Die Mañana-Kompetenz - Gunter Frank - E-Book

Die Mañana-Kompetenz E-Book

Gunter Frank

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Beschreibung

Nach einem langen Tag immer noch jede Menge Aktion auf der To-do-Liste und nicht mal nachts das Gefühl, alles erledigt zu haben? Als Ausgleich machen wir montags Yoga, mittwochs Familienabend und haben freitags Sex. Wir sind erfolgreich und organisiert, aber unglücklich und erschöpft. Kein Wunder, sagen Gunter Frank und Maja Storch: Wir brauchen mehr Mañana-Kompetenz – die Fähigkeit, einfach mal abzuschalten, statt rund um die Uhr verfügbar zu sein. Für die Neuausgabe wurde das Buch komplett überarbeitet – jetzt mit erweitertem Mañana-Test und vielen Praxistipps!

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Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:www.piper.de© Piper Verlag GmbH, München 2021Komplett überarbeitete Neuausgabe – mit PraxistestIllustrationen: Martina FrankCovergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutztKonvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort zur Neuausgabe

Einleitung

Warum brauchen wir gerade jetzt Mañana-Kompetenz?

Stress trotz Work-Life-Balance

Teil I

Was ist Mañana-Kompetenz?

1 Wie fühlt sich ein Mañana-Zustand an?

Behaglich im Kirschbaum

Die Wiederentdeckung der Behaglichkeit

Teil II

Gründe für Mañana-Kompetenz

2 Psychische Gründe für Mañana-Kompetenz

Hoffnung für Dünnhäuter

Alarmgefühle und der Zugang zum Selbst

Meine Mutter hat es genauso gemacht

3 Medizinische Gründe für Mañana-Kompetenz

Ich lebe meinen Traum

Wer hat Stress »erfunden«?

Das Betriebssystem des Körpers

Sympathikus und Parasympathikus

Yin und Yang

Der moderne Mensch und sein Dauerbrenner Sympathikus

Körperliche Stressreaktionen sind heute oft kontraproduktiv

Stresshormone – die Elitetruppen des Sympathikus

»Mir geht’s doch prima« – der Dopaminrausch

»Ich will mehr« – die Endorphinsucht

Stressjunkies

Cortisol – Parole: Durchhalten!

Die gesundheitlichen Folgen von Dauerstress

Die Polyvagal-Theorie

4 Das Leben rauscht an mir vorbei

Wenn ich sitze, dann …

Teil III

Wie man Mañana-Kompetenz erlernen kann

5 Meine Mañana-Zone

Altes Wissen

Mañana-Zonen und Bedürfnisse

Wärme

Sport

Rückzug

Aktivierbarkeit

Kleiner Zwischenstopp

Geselligkeit

Intellektuell-musische Betätigung

Spiritualität

TEST – meine Mañana-Zone

Auswertung und Mañana-Maßnahmen

Mañana-Synergien

6 Mañana-Rituale

Eine kleine Mañana-Kirchenkritik

Kein Arbeitstag gleicht heute dem anderen

Die Meister der Mañana-Rituale

Profis können Pause, nur Amateure arbeiten durch

Drei feste Rituale

7 Priming

Ein paar Experimente

Selbstpriming

Mañana-Szenarien

8 Mañana-Killerworte

Killerwort »Glück«

Killerwort »schnell«

Teil IV

Mañana und Gesellschaft

9 Locke und Latham

Hohe Ziele und Kreativität

Langfristig kontraproduktiv

10 Mañana-Falle Gutmütigkeit

Der Ideenkorb

Mañana-Vorgehen für Gutmütige

11 Plädoyer für mehr Gelassenheit

Sind wir wirklich so krank?

Die Folgen von 50 Jahren Gesundheitsaufklärung

Ein modernes Gesundheitsverständnis

Anmerkungen

Vorwort zur Neuausgabe

10 Jahre Mañana-Kompetenz. 10 Jahre, in denen für viele, sogar für ganze Betriebe, Mañana zum geflügelten Wort wurde – ganz in unserem Sinn stehend für: mal lockerlassen und die Dinge entspannt und zielführend angehen. Mañana-Kompetenz wurde allerdings nicht von jedem richtig gedeutet. Ein Buchhändler erzählte uns einmal lachend, wie ein Kunde bei ihm das tolle Marihuana-Buch bestellen wollte. Sicher auch entspannend, aber nicht in unserem Sinn ☺.

Es geht uns nämlich nicht um Narkose, sondern um die Fähigkeit, den eigenen, persönlichen Weg zu Selbstbestimmtheit und Zufriedenheit zu finden – in einer Welt, in der uns sehr vieles davon abhalten kann. Und in den letzten zehn Jahren ist dies ganz bestimmt nicht einfacher geworden. Die persönliche Erreichbarkeit ist um ein Vielfaches leichter geworden, und die Kommunikationsplattformen sind wesentlich raffinierter und vielfältiger. Auch gesellschaftlich hat die Aufgeregtheit zugenommen. Unser Eindruck ist, die Versuche, alles kontrollieren zu wollen, und der gesellschaftliche Druck, jeder Anforderung gerecht zu werden, haben deutlich zugenommen. Besonders der psychische Druck, zu allem die richtige, vorgegebene Haltung einzunehmen und political correct zu sein ist keine einfache Bedingung, um die notwendige Muße für Mañana-Kompetenz zu entfalten; dabei benötigen wir sie so dringend, um unseren eigenen emotionalen Kompass wahrzunehmen. Die Neigung, bei echten wie vermeintlichen Herausforderungen allzu schnell den Krisen- und Panikmodus zu aktivieren, hat sich in den letzten zehn Jahren in der öffentlichen Diskussion fast zu einer Art Dauererregung entwickelt, der man sich bei regelmäßiger Mediennutzung kaum entziehen kann. In der Folge werden die Auseinandersetzungen härter und kompromissloser, ein Zuhören findet oft nicht mehr statt. Doch Angst und Panik sind schlechte Ratgeber, wenn es um komplexe Zusammenhänge geht. Etwas mehr innere Ruhe hilft demgegenüber, die Übersicht zu bewahren, Gemeinsamkeiten zu entdecken und gute Lösungen zu finden.

