Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland -  - E-Book

Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland E-Book

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Beschreibung

Am 23. Oktober 1792 kamen im Mainzer Schloss die „Freiheitsfreunde“ zu ihrer ersten Sitzung zusammen, um einen „Jakobinerclub“ zu gründen. Sie nannten ihn „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“ und tagten im Kurfürstlichen Schloss. Es war der Beginn einer kurzen, aber bewegten neuen Zeit, die nach der Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte mit der Ausrufung der Mainzer Republik am 18. März 1793 vom Balkon des Deutschhauses, dem heutigen Sitz des Landtags, ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Was aber war diese Mainzer Republik? „Eine der Keimzellen der demokratischen Entwicklung in Deutschland?“ (Landtagspräsident Christoph Grimm); „Ein französischer Revolutionsexport und zugleich ein deutscher Demokratieversuch“? (so der Historiker Franz Dumont); war sie ausschließlich „ein ungeliebtes Besatzungskind“, gezeugt durch Gewalt und Zwang – wie manche noch immer meinen? Oder doch – so der ZEIT-Autor Andreas Molitor – „Die erste Demokratie auf deutschem Boden.“ Oder war sie, wie der ehemalige Bundestagspräsident Lammert 2013 bei der Umbenennung des Deutschhaus-Platzes in „Platz der Mainzer Republik“ sagte, „ein radikal-demokratischer Versuch, in Mainz eine Republik zu gründen?“. Obwohl die Mainzer Republik nur neun Monate bestand, gilt sie als Wurzel der Demokratie in Deutschland, basierte sie doch auf dem ersten, nach demokratischen Grundsätzen zu Stande gekommenen Parlament der Deutschen Geschichte. Erstmals gesammelt in einem Band finden sich die neusten Erkenntnisse zu den Entstehungshintergründen der Mainzer Republik sowie zu Georg Forsters entscheidender Rolle dabei. Die Einflüsse der Französischen Revolution sowie deren Auswirkungen auf Mainz und Europa im Besonderen werden dargelegt. Wie stark die Auswirkungen dieser Zeit heute noch für die staatlich-parlamentarische Entwicklung Deutschlands sind, zeigt der Band in zahlreichen Aufsätzen. Er vereint damit in hervorragender Weise die Bilanz der bisherigen Forschungsergebnisse und verweist zugleich auf neue Perspektiven der Betrachtung.

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Mainzer Beiträge zur Demokratiegeschichte Band 1

Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz e. V.In Verbindung mit dem Landtag Rheinland-Pfalz und der Landeszentrale für politische Bildung

Die MainzerRepublik

und ihre Bedeutungfür dieparlamentarischeDemokratiein Deutschland

HANS BERKESSELMICHAEL MATHEUSKAI-MICHAEL SPRENGER (HGG.)

Impressum

228 Seiten mit 119 Abbildungen

Titelabbildung: Konventsprotokoll März 1793 und Freiheitsbaum – Revolutionsalmanach 1794

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 by Nünnerich-Asmus Verlag & Media GmbH, Oppenheim am Rhein

ISBN 978-3-96176-097-8

Redaktion: Hans Berkessel, Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V.

Lektorat: Nünnerich-Asmus Verlag & Media GmbH

Gestaltung des Titelbildes: ADDVICE DESIGN & ADVERTISING

Gestaltung: ADDVICE DESIGN & ADVERTISING

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.

Weitere Titel aus unserem Verlagsprogramm finden Sie unter: www.na-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort der Herausgeber der ReiheMainzer Beiträge zur Demokratiegeschichte

Grußwort des Landtagspräsidenten Hendrik Hering

Teil I – Beiträge

MICHAEL MATHEUS

Die Mainzer Republik – Französischer Revolutionsexport, deutscher Demokratieversuch, Mosaikstein einer europäischen Freiheitsgeschichte

WOLFGANG DOBRAS

Die Mainzer Republik – Ausgewählte Ereignisse und ihre archivalische Überlieferung

MATTHIAS SCHNETTGER

Die Mainzer Republik im Diskurs der Wissenschaft und als Spiegel der jüngeren Geschichtskultur

VOLKER GALLÉ

„Freiheit ist mein Gott – Frankreich mein Vaterland“

Die Wormser Freiheitsdebatte 1792/93, ihre Vorgeschichte und ihre Folgen

IMMO MEENKEN

Kampfschriften und Lieder – Revolutionäre und gegenrevolutionäre Publizistik auf dem linken Rheinufer

SARA ANIL

Die Festung Königstein – Zum Schicksal der inhaftierten Mainzer Revolutionäre

WALTER RUMMEL

Freiheitsbewegungen und Bürokratie – Das Nachwirken von französischer Revolution und französischer Herrschaft in der staatlichen Entwicklung Deutschlands

Teil II – Dokumentation der Festveranstaltung

Landtagsvizepräsidentin BARBARA SCHLEICHER-ROTHMUND

Begrüßung

JÜRGEN GOLDSTEIN (Festvortrag)

Georg Forster – Ein sonderbarer Jakobiner zwischen Freiheit und Naturgewalt

GEORG FORSTER: Ansichten vom Niederrhein

Von Brabant, Flandern, Holland, England … und Frankreich

Im April, Mai und Junius 1790

Auszüge aus dem Podiumsgespräch

Georg Forster und das Erbe der „Mainzer Republik“ in ihrer Bedeutung für die deutsche Demokratiegeschichte

Teil III – Anhang

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

VORWORT DER HERAUSGEBER DER REIHE

Mainzer Beiträge zur Demokratiegeschichte

Mit dem vorliegenden Tagungsband eröffnet das Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V. (IGL) seine neue Reihe „Mainzer Beiträge zur Demokratiegeschichte“.

Das Thema des ersten Bandes – die Mainzer Republik von 1792/93 und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland – ist hierbei durchaus programmatisch gewählt, nicht zuletzt vor dem Hintergrund unverändert aktueller, kontroverser Debatten zur Verortung der kurzlebigen, neun Monate existierenden Mainzer Republik und des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents von 1793 in der deutschen bzw. europäischen Demokratiegeschichte.

Die Geschichte der Mainzer Republik hat seit ihrem Untergang sehr unterschiedliche Deutungen und erinnerungspolitische Vereinnahmungsversuche erfahren. Sie reichen von einer euphorischen, revolutionsbegeisterten Verklärung durch die Zeitgenossen oder aber einer deutsch-nationalen Distanzierung gegenüber dem französischen Revolutionsexport über eine Inanspruchnahme innerhalb der sozialistisch-materialistischen Erbe-Interpretation in der DDR-Historiographie oder die Negierung jeglicher frühdemokratischer Elemente der Mainzer Republik bis hin zu aktuellen landes- und bundespolitischen Manifestationen, die in dem Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent den Versuch der Etablierung einer neuen politischen Kultur erkennen.

Die Heterogenität der langen und intensiven Rezeption der Geschichte der Mainzer Republik hat nicht zuletzt eine reiche Forschungsliteratur wie auch zahlreiche populäre Publikationen über diese kurze Phase der Mainzer Geschichte hervorgebracht. Bereits 1993 konstatierte der Mainzer Historiker Dr. Franz Dumont (1945–2012), dass kein anderer vergleichbarer Abschnitt der Mainzer Geschichte mittlerweile so gut erforscht sei wie jener von Oktober 1792 bis Juli 1793. Schon in den späten 1970er-Jahren und frühen 1980er-Jahren hatte der Ostberliner Historiker Heinrich Scheel mit seinen umfassenden und sorgfältig kommentierten Quelleneditionen der Protokolle des Mainzer Jakobinerklubs und des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents die umfangreichen Quellenbestände erstmalig der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Franz Dumont, der sich bereits in seiner 1982 erschienenen Dissertation und später immer wieder mit der Mainzer Republik beschäftigte, hat in seinem wissenschaftlichen Lebenswerk selbst maßgeblich zur Erweiterung des Forschungsstandes beigetragen und hierbei auch seine eigenen früheren Bewertungen immer wieder kritisch überprüft und modifiziert. Seine Deutung der Mainzer Republik als „Französischer Revolutionsexport und Demokratieversuch“ hat nicht zuletzt die nach einem heutigen Verständnis durchaus bestehenden immanenten Widersprüche und das Scheitern der Mainzer Republik betont und damit auch deutlich gemacht, dass man diese frühen demokratischen Gehversuche sicher nicht an den Maßstäben unseres heutigen Demokratieverständnisses messen kann, sondern aus ihrer Zeit heraus beurteilen und zumindest als Beginn einer neuen politischen Kultur werten muss, von der durchaus Linien zu unserem heutigen Verständnis der Grundlagen und Voraussetzungen parlamentarischer Demokratie gezogen werden können. Zugleich bieten die Debatten der Akteure der Mainzer und der Bergzaberner Republik interessante Anhaltspunkte, um über Traditionen und Brüche einer europäischen Freiheitsgeschichte und deren Ambivalenzen in der Moderne weiter nachzudenken.

Auch wenn wir heute durch zahlreiche Einzelstudien über ein recht differenziertes Bild verfügen, so zeigen aktuelle Debatten um die Mainzer Republik die ungebrochene Relevanz und Notwendigkeit weiterer Forschungen zu jenen Jahren. Zahlreiche Einzelaspekte, etwa die Frage nach prosopographischen Kontinuitäten zwischen der Mainzer Republik und den demokratischen Bewegungen des Vormärz, oder ganz generell die bessere Erschließung des reichen Quellenmaterials (Protokolle und Flugschriften der Mainzer Republik, aber auch der südpfälzischen Begzaberner Republik) auch mit Blick auf eine digitale Zugänglichkeit bieten auch künftig noch vielfältige Felder einer intensiveren und differenzierten Beschäftigung mit dem Thema.

