sie sind die letzten Nachkommen von Merlin, dem größten Magier aller Zeiten und Nimue, der Herrin vom See. Doch nun ist diese unsterbliche Liebe bedroht! Jared ist in die Fänge der bösen Morgana geraten. Die dunkle Magierin will ihn töten, um seine Kräfte an sich zu reißen. Für das magische Ritual verschleppt sie ihr Opfer auf die sagenumwobene Insel Avalon. Evelyn ist die einzige, die ihr dorthin folgen kann. Sie muss Jared retten, egal um welchen Preis …

Wie bereits in ihrem Bestseller Die Verborgene verwebt Sarah Kleck auch in diesem mitreißenden Roman gekonnt die mystische Welt der Artussage mit einer modernen und berührenden Lovestory.

Über die Autorin:

Sarah Kleck, geboren 1984 in Baden-Württemberg, studierte Diplom-Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der Universität Augsburg. Heute ist sie als Personalreferentin tätig und lebt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Bad Saulgau in Oberschwaben.

Bei jumpbooks veröffentlichte sie bereits ihren Roman Die Verborgene.

***

eBook-Neuausgabe März 2017

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2017 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Pitamaha

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96053-207-1

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Sarah Kleck

Die Macht der Verborgenen

Roman

jumpbooks

Für meinen Mann.

Du findest mich selbst in finsterster Nacht.

Doubt thou the stars are fire, Doubt that the sun doth move, Doubt truth to be a liar, But never doubt I love.

Hamlet

William Shakespeare (1564–1616)

Zweifle an der Sonne Klarheit, zweifle an der Sterne Licht, zweifle, ob lügen kann die Wahrheit, nur an meiner Liebe nicht.

Hamlet

William Shakespeare (1564–1616)

Prolog

»Evelyn«, sagte jemand und rüttelte sanft an meiner Schulter. »Evelyn, wach auf.«

Blinzelnd öffnete ich die Augen und schaffte es gerade noch mich festzuhalten, als der Jeep von der geteerten Straße auf eine holprige Schotterpiste bog.

»Wir sind fast da«, erklärte Enid, die neben mir auf der Rückbank saß.

»Wie weit ist es noch?«, fragte ich benommen und rieb mir den Schlaf aus den Augen.

»Etwa fünf Meilen«, antwortete Colin und warf mir vom Fahrersitz aus einen kurzen Blick durch den Rückspiegel zu.

»Die restlichen drei Meilen müssen wir zu Fuß gehen«, ergänzte Irvin, der, den Blick auf die vergilbte Landkarte in seinen Händen gerichtet, vorne auf dem Beifahrersitz saß. Die Scheinwerfer des zweiten Wagens hinter uns blitzten kurz auf.

Immer noch halb schlafend, brauchte ich einen Augenblick, um meine Gedanken zu sortieren. Für einen flüchtigen Moment zwischen Schlafen und Wachen hatte sich in mir ein zarter Hoffnungsschimmer aufgetan. War es vielleicht doch nur ein Traum gewesen? War die schwarze Hexe vielleicht doch nur die Ausgeburt einer zu lebhaften Fantasie, eines Albtraumes, und wenn ich die Augen aufschlug, würde Jared friedlich schlafend neben mir liegen, die Arme über dem Kopf verschränkt, die Lippen einen winzigen Spalt breit geöffnet? Beinahe konnte ich ihn vor mir sehen. Diesen zufriedenen, entspannten Ausdruck auf Jareds schlafendem Gesicht, wenn er spürte, dass ich ganz nah bei ihm lag. In unserem Zimmer. Im Hauptquartier des Legatum Merlini. Geschützt und behütet an dem Ort, der in den vergangenen Wochen zu meinem Zuhause geworden war. Ich atmete tief ein, als die Erkenntnis mit jeder Sekunde, die ich wacher wurde, mehr und mehr zu mir durchdrang. Denn all diese schrecklichen Dinge waren tatsächlich passiert. Beinahe wäre ich wieder in Tränen ausgebrochen. Ich schluckte schwer.

Da waren sie wieder: Verzweiflung und Hilflosigkeit – die beiden Gefühle, die mir in meinem jungen Leben bereits so vertraut geworden waren. Unerbittlich schnürten sie sich um mich und drohten mich zu erdrücken. Ich schnappte nach Luft. Voller Schmerz erinnerte ich mich an den Tag, an dem ich Jared zum ersten Mal gesehen hatte. Es war, als wäre es gestern gewesen. Seine Augen, diese unglaublich blauen Augen. Alles um mich herum hatte aufgehört zu existieren, als ich zum ersten Mal in diese Augen geblickt hatte. Die Schwerkraft hatte sich verlagert. Oder war sie verschwunden? Von jenem Moment an war es nicht mehr sie gewesen, die mich anzog … sondern er.

Seit Zaras Tod hatte ich jeden Halt verloren und war orientierungslos durchs Leben getrieben. Dann war er plötzlich da gewesen. Er hielt mich. Es hatte nur ihn gegeben – von jenem Moment an bis zu diesem.

Nein!, dachte ich, ballte die Hände zu Fäusten und atmete ein – tief, wie eine Ertrinkende, die durch die Wasseroberfläche bricht. Nein! Ich würde in dieser Verzweiflung nicht ertrinken. Nicht, solange es noch den Hauch einer Chance gab, dass Jared am Leben war. Dass ich ihn retten konnte. Entschlossen riss ich die Augen auf und grub meine Fingernägel in die Handballen.

Gleich würden wir da sein. Gleich würde ich in den Nebel gehen. Allein. Und dann würde ich Jared da rausholen – koste es, was es wolle!

Kapitel 1

»Ruth Hayman?«, wiederholte Irvin noch einmal ungläubig. Er richtete sich auf und stützte die Hände auf die riesige Tafel im Ratssaal des Hauptquartiers, an der wir mittlerweile Platz genommen hatten.

»Ja«, bestätigte ich. »Ich kenne niemanden, der mehr über Merlin, Nimue und wahrscheinlich auch Morgana wissen könnte als sie.«

»Mary Haymans Tochter?« Irvin klang noch immer sehr überrascht – gelinde gesagt.

»Ich kenne ihren Vornamen nicht, aber Ruth hat mir erzählt, dass ihre Mutter ihr ganzes Leben der Suche nach der Wahrheit über Merlin und Nimue gewidmet hat.« Bei dem Gedanken an die liebevolle Art und Weise, in der Ruth von ihrer verstorbenen Mutter gesprochen hatte, wurde ich ein wenig sentimental.

Irvin warf Enid, die auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes am Fenster stand, einen bedeutungsvollen Blick zu. Sie schien einen Moment lang hin- und hergerissen zu sein, dann erteilte sie ihm mit einem knappen Nicken die Erlaubnis zu reden. Er stand auf, drehte sich langsam zu mir um und holte tief Luft.

»Vor zwölf Jahren hat eine betagte Dame namens Mary Hayman gewisse Nachforschungen angestellt«, begann er und fing an, in dem großzügigen Ratssaal auf und ab zu schreiten. Er machte eine lange Pause und runzelte nachdenklich die Stirn, ehe er fortfuhr.

»Wie wir später erfuhren, hatte sie seit ihrer Kindheit alles gesammelt, was mit der Artussage und insbesondere mit Merlin und Nimue zu tun hatte. Sie las jede Legende, besuchte sämtliche Schauplätze und folgte selbst dem kleinsten Hinweis. Und so setzte sie Stück für Stück das Puzzle zusammen.«

»Ruth sagte, ihre Mutter sei davon regelrecht besessengewesen«, warf ich ein.

