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Es geht nicht um Ihre Gesundheit. Es geht um Profit
Ein Arzt bricht seine Schweigepflicht: Inzwischen werden in Deutschland massenweise Patienten falsch behandelt. Und zwar systematisch. Gunter Frank zeigt, wie an den verschiedenen Stellen des Medizinbetriebs aus Gier und Eigeninteresse Medikamente und Therapien durchgesetzt werden, die nach Maßgabe von Wissenschaft und Vernunft vor allem eines sind: schlechte Medizin.
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Dr. med. Gunter Frank
SCHLECHTEMEDIZIN
Ein Wutbuch
Knaus
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Copyright © der Originalausgabe 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Margret Trebbe-Plath
Gesetzt aus der Rotation von Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-07344-2V002
www.knaus-verlag.de
Für Valérie,
in Liebe
Vorwort
Liebe Leser,
ich habe lange gezögert, dieses Buch zu schreiben. Denn womöglich werden Sie, nachdem Sie es gelesen haben, bei Ihrem nächsten Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt deutlich skeptischer sein, ob Sie auch richtig behandelt werden. Dies wird womöglich Kolleginnen und Kollegen treffen, die zu Tausenden täglich als Notärzte, im Operationssaal, am Krankenbett viel mehr als ihre Pflicht tun, um für ihre Patienten da zu sein, die sorgfältig die beste Therapie wählen und dabei nicht ihre Karriere und das eigene Konto im Blick haben. In unserem Gesundheitssystem arbeiten sehr viele, sehr motivierte Menschen als Krankenschwestern und Pfleger, als Hebammen, Ärzte und Ärztinnen, die helfen, auch schwerste Erkrankungen durch sehr gute neue Verfahren erfolgreich zu behandeln, im besten Fall sogar zu heilen. Bei meinen Patienten und auch in der eigenen Familie habe ich das erleben dürfen. Auch Sie haben sicher solche guten Erfahrungen mit Medizin machen können, vielleicht sogar am eigenen Leib. Viele dieser segensreichen Therapien werden in Deutschland täglich durchgeführt, vor allem in der Akutmedizin. Wir reden dabei von guter Medizin und wir müssen auch weiterhin alles dafür tun, dass sie gefördert wird und uns auch weiterhin zur Verfügung steht.
Doch in vielen Bereichen, bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs und vielen chronischen Leiden, hat gute Medizin es immer schwerer, das ist leider die tägliche Erfahrung in meiner Praxis. Und das ist keine Frage des Geldes oder von privat oder gesetzlich krankenversichert, das Gesundheitssystem ist derzeit ausreichend finanziert. Das Problem ist, dass schlechte Medizin sich immer größere Stücke von diesem Kuchen abschneidet. Während Sie dieses Buch lesen, nehmen Millionen Menschen verschiedenste Medikamente ein, die sie nicht benötigen, die aber schwere Nebenwirkungen haben, in nicht seltenen Fällen sogar tödliche. So leidet laut Robert-Koch-Institut die Hälfte der Bundesbürger an zu hohem Gewicht, ein Viertel an zu hohem Blutdruck, ein Fünftel an zu hohen Blutfettwerten und ein knappes Sechstel an Fettleibigkeit. Von den Deutschen über 65 Jahre gilt jeder fünfte als zuckerkrank. Die allermeisten dieser Menschen sind jedoch gar nicht krank, sondern werden durch die Absenkung von Normwerten buchstäblich für krank erklärt. Sie haben kein erhöhtes Risiko, werden aber trotzdem therapiert. Medikamentenverordnungen beanspruchen deshalb einen immer höheren Anteil der Gesamtausgaben und stehen heute nach den Krankenhauskosten an zweiter Stelle. Doch der Patient profitiert davon nicht. So stuft das arznei-telegramm von den 15 umsatzstärksten Medikamenten nur 4 als positiv ein, das heißt, nur hier hat der Patient einen echten Nutzen zu erwarten, der die schädlichen, oft quälenden Nebenwirkungen deutlich übersteigt.
Als praktischer Arzt weiß ich, wie wichtig Vertrauen in der Medizin ist. Die Arzt-Patienten-Beziehung lebt davon, und man sollte deshalb Vertrauen nicht leichtfertig infrage stellen. Das ist mir nur zu bewusst, aber das systematische Fehlverhalten und die Missstände in unserem Gesundheitssystem haben Ausmaße angenommen, zu denen man nicht mehr schweigen darf. Vertrauen in der Medizin muss auf einem soliden Fundament stehen, dieses Fundament sind die medizinischen Leitlinien und Lehrbücher, sie bilden die Grundlage der täglichen Arbeit in Praxen und Krankenhäusern und haben deshalb immensen Einfluss auf die Patientenbehandlung. Und dieses Fundament ist morsch und brüchig.