Die besondere Aktualität der Beschäftigung mit der Geschichte der Mainzer Republik erklärt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines bemerkenswerten Paradigmenwechsels in der Wahrnehmung, Verortung und Beschäftigung mit der deutschen Demokratiegeschichte. Bereits 1970 hatte der damalige Bundespräsident Gustav Heineman bei der „Bremer Schaffermahlzeit“ die Forderung erhoben, dass ein freiheitlich-demokratisches Deutschland die Geschichte – vor allem mit Blick auf die deutsche Demokratiegeschichte – bis in die Schulbücher hinein anders schreiben müsse, und 1974 anlässlich der Eröffnung der Rastatter Erinnerungsstätte mit Blick auf die Mainzer Republik präzisiert, die deutschen Jakobiner ebenfalls in diese spezifische Erinnerungskultur einer deutschen Demokratiegeschichte miteinzubeziehen.

Tatsächlich aber ist eine deutsche Demokratiegeschichte mit Blick auf die etablierte Erinnerungskultur nur selten über die ebenfalls gescheiterte Weimarer Republik, die ihrerseits überwiegend im Fokus dieses Scheiterns und seiner Gründe betrachtet wurde, hinausgelangt oder wenn überhaupt zumeist mit Erinnerungsorten wie dem Hambacher Fest und dem Paulskirchenparlament in Verbindung gebracht worden.

Die Frage, ob oder in welchem Maße die Mainzer Republik als Vorläufer in die Geschichte der parlamentarischen Demokratie in Deutschland eingeordnet werden kann oder muss, erfährt derzeit auch in einem übergeordneten Kontext neuen Rückenwind. Denn seit einigen Jahren gerät auch die Mainzer Republik wieder zunehmend in den Fokus einer demokratiegeschichtlichen Debatte und Erinnerungskultur. So hat der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert in seiner Festrede zum 220. Jubiläum der Proklamation der Mainzer Republik am 18. März 2013 im rheinland-pfälzischen Landtag die freiheitlich-demokratischen Bewegungen in Deutschland mit der Mainzer Republik beginnen lassen als „erste[n] radikaldemokratische[n] Versuch deutscher Jakobiner, eine Republik zu gründen.“

Mit dem Besuch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Mainzer Landtag im März 2018 hat nun erstmals ein deutsches Staatsoberhaupt überhaupt die Mainzer Republik als frühen Erinnerungsort der deutschen Demokratiegeschichte, als Beginn des schwierigen deutschen Weges zur parlamentarischen Demokratie gewürdigt und in einer beeindruckenden Rede betont, dass „wir unsere heutige Verfassung auch denen zu verdanken haben, die sich in unserer Geschichte für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens eingesetzt haben.“ Nicht das Scheitern, sondern der Versuch der Etablierung einer neuen politischen Kultur, der Demokratieversuch selbst, wird somit Orientierungs- und durchaus wertiger Bezugspunkt mit Blick auf unsere parlamentarischen Traditionen und unser heutiges Demokratieverständnis.

Zunehmend wird somit auch in einem bundesweiten erinnerungspolitischen Diskurs wahrgenommen und vertreten, dass die Geschichte der Demokratie in Deutschland mit Blick auf Frühformen, ihre Genese und Wurzeln über die Zeit der Weimarer Republik und des Vormärz hinaus betrachtet und verstanden werden muss, eine Auffassung, die nicht zuletzt auch in die Aufnahme der Demokratiegeschichte als wichtiges Thema in den aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung eine bemerkenswerte Resonanz erfährt. Eine 2017 gegründete Arbeitsgemeinschaft „Erinnerungsorte der Demokratiegeschichte“ mit dem Ziel, die Wahrnehmung der deutschen Demokratie- und Freiheitsgeschichte lokal, regional und deutschlandweit zu fördern sowie schon bekannte oder bisher weniger bekannte Orte und Ereignisse im öffentlichen Gedenken zu verankern und als Lernorte weiter zu entwickeln, trägt dieser Erkenntnis ebenfalls Rechnung und hat auf Initiative des Instituts für Geschichtliche Landeskunde neben dem Hambacher Schloss auch die Mainzer Republik als einen solchen auch überregional bedeutenden Erinnerungsort der frühen deutschen Demokratiegeschichte mit aufgenommen.

Ohnehin verfügt Rheinland-Pfalz mit der Mainzer Republik, dem Hambacher Fest und Schloss über eine beachtliche Konzentration an überregional wichtigen Erinnerungsorten der frühen deutschen Demokratiegeschichte. Das Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V. hat diesen Forschungen zur Demokratiegeschichte daher in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt, beginnend etwa 2008 mit der Konzeption der Dauerausstellung auf dem Hambacher Schloss und nicht zuletzt durch die dauerhafte Verankerung dieses thematischen Schwerpunkts im Arbeitsprofil des Instituts. Mit der Herausgabe einer eigenen Reihe zur Demokratiegeschichte setzen wir nun diese Bemühungen fort.

Wir danken allen, die an diesem Werk mitgewirkt und es gestaltet haben: den Mitveranstaltern der wissenschaftlichen Tagung in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Festveranstaltung im Mainzer Landtag im Oktober 2017, den Referentinnen und Referenten sowie den Autorinnen und Autoren, die wir zusätzlich für diesen Band gewinnen konnten, den Archiven, die uns die Abbildungen und Quellen zur Verfügung gestellt haben, insbesondere dem Stadtarchiv Mainz, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts, die bei der Recherche behilflich waren und nicht zuletzt dem Nünnerich-Asmus Verlag und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die keine Mühe gescheut haben, diese Publikation auch durch eine aufwändige Gestaltung und Bebilderung für eine breite interessierte Leserschaft attraktiv zu machen.

Unser Dank gilt auch allen Institutionen, die durch ihre finanzielle Unterstützung den Druck dieses Buch und damit den Start der neuen Reihe ermöglicht haben: dem Landtag Rheinland-Pfalz, der Landeszentrale für politische Bildung und dem Verein für Sozialgeschichte Mainz e. V.

Allen Verantwortlichen sei hiermit herzlich gedankt.

Für das Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V.

Hans BerkesselMichael MatheusKai-Michael Sprenger

HENDRIK HERING

Zum Geleit

Wer in Deutschland nach den frühen Gehversuchen der Demokratie sucht, der kommt am Sitz des Landtags Rheinland-Pfalz, dem historischen Deutschhaus, nicht vorbei. Hier debattierte der Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent, das erste auf der Grundlage moderner demokratischer Grundsätze gewählte Parlament in Deutschland. Am 18. März 1793 rief es einen auf demokratischen Prinzipien – Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität – beruhenden Staat aus. Kein anderes Landesparlament in Deutschland tagt an einem vergleichbar geschichtsträchtigen Ort.

Die Ereignisse von damals markieren, so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, „den Beginn des schwierigen deutschen Wegs zur parlamentarischen Demokratie. Es war, wie wir wissen, ein krummer und steiniger Weg, und das frühe demokratische Experiment in dieser Stadt steht in einzigartiger Weise für seine Widersprüche, Brüche und Rückschläge.“

Mit dem Hambacher Schloss liegt ein weiterer Meilenstein der deutschen Demokratiegeschichte auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz. Trotzdem wissen wir auch heute noch mehr über die absolutistischen Fürsten als über die frühen Demokratiebewegungen in unserem Land. Wie die Wiederentdeckung der Bergzaberner Republik in jüngster Zeit zeigt, klafft auf der Landkarte der Demokratiegeschichte noch so mancher blinder Fleck.

Es ist das Verdienst von Institutionen wie dem Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, die historische Demokratieforschung beharrlich voranzutreiben und hier Abhilfe zu schaffen.

Ich bin der Überzeugung – wer weiß, unter welchen Mühen unsere Demokratie einst errungen werden musste, wird auch heute engagiert für sie eintreten. Deshalb freue ich mich sehr, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Fachtagung zum 225. Jahrestag der Mainzer Republik jetzt leserfreundlich und reich bebildert vorliegen.

Das Buch trägt den aktuellen Forschungsstand zusammen, dokumentiert die Festveranstaltung im Landtag und liefert wertvolle Hintergrundinformationen. Damit trägt es zu einem differenzierten, kritischen Gedenken bei und stärkt gleichzeitig die demokratische Tradition unseres Gemeinwesens.

Ich wünsche dem Buch eine breite Leserschaft.