Irvin nickte. Dann blieb er vor einem der hohen Fenster stehen, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und starrte gedankenverloren hinaus. »Mary hatte fast ihr ganzes Leben darauf verwandt, und am Ende kam sie tatsächlich hinter das Geheimnis des Ordens. Wir wussten nicht, ob wir ihr vertrauen konnten, und liefen Gefahr, dass das Geheimnis des Legatum Merlini der Öffentlichkeit preisgegeben wird.« Irvin schwieg lange. Als er weitersprach, wirkte er auf seltsame Art betroffen. »Mary Hayman wurde von Karen als Gefahr für den Orden und die gesamte Familie Calmburry eingestuft. Sie bedeutete ein Risiko, das die Hohepriesterin nicht bereit war einzugehen«, gestand er tonlos. »Deshalb beschloss sie, Mary … verschwinden zu lassen.«

Betretenes Schweigen herrschte im Raum. Mir entging nicht, dass Enid Gareth einen langen Blick zuwarf. Er fing ihn auf, dann sah er auf den Boden. Mir standen die Haare zu Berge. Wie viele Menschen hatte der Orden auf Karens Anweisung im Laufe der Jahre wohl noch verschwinden lassen?

»Es ist uns bis heute ein Rätsel …«, fuhr Irvin fort und klang, als sei er tief in Gedanken versunken. »Wir wussten, dass Morgana, ebenso wie wir, auf Mary aufmerksam geworden war. Schließlich war sie immer wieder an einschlägigen Orten aufgetaucht – Glastonbury, Stonehenge, Dozmary Pool, Caerleon …« Er holte tief Luft. »Morgana durfte Mary unter keinen Umständen in die Finger kriegen – deshalb musste es ja auch so schnell … passieren.« Er ballte seine Hände zu Fäusten. »Doch irgendwie muss Morgana an Marys Aufzeichnungen geraten sein.« Er stockte, und sein Blick glitt in die Ferne. »Sie wusste nun alles, was Mary herausgefunden hatte. In Oxford waren die Calmburrys also nicht mehr sicher. Deshalb beschloss der Orden, die ganze Familie an einen geheimen Ort zu bringen – ein sicheres Hausin Boston.« Irvin brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Zorn und Trauer standen ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. »Das Flugzeug, mit dem sie in die USA gebracht werden sollten –« Seine Stimme brach. Sofort flammten die Bilder des brennenden Wracks vor meinem geistigen Auge auf.

»Morgana hat alle Mitglieder der Familie Calmburry getötet«, fuhr Enid an Irvins Stelle fort.

»Alle – bis auf einen«, ergänzte sie mit einem Hauch von … Schadenfreude? Stolz?

»Jared«, presste ich hervor.

Sie nickte. »Er ist der letzte Calmburry – der Letzte in Merlins Blutlinie.«

Irvin trat neben mich und legte mir die Hand auf die Schulter. »Nachdem Morgana – bis auf Jared – die ganze Familie getötet hatte, wurde Karen regelrecht paranoid. Jeder, der in irgendeiner Form eine Bedrohung für Jared darstellte oder von dem auch nur im Entferntesten die Gefahr ausging, dass er Jareds Existenz offenbaren und so Morgana auf ihn aufmerksam machen könnte, wurde getötet.« Mir war sofort klar, warum er mir das in dieser Eindringlichkeit erzählte.

»Karen wusste, dass Jared sich zu Nimues Nachkommen hingezogen fühlen würde. Es gibt eine jahrhundertealte magische Verbindung zwischen deiner Familie und seiner – ihr seid wie zwei Teile eines Ganzen, die sich gegenseitig anziehen. Sie wusste, dass ihr euch früher oder später finden würdet.«

Nachdenklich blickte Irvin zur Decke. »Karen setzte alle Hebel in Bewegung, Nimues Erben zu finden«, sagte er schließlich. Seine Stimme bebte vor Bedauern.

»Sie hat meine Eltern getötet. Und meine Schwester«, stieß ich verbittert hervor.

Enid sah mich voller Mitgefühl an. »Zuerst machte Karen deine Mutter ausfindig und inszenierte einen Autounfall, bei dem deine Eltern tödlich verunglückten.« Enid kniff konzentriert die Augen zusammen, als fiele es ihr wirklich schwer, darüber zu reden. »Du musst wissen, der Legatum Merlini hat ein sehr breites Netzwerk«, erklärte sie, ohne das weiter auszuführen. Sie holte tief Luft. »Dich und deine Schwester jedoch konnte sie nicht finden. Dein Amulett war mächtig genug, um euch beide zu verbergen, weil ihr euch so nahe standet.« Enid senkte den Blick. »Drei Monate bevor du nach Oxford gekommen bist, ist es Karen gelungen, Zara aufzuspüren, und …« Sie schluckte. »Sie … beauftragte ein Mitglied des Ordens mit dem Mord an deiner Schwester.«

Schweigen herrschte im Raum.

»Das macht es nicht ungeschehen«, fügte Enid nach einer ganzen Weile, beinahe flüsternd, hinzu, »und ich will mich auch nicht aus meiner Verantwortung stehlen. Aber du sollst wissen, dass Karen diese Dinge im Alleingang und gegen die Beschlüsse des Hohen Rates veranlasst hat.«

Brennender Hass breitete sich in meinem Inneren aus. Ich hatte Mühe, gegen ihn anzukommen. Karen Mayflower war nichts als eine skrupellose Mörderin. Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte ich mir, Morgana hätte sie getötet, doch schon im nächsten Augenblick bereute ich diesen Gedanken. Morgana hätte auch mich getötet, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn sie mich nicht gebraucht hätte. Sie hatte mich benutzt. Wütend biss ich die Zähne zusammen.

»Wir können hier nicht länger untätig herumsitzen – wir müssen etwas tun. Sofort!«

»Evelyn«, ermahnte mich Enid sanft. »Das werden wir – aber bevor wir irgendetwas unternehmen, musst du uns alles erzählen, was du weißt. Alles, was du gesehen oder gehört hast, könnte uns helfen. Vielleicht hat Morgana etwas übersehen. Irgendeine Kleinigkeit … vielleicht …«

Noch während Enid um Worte rang, schloss ich für einen kurzen Moment die Augen, atmete tief durch und versuchte mich zu konzentrieren. Je schneller wir die Sache hier hinter uns brachten, desto schneller konnten wir uns auf die Suche nach Jared machen. Und dann sprudelte es nur so aus mir heraus. Ich erzählte ihnen alles – von Frank Tempton, dessen Namen ich in dem Buch im Reliquienraum, in dem sämtliche Mitglieder des Legatum Merlini seit der Gründung des Ordens im fünften Jahrhundert aufgelistet waren, entdeckt hatte; von dem Gespräch zwischen Jared und Karen, in dem er sie mit seiner Entdeckung, dass sie die Schuld am Tod meiner Familie trug, konfrontierte; von meiner Flucht bis hin zu der Begegnung mit Morgana auf der Waldlichtung. Wie sie dort gestanden hatte, inmitten ihrer Heerschar Damnati. Ich drängte die Erinnerung aus meinen Gedanken.

»Hattest du Morgana jemals zuvor gesehen?«, fragte Irvin, nachdem ich mit meiner Erzählung am Ende angelangt war.

»Nein«, antwortete ich und schüttelte den Kopf, doch plötzlich hielt ich inne, erstarrte regelrecht, als das Bild der wunderschönen dunkelhaarigen Frau in einem wallenden weißen Gewand vor meinem inneren Auge erschien.