Kurz: Die Mañana-Kompetenz wird immer wichtiger.

Da in diesen zehn Jahren neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Funktionen unseres vegetativen Nervensystems und die Vorteile entspannter Ruhe gewonnen wurden, ist es uns eine Freude, Ihnen eine grundlegend überarbeitete Neuausgabe unseres Buches über die Mañana-Kompetenz vorstellen zu dürfen. Wir hoffen, Sie damit noch besser unterstützen zu können, bei all den Herausforderungen, dem Druck und den ausufernden Krisenszenarien zielsicher Ihren persönlichen Weg zu einem selbstbestimmten, zufriedenen Leben zu finden.

Einleitung

Warum wir Mañana-Kompetenz brauchen

»Ich möchte endlich lernen, abends meinen Schreibtisch aufgeräumt zu hinterlassen«, seufzt Peter, ein Prokurist. »Vielleicht kann mir dieses Selbstmanagementseminar dabei helfen, ordentlicher zu werden.«

»Eine bessere Organisation und dazu noch Zeitmanagement, das würde mir auch guttun«, schließt die Juristin Sabine sich an. »Ich bräuchte einen Tag mit 48 Stunden, um Kinder, Job und Ehemann zu koordinieren. Irgendwie bin ich immer hintendran, und meine Schwiegermutter sagt, ich sei chaotisch.«

Was müssen Peter und Sabine lernen? Müssen sie lernen, effektiver zu sein, schneller zu arbeiten, diagonal zu lesen oder sich besser zu organisieren? Nichts von alledem, so meinen wir. Die beiden leisten genug und haben die Obergrenze ihrer Leistungskraft erreicht. Mehr geht nicht ohne Gefahr für die Gesundheit. Peter und Sabine müssen etwas ganz anderes lernen: die Mañana-Kompetenz. Das ist die Fähigkeit, den Parasympathikus gezielt zu aktivieren. Der Parasympathikus ist derjenige Teil unseres Nervensystems, mit dessen Hilfe Regeneration, Abwehr und Kreativität möglich sind. Er ermöglicht uns den Zugang zu uns selbst. Ohne Parasympathikus laufen wir Gefahr, nicht mehr zu erkennen, was wir brauchen, und schließlich unzufrieden und krank zu werden. Und selbst wenn wir erfolgreich unseren Traum leben, werden wir ohne Mañana-Kompetenz in den Burn-out abrutschen. Die Fähigkeit, den Parasympathikus gezielt zu aktivieren, ist heute die Voraussetzung dafür, im Leben Zufriedenheit zu finden und Erfolg lange genießen zu können.

Wieso heißt diese Fähigkeit »Mañana-Kompetenz«? Die Idee zu diesem Begriff hatte Peter, von dem oben die Rede war. Nachdem er lange darüber nachgedacht hatte, was ihm dabei helfen könnte, diese Fähigkeit bei Bedarf in sich wachzurufen, fielen ihm die Jahre der Zufriedenheit ein, in denen er für seine Firma eine Niederlassung in Südamerika geleitet hatte. Punkt 17 Uhr ließ man dort alle Maschinen stillstehen. Nichts ging mehr, auch in anderen Firmen nicht. Das Geschäftsleben ruhte. Was heute nicht mehr erledigt wurde, kam morgen dran. Mañana eben. Morgen ist auch noch ein Tag. Peter erinnerte sich, wie er nach getaner Arbeit als Feierabendritual mit seinem Kollegen auf dessen Veranda einen Planter’s Punch trank. Die beiden Männer hatten die Beine auf das Geländer der Veranda gelegt, schauten in die weite Ebene und schlürften ihren Cocktail. Die Erholungsphase wurde eingeläutet, man besprach noch mal rückblickend die Geschehnisse des Tages. Und wenn der Punch geleert war, machte sich Peter auf den Weg nach Hause. Er kann sich nicht erinnern, dort in Südamerika jemals das gehetzte Gefühl erlebt zu haben, das er daheim in der Schweiz als täglichen Begleiter kennt. Peter hat in diesem Seminar beschlossen, nicht zu lernen, wie man den Schreibtisch besser aufräumt, sondern wie man zu sich selbst sagt: »Mañana.« Er wollte die Feierabendstimmung aus Südamerika in die Schweiz holen.

Warum brauchen wir gerade jetzt Mañana-Kompetenz?

