Die Magier von Altra - C. M. Spoerri - E-Book

Die Magier von Altra E-Book

C.M. Spoerri

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Beschreibung

Altra ist im Umbruch, doch nicht alle Magier sind von den neuen Strukturen begeistert, die die Zirkel grundlegend verändern sollen. Alsbald wird ein Assassine der Schattengilde von Karinth darauf angesetzt, der Umstrukturierung ein Ende zu bereiten. Doch dieser hat seine ganz eigenen Pläne. Wird er seinen Auftrag zur Zufriedenheit seiner Gilde erledigen? Oder scheitert er an einer uralten Verbindung, die Die Magier von Altra über Jahrhunderte hinweg geheim gehalten haben? Zudem erwacht im Norden des Landes eine Liebe, die im Grunde nie erloschen ist, und führt dazu, dass ein ganz besonderer Elf sich auf die Reise nach Merita macht. Werden seine Gefühle erwidert? Haben die Götter ein glückliches Ende für diese Geschichte vorgesehen? Kehre zurück nach Altra, wenn Du die Alia-Reihe schon kennst. Ansonsten wird empfohlen, diese zuerst zu lesen, denn dies ist die Fortsetzung der Geschichte rund um die junge Alia.

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Beliebtheit




Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Zitat

Landkarte Altra

Vorwort

Hinweis

Kapitel 1 – Schatten

Kapitel 2 – Schatten

Kapitel 3 – Schatten

Kapitel 4 – Lucja

Kapitel 5 – Reyvan

Kapitel 6 – Reyvan

Kapitel 7 – Reyvan

Kapitel 8 – Lucja

Kapitel 9 – Lucja

Kapitel 10 – Reyvan

Kapitel 11 – Sen

Kapitel 12 – Maryo

Kapitel 13 – Lucja

Kapitel 14 – Lucja

Kapitel 15 – Reyvan

Kapitel 16 – Maryo

Kapitel 17 – Alia

Kapitel 18 – Alia

Kapitel 19 – Alia

Kapitel 20 – Lucja

Kapitel 21 – Alia

Kapitel 22 – Reyvan

Kapitel 23 – Alia

Kapitel 24 – Reyvan

Kapitel 25 – Alia

Kapitel 26 – Alia

Kapitel 27 – Schatten

Kapitel 28 – Reyvan

Kapitel 29 – Alia

Kapitel 30 – Reyvan

Kapitel 31 – Maryo

Epilog

Glossar

Dank

Über die Autorin

LESEPROBE: Greifen-Saga

 

C. M. SPOERRI

 

 

Die Magier von Altra

 

Spin-Off von “Alia”

http://cmspoerri.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Dezember 2015

© Sternensand-Verlag GmbH, Zürich 2015

Umschlaggestaltung: Tara | fantasiafrogdesigns.wordpress.com

Landkarten: C. M. Spoerri 2015

Lektorat / Korrektorat: Wolma Krefting | bueropia.de

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

Für alle, die mit Alia durch Altra gereist sind.

Willkommen zurück.

C.

Altra

Vorwort

Wir schreiben das Jahr 11 248 der ersten Epoche. Jener Epoche, in der die Wesen aus unserer Fantasie noch real waren und sich die Erde mit den Menschen teilten. Ich möchte Euch von einer Welt erzählen, in welcher Drachen, Elfen und Zwerge diese Welt bevölkerten und von einem Land namens Altra.

Diese Geschichte wird teilweise von denselben Figuren handeln, die in der Alia-Saga eine Rolle spielen. Daher werdet Ihr in diesem Buch unausweichlich Spoiler zur Alia-Saga finden. Falls Ihr also die Geschichte rund um Alia noch nicht kennt und vorhabt, sie unvoreingenommen zu erleben, dann solltet Ihr diese zuerst lesen. Wenn nicht, wünsche ich Euch nun ganz viel Spaß und eine gute Reise nach Altra.

 

Eure Corinne

 

 

Empfohlene Reihenfolge:

 

Alia-Saga:

Band 1: Alia – Der magische Zirkel

Band 2: Alia – Der schwarze Stern

Band 3: Alia – Das Land der Sonne

Band 4: Alia – Das Auge des Drachen

Die Magier von Altra

 

Greifen-Saga:

Band 1: Die Ratten von Chakas

Band 2: Die Träne der Wüste

Band 3 (erscheint im Frühjahr 2016): Die Stadt des Meeres

 

 

Achtung!

 

Dieses Buch ist die

Fortsetzung der Alia-Reihe!

 

Wer diese noch nicht kennt,

wird beim Weiterlesen

unweigerlich Dinge erfahren,

die das Lesevergnügen der Alia-Reihe schmälern könnten

(unter anderem werdet Ihr dann wissen, wie diese ausgeht).

 

Weiterlesen

auf eigene Verantwortung ;-)

 

Kapitel 1 – Schatten

MERITA, Gegenwart

(Tag 20, Monat 8, 1EP11 248)

 

Er wartete, bis er die Umrisse seiner Verfolger in der dunklen Gasse ausmachen konnte. Die Schritte seiner Lederstiefel waren so leise, dass sie nicht einmal für elfische Ohren wie seine zu hören waren – geschweige denn für menschliche. Und dass es sich bei den zwei Kerlen, die ihn nun seit einiger Zeit durch Merita verfolgten, um Menschen handelte, das konnte er am penetranten Schweißgeruch, den sie im Umkreis von zehn Schritt verströmten, mühelos erkennen. Dafür hätte er nicht einmal seine jahrelange Assassinenausbildung gebraucht.

Die Stadt Merita war weitläufig und besaß viele verwinkelte Seitengassen. Die Häuser in dieser am Stadtrand gelegenen Gegend, die sich ›Bettlers-Eck‹ nannte, waren heruntergekommen, im Gegensatz zu jenen in der Nähe des Marktplatzes, wo die vermögenden Leute wohnten. Dort hatten nur die begabtesten Baumeister Hand angelegt und die Fassaden wiesen reiche Verzierungen und Verschnörkelungen auf. Außerdem gab es dort großflächige Parkanlagen und Gärten mit schattenspendenden Palmen, die zum Verweilen einluden.

Hier im Bettlers-Eck jedoch wuchsen keine Pflanzen und die Häuser glichen rechteckigen Lehmwürfeln. Nur wenige davon konnten mit mehr als zwei Stockwerken aufwarten und viele besaßen bloß notdürftige Türen und Fenster, die im Grunde Löcher in den Hauswänden waren, welche mit Holzbrettern verriegelt wurden.

Der Assassine zog lautlos seine beiden Schattenklingen aus den Scheiden, die er am Hüftgurt befestigt hatte, und schlich weiter, sich nahe an der Hauswand haltend. Er würde sie von hinten überraschen, und noch ehe sie ihn erkannten, hätte er sie in die kalten Hände von Bruder Tod übergeben – wie so viele andere vor ihnen.

Der Abendhimmel war wolkenverhangen und die Nacht schwülwarm, wie jede einzelne, seit er hier in Merita angekommen war. Das Klima sagte ihm nicht sonderlich zu, war es doch so vollkommen anders als die trockene Luft der Desora-Wüste in Südkarinth, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte.

Doch das waren Regungen, die einen Schattenassassinen nicht zu beeinflussen hatten – schon gar nicht, wenn er einem Auftrag folgte. Diese verfluchten, neuartigen Gemütsbewegungen waren bloß Teil der nichtsnutzigen Gefühle, die er in letzter Zeit immer öfter erlebte und mit aller Vehemenz zu unterdrücken versuchte.

Vielleicht, so überlegte er, hätten die zwei Männer sogar ein paar nützliche Informationen für ihn übrig, schließlich schienen sie einheimische Gauner zu sein. Aber er konnte es nicht riskieren, sie am Leben zu lassen. Außerdem hatte er bereits genügend Angaben über sein Ziel gesammelt. Er würde es ohne Mühe aufstöbern und den Auftrag zur Zufriedenheit der Schattengilde von Karinth zu Ende bringen.

Er musste sichergehen, dass diese zwei Wichte – falls sie vielleicht sogar vom Ziel selbst geschickt worden waren – die Begegnung mit ihm nicht überlebten. Zu oft hatte es schon Fälle gegeben, in denen das Opfer Wind bekommen und selbst Mörder ausgesandt hatte, die den Auftrag vereiteln sollten.