Jeden Tag werden in Deutschland unzählige Patienten falsch behandelt. Wie ich zeigen werde, passiert all dies unter Billigung und teils sogar aktiver Mithilfe von Hochschulprofessoren, die diesen Schaden in Kauf nehmen, obwohl es ihre Aufgabe wäre, uns vor solchen Fehlbehandlungen zu schützen. Es geht dabei nicht um Fehlleistungen oder Kunstfehler Einzelner, sondern um ein System, welches schlechte Medizin zum Normalfall macht und sich jeder Kritik entzieht. Warum? Weil es für viele Ärzte in leitenden Hochschulpositionen mit Macht-, Einfluss- und Einkommensverlust verbunden wäre.
Am schlimmsten ist für mich als Arzt das Gefühl, dass ich meine Patienten nicht mehr vor schlechter Medizin schützen kann. Überweise ich zum Beispiel Patienten mit Altersdiabetes in ein diabetisches Spezialzentrum, dann ist die Gefahr groß, dass sie dort medikamentös falsch eingestellt werden, sodass sie sogar früher sterben als ohne Behandlung. Überweise ich einen Patienten wegen Knieschmerzen zum Orthopäden, bekommt er nicht selten ohne Not eine Kniespiegelung verordnet. Überweise ich Patienten in die Universitätsklinik, werden sie unter Umständen dort ungeprüften Hightechverfahren unterzogen, mit ungewissem Ausgang und begleitet von einer Medikation, von der sie vor allem die Nebenwirkungen zu spüren bekommen. Sende ich ein auffällig antriebsschwaches und zufällig auch molliges Kind zur Untersuchung in die Hormonambulanz, werden seine Eltern genötigt, es für ein Abnehmprogramm anzumelden, damit es dort einer nach meinem Dafürhalten unsinnigen Ernährungsberatung ausgesetzt wird, welche dem Kind nachweislich nur Schaden zufügt.
Und das ist noch nicht alles. Schlechte Medizin weitet sich über ihren Anspruch, Gesundheit fördern und Prävention leisten zu wollen, bis tief in unser Privatleben aus, indem sie uns zunehmend vorschreiben will, wie wir zu leben haben. Um dies durchzusetzen und Millionen von neuen Patienten oder besser Kunden zu gewinnen, werden völlig gesunde Menschen unbegründeten Ängsten, aber zunehmend auch Zwängen ausgesetzt. Spricht man die Verantwortlichen darauf an, verweigern sie sich jeder sachlichen Diskussion, und das macht mich wütend. Dabei wäre eine solche Diskussion dringend notwendig, und zwar in aller Deutlichkeit, um endlich einen Verbesserungsprozess zu ermöglichen. Da aber eine ehrliche wie schonungslose Analyse innerhalb der Medizin offensichtlich nicht möglich ist, bin ich überzeugt, dass es richtig ist, diese Missstände mit diesem Buch umfassend öffentlich zu machen.
Ich werde Ihnen in diesem Buch die Realität an den medizinischen Hochschulen zeigen, wo sich entscheidet, wie wir und womit wir Ärzte behandeln. Leider blicken wir dabei in Abgründe. Sichtbar wird eine Wissenschaftswelt, die sich konsequent wehrt, die eigenen Schwächen anzuerkennen, und sich auf diese Weise eine Scheinwirklichkeit aufgebaut hat, die allem Möglichen nutzt, nur nicht Ihrer Gesundheit. So etwas gibt es vielleicht auch in anderen Bereichen unserer Gesellschaft, aber nirgends hat dies so fatale Folgen wie in der Medizin.
Dieser unhaltbare Zustand wurde bisher nicht ausreichend öffentlich diskutiert, auch weil die Zusammenhänge nicht ganz einfach zu verstehen sind. Dies schützt die Verantwortlichen an den Universitäten bisher vor Enttarnung. Ohne für ihr Versagen zur Rechenschaft gezogen zu werden, können sie im Schatten eines schwer durchschaubaren medizinischen Wissenschaftsapparates agieren. Das möchte dieses Buch ändern, mit dem Ziel, die Chancen auf ein leistungsfähiges, nützliches und segensreiches Gesundheitssystem zu verbessern. Dabei verstehe ich mich ganz bewusst als Hausarzt, nicht als Wissenschaftler. Ich fühle mich zuständig für ganz normale Patienten, die sich auf Ärzte und Politik verlassen können müssen. Für sie ist dieses Buch geschrieben.