Was ist mit dem gehetzten Gefühl gekoppelt, das Peter zu Recht loswerden wollte? Lauter Dinge, die dem Menschen nicht guttun: Ein diffuses Gefühl von Sorge, das Grübeln über Dinge, die nicht so gut geraten sind, und die dauernde Unruhe, nicht zu genügen, sind die natürlichen Begleiter des Gehetztseins. Das geht nicht nur Peter so. Diese psychische Verfassung ist ein Kennzeichen der heutigen Zeit.

Die Teilnehmenden eines Stressseminars für Führungskräfte hatten die Aufgabe, darüber nachzudenken, wie sie normalerweise ihren Arbeitstag beendeten – ob sie so etwas wie ein Feierabendritual pflegten. Herbert, im Gegensatz zu den anderen schon länger im Ruhestand, meldete sich und berichtete, wie er früher mit seinen Kollegen nach Feierabend noch ein kleines Bier im Kasino getrunken hat, um dann entspannt nach Hause zu fahren. Das war in den Siebzigerjahren. Man kann sich vorstellen, was ihn zu Hause empfing. Die Kinder waren gebadet und warteten im Bett auf das Gutenachtküsschen, die Ehefrau hatte bereits das Abendessen fertig auf dem Tisch stehen. Herbert war ja meistens pünktlich. Danach bestand die Wahl zwischen lediglich zwei Fernsehprogrammen. Am Samstag wusch man das Auto und mähte den Rasen. Am Sonntag ging man vormittags zur Kirche, und nachmittags spielte man nach dem Waldspaziergang mit der Familie Malefiz oder Mau-Mau. Man mag dies nun für langweilig und rückständig halten, mit einer Sache hatte Herbert aber kein Problem: Er konnte abends und am Wochenende gut abschalten.

Stellen wir uns das gleiche Szenario heute vor: Jürgen sitzt im Büro. Er möchte heute um 19 Uhr zu Hause sein, um dieses Mal beim Nachbarschaftsgrillabend, den er das letzte Mal zum Verdruss der Familie verpasst hatte, mit dabei zu sein. Da bekommt er eine E-Mail von der amerikanischen Muttergesellschaft, die für 18:30 Uhr. eine wichtige Telefonkonferenz ankündigt, an der er teilnehmen muss. In den USA ist es dann 11:30 Uhr. Anruf zu Hause: »Ich komme später!« – was wenig begeistert quittiert wird. In der ausführlichen Konferenz wird ein dringender Auftrag vergeben, dessen Ergebnis am nächsten Tag vor Bürobeginn (in den USA) vorliegen muss. Obwohl Jürgen auf Kohlen sitzt und nach Hause möchte, muss er versuchen, nach der Konferenz wegen wichtiger Informationen bestimmte Kollegen zu erreichen. Um 21 Uhr daheim angekommen, sind die Kinder noch wach, und die Ehepartnerin atmet auf. Nun kann sie die Kinder in die Obhut ihres Mannes übergeben, um endlich ein ungestörtes Gespräch mit der Nachbarin führen zu können.

Erschöpft und vom schlechten Gewissen des »abwesenden Vaters« geplagt, widmet sich Jürgen seinem Nachwuchs. Ein gemütliches Bier mit Steak – denkste. Unruhig wirft Jürgen heimlich ab und zu einen Blick auf sein E-Mail-Konto, um nachzuschauen, ob die wichtigen Informationen schon eingegangen sind. Nachdem sich die Gesellschaft aufgelöst hat und alle im Bett liegen, hat er endlich Gelegenheit, seine E-Mails zu lesen und seinen Auftrag zu erledigen, den er daraufhin versendet. Jetzt erst ist Zeit für das Sofa und das allabendliche Lagerfeuerfernsehen. Also in die Glotze geschaut und nebenbei das iPad auf den Knien zum Surfen. Wenn ein Programm nicht gleich gefällt, ist das kein Problem. Es gibt ja 30 weitere. Eigentlich ist es egal, was gesendet wird, denn Jürgen zappt ja alle zehn Sekunden weiter. Im Bett kommt ihm noch ein wichtiger Einfall, der dem Auftrag beigefügt werden müsste. Also steht er noch einmal auf, um eine zusätzliche E-Mail zu versenden. Bei der Gelegenheit sieht er neue Eingänge, die er dann aus Neugierde aufmacht und auch noch beantwortet.

Nicht verwunderlich also, dass die Schilderung von Herbert bei den jüngeren Teilnehmenden schallendes Gelächter hervorrief, teilweise höhnisch, teilweise vielleicht auch ein bisschen neidisch. Man kann zu der Lebensweise aus der »guten alten« Zeit stehen, wie man will. Einen Vorteil hatte der eher vorgegebene Alltagsrhythmus auf jeden Fall: Die Anreize, öfter in den Parasympathikus-Tonus umzuschalten, wurden regelmäßig von außen vorgegeben; man musste sich nicht selbst darum kümmern.

Heute haben sich die Standards geändert. Effektivitätssteigerung ist das oberste Gebot. Was nach Pause oder Müßiggang aussieht, gilt als ungenutzte Zeitressource, die man besser einsetzen kann. Stress-, Zeit- und Selbstmanagementseminare vermitteln, wie man noch schneller, noch effizienter die Zeit nutzbar macht. Und das derart, dass immer der Sympathikus in Aktion tritt, der Gegenspieler des parasympathischen Systems. Der Sympathikus ist der Teil unseres Nervensystems, der uns in die Lage versetzt, zu kämpfen und zu flüchten. Im Sympathikus-Tonus sind wir schnell, effektiv und haken wie am Fließband unsere To-do-Listen ab. Ist der zum Dauerzustand geworden, wird der Parasympathikus regelrecht unterdrückt. Er kann sich nicht mehr durchsetzen.