Dass er die zwei am Leben lassen würde, selbst wenn sie keine solchen Auftragsmörder waren, kam für ihn nicht infrage. Zu viel hing vom Gelingen dieser Mission ab und er hatte bereits viel zu viel riskiert dafür.

Es war schwer gewesen, ungesehen in die Stadt zu gelangen, den Mittelsmann zu finden und unauffällig nach den Leuten zu suchen, die ihm Auskunft über sein Ziel geben konnten – selbst für einen erfahrenen Schatten wie ihn.

Überall in den Straßen und Seitengassen lauerten Magier, die seit Neuestem mit den Soldaten gemeinsam auf Patrouille gingen, um Abtrünnige und Feinde des neuen Systems zu verhaften. Eine Tatsache, die man ihm in der Gilde verschwiegen hatte, was ihn jetzt umso mehr ärgerte. Er hasste es, wenn ein Zielort nicht dem entsprach, was ihm vermittelt worden war.

Er hatte eine horrende Summe für diesen Auftrag bezahlen müssen, wohl mit ein Grund, warum er sich als Einziger dafür gemeldet hatte – neben der Tatsache, dass der Schwierigkeitsgrad von den Schattenältesten als ›Stufe zehn‹ eingeschätzt worden war. Eine Schwierigkeitsstufe, die seit Bestehen der Gilde erst zwei andere Aufträge zuvor erreicht hatten.

Er verzog die dunklen Lippen zu einem grimmigen Lächeln, während er an das überraschte Gesicht des Ältesten dachte, als er ihn vor einigen Wochen in seinem Versteck aufgesucht hatte.

»Warum«, hatte dieser gesagt, »wollt ausgerechnet Ihr nach Altra und das Ziel eliminieren?«

Der Schatten hatte mit den Schultern gezuckt und wortlos die Beutel mit dem Auftragsgold auf den mit Pergamenten übersäten Schreibtisch gelegt.

Eine Investition, die sich lohnen würde, denn im Erfolgsfalle winkte ihm fast das Zehnfache der bezahlten Summe. Geld, das er gut gebrauchen konnte, um seinem Leben als Mitglied der Schattengilde ein Ende zu setzen und seine Brüder zu verlassen.

Das war natürlich etwas, das er nicht laut aussprechen durfte, schon gar nicht vor dem Ältesten. Niemand stieg bei den Schatten aus – es sei denn, Bruder Tod holte einen. Er hatte schon von Mitgliedern gehört, die von der Gilde zu Tode gehetzt worden waren, nachdem sie verkündet hatten, fortan nicht mehr dazugehören zu wollen.

Jedoch sollte ihm solch ein Schicksal nicht widerfahren. Er hatte sich jahrzehntelang auf diesen Moment vorbereitet und nun war er zum Greifen nah, mochte gar nur noch diesen einen Auftrag entfernt sein.

»Gut«, hatte der Schattenälteste gemeint und die Beutel mit der Bezahlung in den Händen gewogen. »Dann soll es so sein. Der Auftraggeber verlangt jedoch äußerste Diskretion in diesem Fall, daher werdet Ihr weder erfahren, wer er ist noch, warum er das Ziel tot sehen will.«

Der Schatten hatte zur Antwort bloß genickt. Es war keine Seltenheit, dass sie die Auftraggeber nicht kennenlernten, denn in den meisten Fällen liefen die vertraglichen Abwicklungen über die Gildenältesten. Die Schatten erfuhren nur, welche Aufträge zur Auswahl standen und wie schwierig sie von den Ältesten eingestuft wurden, sowie die Summe, die dafür – aufsteigend nach Schwierigkeitsgrad – bezahlt werden musste, wenn man den Auftrag annehmen und erledigen wollte.

Jetzt blieb der Assassine stehen und spähte um eine Ecke. Dort standen sie, die zwei Halunken und kratzten sich verwundert am Kopf, als hätten sie Flöhe – was wohl auch zutraf, so wie sie stanken.

›Ihr Ratten seid dem Falschen hinterhergekrochen‹, dachte der Schatten grimmig, kniff seine rot gesprenkelten Augen zusammen und spannte seine Muskeln an.

Blitzschnell sprang er vor und stach keinen Lidschlag später seine zwei Dolche in den Hals der beiden. Von hinten, wie er es immer tat. Sollte das Opfer nicht auf der Stelle tot sein, so wäre zumindest sein Rückenmark so stark verletzt, dass es sich nicht mehr bewegen konnte – abgesehen davon, dass der Kehlkopf zerschnitten war und somit keine Schreie ungebetene Aufmerksamkeit erregen konnten.

Er spürte, wie die Herzen der beiden Männer aufhörten zu schlagen, noch ehe sie gemerkt hatten, was soeben passiert war.

So leise wie möglich ließ er ihre Körper zu Boden gleiten und zog die blutigen Klingen aus ihren Hälsen, die er gewohnheitsgemäß an den Kleidern der Toten abwischte.

»Dann zeigt mal, was ihr habt«, murmelte er und bückte sich, um die Leichen zu durchsuchen.

Er war gerade dabei, den Mantel des Ersten zurückzuschlagen, da hörte er Schritte näher kommen.

»Verflucht«, knurrte er und sprang auf.

Rasch sah er sich um. Über ihm war ein niedriges Dach, das er mit einem Schattensprung erreichen konnte. Im letzten Moment gelang ihm das Kunststück, welches nur die Geübtesten unter den Schattenassassinen beherrschten.

Er legte sich auf das flache Dach und spähte nach unten.

Dort erschienen nun vier Gestalten, die im Halbdunkel der Seitengasse für ein menschliches Auge kaum zu erkennen gewesen wären. Doch die auffällig gefärbten Augen des Schattens waren nicht menschlich, da er ein Dunkelelf war. Zusätzlich hatte er sie durch die harte Ausbildung in der Gilde so gut geschult, dass er sogar die Stirnrunzeln ausmachen konnte, die sich nun auf dem Gesicht des vordersten Mannes bildeten.

»Licht!«, befahl dieser.

Einen Lidschlag später erschien eine magische Kugel, die in der Luft schwebte und die gesamte Umgebung hell erleuchtete. Der Schatten kniff unverzüglich die Augen zusammen. Trotz der jahrhundertelangen Schulung brannte das Licht noch immer in seinen Augen, wenn er zu direkt hinsah. Das lag daran, dass Dunkelelfen von Natur aus dafür geschaffen waren, in der Nacht oder unter der Erde zu leben. Tageslicht schmerzte in den roten Augen, weswegen der Assassine bei Tage auch meist eine Augenbinde mit zwei schmalen Schlitzen trug, die ihn vor der Helligkeit schützte.

Der Sprecher verwendete Praedisch, die Landessprache von Merita, die der Schatten genügend gut beherrschte, um ihn mühelos zu verstehen. Auch dies gehörte zur Ausbildung in der Schattengilde dazu: die Sprachen aller erdenklichen Länder in der näheren Umgebung zu erlernen. Nichts war schlimmer, als wenn ein Schatten in eine Region entsandt wurde, wo er sich nicht verständigen konnte, denn dann galt der Auftrag bereits als gescheitert. Daher sprachen alle Assassinen der Schattengilde die wichtigsten Sprachen fließend und fast ohne Akzent.

Er kroch ein Stück rückwärts, um nicht entdeckt zu werden. Trotzdem linste er über den Rand des Daches, um das Geschehen weiter zu verfolgen. Es mochte Torheit oder auch Neugier sein, jedenfalls rieten all seine Sinne, dass er sich nun besser mit den Schleiern der Nacht vereinen und davonschleichen sollte. Doch irgendetwas hielt ihn zurück und befahl ihm, die Szene weiterhin zu beobachten. Womöglich diese sinnlosen Gefühle, die sich in ihm regten seit … seine Gedanken wurden unterbrochen, als die Männer die toten Schurken entdeckten.

»Zwei Leichen«, stellte der Magier fest, der neben dem Soldaten stand, und ließ seine Lichtkugel höher schweben, was zu einem lautlosen Fluch des Schattens führte. »Wurden gerade erst getötet, der Mörder kann noch nicht weit sein.«

Der Mann, der als Erster gesprochen hatte und offensichtlich keine Magie beherrschte, kniete inzwischen neben den beiden Männern. »Die zwei Gauner kannte ich«, meinte er und deutete auf die Leichen, in deren starren Augen noch die Überraschung ob ihres plötzlichen Todes stand. »Waren zwielichtige Gestalten, die mir schon lange auf die Eier gingen. Nicht schade um sie … aber komisch, dass sie nicht ausgeraubt worden sind, offenbar haben wir den Mörder gestört.« Er hob den Blick und sah sich suchend um, sodass der Schatten noch etwas weiter zurückkroch.