Hendrik Hering

Präsident des Landtags Rheinland-Pfalz

I.Beiträge

MICHAEL MATHEUS

Mainzer Republik – Französischer Revolutionsexport, deutscher Demokratieversuch, Mosaikstein einer europäischen Freiheitsgeschichte1

Vier Jahre, nachdem die Mainzer Republik im Landtag von Rheinland-Pfalz anlässlich des 220. Jahrestages geschichts- und kulturpolitisch eingeordnet wurde, erinnerte 2017 eine Fachtagung erneut an diesen Mosaikstein unserer demokratischen Tradition. In vieler Hinsicht handelte es sich 2013 um einen bemerkenswerten Versuch einer weitgehend konsensualen Erinnerung und Aneignung, mitgetragen von den damals im Stadtrat und im Landtag vertretenen Parteien. Hierzu trug auch eine viel beachtete Rede von Bundestagspräsident Nobert Lammert bei. Schon am 18. März 2012 hatte er die Mitglieder der Bundesversammlung in Berlin auf das Mainzer Geschehen am 18. März 1793 hingewiesen. In seiner Rede betonte er im folgenden Jahr im Parlament des Landes Rheinland-Pfalz, die Mainzer Republik könne „ganz sicher nicht als (der) glanzvolle Beginn einer stabilen deutschen Demokratie“ gelten, sei aber „gewiss mehr als ein lokales oder regionales Ereignis.“2 Ein während der Festveranstaltung des Jahres 2013 formuliertes Postulat liegt auch den folgenden Ausführungen als methodische Prämisse zugrunde. „Wir müssen der Versuchung widerstehen, unser heutiges Demokratieverständnis als Messlatte zu nehmen“ für Versuche in der Vergangenheit, „eine gewählte Volksvertretung an die Stelle einer als gottgegeben empfundenen Ständeordnung zu setzen.“3

Diese von bemerkenswerter Zustimmung getragene Aneignung war keineswegs selbstverständlich, wurde doch besonders in der Phase des sog. Kalten Krieges die wissenschaftliche und kulturpolitische Beschäftigung mit der Mainzer Republik in geradezu agonale Deutungen eingespannt. Im Rahmen dieses Bandes geht es um die wissenschaftliche Verortung der Mainzer Republik. Zwischen Jubiläen und Gedenktagen einerseits und historischer Forschung andererseits muss unterschieden werden, sollte Distanz bestehen. Nicht selten spiegeln Jubiläen mehr Befindlichkeiten der eigenen Gegenwart, als dass sie das historische Ereignis angemessen würdigen. Die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Arbeit muss in jedem Fall gegenüber politischer Vereinnahmung bewahrt bleiben. Andererseits existiert keine unüberbrückbare Kluft, vielmehr können beide Pole in wechselseitigem, gelegentlich spannungsvollem, aber im besten Fall konstruktivem Austausch aufeinander angewiesen sein.

Am Tag der Deutschen Einheit, am 3. Oktober 2017, mahnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Mainz mit Blick auf die Märzrevolution und die Weimarer Republik, „dass die Demokratie weder selbstverständlich noch mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet ist. Dass sie – einmal errungen – auch wieder verloren gehen kann, wenn wir uns nicht um sie kümmern.“4 Von der Mainzer Republik sprach er am 19. März 2018 bei seinem Besuch in der Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz am Ende seiner „besondere[n] Deutschlandreise“ zu Orten, „an denen mutige Männer und Frauen zu unterschiedlichen Zeiten für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gestritten haben.“5 Die Mainzer Republik markiere „den Beginn des schwierigen deutschen Wegs zur parlamentarischen Demokratie. Es war, wie wir wissen, ein krummer und steiniger Weg, und das frühe demokratische Experiment in dieser Stadt steht in einzigartiger Weise für seine Widersprüche, Brüche und Rückschläge.“ Zugleich sprach er sich mit Blick auf die Ereignisse von 1792/93 für ein „differenziertes und kritisches Gedenken“ aus: „an die erste freiheitliche und demokratische Bewegung, die es auf deutschem Boden gab, aber auch an die Schattenseiten des Regimes, das die Mainzer Demokraten dann mit Hilfe der französischen Besatzungskräfte ins Leben riefen.“ Zum „ambivalenten Prolog“ (Frank-Walter Steinmeier) einer deutschen Demokratiegeschichte, die ohne ihre europäischen Zusammenhänge nicht verstanden werden kann, zählen aber auch ältere Gestaltungsversuche politischer Partizipation wie die antike Polis und die mittelalterlichen Bürgerkommunen. Diese sind zwar untergegangen, wirkten und wirken aber über Prozesse der Rezeption und nicht zuletzt der Instrumentalisierung und Stilisierung historischer Ereignisse weiter. In Mainz beendete der Einsatz von Militär sowohl die Geschichte der mittelalterlichen Stadtkommune als auch die der Mainzer Republik. Im Folgenden werden zunächst drei Aspekte aus dem Blickwinkel der longue durée und anschließend die Studien des Bandes angesprochen.

Demokratie- und Freiheitsdiskurse als Bestandteile der europäischen Geschichte

Begriffe, die zu den zentralen Bestandteilen unserer politischen Kultur zählen, reichen, wie der aus dem Griechischen stammende Begriff der Politik selbst, weit in die europäische Geschichte zurück. In zentralen Texten ihrer Erinnerungskultur von Solon, Kleisthenes, Perikles über Platon und Aristoteles, Thomas von Aquin, Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham bis zu Max Weber und Jürgen Habermas spielten und spielen sie eine Rolle. Der Begriff der Demokratie ist bekanntlich kein deutsches Wort, ihn verdanken wir der griechischen Sprache und Kultur. Noch heute erweist sich die Antike für Europa als unverzichtbarer Bezugspunkt, fasziniert die attische Demokratie mit ihrem Prinzip, Macht breit zu verteilen, ihrem hohen Grad an bürgerlicher Partizipation und einer enormen Wertschätzung rhetorischer Kompetenz. Damals galten Rede- und Überzeugungskunst als unverzichtbare Voraussetzung politischen Erfolgs und im Wettbewerb zu erringender Autorität. Die Polis der Athener gilt in Schulen und Universitäten zurecht als eine unverzichtbare Referenz bei der Erkundung demokratischer Herrschaftsformen. Sie kannte bei allen Differenzen zu modernen Demokratien sowohl direkte Elemente, in denen das Volk (der demos) unmittelbar an Entscheidungen beteiligt war, als auch repräsentative Institutionen, in denen Vertreter anstelle des Volkes handelten und allgemein verbindliche Entscheidungen trafen. Dies gilt, obgleich in Athen Instrumente moderner Demokratien wie Parlament und Parteien unbekannt waren, und von einer Gleichheit aller Bewohner der Polis keine Rede sein kann.6 Auch an den Wahlen zum Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent 1793 konnten nicht alle teilnehmen. Frauen, Knechte und Mägde waren bei der Konstituierung dieses auf deutschem Boden erstmals nach allgemeinem Wahlrecht gewählten Parlaments nicht zugelassen. Alle selbständigen Männer ab 21 Jahren konnten ihre Stimme abgeben, freilich erst nach einer verordneten und gegebenenfalls erzwungenen Eidesleistung.

Auf Etappen der europäischen Freiheitsgeschichte verweist auch der Begriff der Republik, den wir bekanntlich römisch-republikanischen Traditionen verdanken.7 In der europäischen Vormoderne konnte dieser auch auf monarchische Regierungsformen bezogen werden. Im modernen Sinne verstand aber bereits in der Renaissance Niccolò Machiavelli die Republik als Gegenpol zur Herrschaft von Fürsten und Monarchen. Auf die Begründer und Verteidiger der Republik, wie an die sich opfernde Lucretia und den ersten Konsul L. Junius Brutus, der die eigenen nach der Monarchie strebenden Söhne hatte hinrichten lassen, wurde immer wieder in Freiheitskämpfen der Moderne erinnert. Mit den Begriffen Demokratie und Republik sind wie mit anderen für unsere politische Kultur unverzichtbaren aus der Antike stammenden Worten nicht nur spezifische Vorstellungen von Verfassungen, sondern auch komplexe Rezeptions- und Wandlungsprozesse der jeweiligen Inhalte verbunden. Mit dem Ausgreifen Europas in die Welt spielen sie längst nicht mehr nur dort eine Rolle, wo sie ursprünglich diskutiert, entwickelt und in Verfassungen und politischen Systemen umgesetzt wurden.

Mainzer Republik vor der Mainzer Republik?

Die bewusst provozierend formulierte Frage sei umgehend beantwortet. Nein, eine Mainzer Republik im Sinne des ausgehenden 18. Jahrhunderts hat es in Mainz zuvor nicht gegeben. In Abwandlung eines Zitates von Franz Dumont (gest. 2012), dem wir ein unverzichtbares Referenzwerk zur Mainzer Republik verdanken, und der im Laufe seines Lebens bei der Beurteilung der damaligen Ereignisse durchaus unterschiedliche Akzente setzte, wurde 2013 in problematischer Zuspitzung formuliert: Man sollte sich bewusstmachen, „dass die Mainzer Jakobiner unserem Grundgesetz viel näherstehen, als alle Kaiser, Kurfürsten, Großherzöge und Generäle, die je über Mainz herrschten.“8 In seiner 2013 posthum erschienenen und von Stefan Dumont und Ferdinand Scherf bearbeiteten Publikation wurde die Mainzer Republik programmatisch als „französischer Revolutionsexport und deutscher Demokratieversuch“ bezeichnet.9

Wurde aber Mainz tatsächlich in den Jahrhunderten vor der Französischen Revolution nur von Kaisern, Kurfürsten, Großherzögen und Generälen beherrscht? Aus einer solchen Perspektive wird die Französische Revolution zum Bruch und zur undurchdringlichen Barriere historischen Geschehens stilisiert. Nicht nur in der Schweiz10 wurden die im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert geführten Demokratiediskurse von französischen, aber auch von nordamerikanischen, englischen, und nicht zuletzt von älteren lokalen und regionalen Traditionen der Freiheit und Partizipation sowie deren Wahrnehmungen und Rezeptionen beeinflusst. Die Akteure der in Bergzabern gegründeten „besondere[n] Republik“ bezeichneten die dort konstituierte Versammlung als „Schweitzerische[n] Landtag.“ Dies dürfte mit Migrationen zwischen der Schweiz und der südlichen Pfalz und mit ihnen in Zusammenhang stehenden Orientierungen an älteren kommunal-bündischen Formen der Selbstverwaltung zu erklären sein.11 Für die Instrumentalisierung von Freiheitskämpfen der lokalen und europäischen Geschichte bietet auch die Mainzer Republik – wie zu zeigen sein wird – aussagekräftige Beispiele. Mit dem Paradigma der Französischen Revolution als eines Bruchs wird bestritten bzw. übersehen, dass die durch die europäische Aufklärung und die Französische Revolution in Gang gesetzten Dynamiken vormoderne Formen überlagerten und transformierten, diese aber im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts weiterhin eine Rolle spielten. Daher erscheint es plausibel, ja gefordert, sowohl von Kontinuitäten als auch Brüchen auszugehen sowie Transformationen zwischen vormodernen und modernen Konzepten, Organisations- und Praxisformen auszuloten.12