»Nein, wartet – das stimmt nicht. Ich hatte sie schon einmal gesehen. In meinen Träumen. Damals, in der Nacht, in der ich in der Bibliothek auf die Familienchronik der Calmburrys gestoßen bin.« Ich zögerte. »Die Frau, die ich in meinem Traum gesehen habe, war aber nicht Morgana, sondern … Eowyn. Myrddins Mutter – Merlins Mutter.« Unsicher blickte ich in Irvins Gesicht und stellte verblüfft fest, dass er zustimmend nickte.

»Erstaunlich, wie tief Nimues Magie noch nach so vielen Generationen in dir verwurzelt ist«, sagte er nachdenklich. »Wie vieles dein Unterbewusstsein einfach intuitiv erfasst und richtig interpretiert …« Er bemerkte meinen irritierten Gesichtsausdruck und lächelte nachsichtig. »Morgana ist Eowyns Zwillingsschwester«, erklärte er. »Sie ist Merlins Tante und, wenn man so will – neunundzwanzig Generationen später –, Jareds Urgroßtante.«

Mir klappte der Mund auf.

»Was?!«

»Ja, sie entstammen alle derselben magischen Blutlinie. Ihre Magie wirkt auf dieselbe Weise«, fuhr Irvin mit seiner Erklärung fort, und als er weitersprach, hatte seine Stimme mit einem Mal einen finsteren Klang. »Nur mit Morgana verhält es sich ein wenig anders.« Irvins Miene wurde hart. »Sie hat gegen das grundlegendste aller Naturgesetze verstoßen, als sie ihre Schwester getötet hat.« Nachdenklich schüttelte er in Anbetracht dieser Kaltblütigkeit den Kopf.

»Sie hat ihre Zwillingsschwester getötet?«

Er nickte.

»Aber … ich habe in dem Calmburry-Buch gelesen, dass Eowyn bei der Geburt ihrer jüngsten Tochter gestorben sein soll.«

»Das ist die offizielle, sozusagen zensierte Version der Geschichte. In Wahrheit hat sie durch die Hand ihrer eigenen Schwester einen grausamen rituellen Tod erlitten, als Morgana versucht hat, ihre Magie an sich zu binden.«

»Versucht?«

»Es ist ihr nicht gelungen – sie hat sie letzten Endes einfach nur getötet.« Irvin lächelte finster. »Eine Kleinigkeit hat die Gute nämlich übersehen«, sagte er schadenfroh. »Magie kann nur mit dem Einverständnis des Gebenden übertragen werden – und das setzt eine gewisse … Freiwilligkeit voraus.«

»Jared …«, ich brachte es kaum über die Lippen, »sie wird …«

Irvin nickte. »Und er hat eingewilligt. Um dich zu retten«, sprach er es schließlich aus. »Er hat sich auf einen magischen Pakt mit der Hexe eingelassen. Bricht er ihn, bedeutet es seinen Tod.«

»Was? Wie meinst du das?«.

»Sollte Jared nicht Wort halten und versuchen Morgana zu hintergehen, richtet sich seine eigene Magie gegen ihn. So funktioniert der Pakt.«

Nein! Nein! Nein! Das konnte nicht sein! Jared war noch nicht verloren. Ich war noch nicht bereit ihn aufzugeben. Es musste einen Weg geben. Irgendeinen. Egal welchen, ich würde alles tun, um ihn zu retten! Aber dazu musste mir Irvin zuerst alles sagen, was er wusste. Alle hier mussten mir sagen, was sie wussten. So konnte ich vielleicht einen Weg finden. Es musste einen Weg geben!

»Was hat es mit den Naturgesetzenauf sich?«, fragte ich hastig. »Du sagtest, Morgana hätte gegen sie verstoßen?«

Irvin sah mich durchdringend an. »Alle magischen Geschöpfe haben ihren Ursprung in dem harmonischen Gefüge der Natur und schöpfen ihre Kraft aus der allumfassenden Energie, aus der auch die vier Elemente entspringen: Erde, Wasser, Feuer und Luft.« Er machte eine Pause, um zu sehen, ob ich ihm bis hierhin folgen konnte. Als ich nickte, fuhr er fort.

»Manche, wie zum Beispiel Nimue und somit in letzter Konsequenz auch du, sind an die Energie eines bestimmten Elements gebunden. Wasser – in deinem Fall. Andere, zu denen Eowyn, Merlin und auch Jared gehören, beherrschen die Energie aller Elemente. Die Magie jedes dieser Geschöpfe ist eins mit der Natur und ihrer Energie. Sie wirkt, wenn man so will, im Einklang mit der Natur. Das bedeutet, dass Energie in ihrem natürlichen Umfeld und ihrem natürlichen Fluss durch Magie gesteuert und beeinflusst werden kann. Verstehst du in etwa, was ich meine?«

Seine Art, die Dinge zu erklären, erinnerte mich an seine Vorlesung. Er war ein wirklich guter Lehrer.

»Ja, ich glaube schon. Ich habe einmal gesehen, wie Jared eine ganze Wiese voller Frühlingsblumen hat erblühen lassen.«

»Genau!«, bestätigte er. »Er hat mit seiner Magie den natürlichen Lauf der Dinge einfach nur beschleunigt.«

»Und wie wirkt Morganas Magie?«

Irvin öffnete den Mund, doch dann war es Enid, die meine Frage beantwortete.

»Ein Leben gewaltsam zu beenden oder ein Geschöpf in die Finsternis zu stürzen, indem man seine Seele an sich bindet …«, sie stockte und sah mich mitfühlend an. Ich erschauderte. »Aber eine solch grausame, widernatürliche Tat bleibt nicht ohne Folgen«, versicherte sie.

»Von was für Folgen sprichst du?« Ich versuchte die schrecklichen Erinnerungen an meine Begegnung mit Morgana beiseitezuschieben.

»Mit dem Mord an ihrer Schwester und auch mit den unzähligen weiteren, die sie im Laufe der Zeit begangen hat, hat sie eine Grenze überschritten. In dem Moment, als Morgana die Hand gegen Eowyn erhob, hat sich ihre Magie gegen das natürliche Gefüge gestellt und damit ihre eigene Verbundenheit mit ihr, der Natur, meine ich, aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie war von jenem Moment an nicht länger Teil des großen Ganzen.« Enid atmete tief ein. »Morgana hat sich mit dem Mord an ihrer Schwester aus dem natürlichen, harmonischen Gefüge der Welt für alle Zeit ausgeschlossen.«

»Heißt das, Morganas Magie verkörpert das Gegenteil alles Natürlichen?«, fasste ich zusammen und hoffte, alles richtig verstanden zu haben.

Irvin nickte anerkennend. »Genau. Allem Lebendigen bringt sie den Tod. Wo Liebe herrscht, da schürt sie Hass. Alles Reine wird von ihr verdorben, und alles Schöne kehrt sie um in Hässliches.«

»Die Damnati«, murmelte ich, als mir das Bild der ekelerregenden, mit Narben und Geschwüren übersäten Kreaturen durch den Kopf schoss.

»Ja«, bestätigte er und zog angewidert die Nase kraus.

»Es waren so viele auf der Lichtung …« Ich hatte Mühe mir auszumalen, wie viel Leid es auf der Welt geben musste, um eine solche Heerschar dieser narbengesichtigen Ungeheuer hervorzubringen.

Ich schüttelte den Kopf, um dieses Bild zu vertreiben und mich auf das zu konzentrieren, was im Moment am allerwichtigsten war. Ich musste eine Schwachstelle finden – irgendeine.

»Warum wollte Morgana Jareds ganze Familie töten? Wenn es stimmt, dass sie seine Magie an sich binden will – warum hat sie das nicht auch bei den übrigen Familienmitgliedern versucht?«, fragte ich angespannt.