»Meint Ihr, wir sollten dem Hauptmann Bescheid geben?«, fragte der Magier und deutete auf die Toten.

»Ja, das sollten wir. Er hat angeordnet, über jegliche Vorfälle augenblicklich informiert zu werden. Diese neue Herrscherin scheint gewaltig Schiss in den Hosen zu haben.«

»Sprecht nicht so über sie«, raunte einer der anderen beiden Soldaten. »Wenn Euch jemand hört, werdet Ihr dafür hängen.«

»Ich glaube kaum, dass diese schwangere Göre den Mumm dazu hat, jemanden zu hängen«, erwiderte der vierte Soldat und steckte die Klinge wieder ein, die er vorsorglich beim Anblick der Toten gezogen hatte. »Außerdem ist sie doch viel zu beschäftigt damit, das Reich vor einem weiteren Krieg zu bewahren und den Balg in ihrem Bauch zu nähren. Sie wird niemanden hinrichten. Es wird erzählt, sie sei bis vor Kurzem selbst Dienerin der Magier gewesen. Wie rasch wird wohl ein Sklave zum Befehlshaber, he?«

»Gerade die sind die Gefährlichen.« Der Soldat am Boden erhob sich und wischte sich die Hände an den Hosen ab. »Sie erlangen aus dem Nichts Ruhm und eine Macht, mit der sie nicht umzugehen verstehen. Du hast recht, Malores, wir sollten nicht in aller Öffentlichkeit so über die neue Herrscherin sprechen, solange wir sie nicht kennen. Wer weiß, wozu sie in ihrer Verzweiflung fähig ist.«

»Ich habe sie gesehen«, warf der Magier ein, der sein Licht nun etwas weniger hell scheinen ließ, was den Schatten wieder näher an den Rand des Daches lockte. »Sie erschien mir nicht machthungrig zu sein – eher naiv wie ein Mädchen, das nicht weiß, wohin sie mit ihrer neuen Befehlsgewalt soll.« Er grinste. »Ist ein ansehnliches Püppchen, die Kleine. Habe leider vergessen, ihr anzubieten, dass sie sich gerne an mich wenden kann, sollte sie Hilfe benötigen. Ich werde ihr schon zeigen, was sie tun soll – wenn ihr versteht, was ich meine.« Er ließ ein kehliges Lachen hören.

»Schhht, nicht so laut«, knurrte der erste Soldat, der immer noch am nächsten bei den Leichen stand. »Wir dürfen nicht vergessen, dass der Mörder dieser beiden noch auf freiem Fuß ist. Lasst ihn uns suchen und dann vor den Hauptmann schleppen. Selbst wenn der Schurke nicht zu den Feinden des neuen Systems gehören sollte, winkt uns eine Belohnung. Los, auf! Sucht nach Spuren! Und du, Magier, du kennst doch bestimmt irgendeinen Trick dafür!«

Was der Magier ihm antwortete, erfuhr der Schatten nicht mehr. Er hatte genug gehört und schlich leise über das flache Dach zur nächsten Hauswand, welche er mit Leichtigkeit erklomm, um sich auf der anderen Seite herunterfallen zu lassen und mit der Dunkelheit zu verschmelzen.

Die Herrscherin hatte Feinde – oder zumindest gab es Menschen, die ihren Anspruch auf den Thron von Merita und den Aufstieg vom niederen Stand zur mächtigsten Magierin des Landes mit Missfallen beäugten.

Das war zwar nichts Neues, ebenso wenig wie die Nachricht, dass sie ein Kind erwartete. Aber dass sogar Magier aus Merita unter den Missgünstigen waren, hatte er bisher nicht gehört.

Der Schatten kam immer mehr zur Schlussfolgerung, dass sein Auftraggeber selbst ein Magier sein musste. Es sprach vieles dafür. Die Herrschaft über die Zirkel war erst vor Kurzem an die junge Frau gefallen, eine Tatsache, die für Verwirrung und Kämpfe im ganzen Land gesorgt hatte und dies immer noch tat.

Es war zudem die Rede davon, dass sie die schwarze Magie verbannt hätte und einen Frieden mit den Elfen, Zwergen, Drachen und Gorkas anstrebte. Völker, die dem Schatten fremd waren, gab es doch in seiner Heimat nur Menschen – und ein paar verstreute Elfen und Zwerge, die während des Hundertjährigen Krieges nach Karinth geflohen waren, sich über die Jahrhunderte den Menschen angepasst hatten und inzwischen Seite an Seite mit den Karinthern lebten.

Hier in Altra gab es sie hingegen noch: die Kulturen der alten Völker, die im ständigen Kampf mit den Menschen standen. Nun ja, sollte es nach der neuen Herrscherin gehen, wohl nicht mehr lange.

Seit der Verbannung der schwarzen Magie hatten die Magier weniger Macht als früher. Der Schatten wusste, dass diese Tatsache ganz und gar nicht bei allen Magiern auf Wohlgefallen stieß, obwohl diese Art des Magiewirkens damals, als es den alten Herrscher noch gab, offiziell verboten gewesen war. Doch dass es trotzdem die ganze Zeit über Zauberer gegeben hatte, die schwarze Magie praktizierten, schien nun immer offensichtlicher zu werden.

Seit die Herrscherin an der Macht war, hatte es Aufstände von Magiern gegeben, die nun als Abtrünnige galten und von den Zirkeln gejagt wurden. Oder zumindest von jenen Zirkelmagiern, die der neuen Herrscherin treu ergeben waren. Dennoch … viele Magier hießen die neuen Strukturen nicht gut, und es drohte ein weiterer Krieg im Lande auszubrechen – ein Krieg unter den Magiern selbst.

Diese Unruhen in den Zirkelstädten und ihrer Umgebung waren der eindeutigste Hinweis darauf, dass jemand der höheren Magier die Schattengilde von Karinth um Hilfe gebeten hatte. Mit großer Sicherheit jemand aus Fayl oder Oshema – den Regionen, die sich seit dem Umbruch offen gegen die Herrscherin gestellt hatten.

Denn der Auftrag lautete schlicht und ergreifend: Tötet die neue Herrscherin von Merita.

Kapitel 2 – Schatten

MERITA, Gegenwart

(Tag 20, Monat 8, 1EP11 248)

 

»Da seid Ihr ja schon wieder.« Die heisere Stimme klang, als hätte ihr Besitzer jahrzehntelang nur starken Schnaps getrunken und Pfeife geraucht.

Das mochte vielleicht sogar zutreffen, denn der Mann, der nun eine Kerze entzündete, um die Dunkelheit der kühlen Höhle zu vertreiben, hatte seine besten Jahre bereits hinter sich. Jedoch schienen seine Augen dem mit einer Vehemenz widersprechen zu wollen, die sich in einem faszinierenden Funkeln ausdrückte. Dieses machte die Lebendigkeit mehr als wett, die dem alten Körper abhandengekommen sein mochte.

»Ja«, antwortete der Schatten knapp und zog seinen Umhang aus, um ihn über einen der Holzstühle zu werfen, die um einen wackligen Tisch herumstanden – neben den vier Pritschen und einer Kommode die einzigen Möbel in diesem Unterschlupf. Fenster oder gar Türen gab es nicht. Die Höhle befand sich direkt in den felsigen Klippen, in der Nähe der Stadt Merita. Das Rauschen des nahe gelegenen Meeres drang stetig herein und übertönte die meisten anderen Geräusche.

Der Alte nickte und holte aus der Kommode zwei Blechbecher hervor, die er, zusammen mit einer Flasche Kräuterschnaps, auf den Tisch stellte. Er füllte beide Trinkgefäße großzügig auf und bedeutete dem Schatten, sich zu setzen, während er selbst auf einem der Stühle Platz nahm, der sogar unter dem geringen Gewicht des knochigen Mannes ein klagendes Knirschen von sich gab.

Der Schatten rümpfte die Nase, setzte sich jedoch auf einen der anderen Stühle und umfasste den Becher, um daran zu riechen, was zu einem weiteren Nasenrümpfen führte.

Er hatte noch nie verstanden, warum die Menschen sich aus diesem scheußlichen Getränk Erleichterung von ihren Sorgen erhofften. Ihn widerte es nur an.