Früher waren Parasympathikus-Phasen von außen vorgegeben, wie zum Beispiel die wöchentliche Stunde Gottesdienst, Rituale am Feierabend, liebe Gewohnheiten, wie am Wochenende das Auto ausgiebig waschen und wienern. Im Urlaub war man nicht erreichbar, weil es noch keine Mobiltelefone gab. So hatte der Parasympathikus die Chance, seine Arbeit zu tun. Heute kann man sich spielend leicht und jederzeit aktiv in den Sympathikus-Tonus versetzen: indem man online ist, E-Mail-Listen checkt und mit dem Smartphone spielt. Selbst die Wochenenden werden von Terminen dominiert, zum Beispiel von den verschiedenen Fecht-, Fußball- oder Musikaktivitäten der Kinder. An wichtigen Telefonkonferenzen soll man nach heutigen Gepflogenheiten selbst im Urlaub teilnehmen.

All dies mag unter Umständen spannend und zeitgemäß erscheinen, aber ein Problem haben Menschen wie Jürgen damit ganz sicher: Es fällt ihnen immer schwerer, abzuschalten und sich mal nicht wie auf der Flucht zu fühlen. Das letzte Parasympathikus-Reservoir unserer Tage wurde übrigens auch abgeschafft: Heute gibt es Handyempfang sogar im Flugzeug.

Stress trotz Work-Life-Balance

Diese Menge von Vorgaben und Terminen zu meistern ist schwierig, und deshalb konzentrieren sich alle Fortbildungen auf noch mehr Effektivität im Umgang mit unserer Zeit. Wir betreiben systematisch Sympathikus-Training – und der Parasympathikus bleibt auf der Strecke. Deshalb brauchen viele Menschen nicht ein weiteres Effektivitätssteigerungsseminar. Stattdessen müssen sie lernen, ihren Parasympathikus gezielt zu aktivieren. Sie brauchen ein Parasympathikus-Training.

Eine Dauerstressaktivierung, wie sie ein über längere Zeit aktivierter Sympathikus mit sich bringt, hat nämlich Folgen. Wenn heute die psychosozialen Diagnosen die Krankmeldungen dominieren,[1] dann ist dies eine Folge der einseitigen Betonung des Sympathikus in unserer Gesellschaft. Heute gehen 80 Prozent der Menschen nicht mehr wegen Wundversorgungen, hohem Fieber oder organischen Krankheiten zum Arzt, sondern wegen Schlafproblemen, hoher Infektanfälligkeit und Stimmungsschwankungen – alles Befindlichkeiten, für deren Behebung der Parasympathikus zuständig ist. Da man die Hauptquelle von Dauerstress in der Arbeit vermutet, gibt es schon seit Längerem die Forderung, Arbeit und Freizeit in Form einer angemesseneren Work-Life-Balance besser auszugleichen.

Viele Menschen spüren das Problem. Eine bekannte Teefirma vermarktet eine Kamille-Fenchel-Teemischung unter dem Namen »Nicht-schon-wieder-Montag-Tee«. Offenbar gibt es eine Menge Leute, die montags mit so unangenehmen Gedanken aufwachen, dass die Hoffnung auf Vertreibung dieser Gedanken sie dazu bringt, statt ihres Morgenkaffees einen Kamille-Fenchel-Tee zu brauen. Wenn dem so ist, dann sind viele in einer bedenklichen Stimmungslage. Die Aussicht auf den Montag macht Angst, weckt Versagensängste oder verspannt schon beim bloßen Gedanken an den Arbeitsplatz die Nackenmuskulatur. Das muss nicht sein und darf auch aus gesundheitlichen Gründen nicht so sein. Jeder Job hat seine guten und seine schlechten Seiten, das ist normal. Wenn aber die Aussicht auf den Wochenbeginn ständig mulmige Gefühle wachruft, dann muss etwas unternommen werden.

»Aber ich unternehme ja was!«, sagt Sabine, die Juristin, von der eingangs die Rede war. »Ich weiß, man braucht eine gute Work-Life-Balance, um mit dem Stress umgehen zu können. Ich mache jeden Morgen Yoga.« Hilft ihr das dabei, sich weniger gestresst zu fühlen? Im Fall von Sabine führt der Anspruch, als doppelt belastete Mutter auch noch eine ausgeglichene Work-Life-Balance aufzuweisen, zum Gegenteil. Um ihre Yogaübungen machen zu können, muss sie um 5:30 Uhr aufstehen, denn um 6 Uhr muss sie die Kinder wecken. Yoga ist eine wunderbare Sache – sofern es nicht zusätzlichen Stress auslöst, weil es einfach nicht in den Terminplan passt. Der positive Effekt, der mit der Idee von Work-Life-Balance eigentlich beabsichtigt ist, geht bei Sabine völlig verloren. Sie ist mit Yoga noch gestresster als ohnehin schon, denn es nimmt ihr 30 Minuten Schlaf.