Irvin machte einen Schritt in meine Richtung. »Nach dem missglückten Versuch, Eowyns Magie an sich zu binden, was nicht nur sie das Leben gekostet, sondern auch Morgana fast getötet hätte, kam sie zu der Einsicht, dass Magie nicht einfach genommen werden kann.«

Irvin machte eine Pause, um die richtigen Worte zu finden.

»Bei dem Flugzeugabsturz vor zwölf Jahren hätte die ganze Familie ausgelöscht werden sollen«, fuhr er zögerlich fort. »Ich glaube, wenn Morgana diese Magie schon nicht haben konnte, sollte es wenigstens niemanden geben, der es mit ihr aufnehmen konnte. Und bis vor Kurzem dachte sie auch, alle wären umgekommen, denn der Schutzzauber war nun umso stärker, da er nicht mehr die ganze Familie, sondern nur noch eine Person abschirmen musste – Jared.« Irvin kam einen Schritt auf mich zu.

»Selbst Zeitungsberichte und Fernsehbeiträge über das Unglück, in denen stets erwähnt wurde, dass es einen Überlebenden gab, wurden von dem Zauber verschleiert. Der Orden hat alles Weitere in die Wege geleitet. Gefälschte Berichte, bearbeitete Fotos, verschwundene Beweise, bestochene Zeugen – Karen tat alles Menschenmögliche, um Jared zu schützen. Und so blieb Morgana in dem Glauben, sie hätte alle Calmburrys aus dem Weg geräumt.« Der Hauch eines zufriedenen Lächelns umspielte einen Moment lang Irvins Lippen, doch dann wurde seine Miene hart. »Morgana hatte nicht die geringste Ahnung, bis …«

»… bis Madison zu ihr ging und sie bat, mich zu töten, damit sie Jared für sich alleine haben konnte«, beendete ich den Satz für ihn.

»So ist es«, sagte Irvin.

»Madison hat damit nicht nur Jared an Morgana verraten«, fuhr Enid fort. »Sie hat ihr außerdem gleich das passende Druckmittel mitgeliefert.« Ein müdes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Wie gesagt: Magie muss gegeben werden – freiwillig.«

Enid sah mir direkt in die Augen. »Morgana hat dich von Anfang an benutzt.«

Die Qual, die ich bei diesem Gedanken empfand, spiegelte sich auf meinem Gesicht. Ich stand auf. Wütend biss ich die Zähne zusammen und ballte meine Hände zu Fäusten. »Nein, so wird das nicht enden! So darf es einfach nicht enden!«, sagte ich voll verzweifelter Überzeugung und blickte einen nach dem anderen an. »Ich muss mit Ruth reden. Ich bin sicher, sie weiß, was zu tun ist.«

Irvin sah mich prüfend an. »In Ordnung«, antwortete er schließlich. »Colin, bitte sag Ian Bescheid, dass er Ruth Hayman herbringen soll. Gareth, du begleitest ihn.«

Colin, der bis jetzt nur stumm aus dem Fenster gestarrt hatte, nickte knapp und verschwand mit Gareth aus der Tür.

Kapitel 2

»Nimues Erbin«, wiederholte Ruth mit leichtem Kopfschütteln und sah mich lange an. Ich hatte ihr, zum Missfallen einiger Ordensmitglieder, alles erzählt, was ich wusste. Na ja, fast alles. Über die Umstände des Todes ihrer Mutter schwieg ich. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Doch ansonsten gab es keine Geheimnisse mehr. Das brachte uns nicht weiter.

Ruth schien – und das machte die Mitglieder des Ordens offensichtlich besonders nervös – von dem, was sie in den letzten Minuten gehört hatte, nicht ganz so überrascht, wie sie es hätte sein sollen. Ich schnaubte leise. Was hatten sie denn erwartet? Ich hatte doch gesagt, dass es wohl niemanden gab, der mehr über Merlin und Nimue wusste als Ruth. Und für mich hatte es so ausgesehen, als wäre der Orden dankbar für jede Hilfe, für jeden Strohhalm, nach dem er greifen konnte, um Jared zu retten. Doch nun, da Ruth hier war, spaltete sich der Hohe Rat in zwei Lager: Für die einen grenzte es an Hochverrat, eine Fremde in die jahrhundertelang penibel gehüteten Geheimnisse des Legatum Merlini einzuweihen. Judith McHallern und Montgomery Grey hatten sogar den Raum verlassen, kurz bevor Ruth eintraf.

Die anderen, zu denen glücklicherweise auch Irvin und Enid gehörten, die hier nun das Sagen hatten, nachdem Karen aus dem Spiel war, setzten alles daran, Jared zu retten. Selbst wenn das bedeutete, ein paar Geheimnisse auszuplaudern. Dennoch war ich sicher, dass sie Ruth niemals hergebracht hätten, wenn es einen anderen Weg geben würde. Ich wusste, dass sie nichts unversucht gelassen hatten.

Gareth, Ian, Colin und ein paar andere waren Morgana und Jared gefolgt, während ich bewusstlos gewesen war.

»Wir hatten keine Chance«, hatte Gareth mir anvertraut, dabei sein Hemd über die Schulter gezogen und mir den tiefen Schnitt direkt unter seinem Schlüsselbein gezeigt, den ihm ein Damnatus zugefügt hatte. Jared hatte es nicht länger mit ansehen können, wie seine Freunde seinetwegen verletzt worden waren, hatte Gareth mir erzählt. Deshalb hatte er seine und Morganas Spuren mit irgendeinem Zauber verwischt, damit der selbsternannte Befreiungstruppihnen nicht mehr folgen konnte. So sehr sie es auch versucht hatten – und ich kannte zumindest Colin gut genug, um zu wissen, dass er nicht der Typ war, der aufgab –, sie hatten ihm nicht helfen können. Jared hatte sich auf einen magischen Pakt mit der dunklen Hexe eingelassen – und aus diesem gab es kein Entkommen. Das wusste Jared. Und das wusste auch jeder von uns.

Viel zu lange war es still. Eine Mischung aus Nervosität und Verlegenheit machte sich im Raum breit. Erst als die Spannung kaum noch auszuhalten war, sagte Ruth: »Morgana wird Jareds Magie an sich binden.«

Aus dem Augenwinkel sah ich Enid und Irvin nicken.

»Ja, aber wie will sie das anstellen? Wo ist er? Wo hat sie ihn hingebracht?«, sprudelte es voller Aufregung aus mir heraus. Ich war kurz davor, richtig wütend zu werden – mit jedem Augenblick, den wir hier untätig herumsaßen, schwanden die Chancen, Jared zu finden. Lebendig.

Ruth überlegte einen Moment, während sie ins Leere starrte. Dann klärte sich ihr Blick. »Hast du das Buch noch, das ich dir gegeben habe? Über Nimue?«

Ich zögerte. »Das Buch? Ähm … es ist …«

»Es ist in Karens Büro«, unterbrach mich Irvin und nickte Ian zu, der sogleich den Raum verließ.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich Irvin an. Etwas dazu zu sagen war überflüssig. Wie blöd war ich damals eigentlich gewesen, diesen Fanatikern zu glauben, dass alles bis auf genau dieses Buch bei dem Brand in meinem Wohnheimzimmer unversehrt geblieben war?! Für einen Moment überkamen mich starke Zweifel. Vertraute ich den richtigen Leuten? Andererseits, was hatte ich für eine Wahl?

Wenige Augenblicke später war Ian zurück und drückte Ruth den grünen Wälzer in die Hand. Hastig leckte sie sich über den Zeigefinger und begann darin zu blättern.