Gunter Frank
TEIL I
Schlechte Medizin in der täglichen Behandlung
»Im Zustand der Gesundheit keine Arznei zu sich nehmen.«
Arabische Gesundheitsregel
Millionenfache Fehlbehandlungen: Alltag in deutschen Arztpraxen und Krankenhäusern
Stellen Sie sich einmal einen typischen Patienten in meiner Praxis vor. Ein 55-jähriger Mann, 180Zentimeter groß, 90Kilogramm schwer. Er kommt wegenVerdauungsproblemen und Rückenschmerzen. Außerdem möchte er einen kleinen »Check« machen, wissen, wie hoch sein Cholesterinspiegel und Blutzuckerwert sind.Wir messen einen Cholesterinspiegel von 240mg / dl1, einen Blutdruck von 150 / 90mmHg2 sowie einen Nüchternzucker von 115mg / dl.Wenn ich diesen Patienten nach denVorgaben der gängigen Lehrbücher behandeln würde, dann müsste ich folgende Diagnosen stellen und therapeutisch wie folgt tätig werden:
1. Übergewicht
Mit einem Body Mass Index (BMI) von 27,8kg /m2 3 liegt der Patient über dem Normalgewicht und gilt als übergewichtig. Empfehlung: Gewichtsreduktion durch fettreduzierte Kost und fünfmal Obst und Gemüse amTag.
2. Bluthochdruck
Nach den Leitlinien der Deutschen Hochdruckliga, einer medizinischen Fachgesellschaft, besteht bei diesem Patienten ein Bluthochdruck Grad1. Deshalb lautet die dringende Empfehlung an ihn, den Salzkonsum einzuschränken.
3. Prädiabetes
Darüber hinaus gilt sein Blutzuckerwert als erhöht, da er über 99mg / dl liegt.
4. Hypercholesterinämie (hoher Cholesterinspiegel)
Da auch sein Cholesterinwert die Marke von 190mg / dl übersteigt, sollte ihm empfohlen werden, weniger Fett zu sich zu nehmen und mehr Sport zu treiben.
Werte für Cholesterin, Blutdruck, Blutzucker und Gewicht, die über der Norm liegen, gelten als Risikofaktoren.Wenn dann die einzelnen Risikofaktoren, wie von den Leitlinien der Deutschen Hochdruckliga gefordert, addiert werden, muss dem Patienten ein stark erhöhtes Risiko für eine Herzerkrankung bescheinigt werden. Darüber hinaus besteht wegen des Übergewichts gemäß Deutschem Krebsforschungsinstitut (DKFZ) ein erhöhtes Krebsrisiko. Die dringende Empfehlung lautet also: gesünder essen, mehr bewegen und in 3 Monaten eine Kontrolle vornehmen lassen.
Die Kontrolluntersuchung zeigt dann keine wesentlichen Änderungen. Ich schicke den Patienten zum Kardiologen, der beginnende leichte Ablagerungen in den Halsschlagadern feststellt und einen leicht verzögerten Blutdruckrückgang nach dem Belastungs-EKG. Nun folgen Überlegungen zum Einsatz von Medikamenten, um das Risikoprofil zu verbessern. 2 Tabletten werden verordnet: Statine zur Senkung des Cholesterinspiegels und ein ACE-Hemmer zur Senkung des Blutdrucks. Bezüglich des Zuckerprofils wird abgewartet, doch eine medikamentöse Senkung wird wahrscheinlich, denn auch der Langzeitzuckerwert, das HbA1c, liegt über 6 und damit über Norm.
Nach einigenWochen kommt der Patient wieder und klagt über Reizhusten und Muskelschmerzen. Da ich gelesen habe, dass ACE-Hemmer nicht selten Reizhusten auslösen, wechsle ich auf ein sogenanntes Diuretikum gegen den Bluthochdruck. Für die Muskelschmerzen empfehle ich eine Salbe, verschreibe Magnesiumtabletten. Da die Schmerzen jedoch bis zum nächstenTermin bei mir nicht verschwunden sind, überweise ich den Patienten zu einem Orthopäden und zu einem Neurologen. Außerdem nehme ich erneut Blut ab, um eine entzündliche chronische Muskelerkrankung als Ursache auszuschließen. Bezüglich des Gewichts empfehle ich dieTeilnahme an einem wissenschaftlich begleiteten Abnehmprogramm der AOK mit Ernährungsberatung. Da dieVerdauungsbeschwerden zunehmen, stelle ich zusätzlich die Diagnose Reizdarm und stelle eine Überweisung zum Darmspezialisten aus, der eine Darmspiegelung durchführen soll. Er findet nichts, empfiehlt aber wie die AOK-Ernährungsberater zusätzlich Ballaststoffe. Dadurch verschlechtern sich die Beschwerden weiter.