Wie konnte das geschehen? Sabine spürt zwar, dass etwas nicht stimmt in ihrem Leben, aber sie zieht die falschen Schlüsse. Sie schraubt die Ansprüche an sich selbst noch höher, anstatt das Leben lockerer zu nehmen. Sie sucht die Lösung in vermehrter Aktivität, und das geht schief. Für Sabine ist Yoga darum keine Gelegenheit zu entspannen, sondern lediglich ein Posten mehr auf ihrer To-do-Liste. Und damit verliert es seine gesundheitsfördernde Wirkung. Statt als Ressource zu wirken, ist die Work-Life-Balance für Sabine zur Belastung geworden. Bevor sie entscheiden kann, wie sie diese regeln will, braucht sie Mañana-Kompetenz. Wenn man zunehmend das Gefühl hat, dass einem das eigene Leben durch die Finger gleitet, dass man immer gestresster und unzufriedener wird, obwohl man doch meint, alles richtig zu machen, braucht man vor allem für seine ausgeglichene psychische Befindlichkeit Mañana-Kompetenz. Denn nur so spürt man, was man wirklich will, um vielleicht festzustellen, dass man im Moment gar nichts weiter braucht, außer seine Ruhe haben und damit zufrieden sein. Menschen im Dauerstress verlieren den Zugang zum eigenen Selbst und jagen fremden Zielen nach, die gar nicht förderlich sind. Hierzu gibt es zuverlässige Studien im Bereich der Psychologie. In Kapitel 2 besprechen wir diese Thematik.

Das Beispiel von Sabine ist unmittelbar einleuchtend. Jeder kann nachvollziehen, dass ihr Leben auf einen Zusammenbruch hinausläuft, wenn sie es nicht gründlich ausmistet und lernt, ihre eigenen Wege zur Zufriedenheit zu finden, unabhängig vom Zeitgeist. Personen, denen es geht wie Sabine, haben jedoch den Vorteil, dass ihr Leidensdruck sie zum Handeln zwingt. Es gibt aber eine zweite Gruppe von Kandidaten für ein Parasympathikus-Training, die unter Umständen sogar gefährdeter sind als Sabine, weil es ihnen vordergründig blendend geht. Gerade Menschen, die eigentlich ihren Traum leben, beruflich sehr zufrieden und gerade so richtig erfolgreich sind, die über Work-Life-Balance nur milde lächeln können, da sie sich für solch ein Thema viel zu gut und kraftvoll fühlen, sollten auf ihren Parasympathikus achten. Wenn dessen Aktivierung völlig fehlt, kann das nämlich auch für diese Personen zu einem Problem werden. Sie finden, das hört sich absurd und miesepetrig an? Dann lassen Sie sich die Geschichte von Tobias erzählen, bevor Sie dieses Buch weglegen.

Anders als Sabine fühlt sich Tobias nicht gestresst von seinem Zwölfstundenarbeitstag. Er wollte schon immer einen anspruchsvollen Beruf, um die Welt reisen und ein schickes Auto fahren. Er ist nun 34 Jahre alt und seit Neuestem Seniorpartner einer großen Unternehmensberatung. Er ist bekannt dafür, komplizierte Fälle effizient und intelligent zu lösen. Als Amateur bringt er es außerdem zu beachtlichen Platzierungen bei internationalen Triathlon-Wettkämpfen. Alles eine Frage guten Zeitmanagements. Er fühlt sich fit, ist gut drauf, fast schon euphorisch. Aber kaum geht er einmal in Urlaub, wird er krank. Deshalb hakt er, wie er sagt, die erste Urlaubswoche sowieso gleich ab und fährt nur mindestens zwei Wochen oder eben gar nicht weg. Dies sind Vorboten einer gesundheitlichen Problematik, die zum Burn-out führen kann, und zwar ironischerweise gerade, weil es Tobias so gut geht. Er hat seinen Lebenstraum verwirklicht und ist trotzdem ein Burn-out-Kandidat. In Kapitel 3 erzählen wir mehr über die medizinischen Hintergründe dieses scheinbaren Paradoxes. Die gute Nachricht dieses Buches ist, dass man Mañana aktiv erlernen kann. Wie das geht, erfahren Sie in Teil III. Und am Ende in Teil IV machen wir uns ein paar ganz grundsätzliche Gedanken, warum mehr Mañana für die gesamte Gesellschaft ein Segen wäre. Klären wir zunächst, was Mañana-Kompetenz eigentlich genau bedeutet.

Teil I

Was ist Mañana-Kompetenz?

1 Wie fühlt sich ein Mañana-Zustand an?

Ich fühle mich zufrieden, gerade jetzt

Sowohl die gestresste und fremdbestimmte Sabine als auch der euphorische Tobias brauchen regelmäßig einen Zustand des vegetativen Nervensystems, in dem psychische Selbstbestimmung und gesundheitliche Regeneration möglich werden. Wie fühlt sich solch ein Zustand an? Japanische Forscherinnen und Forscher[2] haben einen Fragebogen entwickelt, der eine Fähigkeit misst, die in Asien sehr viel mehr zur Kultur gehört als in Europa oder in den USA. Es handelt sich um die Fähigkeit, nichts zu tun und nichts zu wollen. Ein paar Fragen daraus können dabei helfen, für sich selbst zu untersuchen, ob man über diese Fähigkeit verfügt. Wie viele von den folgenden Fragen können Sie für sich bejahen?

Es fühlt sich wunderbar an, am Leben zu sein.