»Ah, hier ist es.« Während Ruth tief einatmete, strich sie die Seite glatt und begann zu lesen:

Das blinde Herz, von Sehnsucht gequält,

bereitwillig in die Finsternis geht.

Beraubt seines Lichts, beraubt seiner Macht,

gibt nur der Tod noch auf es acht.

»Ja«, meine Stimme klang noch ungeduldiger, als ich wollte, »die Prophezeiung der Nymphen von Avalon.«

»Da hast du es«, erwiderte Ruth ruhig und sah mich erwartungsvoll an.

»Was? Ich verstehe nicht.« Ich runzelte die Stirn, und auch die anderen Anwesenden: Colin, Enid, Irvin, Gareth und Ian, schauten Ruth irritiert an.

»Die Nymphen kennen keine Welt außerhalb von Avalon«, erklärte sie, als sei es ganz offensichtlich. »Für sie ist das der einzig existierende Ort.«

»Was willst du damit sagen?«, hakte Colin nach. Ich war froh, dass ich nicht die Einzige war, die nicht sofort begriff.

»Ich will damit sagen, dass alles, was die Nymphen, na ja, wahrnehmen, mit Avalon verbunden ist, und das wiederum heißt, dass alles, wovon in dieser Prophezeiung die Rede ist …«

»… auf Avalon geschieht«, beendete ich den Satz wie in Trance, während mein Blick bereits verschwamm. Die Erkenntnis traf mich wie eine Ohrfeige.

»Willst du damit sagen, Morgana hat Jared nach Avalon verschleppt?« Fassungslos griff Colin sich mit beiden Händen ins Haar. Bis jetzt hatte er sich eher zurückgehalten, doch jetzt schien er beinahe verrückt zu werden vor Sorge um seinen besten Freund.

»Aber natürlich«, murmelte ich kaum hörbar, und obwohl meine Stimme kaum mehr war als ein Flüstern, waren alle Augen sofort auf mich gerichtet. Gebannt starrte ich ins Leere. Ich war meilenweit weg.

Gefühl, Intuition, Magie oder eine längst vergessene Wahrheit, die wieder durch die Oberfläche brach – ich hatte keine Ahnung, woher es kam oder was es war, aber plötzlich ergab alles einen Sinn. Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte.

Es war nicht nur eine Ahnung, eine Idee oder ein Gefühl. Nein – ich wusste ganz tief in mir und mit unumstößlicher Gewissheit, was zu tun war. Wohin ich gehen musste. Bilder fügten sich in meinem Kopf zusammen. Bilder, die ich noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte und die mir dennoch vertraut waren.

Von Bächen durchzogene Wiesen, wild bewachsene Waldlichtungen, prachtvolle Bäume, Vogelgezwitscher …

»Wo ist der Eingang?«, wollte ich ohne Umschweife wissen.

»Glastonbury Tor«, sagten Irvin und Ruth wie aus einem Munde und starrten mich mit verwirrter Miene an.

»Ein Hügel inmitten der Summerland Meadows, auf dessen Spitze sich die Ruine des Turms von St. Michael’s befindet«, erklärte Irvin stirnrunzelnd. »Wenn man den alten Legenden Glauben schenken will, ist diese Ruine der Eingang nach Avalon.«

»Und wie kommt man da rein?« Meine Stimme klang härter als beabsichtigt.

Ruth presste die Lippen zusammen. »Mit Sicherheit kann man das nicht sagen, schließlich hat es nie jemand hineingeschafft. Nicht einmal Nimue selbst konnte nach Avalon zurückkehren, wenn du dich an die Geschichte erinnerst, die ich dir erzählt habe.«

Oh ja, ich erinnerte mich nur zu gut. Sie hatte als normaler Mensch weitergelebt, sich einen Mann genommen und eine Tochter namens Viviane geboren. Meine Urururur… – ach, Keine-Ahnung-wie-viele-Ur-Großmutter.

»Aber irgendeinen Weg muss es doch geben«, warf ich ein. Kummer und Verzweiflung wallten in meiner Brust auf. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

»Na ja, den Aufzeichnungen meiner Mutter zufolge kann man, wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, nur im Nebel dorthin gelangen. In der magischen Stunde zwischen Nacht und Tag.«

»Der Morgendämmerung«, schloss Colin aus Ruths Worten.

Sie nickte.

»Dann brechen wir sofort auf«, entschied ich und erhob mich energisch.

»Ich werde dich begleiten«, sagte Colin und streckte mir seine Hand entgegen.

»Das ist sehr mutig von dir, Colin«, wandte Ruth ein, »aber ich glaube nicht, dass du es durch das Portal schaffst.«

»Was soll das denn heißen?« Er klang richtig beleidigt.

»Das ist der Haken an der Sache. Ich bin sicher, dass, wenn sich das Portal öffnet, es sich nur für Evelyn öffnen wird – und nur für sie.«

»Dann gehe ich eben alleine«, entschied ich, woraufhin Colin die Hand enttäuscht sinken ließ.

»Und wie willst du das anstellen?«, fragte er empört. »Willst du es allein mit Morgana und ihrer verdammten Damnatus-Armee aufnehmen?«

»Hab ich denn eine Wahl?« Natürlich hätte ich ihn gern an meiner Seite gewusst, aber anscheinend ging es nun mal nicht anders.

»Ganz alleine?«, wiederholte Colin, der ebenso zwischen Wut und Verzweiflung zu schwanken schien wie ich. »Das ist verrückt!«

»Wenn es klappt«, unterbrach Ruth mit ruhiger Stimme, »wird Evelyn nicht alleine sein.«

»Was willst du damit sagen?«, wollte nun Enid mit echtem Interesse wissen.

Ruth zog den linken Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hoch. »Avalon ist Evelyns Insel«, sagte sie schließlich und reckte das Kinn in meine Richtung. »Alles, was dort zu Hause ist, wird ihr dienen.«

»Meinst du die Nymphen?«

»Ja, Nymphen und andere Wesen, die dort zu Hause sind.«

Ich schluckte. Was würde mich dort wohl alles erwarten? Vorausgesetzt, ich schaffte es überhaupt durch das Portal …

»Soll das heißen, die Nymphen werden für mich kämpfen?« Das klang noch dümmer, als es sich in meinem Kopf angehört hatte.

»Kämpfen?« Ruth überlegte einen Moment. »Nein, das denke ich nicht. Nymphen werden in der Literatur als durch und durch friedfertige Wesen beschrieben. Kämpfen liegt nicht in ihrer Natur. Was aber nicht heißt, dass sie dir nicht auf andere Weise nützlich sein könnten.«

Ich hatte den Eindruck, dass Ruth wohl selbst nicht so recht wusste, was sie damit eigentlich meinte. Einen Moment lang herrschte Schweigen, während alle mich mit starren Mienen betrachteten. So, als wögen sie ab, ob ich der Sache gewachsen war oder nicht. Ehrlich gesagt, war ich mir dessen selbst nicht sicher.

»Gut«, beschloss Enid schließlich und erhob sich. Obwohl sie nicht ganz überzeugt schien, hatte sie dennoch der Tatendrang gepackt. Irgendetwas mussten wir ja schließlich tun.

»Colin, Ian, ihr kümmert euch um Evelyns Gepäck«, wies Enid, ganz Hohepriesterin des Legatum Merlini, die beiden an. Sie nickten.

»Gareth, du bist für den Jeep verantwortlich. Sieh zu, dass er vollgetankt und fahrtüchtig ist. Irvin, du kommst mit mir in die Bibliothek. Vielleicht finden wir noch etwas, das uns helfen kann.«

Mit angespannter Miene sah Enid mich einen Moment an, bevor sie sagte: »Ruh dich aus, Evelyn. Du wirst deine Kräfte noch brauchen. Ruth, danke für deine Hilfe.« Wieder ein Wink mit dem Zaunpfahl. In Enids Augen wusste Ruth eindeutig schon zu viel.