Hier sei über die bereits angesprochene attische Polis auf weitere Kapitel der Geschichte von Freiheiten in Europa verwiesen und damit auf Versuche, Gemeinwesen durch Elemente der Wahl und der politischen Partizipation zu gestalten. Auf sie verweist der Begriff des Bürgers. Dieser entspricht dem früher belegten lateinischen civis, dem Einwohner einer civitas (Stadt) und steht im Kontext eines Prozesses, der seit dem 10. und 11. Jahrhundert große Teile des lateinischen Europa erfasste. Starke Impulse erhielt diese kommunale Bewegung aus den mediterranen Landschaften, vor allem aus Italien, jahrhundertelang Vorbild und Impulsgeber für Politik, Wirtschaft und Kultur in den Ländern nördlich von Alpen und Pyrenäen. Dabei kam es zu einer engen Symbiose zwischen jüdisch-christlichen Vorstellungen und Normen brüderlicher Gemeinschaft sowie den sich ausbildenden politischen genossenschaftlichen Strukturen. Vor allem dank königlicher, schließlich auch landesherrlicher Privilegierung von ländlichen und städtischen Siedlungen gelang es tausenden von Menschen, sich aus herrschaftlichen Bindungen zu lösen und persönliche Freiheit und Sicherheit zu erlangen. Im Rahmen des hochmittelalterlichen Urbanisierungsprozesses erhielten sie individuelle und kollektive Freiheitsrechte. Konservative Beobachter, vor allem Kleriker und Theologen, beurteilten diese genossenschaftlich organisierten Akteure mit Abscheu. Aus ihrer Perspektive handelte es sich um Bewegungen, welche die traditionelle hierarchisch-strukturierte und gottgewollte Ordnung revolutionierten. Positiv konnotierte Bewertungs- und Wahrnehmungsmuster begründete im 13. Jahrhundert der einflussreiche Theologe und Philosoph Thomas von Aquin unter Rückgriff auf das Werk des Aristoteles. Die Stadt produziere demnach die zum Leben unverzichtbaren materiellen Güter, und ihr rechtlicher Ordnungsrahmen ermögliche zugleich die Verwirklichung menschlicher Tugenden. Die von Natur aus auf Gemeinschaft bezogenen Bürger könnten durch gemeinschaftlich füreinander einstehendes Handeln zur societas perfecta gelangen, zur vollkommenen Form der Vergesellschaftung von Menschen.13

In der genannten, an Franz Dumont anknüpfenden und zugleich zuspitzenden Formulierung fehlen jene Mainzer, Speyrer und Wormser, Koblenzer und Trierer Stadtbürger, die seit dem hohen Mittelalter wichtige Teile der Geschicke Ihres jeweiligen Gemeinwesens gestalteten, jedenfalls soweit dies angesichts weiterbestehender stadtherrlicher Rechte möglich war. Es handelt sich um im lateinischen Europa weitverbreitete Laboratorien politischer Partizipation. Max Webers Idealtyp von der „okzidentalen Stadt“ verdanken wir die faszinierende, wenngleich nicht unumstrittene These: Wirtschaftlich und kulturell blühende Städte gab es in vielen Ländern und Kulturen. Ein in beachtlichem Maße autonom handelndes Bürgertum ist ein Spezifikum des lateinischen Europas.14 Mit gemeinschaftlich-genossenschaftlichen Organisationsformen, mit Schwureinigungen und Bruderschaften, entstanden jenseits der etablierten Stände von Klerikern, Kriegern und Bauern neue Akteure, die sich Handlungsspielräume und Freiheiten erkämpften und sich diese durch Privilegien sichern ließen.15 Mit der Genese des mittelalterlichen Bürgers wurden wie in der attischen Polis aristokratische Prinzipien einer auf Herkunft und Abstammung basierenden gesellschaftlichen Stellung durchbrochen oder jedenfalls erheblich relativiert. An die Stelle der Herrschaft, die durch von göttlichem Recht legitimierte Personen ausgeübt wurde, trat die Ausübung von Macht auf der Basis des städtischen Rechts. Diese Bindung von Herrschaft an vereinbartes, nicht autokratisch verordnetes Recht ist auch ein unverzichtbares Fundament moderner Demokratien. Dem von Konsens getragenen und den Frieden nach innen und außen zu sichernden städtischen Rechtskreis gehörten – wie in der attischen Polis – freilich nicht alle Stadtbewohner an. Die sich seit dem 11. und 12. Jahrhundert ausbreitenden Formen von Partizipation blieben andererseits keineswegs auf die immer zahlreicher und größer werdenden Städte begrenzt. Auch auf dem Lande bildeten sich in wirtschaftlich und kulturell entwickelten Regionen ländliche Gemeinden, die sich strukturell zwar meist erheblich von den städtischen Kommunen unterschieden, in denen aber auch Formen gemeinschaftlich-genossenschaftlichen Handelns neben herrschaftlichen Organisationsformen seit dem 11. und 12. Jahrhundert an Bedeutung gewannen und in vielfacher Weise miteinander verflochten waren.16 Allerdings beruhten die in ländlichen und städtischen Kontexten in Anspruch genommenen und beschworenen Freiheitsrechte in erster Linie auf Privilegien und Sonderrechten für bestimmte Gruppen. Sie wurden noch nicht im universalistischen Sinne als allen Menschen und jedem Individuum zustehende im Naturrecht gründende Rechte angesehen.

Formen stadtbürgerlicher Partizipation kamen auf, als im lateinischen Westen im Kontext langandauernder Auseinandersetzungen zwischen imperium und sacerdotium, zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, während des sog. Investiturstreits, die traditionellen Ordnungen destabilisiert und tiefgreifenden Wandlungen unterzogen wurden. Im Verlauf dieser unter dem Schlagwort von der libertas ecclesiae (Freiheit der Kirche) geführten oftmals blutigen Kämpfe wurde die Vorstellung von einer Differenz zwischen geistlicher und weltlicher Macht schärfer herausgebildet. Dabei handelte es sich zwar noch nicht um die Trennung von Kirche und Welt im modernen Sinne; aber es war ein wichtiger Schritt hin zu einer Differenzierung und Trennung zwischen beiden Sphären.17 Diese Separierung wurde dank Reformation, Aufklärung und Französischer Revolution weiterentwickelt, und sie ist für liberale Demokratien westlichen Zuschnittes von fundamentaler Bedeutung, was auch im Vergleich mit orthodoxen, islamischen und asiatischen Kulturen deutlich wird. Es handelt sich um das Ergebnis eines Prozesses von langer Dauer.

In den sich formierenden Städten entstanden seit 1200 mit den Universitäten jene heute in der ganzen Welt verbreiteten Institutionen als eigenständige Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden. In ihnen wurden Wissensbestände nach rationalen Kriterien diskutiert und vermittelt sowie die Ausbildung von für die Gemeinwesen zentralen Berufen (wie die der Mediziner, Juristen und Theologen) professionalisiert. Die Geburt der Universität ist ohne ihre Verankerung in der Kommune nicht vorstellbar. Die in den Hohen Schulen verhandelten und bewahrten Kenntnisse wurden durch die Rezeption antiken Wissens geprägt, gleichfalls ein Vorgang von grundlegender und nachhaltig wirkender Bedeutung, nicht zuletzt mit Blick auf Verfahren und Inhalte politischer Partizipation. Auf der Grundlage von Rezeptionsvorgängen wurden die großen Sammlungen weltlichen und geistlichen Rechts zusammengetragen, bis heute unverzichtbare Grundlagen der europäischen Rechtskultur. In ihnen wurden Prinzipien fixiert, auf deren Beachtung auch moderne Demokratien nicht verzichten können. Innerhalb und außerhalb der Universitäten wuchs zugleich die Bandbreite von auf Wahlen basierenden Rekrutierungs- und Entscheidungsverfahren als Formen des sozialen Handelns im weltlichen und geistlichen Bereich. In geistlichen Institutionen (z. B. bei der Papstwahl), in Kommunen und bei der Königswahl wurden relativ autonome und ergebnisoffene Wahlverfahren (oftmals gekoppelt mit anderen Formen der Rekrutierung) jenseits bzw. anstelle von Ämterzuweisung sowie von Herrschaftsbestellung mittels Erbfolge und Ernennung entwickelt. Sie spielen teilweise bis heute bei der Auswahl von Einzelpersonen oder Personengruppen als beauftragte Entscheidungsträger eine Rolle.18