Ich fühle mich zufrieden, gerade jetzt.

Ich nehme die Dinge, wie sie sind.

Ich liebe es, einfach so herumzuspazieren, ohne spezifisches Ziel.

Es fühlt sich gut an, einfach nur zu sein.

Ich bin dankbar, dass ich geboren wurde.

[3]

Die Fähigkeit, aus dem Alltagsbetrieb heraus in eine Stimmung umzuschalten, die dazu führt, dass man solche Fragen mit »Ja« beantwortet, das ist Mañana-Kompetenz. Ohne diese Fähigkeit laufen wir Gefahr, unzufrieden am eigenen Leben vorbeizuleben oder sogar zum Opfer der eigenen Erfolge zu werden.

Behaglich im Kirschbaum

Wer damit beginnen will, mehr Mañana-Gefühl in sein Leben zu bringen, muss zuerst einmal eine Vorstellung davon haben, wie sich die Verfassung bemerkbar macht, von der wir reden. Es ist nämlich keineswegs selbstverständlich, dass man weiß, wonach man dabei zu suchen hat. Ich selbst habe solche Gefühle aus meiner Kindheit in Erinnerung. Zum Beispiel wenn ich mich im Kirschbaum versteckt hatte, dort einen Band Karl May las, mir ab und zu eine süße Kirsche in den Mund steckte und für den Rest der Welt unsichtbar war. Der Geruch des warmen Holzes und der Blätter, das durch den Schattenwurf der Äste gefilterte Sommerlicht und der Eindruck, in einem Kokon zu sitzen, erzeugten in mir eine innere Verfassung, für die mir kein besseres Wort als »Behagen« einfällt. Behagen findet auf jeden Fall im Körper statt und nicht im Kopf. Behagen ist ein Eins-zu-eins-Gefühl. Behagen spürt man, man denkt es nicht.

Kennen Sie das Phänomen, dass sich manche Menschen wortreich dessen versichern müssen, dass es ihnen gerade gut geht? »Haben wir es nicht schön miteinander?«, fragen sie dann auf der Terrasse des Gasthofs am See in die Runde. »Wie ist es doch wunderbar«, seufzen sie, wenn sie in Venedig Gondel fahren. Manche versuchen ihr Wohlergehen mit Fotos oder MMS zu dokumentieren und erhalten die Rückversicherung, dass es ihnen richtig gut ging, erst dann, wenn sie ihre Fotoausbeute anderen zeigen und erläutern. »Da waren wir auf dem Machu Picchu. Ich sage dir, überwältigend. Und hier siehst du Harald mit einer Bäuerin. Mit wie wenig diese Menschen zufrieden sind. Und immer so freundlich – siehst du, hier hat sie ihm Kartoffeln geschenkt.« Ich selbst habe einen Freund, der seit Neuestem über seine Reisen einen Blog führt.

Ich will um Himmels willen niemandem das Recht absprechen, das eigene Wohlbefinden mitzuteilen. Immer dann, wenn Sie selbst jedoch bei sich oder bei anderen so etwas beobachten, stellen Sie sich die Frage: Wozu diese Bekanntmachung des eigenen Glücks? Soll sie andere teilhaben lassen und ihnen eine Freude bereiten? Oder dient sie der eigenen Rückversicherung, weil man das Behagen in Wirklichkeit gar nicht spürt, sondern nur denkt? Wenn der Parasympathikus arbeitet, spüren Sie das Behagen. Es breitet sich aus im Körper, und wenn es da ist, dann merken Sie es ganz genau. Sie haben dann nicht das Bedürfnis, es jemandem mitzuteilen.

Ich kann mich auch an ein Behagen in meiner Kindheit erinnern, wenn ich frisch gebadet in meinem Lieblingsnachthemd mit den rosa Blumen ins Bett schlüpfte. Es gab außerdem das Behagen, wenn es draußen regnete und ich im warmen Zimmer saß. Kartoffelsuppe mit Apfelküchle löste ebenfalls Behagen aus. Und wenn die Katze schnurrend in meinem Bett lag, half auch sie mir, mich behaglich zu fühlen.

Aus Gründen, die ich selbst noch nicht ganz geklärt habe, ging dieses Gefühl dann im Laufe der Zeit verloren. Es kam mir abhanden. Vermutlich hängt das mit dem Erwachsenwerden zusammen. Wenn man das Abitur vor sich hat, reichen ein Blümchennachthemd und ein Vollbad nicht mehr aus, um die Sorgen zu zerstreuen, ob man auch genug gelernt hat. Die Tage scheinen kürzer zu werden, parallel dazu wird die Liste der Aufgaben und Pflichten immer länger. Sobald man studiert, tauchen die Geldsorgen auf. Geldsorgen sind absolutes Gift für ein Behaglichkeitsgefühl. Dann kommt der Liebeskummer dazu, der Vermieter macht Ärger, das Auto muss zum TÜV, die angesammelten Flaschen müssen zum Glascontainer usw. usf.

Wenn man erwachsen ist, nehmen die unerledigten Aufgaben beständig zu, einfach aufgrund der Tatsache, dass man einen kompletten Alltag ganz alleine meistern muss. Ihre Anzahl scheint gegen unendlich zu gehen. Und wenn man mal an einem Tag wirklich alles, was man sich vorgenommen hat, auch erledigt hat, dann gibt es immer noch die Möglichkeit, darüber nachzudenken, dass man mal die Schuhputzkiste aufräumen könnte. Und schon wieder verflüchtigt sich das Behaglichkeitsgefühl.