»Heute Nacht brechen wir auf«, fuhr Enid dann an alle gewandt fort. »Es sind 120 Meilen von hier bis Glastonbury, und wir wollen die Morgendämmerung doch nicht verpassen.«

Auf mein Bitten durfte Ruth doch noch bleiben und begleitete mich in den Garten des Hauptquartiers. Einfach nur herumzusitzen hätte mich wahnsinnig gemacht, ich musste mich bewegen. In Gedanken ließ ich das Erlebte noch einmal Revue passieren und versuchte mir einen Überblick zu verschaffen. Vielleicht, aber nur vielleicht, stieß ich so ja auf etwas, das ich noch nicht bedacht hatte. Etwas, das mir helfen konnte. Bis jetzt hatte ich nämlich nicht mal ansatzweise so etwas wie einen Plan, wie ich die Sache angehen sollte.

Ich würde – wenn ich es denn schaffte – nach Avalon gehen. Allein. So viel war klar. Wie es dann aber weitergehen sollte, davon hatte ich nicht einmal den Hauch einer Vorstellung. Was, wenn ich mitten in eine Damnatus-Party hineinplatzte? Oder Morgana direkt in die Arme lief? Was, wenn Avalon selbst mich angreifen würde? Wenn die Wesen, die dort zu Hause waren, eben nicht auf meiner Seite wären? Oder – das Schlimmste aller Szenarien: was, wenn ich zu spät kam? Was, wenn Jared … Ich wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Zu viele Fragen – zu wenige Antworten.

Während Ruth und ich schweigend nebeneinander hergingen, kam mir plötzlich eines unserer ersten Gespräche wieder in den Sinn.

»Wenn Nimue ein so magisches und mächtiges Geschöpf war – warum wollte sie dann als normaler Mensch mit Merlin zusammenleben? Was ist mit ihrer Magie passiert?«, hatte ich sie an jenem Abend in ihrer Wohnung gefragt.

Nimues Magie sei untrennbar mit Avalon verbunden, hatte sie mir erklärt. »Wenn sie ihre Magie nicht dort gelassen hätte, wäre Avalon gestorben.«

Hmm. Zuerst wehrte ich mich dagegen, diesen absurden Gedanken überhaupt zuzulassen, doch unwillkürlich drängte er sich immer stärker in mein Bewusstsein.

Eine Mischung aus Mut und Scham überkam mich, doch ich musste sie einfach fragen. Ich schluckte.

»Du sagtest einmal«, begann ich vorsichtig und verlangsamte meine Schritte, »Nimue hätte ihre Magie auf Avalon gelassen.«

Ruth nickte.

»Meinst du, sie … sie ist noch dort?«

Sie nickte wieder.

»Und meinst du … ich könnte …«, ich wusste selbst nicht, wie ich diesen Satz beenden sollte. Wurde ich gerade übermütig oder war es tatsächlich möglich?

Ruth blieb stehen und sah mir in die Augen. Sie schien sofort zu verstehen. »Wenn sie die Wahl hat, kehrt Magie immer zu ihrer Quelle, zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurück«, antwortete sie schlicht, jedoch mit einer solchen Intensität, dass ich eine Gänsehaut bekam. Ich starrte sie an und ließ ihre Worte auf mich wirken. Dann schüttelte ich den Kopf.

»Zu ihrem rechtmäßigen Besitzer«, wiederholte ich schließlich. Spöttisch und voller Selbstzweifel. Ich blickte zu Boden. Nun, als Ruth es so deutlich aussprach, klang die Sache schon sehr viel weniger glaubhaft. Im Moment fühlte ich mich nämlich ganz und gar nicht wie der rechtmäßige Besitzer von irgendetwas.

Unerwartet fest packte Ruth mich am Arm und sah mich eindringlich an. »Evelyn, du bist die Letzte in Nimues Blutlinie, die letzte Nachfahrin der Königin des Wassers. Du bist die Erbin Avalons. Es ist nichts weniger als dein Geburtsrecht, dorthin zurückzukehren. So wie es dein Geburtsrecht ist, Nimues Magie für dich zu beanspruchen.«

Ach, wenn es weiter nichts ist, dachte ich voller Sarkasmus.

»Und wie soll ich das anstellen?« Mutlos ließ ich mich auf eine Gartenbank plumpsen.

Ruth setzte sich neben mich, nahm das grüne Buch aus ihrer Tasche und begann erneut darin zu blättern.

»Hier steht«, sie schlug wieder jenen ehrfürchtigen Tonfall an, mit dem sie immer aus diesen alten Büchern vorlas, »dass man sich in Licht und Liebe auf sein Recht besinnen und dann um Einlass bitten soll.«

Stirnrunzelnd blickte ich sie an. »Aha.«

»Nun sei doch nicht so skeptisch«, erwiderte sie, allmählich mit der Geduld am Ende.

»Ich frage mich nur, wie das gehen soll. In Licht und Liebe …« Es klang einfach lächerlich.

»Du wirst es versuchen müssen.«

»Super Tipp«, gab ich resigniert zurück. »Jared hat nur noch wenige Tage, vielleicht nur noch Stunden, und ich soll seelenruhig in Licht und Liebe um Einlass bitten?!«Tränen der Wut stiegen mir in die Augen.

»So eine verdammte Scheiße!«, rief ich, ließ den Kopf auf meine Hände sinken und heulte. Zu meiner Überraschung verschaffte es mir tatsächlich Erleichterung.

Ruth strich mir sanft über den Rücken. »Es tut mir leid, Kleines. Aber das ist alles, was wir haben – du wirst es versuchen müssen.«

Wütend und frustriert wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Hey.« Ruth zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. »Du darfst nur nicht an dir zweifeln, hörst du! Niemals! Geh durch das Portal. Geh einfach durch das Portal.«

Ich schnaubte. Doch sie hatte recht – mir blieb nichts anderes übrig, als es zu versuchen.

Ich stand auf und ging weiter. Sie folgte mir.

»Ruth?«, fragte ich nach einer Weile.

»Ja?«

»Du sagtest einmal, Morgana hätte Merlin mit seiner Liebe zu Nimue getötet …«

»Hmm.«

»Du sagtest, sie hat Nimue benutzt, um Merlin zu erpressen. Und er gab sein Leben, um sie zu retten«, fasste ich zusammen.

»Ja«, erwiderte sie, gespannt, worauf ich hinauswollte.

»Aber … wie hat Merlin es dann letzten Endes geschafft, zu verhindern, dass Morgana seine Magie an sich bindet?«

»Ich bin nicht sicher«, gab sie nach einer gefühlten Ewigkeit zurück und machte wieder eine Pause. »Vielleicht war es einfach … zu viel für sie.«

»Zu viel?«

Ruth überlegte einen Moment. »Trotz ihrer Magie ist Morganas Körper ein lebender Organismus aus Fleisch und Blut.«

Das Bild der klaffenden Wunde an ihrem Unterarm, das warme Blut, ihr warmes Blut, mit dem sie auf meinem nackten Körper herumgeschmiert hatte, schoss mir durch den Kopf.

»Bluten kann sie jedenfalls«, antwortete ich knapp.

»Und was denkst du«, fuhr Ruth fort, »mit wie viel Magie so ein blutender, menschlicher Körper fertigwerden kann?«

Ich stutzte. »Keine Ahnung. Aber Merlins und Morganas eigene Magie in nur einem menschlichen Körper – da scheint es mir doch ein bisschen eng zu werden.« Ich hielt einen Moment inne, als ich zu verstehen begann.