Mit Blick auf die SchUM-Städte Mainz, Speyer und Worms, jahrhundertelang weit ausstrahlende Zentren aschkenasischer Gelehrsamkeit, sei auf einen spezifischen Aspekt der Geschichte politischer Partizipation verwiesen. Lange Zeit dominierte insbesondere unter israelischen Historikern die Auffassung, die jüdische Gemeinde sei eine uralte, eine gleichsam präexistente Institution, welche schon vor dem Aufkommen des Christentums und der Zerstörung des Tempels in Jerusalem existiert habe. Sie wurde von vielen als Keimzelle des Staates Israel in Anspruch genommen. Allerdings hat die Forschung inzwischen weitgehend Konsens darüber erzielt, dass „die volle autonome lokale Gemeinde mit ihren Institutionen der Selbstverwaltung […] im Großen und Ganzen eine selbstständige Schöpfung des europäischen Mittelalters“ darstellt.19 Christliche und jüdische Gemeindebildung werden als parallele Entwicklungen interpretiert, die interessante, aber erst ansatzweise erkundete Analogien sowie Prozesse wechselseitiger Wahrnehmung und Beeinflussung aufweisen. Die jüdische Gemeindebildung mit Regelungshoheit in vielen inneren Angelegenheiten könnte sich an der Organisation geistlicher Gemeinschaften, allen voran der Domkapitel, orientiert haben und der Genese christlicher Kommunen vorausgegangen sein; noch handelt es sich bei dieser Deutung um eine Arbeitshypothese, die aber gerade mit Blick auf den bis 2020 zu erarbeitenden Weltkulturerbe-Antrag des Landes Rheinland-Pfalz auf ein faszinierendes Forschungsfeld verweist.20

Die im 12. und 13. Jahrhundert auch im heutigen Deutschland entstehenden Stadträte wurden vielerorts, so auch in Mainz, zunächst von einer Oligarchie patrizischer Familien dominiert. Damit fanden sich von der politischen Macht ausgeschlossene Gruppen nicht ab. Seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert wurde in den meisten größeren Kommunen des nordalpinen Reichsgebiets um politische Partizipation gerungen. Dabei spielte die Vorstellung eine zentrale Rolle, dass auch die Mächtigen an das städtische Recht gebunden und dem Gemeinwohl, dem „Gemeinen Nutzen“ verpflichtet seien, Herrschaft nur als konsensuale legitim sei.21 Die nicht selten von Gewalt begleiteten Auseinandersetzungen wurden in der älteren Forschung bisweilen als Zunftrevolutionen bezeichnet; die jüngere Forschung spricht eher von Verfassungs- und Bürgerkämpfen.22 Bestandteile dieser Auseinandersetzungen waren Widerstandsformen symbolischen Handelns wie Glockengeläut, (bewaffneter) Bannerlauf, Rathauserstürmung, Schlüsselübergabe, ferner die Herstellung oppositioneller Öffentlichkeiten, die Etablierung von Gremien und Aushandlungsprozessen über die bestehenden Institutionen hinaus. Vielfach kam es zwischen den sich bekämpfenden Parteiungen zu Kompromissen. Ausgehandelte neue Ratsverfassungen sowie die sie konstituierenden Verfahren wurden in einem den städtischen Frieden sichernden symbolischen Akt in Kraft gesetzt. Am Ende solcher Bürgerkämpfe stand vielerorts, so auch in Mainz, die Beteiligung von Gruppen und Familien an der politischen Macht über das Patriziat hinaus.23 Solche Konflikte waren für städtische Gesellschaften der Vormoderne ebenso konstitutiv wie die oftmals in Ehransprüchen wurzelnde Gewaltbereitschaft. Durch weitgehend wechselseitig akzeptierte ritualisierte, symbolische Formen des Handelns und der Kommunikation gelang es aber immer wieder, erstaunlich stabile Rahmenbedingungen zu schaffen. Prozesse des Aushandelns gelangen in der Regel auch deshalb, weil die Akteure sich auf einen Fundus kommunaler Wertvorstellungen beziehen konnten. Dieser wurde insbesondere an Orten politisch herausgehobener Topografie, wie dem Marktplatz und dem Platz vor dem Rathaus, in regelmäßig durchgeführten Verfahren zur Darstellung gebracht und in performativen Akten sinnlich erfahrbar. Die dabei ausgehandelten Verfassungen waren bisweilen, wie der Straßburger Schwörbrief von 1349 und der Kölner Verbundbrief von 1396 (Abb. 1) – von späteren Modifikationen abgesehen – für Jahrhunderte die Grundlage städtischer Herrschaftsordnungen. Diese erwiesen sich mithin als bemerkenswert stabil und flexibel, und bei ihnen stellte jenseits aller Aushandlungsprozesse und Verfassungsmodifikationen der städtische Rat das Gravitationszentrum dar. Formen gemeindlich-genossenschaftlicher Partizipation waren in vielen Städten des nordalpinen Reichsgebiets so robust und nachhaltig verankert, dass gelegentliche Versuche, diese durch „Stadttyrannen“ auszuhöhlen, durchweg scheiterten.24 Dagegen wurden die kommunalen Strukturen in vielen mittel- und norditalienischen großen Städten ab dem 12. und 13. Jahrhundert über das Amt des Podestà zu Signorien und erblichen Fürstentümern transformiert.25 Freilich entwickelten sich städtische Räte auch nördlich der Alpen seit dem 15. Jahrhundert vielerorts in neuer Qualität zur städtischen Obrigkeit. Nun verschoben sich in Theorie und Praxis tendenziell und langfristig die Gewichte zu obrigkeitlich-staatlichen Konzepten und Praktiken, doch spielten gemeindlich-genossenschaftliche Elemente lange Zeit weiterhin eine bisweilen beachtliche Rolle.26

Abb. 1: Ausschnitt-Köner-Verbundbrief.

Die Ausübung kommunaler Ratsherrschaft basierte auf eigenen städtischen Steuereinnahmen, also auf einem eigenen beanspruchten und realisierten Budgetrecht. Die wichtigsten Steuerformen waren jene, die wir als Vermögens- und Mehrwertsteuer bezeichnen.27 In den damaligen Steuerverfassungen waren noch heute geltende Prinzipien verankert. Trotz der in vielen Städten grundsätzlich geltenden formalen Gleichheit aller Bürger wurden Ungleichheiten akzeptiert: So waren Arme von der Vermögenssteuerzahlung befreit und wurde ein steuerfreies Existenzminimum garantiert.

Während die Ratsmänner der attischen Polis bereits Diäten bezogen und damit auch ärmere Bürger politische Ämter bekleiden konnten, war die Entlohnung der mittelalterlichen Ratsherren allerdings in der Regel gering. Dies hatte zur Folge, dass – auch in Mainz – weitgehend nur wohlhabende und reiche Bürger für die Übernahme dieser Ämter abkömmlich waren.

In Mainz beendete die Eroberung der Stadt durch Truppen Erzbischof Adolfs von Nassau (Abb. 2) im Jahre 1462 die Geschichte kommunaler Partizipation in der Vormoderne. Ihren Anspruch auf die Stadtherrschaft hatten die Mainzer Erzbischöfe und Kurfürsten zuvor nie aufgegeben und im vom städtischen Rat beanspruchten Einflussbereich auch im Vergleich zu anderen Bischofsstädten in beachtlichem Umfang Rechte behaupten können. Diese wurden keineswegs von allen Mainzer Bürgern abgelehnt und bestritten. Von ihnen profitierten immer wieder Einzelpersonen und Gruppen, was ein komplexes, auch mentale Strukturen prägendes, wechselseitiges Verhältnis zwischen bürgerlicher Gemeinde und Stadtherrschaft zur Folge hatte. Dem Typus der „Autonomiestadt“28 entsprachen die Mainzer Verhältnisse insofern nur eingeschränkt.

Trotz dieser Ambivalenzen stellte die Eroberung des Jahres 1462 aber einen tiefen Einschnitt in der städtischen Freiheitsgeschichte dar. Mehrere hundert Mainzer Bürger wurden getötet, andere mussten ihre Stadt verlassen. Mainz verlor die über Jahrhunderte hinweg immer aufs Neue beanspruchten, erkämpften und verteidigten kommunalen Selbstverwaltungsrechte und wurde – nach länger anhaltender Weigerung auch vom Kaiser akzeptiert – zur kurfürstlichen Territorial- und Residenzstadt.29

Abb. 2: Porträt Adolf II. von Nassau (1461–1475).

Die Geschichte von Freiheiten und politischer Partizipation aus der hier angedeuteten epochenübergreifenden und europäischen Perspektive in den Blick zu nehmen, bleibt für die Deutung der Mainzer Republik nicht folgenlos. Der Versuch, einem von den Werten der Französischen Revolution inspirierten neuen Verständnis für die Menschen- und Bürgerrechte unter dem Schutz der französischen Eroberer Raum zu schaffen, ist bis heute mit dem Odium der Gewalt behaftet. Und tatsächlich ist ihre Geschichte vor allem in ihren späteren Phasen auch eine Geschichte der Repression und Einschüchterung. Die abschreckenden Erfahrungen mit der Guillotine, dem Terror und der Vernichtung während der Französischen Revolution prägten in Deutschland in besonderer Weise das kollektive Gedächtnis. Darüber sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, dass auch in den Jahrhunderten zuvor Menschen bereit waren, zur Erlangung und Verteidigung von Freiheitsrechten zu den Waffen zu greifen. Die Kämpfe um stadtbürgerliche Emanzipation waren alles andere als gewaltfreie Prozesse. Im Jahre 1160 sahen viele Mainzer ihre errungenen und verbrieften Rechte bedroht; einige ihrer Rädelsführer ermordeten ihren Stadtherrn und Erzbischof Arnold von Selenhofen.30 Das war zwar kein Königsmord wie im revolutionären Frankreich, aber immerhin die Ermordung des Reichserzkanzlers im römisch-deutschen Reich. Dieser nahm für sich in Anspruch, in Mainz den römisch-deutschen König und späteren Kaiser zu küren und verstand sich in der römischen Kirche nördlich der Alpen als der zweite Mann nach dem Papst. Dieser Anspruch wurde auch in der sakralen Architektur der Bischofsstadt zum Ausdruck gebracht.31