Aber er bedankte sich dennoch mit einem knappen Nicken und nippte an der Flüssigkeit, die seine Kehle augenblicklich verbrannte, was in einem Hustenanfall geendet hätte, wäre er nicht in den Jahrhunderten, die er der Assassinengilde von Karinth angehörte, an Schmerzen gewöhnt geworden. Zudem hatte er seine Körperbeherrschung perfektioniert und unterdrückte mühelos den Hustenreiz in seinem Hals.

»Und, habt Ihr noch etwas Interessantes in Erfahrung bringen können?«, fragte der Alte und hob eine Augenbraue.

Der Schatten brummte grimmig. »Ramen, Ihr wisst, dass ich nicht mit Euch darüber sprechen werde. Der Auftrag ist geheim und er wird es bleiben, bis er ausgeführt ist.«

»Man darf ja wohl fragen.« Ramen warf dem dunkelhäutigen Elf einen unergründlichen Blick zu und nahm einen weiteren Schluck seines Getränks.

Der Schatten beobachtete sein Gegenüber mit schmalen Augen. Der alte Mann hatte fettiges, langes Haar, das ihm offen und in grauweißen Strähnen bis weit über den Rücken fiel. Er war in braune Lumpen gekleidet, die durch einen grauen, zerflickten Umhang verdeckt wurden, und erweckte rein äußerlich den Eindruck eines Bettlers. Doch seine dunklen, lebendigen Augen straften jeden, der ebendies glaubte, Lügen. Er mochte knapp sechzig oder siebzig Jahre alt sein und an seiner rechten Hand fehlte der Ringfinger. Eine Tatsache, die äußerst unüblich in Altra war, wie der Schatten in der Zeit bemerkt hatte, die er bereits in diesem Land verbrachte.

Denn jeder Mensch in Altra trug an seiner rechten Hand einen Gildenring, der ihn einer Elementgilde zuordnete. Waren die Menschen in Karinth frei von solchen Zünften, war es in diesem Land hier sogar Gesetz, mit dreizehn Jahren, wenn eines der vier Elemente – Feuer, Wasser, Erde oder Luft – in jedem Menschen erwachte, der entsprechenden Elementgilde beizutreten. Diejenigen, die gar Magie entwickelten, wurden in sogenannte magische Zirkel geschickt, um ihre Kräfte dort beherrschen zu lernen.

Der Alte, der gerade seinen Becher mit einem herzhaften Zug austrank, hatte sich mit dem Abschneiden seines Ringfingers und damit dem Entfernen seines Gildenringes von dem System von Altra losgesagt. Es gehörte eine Menge Mut dazu, die Elementgilden zu verlassen und damit als Gildenloser gebrandmarkt auf sich allein gestellt zu sein. Gildenlose wurden noch stärker geächtet als Aussätzige.

Außerdem vermutete der Schatten, dass es gleichzeitig unvorstellbare Schmerzen bedeutete, wenn man sich von seinem Gildenring trennte. Denn der Ring war tief mit dem Element seines Trägers verbunden und konnte von dem Moment an, in dem er bei der Aufnahmezeremonie übergestreift wurde, nicht mehr entfernt werden – außer mit Gewalt.

Mit dem Lossagen von seiner Elementgilde war Ramen zu einem wichtigen, altrischen Verbindungsmann der Schattengilde von Karinth geworden und hatte den Ältesten zufolge der Gilde immer gute Dienste erwiesen. Er war treu ergeben und sorgte dafür, dass gerade so auffällige Gestalten wie der Dunkelelf sich bei Tage verbergen konnten, um in der Nacht ihre Aufträge auszuführen.

Denn neben der Tatsache, dass seine roten Augen empfindlich auf Tageslicht reagierten, ließen sich die spitzen Ohren und die dunkle, vernarbte Haut des Schattens nur schwer verbergen, sodass dieser sich angewöhnt hatte, erst nach Einbruch der Dämmerung nach draußen zu gehen. Das für Dunkelelfen übliche, weiße Haar färbte er sich schwarz, damit er in den Schatten der Nacht weniger auffiel. Trotzdem sah er zwielichtig aus mit seiner Narbe, die sich quer über sein Gesicht zog. Zu zwielichtig, um keine Aufmerksamkeit von Soldaten auf sich zu ziehen. Da half auch die Augenbinde wenig, die er bei Tage anlegte.

In Karinth, wo er herkam, waren Elfen in den Straßen der menschlichen Städte zwar keine Seltenheit, aber hier in Altra wäre er sofort aufgefallen – so wie vorhin in der Taverne, wo er eigentlich nur ein paar weitere Informationen hatte sammeln wollen.

Die Spelunke war düster gewesen und der Schatten hatte leichtfertigerweise nicht damit gerechnet, dass jemand an ihm Interesse haben könnte. Vielleicht lag seine Unbedachtheit auch daran, dass er seit über einem Monat das Umbrium, wie die Schattenessenz genannt wurde, nicht mehr zu sich genommen hatte. Er wollte davon loskommen, denn er hatte schon viel zu lange in Abhängigkeit dieser bereichernden und gleichzeitig abhängig machenden Essenz gelebt.

Bereichernd war sie, weil sie ihm zu den besonderen Fähigkeiten verhalf, die nur Schatten besaßen und die es ihm ermöglichten, seine Aufträge erfolgreich auszuführen. Doch jeder Schatten wurde mit der Zeit davon abhängig und irgendwann konnte er nicht mehr ohne sie leben.

Die Wirkung der Schattenessenz ließ glücklicherweise nur langsam nach, sodass er für diesen Auftrag noch genügend Vorräte in seinem Körper trug, um ihn erfolgversprechend auszuführen. Jedoch spürte er deutlich, wie die Reserven, die nicht mehr aufgefüllt wurden, langsam zur Neige gingen und hatte insgeheim Angst vor dem Tag, an dem das tatsächlich geschehen würde. Denn was dann passierte, würde alle Schmerzen, denen er in seinem bisherigen Leben begegnet war, übertreffen. So viel war gewiss.

»Wie lange werdet Ihr noch hierleiben?«, unterbrach der Alte seine Gedanken. Er hatte einen starken Akzent, doch er bemühte sich immerhin, Karinthisch zu sprechen, um seinem Gast entgegenzukommen.

Der Schatten zuckte mit den Schultern. »So lange wie nötig und so kurz wie möglich.«

Er mochte es nicht, ausgefragt zu werden, obschon Ramen vertrauenswürdig erschien. Doch er hatte gelernt, keinem zu trauen – schon gar nicht sich selbst.

»Hmpf, Ihr seid wohl keiner von der gesprächigen Sorte.« Der Alte schenkte sich nochmals ein und hob fragend den Krug, was der Schatten mit einer verneinenden Handbewegung beantwortete. »Warum müsst Ihr Mörder nur immer so geheimniskrämerisch sein?«

»Weil unsere Pflicht es so erfordert«, knurrte der Schatten, ehe seine Augen aufflammten. »Und nennt uns nie wieder Mörder, wir sind Schatten der Gilde.«

»Wie auch immer … für mich seid Ihr Auftragsmörder. Ich weiß, ich weiß.« Ramen hob abwehrend die Hände. »Die Gilde würde meine Worte mit einer herausgerissenen Zunge oder wenigstens ein paar zerschlagenen Zähnen quittieren, aber Ihr Leutchen braucht mich noch, solange der alte Ramen Euch Unterschlupf und Informationen liefern kann.«

»Da habt Ihr leider recht.« Der Schatten stand seufzend auf, um sich auf eine der Pritschen zu legen, was von dem Alten mit einem röchelnden Lachen begleitet wurde.

 

Er fuhr mit einem lauten Schrei aus seinem Dämmerschlaf – Schattenassassinen schliefen nie wirklich tief –, während sein ganzer Körper von Krämpfen geschüttelt wurde.

»Schhh.« Ramen hielt ihm eine Hand über den Mund und erstickte damit einen weiteren Schrei. »Ihr trommelt noch ganz Merita zusammen! Braucht wohl Eure Schattenmedizin, was?«

Er sah sich suchend nach dem Gepäck um, das der Schatten bei sich gehabt hatte, als er hier angekommen war. Dabei gab er seinen Mund wieder frei.