Die Wiederentdeckung der Behaglichkeit

Ich habe das Behagen durch meinen Mann wiederentdeckt. Er ist Künstler, er malt. Unsere erste gemeinsame Urlaubsreise ging nach Venedig. Ich hatte – von woher auch immer – einen Bildungsbürgerurlaub im Kopf. Die Vorstellung steckte einfach so in mir drin, ich hatte sie zu keinem Zeitpunkt selbst aktiv gewählt. »Das macht man halt so«, wäre meine Antwort auf die Frage gewesen, warum das so sein muss.

Was tat ich denn? Nun, ich plante den Urlaub generalstabsmäßig. Das war schon alles. Aber es genügte, um jedes Aufkommen von Behaglichkeit nachhaltig zu verhindern. Ich hatte einen Reiseführer von Venedig und hatte mir mithilfe eines Stadtplans eine genaue Route für unsere acht Tage Aufenthalt zurechtgelegt. Ich hatte auch ein Kochbuch der venezianischen Küche erstanden und eine Liste derjenigen Gerichte angelegt, die wir unbedingt probieren müssten. Ergänzt wurde meine Planung durch eine Aufstellung der Schauplätze in den Krimis von Donna Leon sowie der Bars und Restaurants, in denen sich Commissario Brunetti aufzuhalten pflegt.

Mein Mann machte dieses Pensum zwei Tage lang mit. Am dritten Tag änderte sich das; ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Wir hatten in einem kleinen Restaurant direkt an einem Kanal zu Mittag gegessen. Der Espresso war getrunken, die Gläser geleert. »Sollen wir zahlen?«, fragte ich und wollte mich schon nach der Bedienung umdrehen, denn mein Plan gab ein strenges Nachmittagsprogramm vor. »Nee, wart mal«, sagte mein Mann. »Wie, wart mal?« Ich war irritiert. »Na ja, einfach mal warten. Nicht gleich gehen. Einfach sitzen bleiben.«

»Und was tun?« – »Nichts«, sagte mein Mann und verfiel in tiefes Schweigen.

Na ja, meine Liebe war jung, und da tut man ja einiges. Und so wartete ich ab, was passieren würde. Es geschah nichts. Mein Mann saß da und schaute auf den Kanal. Er glotzte einfach nur so vor sich hin. Ich wurde unruhig und hibbelig. Einfach nur auf einen Kanal starren – war man dazu nach Venedig gekommen? So viele Palazzi gab es zu besichtigen, so viele Rundfahrten mit dem Vaporetto zu absolvieren, und dann noch die Glasbläser, die Balthus-Ausstellung im Palazzo Grassi, die Giudecca …

Mich hielt es nicht länger auf meinem Stuhl.

»Also, ich schau mir jetzt mal die Umgebung an. Du kannst ja sitzen bleiben, ich komm dann wieder.«

»Tu das«, erwiderte er, mehr nicht.

Nach einer halben Stunde kehrte ich zurück. Er hatte inzwischen ein Glas Wein bestellt und glotzte immer noch. Es war mir ein absolutes Rätsel, was dieser Mann da tat. Heute, im Rückblick, weiß ich es. Er empfand Behagen und wusste, wie man das auskostet. Ich hingegen wusste nicht mal mehr theoretisch, wie das geht.

»Setz dich hin, trink einen Wein und bleib einfach mal sitzen«, empfahl er mir. Der Wein und die Mittagshitze dämpften meinen Aktionismus. Wir saßen dann noch zwei Stunden am Kanal, das Programm des Nachmittags war sowieso geknickt. Behagen war es, das sich seit Langem zum ersten Mal wieder in mir geregt hatte. Für den Rest vom Urlaub hatte das Mañana-Gefühl oberste Priorität. Wir besichtigten Venedig nicht mehr nach Plan, sondern wir ließen uns treiben. Wir liefen einfach drauflos. Wenn wir irgendwo sitzen bleiben wollten, blieben wir sitzen, wenn wir weitergehen wollten, gingen wir weiter, wenn wir uns eine Kirche anschauen wollten, gingen wir rein. Eine Katze, ein Hund, eine Geranie in einer Blechdose, eine Wäscheleine mit Strümpfen, ein Fensterladen mit abblätternder Farbe, der Geruch aus dem Kanal, ein Kuss, ein Streicheln, das Gehen, die Sonne, der Schatten. Das Denken war ausgeschaltet. Und was soll ich sagen, natürlich entdeckten wir auf die Art meines Mannes die wundervollsten Ecken, die wir mit meinem Touristenplan niemals gefunden hätten.

An dieser Stelle möchte ich Ihnen einen wunderbaren Comic ans Herz legen, der – von einem Japaner gezeichnet – die Mañana-Verfassung zum Thema hat. Er hat den Titel Der spazierende Mann und kommt fast ohne Worte aus. Es ist ein Mann zu sehen, der in der Gegend, in der er wohnt, spazieren geht.[4] Andere Sequenzen zeigen nebenbei Szenen einer behaglichen Ehe. Ruhig, freundlich, zugewandt gehen Mann und Frau miteinander um. Kein Vergleich mit dem hysterischen Getue, wie es die Damen in der Serie Sex and the City an den Tag legen. Behaglich eben. Und als Betrachter des Comics zweifelt man nicht daran, dass diese japanische Ehe Bestand haben wird. Was aus den Beziehungen der Damen aus der amerikanischen Serie geworden ist, wissen wir ja.