So würde ich es richtig machen und doch total falsch. Der Mann ist nämlich so gesund, wie man nur gesund sein kann.Weder ist sein Gewicht in einem Bereich, der seine Gesundheit gefährdet– er befindet sich sogar in der Gewichtsklasse, die statistisch gesehen am längsten lebt–, noch sind sein Cholesterin- oder Blutzuckerspiegel erhöht. Auch sein Blutdruck macht mich nicht nervös.Trotzdem hänge ich ihm 4 Diagnosen an und mache ihn zum Dauerpatienten.Trotzdem wird er mit nebenwirkungsreichen Medikamenten behandelt. Und diese Nebenwirkungen, wie zum Beispiel Muskelschmerzen durch den Cholesterinsenker Statin, werden häufig nicht erkannt, was eine ganze Reihe weiterer unnötiger Untersuchungen nach sich zieht. Ganz sicher würde man eine Reihe von tödlichen Nebenwirkungen nicht mit diesen Medikamenten in Zusammenhang bringen, sollten sie auftreten oder sogar zumTod führen, wie durch akutes Nierenversagen oder schwere Leberfunktionsstörungen. Eher würde dem Patienten wegen erhöhter Leberwerte Alkoholmissbrauch unterstellt, als dass sich jemand die Medikation genauer anschauen würde. Außerdem verschlechtere ich die Lebensqualität meines Patienten, da er Dinge essen soll, die ihm nicht schmecken, obwohl deren besonderer gesundheitlicher Nutzen längst widerlegt ist. Durch die angeblich »gesunde Ernährung« werden seineVerdauungsbeschwerden sogar verschlimmert. Und ich setze ihn lebensverkürzenden Jo-Jo-Effekten aus. Darüber hinaus jage ich ihm noch tüchtig Angst vor Herzinfarkt und Krebs ein. Ich bestelle ihn alle 6 Monate zur Kontrolle, damit er auch nicht im Ansatz auf die Idee kommen könnte, dass dies alles gefährlicher Unfug sein könnte, der dazu dient, meinenTerminkalender zu füllen. Mit meinemVorgehen stehe ich im Einklang mit der medizinischen Lehrmeinung, obwohl ich diesem Mann nur Schaden zufüge. Ich mache mich sogar rechtlich angreifbar, wenn ich ihn anders und damit besser behandle.
Langsames Erwachen
Als ich vor 20Jahren begann, als Arzt zu arbeiten, erkannte ich die Fehlentwicklungen in der modernen Medizin nicht sofort. Im Studium und bei der anschließenden Facharztausbildung sind kritische Stimmen gemeinhin eher die Ausnahme. Zunächst war ich in Akutkrankenhäusern beschäftigt, in der Inneren Medizin, der Chirurgie, der Urologie und der Notfallmedizin. Danach arbeitete ich quasi als Kontrastprogramm in einer Klinik für Naturheilkunde. Später war ich als Assistenzarzt in einer allgemeinmedizinischen und schmerztherapeutischen Praxis tätig und arbeite seit 1997 als selbstständiger Allgemeinmediziner mit eigener Praxis.