»Nein!«, ächzte der Elf und atmete so langsam wie möglich ein und aus, um seinen Körper zu beruhigen. »Bald … ist … es … vorbei … aaah!« Ein weiterer Krampf ließ seine Gliedmaßen unkontrolliert zucken und er biss sich die Zunge blutig.

»Das seh ich«, meinte der Alte gedehnt. »Mein Junge, Ihr braucht Euer Umbrium, sonst wird das nichts mit dem Auftrag.«

»Nein!«, presste der Schatten mit Nachdruck hervor. »Geht … gleich wieder.«

Er hatte nicht einmal die Kraft, sich über die Tatsache zu ärgern, dass Ramen ihn mit ›Junge‹ angesprochen hatte, obwohl er als Elf bereits einige hundert Jahre lang lebte – seit er denken konnte im Dienste der Schattengilde, die ihren Hauptsitz in der Desora-Wüste von Südkarinth besaß.

Keuchend versuchte er abermals, seinen Körper unter Kontrolle zu bringen und schickte heilende Magie hinein, ein Trick, den er als Elf beherrschte, ohne die Schattenessenz dafür trinken zu müssen. Er hatte nicht viel Erfahrung in Elfenmagie, da er nicht in einer traditionellen Elfenstadt, wie es sie hier in Altra anscheinend geben sollte, aufgewachsen war. Doch einige der wichtigsten Zauber kannte er, denn seine elfischen Ausbilder hatten die Dunkelelfenherkunft an ihm äußerst interessant gefunden und gefördert. Mit ein Grund, warum er bald zu einem der besten Schatten der Gilde geworden war.

Endlich erlangte er wieder Oberhand über seine Muskeln und blieb eine Weile ruhig atmend liegen, um sich zu erholen. Die Krämpfe wurden in letzter Zeit nicht nur stärker, sondern überkamen ihn immer öfter in unerwarteten Momenten.

Während er auf der Pritsche lag, überlegte er nicht zum ersten Mal, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, das Umbrium noch vor Ende seines wohl letzten Auftrages abzusetzen.

Jeder Schatten erhielt die Essenz von dem Moment an, in dem er in die Gilde aufgenommen wurde. Die Ältesten kontrollierten die Abgabe des Umbriums akribisch und durch die damit verbundene Abhängigkeit auch die Mitglieder.

Woher die Schattenessenz kam, blieb ein Geheimnis, das nur den Schattenältesten bekannt war. Einige munkelten, sie stamme aus der Todeszone, wie die todbringende Ebene hinter der Desora-Wüste in Südkarinth genannt wurde. Wieder andere behaupteten, der Totengott persönlich hätte sie der Gilde geschenkt zum Dank, weil sie ihm so viele Seelen brachten.

Wie auch immer, für den Schatten war von dem Augenblick an, als er seinen Entschluss gefasst hatte, die Gilde zu verlassen, klar gewesen, dass er dies nur bewältigen konnte, wenn er das Umbrium absetzte. Und dies musste geschehen, bevor er aus der Gilde austrat, denn ansonsten hätte er keinerlei Möglichkeit mehr, zu fliehen und unterzutauchen.

Die Schattenessenz war mit ein Grund, warum er die Gilde verlassen wollte. Sie hatte ihn über all die Zeit verändert, ihn kalt und hartherzig werden lassen – ihn zu einem brutalen, gewissenlosen Mörder gemacht … das war ihm nur allzu bewusst.

Wieder blitzten in ihm die Bilder auf, die ihn in seinen dunkelsten Stunden heimsuchten und die er in den entlegensten Winkel seiner Gedanken verscheuchte, wann immer sie in ihm ein Gefühl hervorzurufen drohten, welches kein Schatten haben sollte: Reue.

»Geht es wieder?« Der Alte saß auf dem Rand der Pritsche und sah ihn wachsam an. Er hatte eine Kerze entzündet, deren Flamme die kleine Höhle in flackerndes Licht tauchte.

Der Schatten nickte stumm, ohne ihn anzusehen.

»Ihr seid also ein Aussteiger«, bemerkte Ramen mit einer Gelassenheit, als würde er gerade einen Fleck am Boden entdecken.

Der Schatten zuckte innerlich bei diesen Worten zusammen, ließ sich nach außen jedoch nichts anmerken. »Wie … meint Ihr das?«, fragte er argwöhnisch.

»Genauso wie ich es sagte«, antwortete der Alte mit gleichgültiger Miene. »Ihr habt das Umbrium abgesetzt. Das ist der erste Schritt eines Aussteigers.«

»Ich …« Der Schatten räusperte sich, da ihm seine Stimme noch nicht gänzlich gehorchen wollte.

»Ihr müsst mir nichts erklären.« Ramen hob eine Hand und unterbrach ihn damit. »Ihr seid nicht der Erste und werdet bestimmt auch nicht der Letzte sein, der die Assassinengilde verlassen will. Nur seid gewarnt: Es ist noch niemandem gelungen. Zumindest meines Wissens nicht.«

»Werdet Ihr mich an die Gilde verraten?« Der Schatten sah ein, dass es keinen Sinn machen würde, den Alten zu belügen. Wozu auch? Ramen hatte die Wahrheit erkannt, und wenn er der Gilde so treu ergeben war, wie diese es von ihm glaubte, dann wäre das Leben des Schattens von dieser Sekunde an verwirkt – es sei denn, er tötete Ramen, doch im Moment konnte er kaum sprechen, geschweige denn einen Dolch rasch genug ziehen, um seinen Gastgeber an Bruder Tod zu übergeben.

Der Alte schüttelte leicht den Kopf. »Was hätte ich davon?« Seine dunklen Augen blitzten. »Ihr werdet früh genug Euer Schicksal erdulden müssen. Auch ohne mein Zutun.«

Damit hatte er allerdings recht: Die Gilde kannte kein Erbarmen mit Aussteigern, wenn sie von ihnen erfuhr. Doch bei ihm sollte es anders sein – nur, das musste er dem Alten ja nicht auf die Nase binden.

»Gut«, sagte der Schatten und atmete innerlich auf.

Er würde Ramen also noch eine Weile am Leben lassen. Zumindest, solange er ihm von Nutzen war. Denn was die Gilde anbelangte, so war es ihm gleichgültig, ob sie einen wichtigen Mittelsmann verlor oder nicht.

»Ruht Euch noch etwas aus. Ihr habt eine anstrengende Nacht vor Euch und es ist kaum Mittag. Es bleiben Euch also noch ein paar Stunden, um Euch zu erholen.« Der Alte sah ihn vielsagend an.

Der Schatten blieb ihm eine Antwort schuldig und fragte sich gar nicht erst, woher Ramen wusste, dass er in der kommenden Nacht vorhatte, seinen Auftrag eine Stufe weiterzubringen, indem er sich in den magischen Zirkel von Merita schlich, um sein Ziel genauer zu beobachten.

Stattdessen starrte er an die schwarze Höhlendecke.

Hier im Unterschlupf war nicht zu erkennen, ob draußen Tag oder Nacht herrschte, doch er glaubte Ramen, wenn dieser verkündete, dass der Tag kaum zur Hälfte vorbei war.

Er hörte eine Weile dem Rauschen der Wellen zu, die an die Klippen vor der Höhle schlugen, und in ihm jedes Mal ein Gefühl auslösten, das er nicht gänzlich zu benennen wusste.

War es Sehnsucht oder Hoffnung? Vielleicht auch Trauer?

Er kannte sich mit Gefühlen nicht sonderlich gut aus, in seiner Ausbildung zum Schatten hatte er verlernen müssen, überhaupt irgendeine Gefühlsregung zu haben. Erst in den letzten Monaten spürte er Empfindungen, die ihm bis anhin unbekannt gewesen waren. Und dies alles hatte mit dem Tag begonnen, als er die erste Ältestenprüfung ablegte, und wurde stärker mit jedem Tag, an dem er seither kein Umbrium mehr zu sich nahm.

Wieder stiegen diese Bilder in ihm hoch, die er so gut wie möglich zu verdrängen versuchte.

Die Prüfung war härter als alles andere gewesen, was er bis dahin hatte überstehen müssen. Weder das Jahr in seiner Schattenausbildung, in dem er nur Blut trinken durfte, um sich an den Geschmack zu gewöhnen und um seine Blutrünstigkeit zu schüren, noch das Jahr, als er mit einer Tinktur blind gemacht worden war, um seine anderen Sinne zu schärfen, waren so schlimm gewesen wie diese Prüfung, die ihn in der Ältestennachfolge ein Stück nach vorne bringen sollte.