Den Mainzer Bürgern gelang es dennoch, den prominenten Kirchenfürsten auf dem Erzbischofsstuhl des Bonifatius Bereiche kommunaler Autonomie abzutrotzen. Auf solche Traditionen stadtbürgerlicher Emanzipation gegenüber bischöflicher Stadtherrschaft verwies explizit Georg Forster, u. a. in seinen „Ansichten vom Niederrhein“ und zugleich auf ein Beispiel aus seiner Zeit. Er beschrieb Ereignisse in Lüttich, wo empörte Bürger das Rathaus gestürmt, einen neuen Magistrat gewählt und den Fürstbischof zur Flucht in die Abtei St. Maximin bei Trier gezwungen hatten. Forster deutete diese in der Tradition der mittelalterlichen bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen stehenden Ereignisse als revolutionäre Vorgänge.32

Aufstände und Revolten waren der vormodernen Gesellschaft mental und strukturell gleichsam eingeschrieben.33 Erinnert sei über innerstädtische Bürgerkämpfe hinaus an die zahlreichen Bauernrevolten der Vormoderne. Noch in der Tradition solcher Aufstände stehen wohl, trotz einiger neuer Akzente, die kurz vor der Ausrufung der Mainzer Republik ausbrechenden gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Handwerksgesellen und Studenten, die als „Mainzer Knotenaufstand“ bezeichnet werden. Auch die Besetzung des Rathauses in Bergzabern im Jahre 1789 und die Publikation von Gravamina bewegten sich in der Tradition vormoderner Aufstandsbewegungen.34 Kurzum: der Einsatz von Gewalt im Rahmen von Aufständen und Revolten war auch in jenen Landschaften keine Seltenheit, die später zum modernen Staat der Deutschen zählten.

Im 19. Jahrhundert wurde die Geschichte des mittelalterlichen Bürgertums im Unterschied zur lange Zeit vergessenen Mainzer Republik auf vielfältige Weise instrumentalisiert und idealisiert. Wortführern der Romantik galten die mittelalterlichen Kommunen und ihre Kathedralen als Orte, die im Kontrast zu den expandierenden und von Modernisierungskonflikten geprägten urbanen Zentren und den Turbulenzen revolutionärer Entwicklungen ihrer Gegenwart religiös-politische Stabilität zu verkörpern schienen. Vertreter des sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert neuformierenden Bürgertums meinten, in der urbanen Kultur des Mittelalters ihre Vorgänger und Vorbilder entdecken zu können. Die mittelalterliche Kommune galt gegenüber Adel und Königtum nicht nur als Ort bürgerschaftlicher Partizipation, sondern als eine auf Friedenssicherung zielende dritte Kraft, die dank der ihr eigenen Rationalität, eines spezifischen Wirtschafts- und Arbeitsethos, sowie aufgrund ihres differenzierten Bildungswesens als ein in die Zukunft weisender Kulturfaktor verstanden wurde. Die in der rechtsgeschichtlich ausgerichteten Stadtgeschichtsforschung geprägte Bilderformel „Stadtluft macht frei“ zog eine markante Linie gegenüber Formen von Hörigkeit auf dem Lande.35 Die neuere Forschung hat etliche dieser Interpretationsmuster in Frage gestellt, relativiert und revidiert, etwa mit Blick auf die krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich, die bestehenden engen Wechselwirkungen zwschen Stadt und Land, das von konkurrierenden Eliten und Parteiungen dominierte städtische Regiment, sowie die vielfach engen Verschränkungen zwischen kommunalen und stadtherrlichen Kompetenzen.

Allerdings blieben die angedeuteten Prozesse der Rezeption und Wahrnehmung nicht wirkungslos. Geschichtskonstruktionen von den mittelalterlichen Gemeinden und ihren Bürgern wirkten fruchtbar und folgenreich weiter. Für die Städteordnung des Freiherrn von Stein (1808)36 stellten Erfahrungen mit den im Mittelalter entstandenen kommunalen und vor allem mit den (hier nicht näher zu erörternden) ständischen Formen lokaler und regionaler Selbstverwaltung wichtige Orientierungen dar;37 diese waren bis um 1800 vom frühmodernen Territorialstaat vor allem seit dem 17. Jahrhundert weitgehend eingeebnet und domestiziert worden. Trotzdem wirkten ältere Formen der Repräsentation und Partizipation über die Französische Revolution und den Zusammenbruch des napoleonischen Systems hinaus vielerorts weiter und beeinflussten Verfassungsdiskussionen des 19. Jahrhunderts. Ferner wurden trotz erheblicher Widerstände die preußischen Städtereformen im Rückblick zu einer über Preußen hinauswirkenden Erfolgsgeschichte.

Die damals zugestandenen kommunalen Selbstbestimmungsrechte und Selbstverwaltungsaufgaben wurden freilich zugunsten einer kontrollierenden Funktion des Staates eingeschränkt. Ihnen wurde lediglich eine Ergänzungsfunktion obrigkeitsstaatlicher Strukturen zugeschrieben. Privilegiert wurde ferner das in den Städten als Honoratioren agierende Besitzbürgertum; die ländlichen Siedlungen sowie die dort ehemals praktizierten Formen der Partizipation kamen nicht in den Blick. Im Unterschied zu den Mainzer Bürgermeistern der Moderne waren ihre Vorgänger im Mittelalter, als noch nicht anstaltsstaatliche Konzepte und Praktiken dominierten und sich das staatliche Gewaltmonopol noch nicht durchgesetzt hatte, bei der zentralen Aufgabe der Friedenssicherung sowohl für die inneren als auch für die äußeren Angelegenheiten zuständig. Sie schlossen Verträge und führten Kriege. Die Gründung des ersten Rheinischen Städtebundes ist maßgeblich dem Mainzer Bürger Arnold Walpod zu verdanken. Zahlreiche Städte, später auch Adelige und Territorialherren, versuchten als Mitglieder des Bundes die in der „königs- und kaiserlosen“ Zeit des sog. Interregnums gefährdete Ordnung zu stabilisieren, Frieden und Recht wiederherzustellen und zu wahren.38 An diese bis heute beeindruckende Leistung erinnert in Mainz der Name der Walpodenstraße (Abb. 3).

Abb. 3: Straßenschild der Walpodenstraße in Mainz.

Aber nicht nur auf der kommunalen Ebene wirkte die Erinnerung an vormoderne Formen der Partizipation weiter. Hugo Preuß, der im Auftrag von Friedrich Ebert die Weimarer Reichsverfassung entwarf, meinte in der mittelalterlichen Stadt „die Keimzelle des modernen Staates“ entdecken zu können.39 Aus dieser Perspektive wurden dem Schüler Otto von Gierkes vormoderne Formen von Genossenschaft und Selbstverwaltung zu Vorbildern für die Gestaltung moderner Demokratien.

Auch mit Blick auf solche Rezeptionsvorgänge zählt die in Mainz über ein Vierteljahrtausend existierende bürgerliche Kommune des Mittelalters ebenso zu den Mosaiksteinen der Geschichte von Freiheiten, Repräsentation und Partizipation wie die neun Monate bestehende Mainzer Republik. Beide lassen sich als lokale und regionale Ereignisse darstellen, aber nur in ihrer gesamteuropäischen Fundierung verstehen. Mit Blick auf die historischen Dimensionen aktueller Grundsatzfragen spricht vieles dafür, die eingangs genannte Formel zu ergänzen und zu erweitern: Die Mainzer Republik – französischer Revolutionsexport, deutscher Demokratieversuch, Mosaikstein einer europäischen Freiheitsgeschichte und gleichzeitig Zeichen der Ambivalenz der Moderne.

Erinnerungsorte als Bestandteile politischer Kultur

Politische Gemeinwesen, auch Demokratien, kommen ohne Orte der Erinnerung als symbolische Kristallisationspunkte gemeinsamer Geschichte nicht aus. Dies gilt auch mit Blick auf die Akteure der Französischen Revolution und für die Mainzer Jakobiner. Bei Erinnerungsorten kann es sich bekanntlich um identitätsstiftende materielle Zeugnisse, geografische Orte und Institutionen, aber auch um Begriffe, Mythen, Kunstwerke und vieles mehr handeln.40 Sie erwachsen freilich nicht von allein aus historischen Ereignissen, sie werden von Menschen geschaffen und gestaltet, unterliegen aber ihrerseits historischem Wandel. In Demokratien werden sie nicht verordnet, sondern sind meist Ergebnisse von Diskussionen und kontroversen Debatten. Die Aneignung historischer Zeugnisse aus der Geschichte der europäischen Freiheiten fällt vielerorts leichter als in Mainz. Der Bürgerstolz von Hanseaten in Hamburg und Lübeck, von Bürgern in Bern, Zürich und Mailand gründet auch auf den weit in die Vergangenheit zurückreichenden Traditionen bürgerlicher Partizipation. Vielfach sind in solchen Städten noch Bauten, insbesondere Rathäuser, als Verkörperung und Kristallisationspunkt einer jahrhundertealten Geschichte von bürgerschaftlicher Gestaltung von Macht erhalten oder in historisierenden Formensprachen im 19. und 20. Jahrhundert neu geschaffen worden.