»Dann meinst du, sie war zu gierig und konnte am Ende nichts davon, na ja, wie soll ich sagen, bei sich behalten?«

»Ja, ich denke, so kann man es ausdrücken«, Ruth grinste beinahe. »Als hätte sie sich übergeben müssen – auf magische Weise.«

Bei der Vorstellung musste auch ich schmunzeln. »Wie ein Kind, das seine ganzen Halloween-Süßigkeiten auf einmal verputzt.« Ich ertappte mich selbst dabei, wie ich mich an diese Vorstellung klammerte. War Jared vielleicht einfach zu mächtig? Konnte es sein, dass Morgana mit seiner Magie schlichtweg überfordert wäre? Nur zu gern wollte ich daran glauben. Selbst die kleinste Schwäche Morganas ließ mich neuen Mut schöpfen.

»Ja, so ungefähr«, Ruth lächelte, doch plötzlich wurde ihre Miene wieder ernst. »Das Problem ist nur«, fuhr sie fort, »dass Magie untrennbar mit dem Körper ihres Besitzers verbunden ist. Selbst wenn Merlins Magie Morgana überfordert hat, hat ihn das sein Leben gekostet. Der Körper alleine kann ohne Magie nicht überleben.« Ruth stockte, ehe sie stirnrunzelnd fortfuhr: »Nur bei Nimue scheint das etwas anderes zu sein.«

»Ja, der Gedanke kam mir auch gerade«, warf ich ein. »Wie kann es sein, dass sie ihre Magie auf Avalon lassen und als normaler, nicht magischer Mensch einfach weiterleben konnte?«

»Hm«, antwortete Ruth, »meine Mutter glaubte, dass es sich mit Nimue anders verhält als mit anderen magischen Wesen.« Sie atmete tief durch und sprach weiter. »Nimues Existenz scheint sich nicht nur auf die beiden Grundpfeiler Körper und Magie zu stützen, sondern auf drei: ihr menschlicher Körper, die Magie und Avalon. Das bedeutet«, setzte Ruth an und überlegte einen Moment, »dass alle drei überleben, solange zwei von dreien fest miteinander verbunden sind.«

»Nimues menschlicher Körper konnte also weiterleben, solange ihre Magie fest mit Avalon verbunden war?«

Ich dachte einen Moment darüber nach. »Aber warum musste sie ihre Magie dann überhaupt dort lassen, als sie mit Merlin zusammen sein wollte? Ich meine, dann wären Nimues Körper und ihre Magie fest miteinander verbunden gewesen und Avalon, als dritter Grundpfeiler sozusagen, hätte weiter existieren können. Oder?«

»Ja, Avalon hätte weiter existiert. Aber all die Wesen, die dort zu Hause sind – nichts davon kann ohne Magie überleben. Avalon hätte zwar als physischer Ort weiter existiert, doch das magische Leben dort wäre erloschen.«

Der Gedanke stimmte mich traurig. Wäre ich in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen? Der Ort und die Wesen, die man liebt, oder die eigene Unsterblichkeit?

»Nun ist sie tot«, murmelte ich niedergeschlagen.

Ruth hob mein Kinn an und bedachte mich mit einem liebevollen Blick. »Aber du bist am Leben, Evelyn.« Ihre Stimme klang eindringlich und entschlossen. »Du lebst und wirst zurückholen, was dir gehört.«

Kapitel 3

Ich war gerade auf dem Weg in mein Zimmer, um mich auch kleidungstechnisch für das bevorstehende Abenteuer zu rüsten, als mein Handy klingelte.

»Sally!«, rief ich überrascht. Meine beste Freundin hatte ich über die Ereignisse der vergangenen Tage völlig vergessen.

»Kannst du mir vielleicht mal sagen, wieso du heute nicht an der Uni warst?«, knallte sie mir ohne Umschweife an den Kopf.

»Ich … ähm.« Uni?! Das war das Letzte, an das ich im Moment dachte. Beinahe war es, als führte ich inzwischen ein völlig anderes Leben, in dem alltägliche Dinge wie Studium und Freunde schlichtweg nicht vorkamen.

»Seit Wochen haben wir kaum noch Kontakt«, feuerte Sally weiter, »du hängst nur noch mit Jared rum, und wir sehen uns höchstens mal zum Mittagessen. Seit Wochen spiel ich dieses Spielchen mit und erwarte nicht einmal eine Erklärung.« Sally machte eine kurze Atempause, dann wechselte ihr Ton von wütend zu traurig. »Und nun kommst du nicht mal mehr zur Uni und hältst es auch nicht für nötig, mir wenigstens Bescheid zu sagen.«

»Sally«, versuchte ich sie zu beruhigen. Es tat mir wirklich leid, wie ich sie in der letzten Zeit behandelt hatte.

Sie begann leise zu weinen.

»Colin meldet sich auch nicht mehr«, sagte sie schließlich und schniefte.

»Ja, er hat … wir sind …«, versuchte ich zu erklären. Was sollte ich ihr denn nur sagen?

»Ja, ja«, gab sie mit belegter Stimme zurück. »Dieses Rumgestottere höre ich von ihm auch immer.« Jetzt wurde sie richtig wütend. »Weißt du was? Wenn du ihn siehst, dann richte ihm bitte aus, dass er mich mal am Arsch lecken kann!«

»Sally, nein, du verstehst das falsch«, versuchte ich das Ruder rumzureißen, »Colin hat dich wirklich sehr gern. Es ist nur …«

»Was?«, rief sie verzweifelt. »Was ist nur?«

»Ich – ich kann nicht darüber reden.« Oh Mann, wie blöd hörte sich das denn an?!

»Oh, ganz was Neues«, erwiderte Sally verärgert. »Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass du auch mal so dummes Zeug daherquatschst, Evelyn.«

»Hör zu, Sally«, unterbrach ich mit fester Stimme. So führte dieses Gespräch nirgendwo hin. »Jared geht es nicht gut. Colin und ich müssen ihm helfen, und Colin meldet sich nicht bei dir, um dich nicht auch noch in die Sache mit reinzuziehen. Er hat dich sehr, sehr gern. Genau wie ich. Und jetzt beruhige dich bitte und vertrau mir. Es wird alles wieder gut!«

An meinem Ohr wurde es still. Anscheinend waren wir beide über den festen und überzeugenden Klang meiner Worte überrascht. Woher nahm ich nur plötzlich diese Sicherheit, diese Zuversicht? Würde tatsächlich alles wieder gut werden? Nur zu gern wollte ich meinen eigenen Worten Glauben schenken.

»Sally?«

»Ich bin noch da.«

»Bitte vertrau mir.«

Wieder schwieg sie viel zu lange.

»Okay«, sagte sie schließlich.

»Es tut mir leid, wie ich mich in letzter Zeit verhalten habe«, fuhr ich fort, »du bist meine beste Freundin, und ich möchte dich nicht verlieren.«

Schweigen.

»Nickst du gerade?«, fragte ich einen Moment später.

»Ja«, gab sie mit tränenerstickter Stimme zurück.

»Oh, Sally.« Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen.

»Schon gut«, spielte sie die Starke und räusperte sich.

»Hast du es eigentlich schon gehört?«, wechselte sie dann das Thema und schnäuzte sich geräuschvoll. »Das mit Felix?«

Ich runzelte die Stirn. »Nein, was denn?«

»Er hat eine Ersttrimester-Studentin vergewaltigt.«

Mir blieb die Luft weg.