Er versuchte, die Bilder zu verbannen, doch sie waren zu stark und drohten ihn in diese neuartige, schreckenserfüllte Gefühlswelt hinunterzuziehen. Noch bis vor Kurzem hatte er sich immer mit der Schattenessenz daraus retten können, aber seit er das Umbrium abgesetzt hatte, übermannten ihn die Bilder ebenso wie die Krämpfe.

Doch da musste er durch, je eher, desto besser.

»Gebt mir etwas von diesem Gesöff.« Er erhob sich von der Pritsche und ging zu Ramen, der am Tisch saß und im Kerzenlicht ein Buch las.

»Das ist kein Ersatz für das Umbrium.« Der Alte warf ihm einen mahnenden Blick zu.

»Das lasst mich selbst entscheiden!«, fuhr der Schatten ihn an und packte die Karaffe mit dem starken Getränk, um sie anzusetzen.

»Wie Ihr meint …« Ramen zuckte mit den Schultern und sah seinem Gast zu, wie dieser den Krug – in dem glücklicherweise nicht mehr viel von dem Alkohol war – in einem Zug leerte. »Doch auch dieses Getränk hat seine Tücken, glaubt mir.«

Der Elf stellte das leere Gefäß wieder auf den Tisch und spürte, wie der Alkohol durch jede Ader seines Körpers floss – fast wie das Umbrium, das er bis vor Kurzem noch so selbstverständlich zu seinem Leben gezählt hatte.

»Wie lange?«, fragte er, ohne den Alten anzusehen.

»Was meint Ihr?«

»Wie lange wird es dauern, bis ich ohne Umbrium leben kann?«

Ramen legte das Buch auf den Tisch und sah seinen Gast stirnrunzelnd an. »Soweit ich weiß, werdet Ihr immer mit der Abhängigkeit zu kämpfen haben. Doch ich war nie ein Schatten und kann das daher auch nicht beurteilen.«

»Ihr sagtet, Ihr kanntet andere Aussteiger.« Der Schatten stützte seine Hände auf der Tischplatte ab und verengte seine Augen zu dunkelroten Schlitzen, während er den Blick auf den Alten richtete. »Erzählt mir von ihnen.«

»Ich kannte genauer gesagt nur einen«, antwortete Ramen, der sich von dem finsteren Blick des Schattens nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Ich werde sein Andenken in meinem Inneren bewahren und nicht mit Euch teilen. Von den anderen habe ich zwar gehört, sie aber nie kennengelernt.«

»Ich könnte es aus Euch herausprügeln!« Der Schatten starrte Ramen jetzt mit einer Wildheit an, die jeden anderen hätte erschaudern lassen.

Doch der Alte ließ sich nicht davon beeindrucken. »Glaubt mir, selbst Ihr könntet das nicht.« Er lächelte, was einige Zahnlücken entblößte.

Der Schatten schnaubte wütend – verflucht seien diese neuen Gefühle! – und war für einen Lidschlag versucht, ihn mit seiner Klinge aufzuspießen, besann sich dann aber eines Besseren. »Warum verratet Ihr mich nicht an die Gilde?«, fragte er. »Ihr könntet ein reiches Kopfgeld dafür kassieren.«

Er beobachtete den Alten wachsam, der nun aufgestanden war, um die Karaffe an dem kleinen Wasserfall, der im hinteren Bereich der Höhle hinunterrann, mit Wasser zu füllen.

Ramen sah ihn nicht an, als er ihm antwortete, da er ihm den Rücken zugewandt hatte. »Das habe ich Euch doch schon gesagt: Ich sehe nicht ein, was ich davon hätte. Ich schätze mein Leben so, wie es ist, und brauche keine Belohnungen oder Kopfgelder. Nennt es Gutmütigkeit oder Bauchgefühl, aber ich mag Euch irgendwie, trotz Eurer ruppigen Art, und werde Euren Plänen – was auch immer die sein mögen – daher nicht im Wege stehen. Ihr seid zudem der menschlichste Schatten, der mir bisher begegnet ist, und glaubt mir, ich habe nicht wenige Eurer Art hier beherbergt.« Er kehrte zurück an den Tisch und füllte die Becher mit Wasser. »Hier. Trinkt. Das bringt Euch einen klaren Kopf.«

»Wisst Ihr, dass ich Euch für diese Beleidigung am liebsten auf der Stelle töten würde?«, fuhr ihn der Schatten an.

Menschlichkeit war in den Augen jedes Schattens eine Schwäche – und außerdem war er ein Elf!

»Seht Ihr, genau das meine ich«, lächelte Ramen. »Ihr tötet mich nicht, obwohl Ihr mir damit droht.«

Der Schatten atmete tief durch und ließ sich auf einen der Stühle fallen. »Ist es das, was Menschen ausmacht? Zu zögern, statt seine Pläne in die Tat umzusetzen? Das ist einfach nur verachtenswert!«

Der Alte lächelte und sein Blick war fast schon väterlich, als er den Dunkelelf ansah. »Mein Junge, manchmal verfügt gerade diese Sekunde des Zögerns über mehr Macht, das Schicksal zu verändern, als eine vorschnelle Klinge.«

Kapitel 3 – Schatten

MERITA, Gegenwart

(Tag 21, Monat 8, 1EP11 248)

 

»Na, seid Ihr ausgeruht?« Ramen beobachtete, wie der dunkelhäutige Elf von der Pritsche aufstand und seine Waffen kontrollierte. Draußen war inzwischen die Nacht hereingebrochen.

Der Schatten warf ihm einen stummen Blick zu und begann, seine Dolche mit einem Tuch, auf das er ein paar Tropfen Kamelienöl gegeben hatte, abzureiben. Dies tat er regelmäßig, um die Klingen vor Rost zu schützen.

»Ihr seid immer noch beleidigt, weil ich Euch nichts über den Aussteiger erzählen will, den ich kannte?« Der Alte setzte sich an den Tisch und sah dem Schatten zu, wie dieser die Klingen nach dem Einfetten sorgfältig wieder in die ledernen Scheiden zurücksteckte. »Ihr wisst, dass es sich für einen Schatten nicht gehört, beleidigt zu sein? Denn das ist ein Gefühl …«

»Hört verdammt noch mal auf, von Gefühlen zu sprechen!«, fuhr ihn der Assassine gereizt an. »Ich werde Euch bestimmt nicht den Gefallen tun und wegen Eures Verhaltens beleidigt sein!«

»Oha, ein wunder Punkt …« Ramen entblößte seine Zahnlücken in einem breiten Lächeln. »Kann verstehen, dass Ihr nicht über Gefühle sprechen wollt. Ihr Mörder seid alle von der Gilde zu seelischen Krüppeln gemacht worden, die es nicht aushalten können, wenn sie menschliche Regungen empfinden.«

»Ich bin kein Mensch!«, knurrte der Schatten erbost und zog seinen Dolch so rasch wieder aus der Lederscheide, dass selbst Ramen über die Schnelligkeit staunte. »Nennt mich nie wieder so!« Der Elf war mit einem raschen Sprung beim Alten und hielt ihm die scharfe Klinge an den Hals.

»Euer neues Temperament wird Euch noch früher ins Grab bringen, als Euch lieb ist.« Ramen sah dem Schatten in die rötlich glühenden Elfenaugen, ohne mit der Wimper zu zucken. »Tötet mich, wenn Ihr wollt, nur wird Euch das nicht vor Eurem Schicksal bewahren.«

»Ihr kennt mein Schicksal nicht!« Die Stimme des Schattens war ein leises Grollen.

»Seid Euch da nicht so sicher.« Ramen hielt dem wilden Blick seines Gastes stand. »Und wenn Ihr mich in den nächsten zwei Minuten nicht töten wollt, wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr diese Klinge von meinem Hals entfernen würdet – falls Euch das keine zu großen Umstände bereitet, versteht sich.«

Der Schatten ließ abermals ein Knurren hören, das tief aus seiner Brust drang. »Wisst Ihr, dass Ihr gerade leichtfertig mit Eurem Leben spielt?«

»Nicht viel leichtfertiger als Ihr.« Der Alte deutete mit dem Blick nach unten, wo die Spitze seines eigenen Dolches auf den Bauch des Elfen gerichtet war. »Wenn Ihr mich tötet, werde ich Euch mit ins Grab nehmen.«

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Erstaunen in den Augen des Elfen auf. Er musste sich eingestehen, dass er den Alten unterschätzt hatte. Woher dieser plötzlich einen Dolch hatte, war ihm unerklärlich, er hätte schwören können, keine Waffe bei Ramen gesehen zu haben.