Ein Rathaus bestand in Mainz im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr.41 Aber selbst die in neue Dimensionen stürmenden Mainzer Jakobiner erinnerten an die untergegangene städtische Freiheit. Am 23. Oktober 1792 schlossen sie sich in der „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“ zusammen. Der wie die Mainzer Republik lange Zeit umstrittene Georg Forster, nach dem in Mainz unterdessen u. a. eine Straße und ein Gebäude der Universität benannt wurden, war einer der herausragenden Protagonisten und der damals prominenteste Akteur unter den Jakobinern. In einem Zeitungsartikel vom 24./25. Februar 1793 bezeichnete Forster mit Blick auf den Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent die anstehende Wahl als ein Recht, „das ihren Vorvätern von Despoten entrissen wurde.“42 Einer der bekanntesten Jakobiner, Mitbegründer des Mainzer Jakobinerklubs und der Mainzer Republik, Georg Wedekind, hatte schon am 2. November 1792 dazu aufgerufen, den kurfürstlichen Gerichtsstein beim Gerichtshaus auf dem Erzbischofshof (dem heutigen Höfchen) zu zerstören. Am folgenden Tag zogen die Klubisten in einem Festzug von ihrem Versammlungsraum im kurfürstlichen Schloss zum Höfchen, wo der von Adolf von Nassau gesetzte Stein zerstört und an seine Stelle ein Freiheitsbaum gepflanzt wurde.43 Auf diese Weise wurde in einem symbolischen Akt die Unterwerfung der Stadt unter die erzbischöfliche Herrschaft aufgehoben. Die auf dem Markt sowie am Ort des Gerichtssteins gesetzten Freiheitsbäume zielten aber nicht auf Restauration von Vergangenem, sondern sollten die Entschlossenheit signalisieren, ganz neue Wege zu gehen.

Abb. 4: Das Kloster St. Agnes, ehemals gelegen an der Einmündung der Ludwigstraße in den Schillerplatz, rechts der Osteiner Hof.

Zugleich aber wurde die Erinnerung an den Untergang der Stadtfreiheit im 15. Jahrhundert wachgehalten. Im November 1792 war Johann Friedrich Franz Lehne Mitglied der Mainzer Jakobiner geworden. In einer Rede beschwor er den Zusammenhang von blutigen Kämpfen und Freiheitsstreben und erinnerte – an die Mainzer Bürger gewandt – an die Eroberung ihrer Stadt im Jahre 1462. „Eure Stadt gehörte einst zu den reichsten Städten Deutschlands. – Sagt! was ist sie itzt? – Durch eine schändliche Verräterei eroberte sie der Kurfürst Adolph von Nassau und machte ihrer Freiheit und dem Wohlstand ihrer Bürger ein Ende. Auf dem sogenannten Brande vor dem Kaufhause, dem letzten Denkmal jener blühenden Zeit des ausgebreiteten Handels von Mainz, wurden eure Rechte schimpflich verbrannt. In den Gewölben der Agnesenkirche findet ihr die Gräber von Dreihunderten eurer Väter, welche damal[s] auf der Gaugasse und dem Tiermarkte für ihre und für eure Freiheit kämpften und starben. – Das hat man euch sorgfältig verschwiegen. Man fürchtete, wenn ihr einsehen lerntet, was ihr gewesen, ihr möchtet auch einsehen lernen, wozu ihr herabgewürdigt worden seid.“44 Das heute nicht mehr existierende Kloster St. Agnes (Abb. 4) wurde so von Lehne, dem späteren Konservator der Mainzer Altertümersammlung, zum Gedenk- und Erinnerungsort an die beim Verlust der Stadtfreiheit gefallenen Mainzer Bürger stilisiert. Nicht nur der begeisterte Philhellene Lehne45 spielte mit der symbolischen Zahl von dreihundert getöteten Mainzer Freiheitskämpfern auf die entsprechende Zahl gefallener Spartiaten unter der Führung ihres Königs Leonidas am Engpass der Thermopylen in Mittelgriechenland während des Freiheitskampfes der Griechen gegen die weit überlegenen Truppen der Perser an.46 Seit dem 18. Jahrhundert wuchs unter den kulturellen Eliten Europas generell das Interesse an der griechischen Antike. Als Heldenexempel sowie Orientierungs- und Handlungsmodell für die Opferbereitschaft von Bürgern im Kampf für die Freiheit wurde die Schlacht an den Thermopylen insbesondere während der französischen Revolution zu einem wiederholt beschworenen exemplarischen Bezugspunkt und von der revolutionären sprachlichen und symbolischen Semantik vereinnahmt.47 In Mainz ließ die französische Munizipalverwaltung am 29. Mai 1798 ein „Fest der Dankbarkeit“ ausrichten, bei dem die Befreiung von der (kurfürstlichen) Despotie gefeiert werden sollte. An dem vom Erzbischof Lothar Franz von Schönborn 1726 errichteten Neubrunnen wurde die an die kurfürstliche Epoche erinnernde Symbolik getilgt.48 Eine der neu angebrachten Inschriften erinnerte auf der Ostseite an Arnold Walpod, den „Stifter des rheinischen Handelsbundes, welcher der Lehenherrschaft den ersten Schlag versetzte.“ Eine andere war zusammen mit dargestellten Waffen auf der Westseite den „300 Mainzern“ gewidmet, „welche in Vertheidigung der Freiheit gegen den ersten Usurpator gefallen sind im Jahre 1462.“ Auch hier stehen die 300 gefallenen Mainzer Bürger exemplarisch für jene, die ihr Leben im Kampf für die Freiheit opfern. Auf der mit einer komplexen Symbolik ausgestatteten Vorderseite wurde explizit auf den Verlust der Stadtfreiheit angespielt. Zugleich wurde mit der dort angebrachten Inschrift die Eroberung der Stadt Mainz durch die Truppen der französischen Republik als ein Akt der Befreiung stilisiert und gefeiert.49

Abb. 5: Ansicht von Mainz. Holzschnitt von Franz Behem 1565. Der Pfeil verweist auf das Rathaus.

Die Geschichte von Freiheiten, Formen der Repräsentation und Partizipation beginnt eben nicht erst um 1800, besonders dann, wenn diese auch als Wahrnehmungs- und Rezeptionsgeschichte von politischer Partizipation, Souveränität und zeitlich begrenzter Herrschaft verstanden wird. Vormoderne Formen der Repräsentation gründeten zwar in der Regel noch nicht auf Wahlen gleichberechtigter Bürger; doch waren auch sie von der Überzeugung geprägt, der durch Repräsentanten vermittelte Konsens sei für die Legitimität von Regierungshandeln unverzichtbar. In Mainz sind mit Blick auf entsprechende Erinnerungsorte erhebliche Verluste zu beklagen, zugleich aber immer noch markante Anknüpfungspunkte vorhanden. Zweckentfremdet und schließlich abgebrochen wurde das aus wenigen Bildquellen bekannte prächtige mittelalterliche Rathaus (Abb. 5), Ort politischer Partizipation sowie Ausdruck bürgerlicher Emanzipation und Selbstbehauptung.50 Ein Rathaus wurde in Mainz erst wieder in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts errichtet. Niedergelegt wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch das Mainzer Kaufhaus, eines der größten und bedeutendsten im nordalpinen Reichsgebiet. Es wurde wohl im Zusammenwirken zwischen Kommune und Stadtherrn geschaffen und erinnert somit auch daran, dass diese Akteure sich keineswegs nur als Gegner gegenüberstanden. Auch um an diesen Ort bürgerlichen Wirtschaftens und Handels zu erinnern, wurde das Kaufhaus vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz (IGL) und dem Institut für Mediengestaltung an der Hochschule Mainz als digitales Monument wieder ins Bewusstsein gerückt (Abb. 6).51 Das lange Zeit im Stadtarchiv verwahrte Original des Privilegs aus dem Jahre 1244 (Abb. 7), mit dem der damalige Mainzer Erzbischof Siegfried III. der Mainzer Stadtgemeinde Freiheitsrechte beurkundete, darunter insbesondere die Wahl eines städtischen Rates, ist verschollen und wohl verloren und nur noch in Fotografien überliefert. Freiheitsrechte waren schon zuvor von Erzbischof Adalbert I. verliehen worden. Der Text wurde in die berühmte Bronzetür am Marktportal des Domes eingegraben (Abb. 8), ein bemerkenswerter, aber vielen Mainzern eher unbekannter Ort der Erinnerungskultur. Neue Monumente sind entstanden, weitere werden entstehen. Mit der Stele zur Mainzer Republik und der Umbenennung des Platzes vor dem Landtagsgebäude wird seit 2013 auf den „Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent“ von 1793 und die Mainzer Republik verwiesen. Damit wird an eine Versammlung im Gebäude des Landtags von Rheinland-Pfalz erinnert, die Elemente moderner parlamentarischer Demokratien enthielt, diesen aber nicht zugerechnet werden kann.52

Abb. 6: Die 3D-Rekonstruktion des spätmittelalterlichen Mainzer Kaufhauses.

Abb. 7: Die Urkunde Erzbischof Siegfrieds III. für Mainz von 1244.

Erinnerungsorte scheitern freilich dann, wenn sie von keinem ausreichenden Konsens getragen werden. Der von einer großen Mehrheit der Mainzer 2018 abgelehnte, für das Gutenberg-Museum geplante Bibelturm hätte als markantes Zeichen nicht nur auf die folgenreiche Innovation des Buchdrucks verweisen, sondern auch daran erinnern können, dass der Mainzer Johannes Gutenberg die ersten gedruckten Bibeln der Welt schuf, als in der Stadt noch ein Stadtrat und Bürgermeister kommunale Belange gestalteten. Die Bibel ihrerseits hätte als Hinweis auf den verschlungenen, komplexen und lang andauernden Weg verstanden werden können, der von der jüdisch-christlichen Auffassung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott bis zur naturrechtlich begründeten Vorstellung von für alle geltenden Freiheits- und Menschenrechten zurückzulegen war.