»Vor drei Tagen. Seitdem ist er verschwunden. Die Polizei sucht ihn.«

Ich brachte keinen Ton heraus. Auch Sally blieb eine Weile lang stumm. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, während die Tränen über mein Gesicht rannen.

»Das ist meine Schuld«, sagte ich mit erstickter Stimme.

»Tu das nicht, Evelyn«, erwiderte Sally ernst und atmete tief ein und aus. Dann blieb sie eine Weile still, ehe sie leise hinzufügte: »Aber wir hätten damals gleich zur Polizei gehen sollen.« Weiter sagte sie nichts und ließ den Vorwurf über mir schweben wie eine schwarze Wolke.

»Es geht das Gerücht um«, fuhr sie schließlich fort, »der Freund des Mädchens hätte sich Felix zusammen mit ein paar Kumpels vorgeknöpft und man würde ihn wohl nicht so schnell finden. Zumindest nicht in einem Stück …«

Ich schluckte.

»Dann ist er … tot?«

»Keine Ahnung«, antwortete Sally ungerührt und ergänzte dann kaum hörbar: »Aber wäre das so schlimm?«

Wäre es schlimm?, fragte ich mich selbst. Ich wusste nicht, wie ich mich deswegen fühlen sollte. Um ehrlich zu sein, war alles, was ich in diesem Moment empfand, Erleichterung bei der Vorstellung, dass Felix nie wieder jemandem weh tun könnte.

»Pass auf dich auf, Evelyn«, sagte Sally zum Abschied.

»Du auf dich auch – ich hab dich lieb.«

»Ist der Jeep startklar?«, wollte Enid wissen, als wir uns ein paar Stunden später wieder im Ratssaal eingefunden hatten. Ich hatte nicht viel Zeit gehabt, um über das nachzudenken, was Sally mir erzählt hatte. Vielleicht war es auch besser so, denn im Moment gab es nur eine Sache, die zählte: Jared.

Ich hatte mich in Schale geworfen. Über einer grünen Cargohose trug ich ein Sport-Top und eine atmungsaktive Softshell-Jacke mit unzähligen kleinen Taschen und Reißverschlüssen. Meine Füße steckten in schwarzen Army-Schnürstiefeln, die sich noch etwas hart und steif anfühlten. Die Haare hatte ich zu einem strengen Zopf gebunden. Ich sah tatsächlich aus, als würde ich in den Krieg ziehen, und allmählich begann ich mich auch so zu fühlen.

»Vollgetankt und warmgelaufen«, antwortete Gareth und drückte Enid den Schlüssel in die Hand, den Colin ihr sogleich wieder abnahm.

»Lass mich wenigstens fahren, wenn ich sonst schon nichts tun kann«, sagte er.

»Das Gepäck?«, wollte Enid nun von ihm wissen, woraufhin Colin einen schwarzen, sehr teuer wirkenden Rucksack hochhielt.

»Check.«

»Moment«, warf Ruth ein und zog das grüne Buch aus ihrer Tasche. »Das hier möchte ich dir gerne schenken. Es könnte mehr als hilfreich sein, wenn du erst mal auf Avalon bist.« Lächelnd streckte sie es mir entgegen.

»Danke, Ruth«, sagte ich aufrichtig und verstaute den Wälzer im Rucksack.

»Gut«, fuhr Enid dazwischen, »wir haben in der Bibliothek noch eine Landkarte gefunden, auf der die Energieströme verzeichnet sind, die direkt von hier nach Glastonbury führen.«

»Es gibt ein Navi im Jeep«, erwiderte Colin spöttisch und fing sich damit einen strengen Blick von Enid ein.

»Ich meine ja nur«, sagte er kleinlaut.

»Es geht nicht nur darum, nach Glastonbury zu finden, sondern darum, sich von dem Energiefluss an einen magischen Ort führen zu lassen«, erklärte Irvin, doch Colin konnte sich ein dezentes Augenrollen nicht verkneifen.

»Bist du bereit?« Enid ließ einen prüfenden Blick über mich gleiten.

»Ja.« Das hätte überzeugter klingen können, dachte ich bei mir.

Ruth drückte sanft meinen Arm.

Enid hatte es für besser gehalten, wenn Ruth uns nicht nach Glastonbury begleitete. Alte Gewohnheiten waren wohl doch schwerer abzulegen, als ich gedacht hatte. Einmal ein Haufen misstrauischer Geheimniskrämer – immer ein Haufen misstrauischer Geheimniskrämer.

Doch ich bestand darauf, dass sie mitkam, und letzten Endes schaffte ich es, mich durchzusetzen.

Ich streifte mir gerade den Rucksack über, als ich bemerkte, dass es um mich herum seltsam still wurde. Verwundert blickte ich mich um, und mit einem Schlag wurde mir klar, warum alle so verlegen und nervös dreinschauten.

Karen Mayflower stand, direkt hinter Aiden, in der Tür zum Ratssaal und sah mich an.

In dem Moment, als ich sie erblickte, war es, als hätte man in meinem Inneren einen Schalter umgelegt. Von einer Sekunde auf die andere kochte ich beinahe über. Heiß pochte es an meinen Schläfen, als ich wutentbrannt auf sie zustürmte und dabei Aiden, der seine Mutter zu beschützen versuchte, grob zur Seite stieß. Wo kam diese Kraft auf einmal her? Nicht einmal Colin, der mich am Arm packte, schaffte es, mich zurückzuhalten. Vielleicht war es aber auch nur ein halbherziger Versuch gewesen, mich zu bremsen.

Karens Augen weiteten sich vor Überraschung, als ich sie an beiden Schultern packte und mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Dass ihr Hinterkopf dabei heftig gegen die Mauer knallte, nahm ich wohlwollend zur Kenntnis.

»Das ist alles deine Schuld!«, schrie ich ihr ins Gesicht.

»Als Hohepriesterin ist es meine Aufgabe, alles in meiner Macht …«

»Verstehst du es immer noch nicht?!«, fiel ich ihr ins Wort. »Du hast doch erst dafür gesorgt, dass die Prophezeiung sich erfüllt!«

»Es ist meine Pflicht –«, setzte sie erneut an, doch ich wollte mir weder irgendwelche blödsinnigen Ausflüchte noch bescheuerte Rechtfertigungen anhören.

»Deine Pflicht?!« Ich war außer mir. »Du hast meine Eltern und meine Schwester getötet«, brüllte ich. »Deinetwegen ist Jared …«, meine Stimmte brach vor Zorn und Trauer.

»Ich musste …«, setzte sie erneut an, und bei diesen Worten verlor ich endgültig die Beherrschung. Keine Entschuldigung, keine Reue, kein Wort des Bedauerns kam über ihre Lippen. Diese Frau hatte meine Familie auf dem Gewissen, und alles, was ich von ihr zu hören bekam, waren Rechtfertigungen? Ich trat einen Schritt zurück und schlug Karen mit voller Wucht ins Gesicht. Benommen sackte sie zusammen.

Da spürte ich Colins festen Griff um meine Oberarme. »Komm jetzt«, sagte er sanft. »Wir müssen los.«

Kapitel 4

»Hier muss es sein«, sagte Colin, während er den Jeep abstellte und der Motor mit einem gluckernden Geräusch erstarb. Der Wagen hinter uns, in dem Gareth, Ian und Ruth fuhren, kam ebenfalls zum Stehen. Ich sah mich um. Außer dichtem weißem Nebel konnte ich im Scheinwerferlicht nichts erkennen.

Um drei Uhr morgens waren wir aufgebrochen, um noch vor Sonnenaufgang in Glastonbury anzukommen – rechtzeitig, bevor der Nebel sich verziehen würde.