Er atmete tief durch und entspannte seine Körperhaltung, ehe er die Klinge widerwillig vom Hals seines Gastgebers nahm und seine Hand sinken ließ.

»Schon besser. Danke«, bemerkte Ramen mit regungslosem Gesichtsausdruck. »Nehmt meinen Rat an und werdet Euch bewusst, dass Ihr ohne Euer Umbrium nun immer öfter Gefühle empfinden werdet, die Euch immer wieder überfordern können. So manchen Schatten hat diese Tatsache bereits in den Wahnsinn getrieben – Euch wird es nicht viel anders ergehen, wenn Ihr versucht, dagegen anzukämpfen. Für Menschen sind Gefühle etwas Alltägliches, für Euch Schatten jedoch etwas Ungewohntes. Ihr werdet lernen müssen, damit umzugehen, wenn Ihr kein Umbrium mehr nehmen wollt.«

Der Schatten sah verblüfft auf den alten Mann hinunter, der seinen Dolch wieder in seinem Bettlergewand verbarg. »Das Umbrium unterdrückt die Gefühle der Schatten?«, fragte er und setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl. Die Schattenklinge ließ er mit einem kräftigen Stoß in die Tischplatte fahren und stützte sich darauf ab.

Der Alte nickte mit Nachdruck. »Soviel ich weiß, tut es das tatsächlich. Es hilft Euch auch, zu Schatten zu werden – zu Mördern ohne Gefühlen, Attentätern ohne Reue, Assassinen ohne Skrupel.«

»Das … wusste ich nicht.« Der Schatten starrte bestürzt vor sich auf die Holzplatte. »Dann hat die Schattengilde uns also reingelegt? Mit all den Prüfungen, die sie von uns verlangt hat und die unsere Gefühle verstummen lassen sollten?«

Ramen zuckte mit den Schultern und legte den Kopf schief. »Nun ja, nicht wirklich reingelegt, aber sie überprüft mit den Aufgaben, die sie Euch stellt, ob die Dosierung des Umbriums stark genug ist. Falls sich Gefühle wie Angst, Reue, Schrecken und so weiter in Euch regen, erhöht sie die Konzentration – so lange, bis Ihr zu keinen Gefühlen mehr fähig seid. Die Gefühlswelt jedes Lebewesens ist einzigartig, daher müssen die Gildenältesten die Konzentration des Umbriums für jeden Schatten individuell anpassen, bis die Gefühle vollständig unterdrückt sind. Sie nehmen sie Euch ebenso, wie sie Euch Eure Namen, Eure Herkunft und all Eure Erinnerungen rauben. Letztere können nie wieder hergestellt werden – aber das wisst Ihr wahrscheinlich.«

Der Schatten holte tief Luft. »Und wenn ich das Umbrium nun nicht mehr nehme, dann …«

»… dann spürt Ihr alle Gefühle wieder so, wie es auch normale Menschen tun«, vollendete Ramen den Satz. »Nur, dass Ihr daran nicht gewöhnt seid und es Euch Euren Verstand kosten kann. Stellt es Euch in etwa so vor, wie wenn ein Tauber inmitten eines Gewitters sein Gehör zurückerlangt. Oder ein Blinder sein Augenlicht, während er ins Sonnenlicht starrt. So in etwa ergeht es Euch gerade. Für den Geist ist es eine wahre Reizüberflutung, mit der er selten zurechtkommt, ohne dass er verrückt wird.«

»Wie kann ich das verhindern?«, fragte der Schatten und hob den Blick, um dem Alten in die dunklen Augen zu sehen, die aufmerksam auf ihn gerichtet waren.

»Dass Ihr den Verstand verliert?«

Der Schatten nickte wortlos.

»Gar nicht.« Ramen lehnte sich im Stuhl zurück. »Entweder Ihr seid stark genug, um mit den Gefühlen umzugehen, oder eben nicht. Hinzu kommen die Krämpfe, die Euch immer häufiger befallen werden – sie werden bald nicht nur dann auftreten, wenn Ihr schlaft und damit die Kontrolle über Euren Körper abgebt, sondern auch, wenn Ihr wach seid. Vielleicht mitten in einem Auftrag, wenn’s dumm kommt.«

»Was ratet Ihr mir also?«

Ramen verschränkte die Hände hinter dem Kopf und musterte den Elf, der vor ihm saß und immer noch seine Hand auf dem Dolchgriff abstützte. »Ich rate Euch gar nichts.«

»Warum nicht?«, wollte der Schatten wissen, während erneuter Ärger – diese verfluchten Gefühle! – in ihm hochstieg.

»Weil ich das schlichtweg nicht kann und als ich es das letzte Mal versucht habe, es gründlich in die Hosen ging«, antwortete der Alte, nahm die Arme herunter und verschränkte sie stattdessen vor der Brust.

»Das war bei diesem … Aussteiger, über den Ihr nicht reden wollt«, stellte der Schatten fest.

»Lassen wir das.« Über Ramens Gesicht glitt ein Ausdruck des Bedauerns. »Das ist lange her und hat nichts mit der Gegenwart zu tun.«

»Das glaube ich nicht.« Der Assassine erhob sich leicht und stützte die Hände auf der Tischplatte ab, um sich vorzubeugen. Seine Stimme war eindringlich, als er fortfuhr. »Wenn Ihr mir erzählt, was damals passiert ist, kann ich vielleicht daraus lernen und es … anders machen. Es könnte mir helfen, diesen Mist hier«, er machte eine alles umfassende Handbewegung, »zu überstehen und endlich von den Schatten loszukommen.«

Ramen schüttelte langsam den Kopf. »Nein, mein Junge, ich glaube nicht, dass es Euch helfen wird. Aber wenn Ihr unbedingt darauf besteht, werde ich Euch das sagen, was ich kann. Setzt Euch wieder.« Er seufzte und atmete tief durch, während der Schatten seiner Aufforderung nachkam. »Damals, vor etwas weniger als zwanzig Jahren, kam ein Schatten, ähnlich wie Ihr, in meine Höhle. Er hatte einen Auftrag in der Stadt zu erledigen und wollte für ein paar Tage hierbleiben. Jedoch … der Auftrag scheiterte.«

Der Schatten sah ihn mit schmalen Augen an. »Er starb?«

»Nein, er starb nicht, er konnte gerade noch entkommen. Doch sein Ziel war mächtig – sehr mächtig – und es ließ ihn verfolgen, gefangen nehmen und fast zu Tode foltern. Es wollte wissen, woher der Schatten kam und was es mit der Gilde auf sich hatte. Wie Ihr Euch denken könnt«, er warf dem Schatten einen langen Blick zu, »hat der Assassine nichts preisgegeben. Ihr Schatten seid an Schmerzen gewöhnt worden und haltet daher mehr aus, als es ein Mensch je könnte. Jedenfalls«, er holte abermals tief Luft, »sein geschundener Körper wurde in die See geworfen, um elend zu ertrinken. Doch Aquor, der Gott des Wassers, wollte ihn nicht. Ich habe den Schatten halbtot am Strand gefunden, wo er von den Wellen liegen gelassen worden war, und ihn hierher zurückgebracht, um ihn gesund zu pflegen. Als er wieder auf den Beinen stehen konnte, wollte er nichts sehnlicher, als sein ursprüngliches Ziel zu töten.«

»Das kann ich nachvollziehen, er wollte seinen Auftrag beenden«, nickte der Schatten.

»Ihr versteht nicht«, antwortete der Alte leise und hob vielsagend eine Augenbraue. »Es war nicht nur der Auftrag, der ihn wieder zu seinem Ziel trieb … er sann auf Rache … er hatte Gefühle.«

Der Schatten runzelte die Stirn. »Dann hat er kein Umbrium mehr zu sich genommen?«

Ramen hob die Schultern. »Doch, das hatte er – zuletzt vor seinem gescheiterten Auftrag. Aber irgendetwas in ihm ist bei der Folter zerbrochen, obwohl es das im Grunde nicht hätte tun dürfen. Das Umbrium war nicht stark genug und konnte die Gefühle, die in jedem von Euch Assassinen schlummern, nicht mehr unterdrücken.«

Der Schatten sah betroffen auf seine Hände, die er auf dem Tisch gefaltet hatte.