Abb. 8: Zweiflügeliges Marktportal aus Bronze des Mainzer Doms.

Forschungsergebnisse und Forschungsperspektiven

Die Beiträge des vorliegenden Bandes präsentieren Ergebnisse aktueller Forschungen zur Mainzer Republik und verweisen zugleich auf Möglichkeiten künftiger Untersuchungen. Matthias Schnettger skizziert die Wege zur derzeitigen Verortung der Mainzer Republik in Wissenschaft und Geschichtskultur. Schon unter den Zeitgenossen umstritten, wurde sie lange Zeit marginalisiert und im Kontext der sog. deutsch-französischen Erbfeindschaft aus deutscher Perspektive allenfalls als Schandfleck wahrgenommen. Nach der Gründung zweier deutscher Staaten war sie Gegenstand heftiger politischer Kontroversen. Zugleich wurden aber auch die reichlich zur Verfügung stehenden Quellen in erheblichem Umfang erschlossen. So stellen die vom Ostberliner Historiker Heinrich Scheel in zwei Bänden herausgegebenen und kommentierten Protokolle der Jakobinerklubs (I, Berlin 1975) und des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents (II, Berlin 1980) auch heute eine wichtige Grundlage für künftige Forschungen dar.53 Die Aussöhnung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich eröffnete die Möglichkeit, die Mainzer Jakobiner nicht mehr nur als Handlanger von Besatzern in den Blick zu nehmen. Seit den neunziger Jahren haben die wissenschaftlichen Debatten an Schärfe verloren, und zugleich wuchs die Bereitschaft zu einer positiveren Verortung der kurzlebigen Ereignisse links des Rheins. Dabei erweist sich bis heute für eine differenzierte Beurteilung die von Franz Dumont erarbeitete Einteilung der Abläufe von 1792/93 in drei Phasen als von grundlegender Bedeutung. Vor allem während der beiden letzten Phasen erscheint die Mainzer Republik im Kontext sich zuspitzender kriegerischer Ereignisse aus der Perspektive liberaler, rechtsstaatlicher und parlamentarischer Demokratien der Gegenwart als widersprüchlich und janusköpfig, wie auch jene Ereignisse, die wir unter der Chiffre der Französischen Revolution subsumieren. In Mainz kam es zu erzwungenen Eidesleistungen auf die oktroyierte Freiheit, zu Einschüchterungen, Schikanen und Plünderungen, zu gewaltsamen Repressionen und Vertreibungen, von denen auch viele jüdische Familien betroffen waren.54 Wolfgang Dobras verweist in seinem Beitrag auf ausgewählte Ereignisse der Mainzer Republik, deren archivalische Überlieferung sowie auf Felder künftiger Forschung. Die trotz Quellenverlusten umfangreichen erhaltenen Bestände bieten immer noch eine Reihe von auszuwertenden Schätzen, etwa noch nicht erschlossene Ego-Dokumente. Dobras analysiert vor allem die Überlieferungssituation zur Verwaltung der Mainzer Republik, zum Jakobinerklub und zu den Gemeinde- und Parlamentswahlen und betont, den in vieler Hinsicht experimentellen Charakter der Mainzer Republik. Weniger erforschten Themenfeldern ist ein weiterer Beitrag des Bandes gewidmet, der Möglichkeiten und Grenzen öffentlicher Kommunikation während der Mainzer Republik beleuchten. Immo Meenken zeigt, dass es in der politischen Publizistik der Mainzer Jakobiner ebenso wie in der publizistischen Reaktion der gegenrevolutionären Kräfte um die Propagierung der eigenen Sache und um Diffamierung des Gegners ging. Beide Lager nutzten jeweils auch dieselben medialen Kanäle wie Flugschriften und Periodika, Gedichte und Lieder. Die Vertreter des Ancien Régime zielten dabei auf Loyalität von Untertanen, die Mainzer Jakobiner dagegen auf politische Bewusstseinsbildung von Bürgern. In der ersten Phase der Mainzer Republik konstatiert Meenken zugleich eine „offene politische Diskurssituation“ und ein bemerkenswertes Bemühen um politischen Konsens. Die Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution auf der einen und deren Ablehnung auf der anderen Seite blieben aber nicht auf Mainz begrenzt, sondern erreichten auch die Bürger in Dörfern und Städten zwischen dem Mittelrhein und der Pfalz.

Abb. 9: Mainzer Republik, Stele, Schild.

Während in Mainz an die im 15. Jahrhundert untergegangene Stadtfreiheit erinnert und diese instrumentalisiert wurde, waren in der Freien und Reichsstadt Worms die Ideen der alten reichsstädtischen Freiheit, die gegenüber dem bischöflichen Stadtherrn im Verlaufe des Mittelalters erkämpft worden waren, weiterhin präsent und wirksam. Die städtische Verfassung privilegierte die lutherische Mehrheit, und die mit ihr verknüpften Ideen konkurrierten 1792/93 mit der neuen französischen Freiheit gleicher Bürgerrechte. Volker Gallé zeigt, dass trotz heftiger interner Konflikte zwischen Rat und Zünften die meisten Lutheraner für die alte Freiheit, die Minderheiten der Katholiken und Reformierten sowie eine Gruppe aufgeklärter Lutheraner für die neue Freiheit plädierten. Die Wormser Debatten wurden in der dortigen Lesegesellschaft vorbereitet. Deren Mitglieder kannten wichtige Publikationen der deutschen und elsässischen politischen Presse. Aufgrund der überkonfessionellen Zusammensetzung der Lesegesellschaft wurde die Idee gleicher Bürgerrechte im gesellschaftlichen Leben hier gleichsam vorweggenommen.

Nach ersten Protesten im September 1789 kam es im November 1792 zum Aufstand in der pfalz-zweibrückischen Oberamtsstadt Bergzabern. Gemeinsam mit mehr als 30 weiteren, vor allem kurpfälzischen Gemeinden sagte man sich von der Landesherrschaft los und beantragte die Aufnahme in die Französische Republik. Anders als in der Mainzer Republik spielten in der Südpfalz die französischen Truppen bzw. der Jakobinerklub (in Landau) eine untergeordnete Rolle. Die Aufständischen bedienten sich revolutionärer Symbolhandlungen und nutzten kommunalistische Elemente für ihre Selbstorganisation. Am 22. Januar 1793 gründeten die Insurgenten eine „besondere Republick“, am 15. März nahm der Nationalkonvent in Paris die Bergzaberner in die französische Republik auf.

Die Mainzer Republik sowie der rheinischdeutschen Nationalkonvent sind und bleiben Gegenstand aktueller Forschungen; auch für die Ereignisse in der Pfalz mit den Zentren Bergzabern und Landau werden Forschungslücken und damit Forschungsmöglichkeiten aufgezeigt. Eine der Exkursionen des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz (IGL) im Jahre 2017 führte nach Königstein, wo in den Kellern der dortigen Festung 1793 tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der Mainzer Republik eingekerkert wurden. Um auf einen solchen noch wenig im Bewusstsein verankerten Erinnerungsort aufmerksam zu machen, können auch weitere Forschungen einen Beitrag leisten. So wurden die im Staatsarchiv Würzburg lagernden Akten von Sara Anil zu den Mainzer Gefangenen in einer Qualifikationsarbeit an der Mainzer Universität aufgearbeitet. Im vorliegenden Band publiziert sie Teilaspekte ihrer Forschungsergebnisse.55 Die kurzlebige Mainzer Republik zog keine unmittelbaren konkreten Folgen nach sich. Folgenreich waren aber jene 16 Jahre, in denen Mainz Teil Frankreichs wurde. Walter Rummel skizziert in seinem Beitrag die sich damals links des Rheins vollziehenden epochalen Umwälzungen. Anknüpfend an eigene Forschungen verweist er auf Ambivalenzen der damaligen Prozesse. Sie wurden einerseits geprägt vom freiheitlichen Erbe der Französischen Revolution und von den Errungenschaften napoleonischer Herrschaft. Andererseits wurden Grundlagen für ein bürokratisch-paternalistisch und etatistisch geprägtes Erbe gelegt, das bis heute nicht nur in Begriffen konserviert ist. Sich dieser Traditionen und Prägungen bewusst zu werden, ist auch aktuell bedeutsam. In Demokratien gelten das Prinzip der Selbstbestimmung der Bürger und die darauf gründende Akzeptanz von Regierungshandeln als substanzieller und unverzichtbarer Kern. Vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen zählt die schwierige Ausbalancierung und Gewährleistung dieses Prinzips auf individueller, lokaler, regionaler, nationaler, europäischer und supranationaler Ebene zu den wichtigsten Aufgaben.56

1 Erweiterte und um ausgewählte Literaturhinweise ergänzte Fassung des einleitenden Tagungsvortrags vom 23. Oktober 2017.

2 Veranstaltungen zum 220. Jahrestag der Ausrufung der Mainzer Republik am 18. März 2013. Platzumbenennung, Festveranstaltung, Ausstellung und Vortrag im Landtag Rheinland-Pfalz (Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz 59), Mainz 2014, S. 23–35.

3 Veranstaltungen zum 220. Jahrestag der Ausrufung der Mainzer Republik 2014, S. 9f.

4 http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/­Downloads/DE/­Reden/2017/­10/171003-­TdDE-Rede-Mainz.pdf

5 http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/­DE/Reden/­2018/03/­180319-Mainzer-­Republik.pdf