Damals in Venedig am Kanal brauchte ich noch den Wein als Betäubungsmittel für den Sympathikus-Tonus, um meinen inneren Turbo herunterzufahren und dem Parasympathikus eine Chance zu geben, seine Arbeit zu tun. Viele Menschen setzen zu diesem Zweck Alkohol ein. Daran ist nichts Verwerfliches, solange man auch über andere Möglichkeiten verfügt, den Sympathikus zu stoppen. Gefahr droht nur denjenigen, die sich ausschließlich mit Alkohol halbwegs zur Ruhe bringen können. Wir sprechen in diesen Fällen von »Sympathikus-Narkose« (siehe Kapitel 4). Die Faustregel: Sie sollten über fünf verschiedene, gut erprobte und zuverlässig funktionierende Möglichkeiten verfügen, den Sympathikus zu drosseln und Ihren Parasympathikus zu aktivieren. Alkohol kann ruhig auch eine Variante sein, aber eben nur eine unter vielen.

Teil II

Gründe für Mañana-Kompetenz

2 Psychische Gründe für Mañana-Kompetenz

Von Dickhäutern und Dünnhäutern

Ist die Fähigkeit zu Mañana-Kompetenz angeboren, oder kann ich sie trainieren? Beides trifft zu. Teile dieser Fähigkeit sind angeboren, andere kann man erwerben. Im Folgenden wollen wir die Grundlagen für Mañana-Kompetenz im Einzelnen anschauen. Betrachten wir zuerst die Personen mit der angeborenen Fähigkeit. Tatsächlich gibt es Menschen, die die Mañana-Kompetenz ganz einfach schon in die Wiege gelegt bekommen haben. Jeder kennt solche Menschen: Sie sind der Fels in der Brandung. Nichts kann sie erschüttern. Wenn alle anderen schon kurz vor dem geistigen Kollaps stehen, haben solche Leute Nerven wie Drahtseile. Mit dieser Fähigkeit liegt die Schwelle, bei der man Stress, Unruhe und Sorge erlebt, viel höher als beim Durchschnitt der Menschen. Wir haben es mit psychischen Dickhäutern zu tun. Ihr Stresssystem springt einfach später an, als das bei anderen der Fall ist.

Wie es im Zusammenhang mit persönlichen Eigenschaften immer ist, so hat auch die Dickhäuterexistenz ihre Vor- und Nachteile. Ein Vorteil besteht darin, dass diese Menschen weniger Stress erleben als andere. Ein Nachteil ist, dass sie oftmals noch ruhig bleiben, wenn eigentlich schon längst Grund zur Sorge bestünde. Gerade im Geschäftsleben gelangen oft die stressimmunen Dickhäuter an Spitzenpositionen, weil sie am besten mit dem Trubel, den solch eine Position mit sich bringt, umgehen können. Allerdings gibt es auch immer wieder Fälle, die deutlich machen, dass eine Führungsperson eine aufziehende Krise nicht rechtzeitig als solche erkannt hat – mit dem Ergebnis, dass die Firma pleitegegangen ist. Hier stellte sich die dicke Haut als Nachteil heraus, sie war der Grund, warum Alarmsignale übersehen wurden. Auf jeden Fall haben Dickhäuter jedoch den Vorteil, von Natur aus schon mit einer eingebauten Mañana-Kompetenz ausgestattet zu sein.

Und dann gibt es natürlich auch die psychischen Dünnhäuter. Sie haben eine sehr geringe Stressschwelle. Es braucht nur ganz wenig, und die Dünnhäuter sind alarmiert. Sie erleben starke Sorgengefühle, und sie machen sich die entsprechenden Gedanken. Sie machen sich Sorgen, wenn in der Zeitung ein beunruhigender Artikel steht. Auf dem Weg zum Bahnhof machen sie sich Sorgen, dass sie den Zug verpassen und deshalb bei der morgendlichen Sitzung zu spät kommen könnten. Dann wäre möglicherweise die Kollegin verstimmt, und auf deren Vertrauen ist man doch angewiesen für das große Projekt im Sommer. Hat man den Zug glücklich erreicht, kann man sich Sorgen machen, ob er auch pünktlich ankommen wird; schließlich kommt immer mal wieder was dazwischen. Eine Weichenstörung oder ein Stromausfall. Hat man alles schon erlebt. Und hat man überhaupt die richtigen Unterlagen eingepackt? Schnell wird noch einmal in der Aktentasche gewühlt, aus Hast eine Mappe übersehen, und erst nach zermürbenden Minuten des Suchens ein erleichtertes Aufatmen. Alles dabei, alles im Lot.

Die Atempause währt nur kurz, denn das Handy klingelt – eine Kollegin teilt mit, dass man nicht als Vierte drankommt, sondern erst als Sechste, weil ein Kollege aus England vorgezogen wurde, der zum Flieger muss. Die Zeit wird sicher zu kurz, um die eigenen Ideen optimal darzustellen. Die Zuhörenden werden erschöpft sein, man selbst auch; es wird keine Zeit mehr verbleiben, um Fragen zu beantworten. Die ganze Mühe wird umsonst gewesen sein.

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