So wie … wie bei ihm.

Die erste Prüfung der Ältesten – sie war es, die er nicht mehr vergessen konnte und die in ihm diese … Gefühle … geweckt hatte. Er hob den Blick und sah, dass der Alte ihn aufmerksam studierte.

»Ihr habt etwas Ähnliches erlebt, oder?«, fragte Ramen und nickte wissend. »Etwas, das Euren Widerstand gegen die Gefühle gebrochen hat. Etwas, das tief genug ging, so tief, wie das Umbrium nicht mehr gelangen konnte: zu Eurem Herzen.«

»Ich …« Der Schatten räusperte sich, da er sich seiner Stimme nicht mehr sicher war.

»Ihr müsst mir nichts erklären, ich sehe es in Euren Augen«, unterbrach ihn der Alte. »Was auch immer Ihr erdulden musstet, es hat Euch Gefühle zurückgegeben, die Ihr als Assassine der Schattengilde nicht haben solltet und an denen Ihr zerbrechen könnt. Ebenso wie der Aussteiger, den ich kannte.«

»Warum wurde er zum Aussteiger?«, fragte der Schatten, um von sich abzulenken. »Ihr sagtet, er wollte sein ursprüngliches Ziel umbringen. Das hätte er auch tun können, ohne dass er die Gilde verließ.«

»Da habt Ihr recht«, nickte der Alte und lenkte seinen Blick zur Höhlendecke, als sähe er dort etwas, das den Augen anderer verborgen war. »Doch er wollte mehr. Als ihm bewusst wurde, was die Gilde mit ihm gemacht hatte, sann er auf Rache an allem und jedem.«

»Er wollte Rache an der Gilde selbst?«, fragte der Schatten verblüfft.

»Ja …« Der Alte machte eine Pause und seufzte. »Ich brauche Euch nicht zu erklären, wie ausweglos dieser Plan war, denn Ihr wisst besser als ich, dass man die Ältesten der Gilde nicht einfach so töten kann.«

Der Schatten nickte stumm.

Ja, er wusste nur zu gut, wie stark die Ältesten waren.

Sie waren selbst ehemalige Schatten und seit Jahrhunderten auf ihren Posten.

»Damit endet die Geschichte.« Ramen stand abrupt auf. »Ich möchte Euch bitten, mich nie wieder danach zu fragen. Lasst mich nun alleine und geht Eurer Wege – wo auch immer die Euch in dieser Nacht hinführen mögen. Ich bin hier, wenn Ihr mich braucht, ansonsten wünsche ich Euch viel Glück. Denn das habt Ihr mehr als nötig.« Damit wandte er sich ab und verließ die Höhle eiligen Schrittes.

Der Schatten blieb zurück und dachte eine Weile über das Gespräch nach, das er soeben mit dem alten Mann geführt hatte.

Dass das Umbrium seine Gefühle unterdrückte, verwirrte ihn zwar, doch es ergab durchaus Sinn. Das hieß also, dass, je länger er auf die Schattenessenz verzichtete, er sich diesen verdammten Gefühlen immer häufiger stellen musste. Wie er damit umgehen sollte, wusste er zwar nicht, aber wenn es die gewöhnlichen Menschen konnten, konnte es nicht so schwer sein.

Wichtig war vor allem, dass er diese tiefe Schwärze, die immer wieder in ihm aufzusteigen drohte und die Bilder, die damit verknüpft waren, unterdrücken konnte. Bisher war es ihm einigermaßen gelungen, doch wenn diese dunklen Gefühle noch stärker auftreten sollten, würde es ihm um ein Vielfaches schwerer fallen.

Vielleicht war es das, was ihn von Nichtschatten unterschied: Er hatte etwas erlebt, an dem jeder zerbrechen würde – selbst jene, die Leid gewohnt waren. Es war tatsächlich wie ein Gewitter für einen Gehörlosen – nur, dass in diesem Gewitter anstelle von Donner Schreie zu hören waren. Unmenschliche Schreie.

Einerseits war es gewagt, kein Umbrium mehr zu nehmen, denn er konnte nicht riskieren, dass diese ungebetenen Nebenwirkungen des Entzuges seinen Auftrag gefährdeten.

Andererseits widerstrebte es ihm zutiefst, die Schattenessenz wieder zu nehmen, zumal er auf der Flucht vor der Schattengilde, die ihn bestimmt verfolgen würden, sobald sie merkten, dass er mit der Belohnung geflohen und aus der Gilde ausgetreten war, solche Nebenwirkungen nicht gebrauchen konnte. Weder dieses Gefühlszeugs noch die Krämpfe.

Besser, er durchlebte jetzt den Entzug, als später, wenn er auf seine normalen Kräfte stärker angewiesen wäre als jemals zuvor in seinem Leben.

Vielleicht, so überlegte er, sollte er einfach hier in der Höhle warten, bis die schlimmsten Folgen überstanden wären. Danach könnte er sein Ziel töten und zur Gilde zurückkehren, um die Belohnung zu kassieren, ehe er sich aus dem Staub machte. In der Zwischenzeit, bis er sich an ein Leben ohne Umbrium gewöhnt hatte, würde er diese Herrscherin wie geplant genauer beobachten und all ihre Schwächen herausfinden, sodass die Auftragsausführung rasch und reibungslos vonstattengehen konnte.

Ja. Er nickte, um sich seinen Plan selbst zu bestätigen. Das wäre die beste Lösung.

Also würde er nun als Erstes wie geplant in den Zirkel schleichen und Genaueres über den Aufenthaltsort seines Zieles in Erfahrung bringen. Wie sie lebte, wo sie lebte, was ihre Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen waren, wann sie alleine war, was ihr etwas bedeutete, welche Wünsche sie hatte.

Das würde einige Zeit in Anspruch nehmen, aber die Gilde hatte den Auftrag ja auch als äußerst schwierig eingestuft und würde keinen Verdacht schöpfen, wenn die Ausführung etwas länger dauerte als gewöhnlich.

Der Schatten erhob sich, um zu seinem Gepäck zu gehen, damit er alles für diese Nacht vorbereiten konnte. Er würde zum Magierzirkel, der sich auf einer Insel außerhalb der Stadt befand, hinüberschwimmen, da ein Boot zu auffällig war.

Dafür musste er seinen Körper mit ranzig riechendem Walfett einreiben, denn obwohl er ein Elf war und weniger rasch fror als ein Mensch – das kalte Wasser des Meeres konnte tückisch sein und er durfte sich keine Unterkühlung leisten. Zudem brauchte er Seile und Enterhaken sowie Wurfmesser, die kleine Handarmbrust, Dietriche, Rauchbomben, um etwaige Verfolger abzuhängen, sowie diese Ton-Fläschchen, die giftige Gase absonderten, wenn sie zerbrachen.

Er hoffte jedoch, dass er von den letzten beiden Dingen nicht würde Gebrauch machen müssen, da sie unnötige Aufmerksamkeit bedeuteten. Alles, was der Herrscherin einen Hinweis darauf geben konnte, dass ein Attentat auf sie geplant war, war gefährlich. Nichts war schlimmer, als ein vorgewarntes Ziel.

Als er alles bereitgelegt hatte, überprüfte er nochmals die Schattenklingen und verließ dann die Höhle. Bis jetzt waren keine Anzeichen von weiteren Krämpfen zu bemerken gewesen und so stürzte er sich zuversichtlich in die Wellen, die sich auf der Stelle rauschend um seinen Körper schlossen, als wollten sie ihn vom Zirkel von Merita fernhalten.

Kapitel 4 – Lucja

ARGANTA, 3 Monate zuvor

(Tag 21, Monat 5, 1EP11 248)

 

Lucja verschränkte die Arme und sah ihren Vater mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Ich finde, es ist keine gute Idee, dass ich nach Merita reisen soll. Warum willst du nicht die Bewahrertruppe schicken?«

»Weil du besser geeignet bist als jede andere Person, die ich kenne«, erwiderte Rangan, der Zirkelleiter von Arganta, und richtete seine hellen Augen auf die schlanke Frau, die vor ihm stand. Sie hatte langes, schwarzes Haar, das sie zu einem Zopf geflochten trug und dunkle Haut, wie es hier in Arganta üblich war. Ihre Augen, die von einem Blau waren, das fast weiß erschien, und die sie eindeutig von ihm geerbt hatte, glitzerten erregt.