Während meiner Zeit als Assistenzarzt im Krankenhaus stellte sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit meinesTuns für mich nicht. Auf der einen Seite war ich noch unerfahren und ich kam nicht auf die Idee, dass die geltende Lehrmeinung, die meine Chefs auch umsetzten, auf etwas anderem gründen könnte als dem redlichen Bemühen, das Beste für den Patienten zu erreichen. Auf der anderen Seite war man gerade in der Notaufnahme mit viel akutem Leid konfrontiert und machte oft die Erfahrung, dass man als Arzt in einer solchen Notfallsituation tatsächlich segensreich wirken konnte. Gallenkolik und schreckliche Schmerzen: eine Infusion mit krampflösendem Schmerzmittel, und schon nach wenigen Minuten war der Albtraum für den Patienten vorbei. Akute Unterzuckerung: eine Glukoseinfusion, und schon klarte der vorher bewusstlose Patient auf, und dieVerwandten waren erleichtert. Herzinfarkt: die ganze Palette hilfreicher Medikation von Morphin bis Blutverdünnung, und der Patient hatte keine Schmerzen mehr und überlebte oft sogar ohne Spätfolgen. Die Arbeit in der Akutmedizin war befriedigend, besonders in der chirurgischen Notaufnahme: Schnittwunden, Knochenbrüche, Blinddarmentzündungen– alles akute Notsituationen für den Patienten, in denen die moderne Medizin schmerzlindernd und oft lebensrettend helfen kann. Das ist heute auch noch so, und wir können froh sein, dass wir in Deutschland eine solch leistungsfähige Akutmedizin haben, in der in den meisten Fällen motivierte Ärzte und ein motiviertes Pflegepersonal nicht selten unter ungünstigen Arbeitsbedingungen ihr Bestes für den Patienten geben. Dieser Bereich der modernen Medizin und die dort arbeitenden Kollegen sind nichtTeil meiner Anklage.
Problematischer wurde es für mich, als ich auf den Stationen der Inneren Medizin arbeitete, also dort, wo man kaum mit Notfällen zu tun hat, sondern mit Patienten, die wegen typischer chronischer Erkrankungen behandelt werden: Herzerkrankungen, Altersdiabetes, Rheuma und so weiter.Während der Notarzt oder auch der Chirurg das Ergebnis seiner Arbeit sofort beurteilen kann, ist dies dem Internisten und Allgemeinarzt oft weniger vergönnt. Ich kann doch gar nicht einschätzen, ob der Patient, der bei mir in der Sprechstunde sitzt, in vielleicht 30Jahren tatsächlich weniger Herzkrankheiten entwickelt, wenn ich ihm wegen Überschreitung eines Normwertes ein Medikament verordne. Dennoch faszinierte mich der Gedanke, viel früher medizinisch eingreifen zu können, bevor eine Krankheit zu schweren Symptomen führt. So gab ich mich mit den Möglichkeiten der Reparaturmedizin und der Behandlung von akuten Notfällen nicht zufrieden. Ich wollte mehr. Ich wollte verstehen, wie es zu schweren chronischen Krankheiten kommt und wie man viel früher ansetzen könnte, bevor es zum Notfall, zum Herzinfarkt, zur Magenblutung, zu Spätfolgen der Zuckerkrankheit kommt.
Schon bald beschlich mich das Gefühl, dass viele Patienten auf den Stationen der Inneren Medizin eigentlich nur verwaltet werden. Das Durchschnittsalter auf solchen Stationen wird immer höher. Es war Standard, dass 80-Jährige von uns auf 8 bis 10Tabletten täglich eingestellt wurden: eine gegen Bluthochdruck, und wenn die nicht genügend wirkte, dann noch eine zweite.Weitere Schmerztabletten gegen Rückenschmerzen,Aspirin zur Blutverdünnung und eine gegen den magenschädigenden Krankenhausstress und die Folgen der Schmerztabletten. Dazu nochTabletten gegen Schleimbildung, um einer Lungenentzündung vorzubeugen, eine gegen Zuckerkrankheit, weil der Blutzucker oberhalb des Normwertes lag. Selbstverständlich eineTablette zur Senkung des ebenfalls über der Norm liegenden Cholesterinspiegels.Weiterhin eineTablette nachts zum Schlafen und eine gegen dieTagesmüdigkeit und so weiter und so weiter. All das begleitet von einer Diätberatung und demVerbot von Zucker (schlecht bei Diabetes), Salz (schlecht bei Bluthochdruck) und Fett (schlecht bei erhöhtem Cholesterin), von zu viel Fleisch (schlecht bei erhöhten Harnsäurewerten) undvielem mehr. Dazu noch ab und zu eine Ultraschall- oder Röntgenkontrolle, eine Lungenfunktionsmessung und natürlich viele EKGs.
Ich hatte zunehmend den Eindruck, das Ganze hatte viel mehr mit einer Beschäftigungstherapie von Arzt und Patient zu tun als mit echten therapeutischen Überlegungen. Über die Problematik der ungünstigenWechselwirkungen zwischen den Medikamenten wurde kaum bis überhaupt nicht gesprochen. Dabei wusste ich von Kollegen, die in anderen Krankenhäusern arbeiteten, dass sie dort Ähnliches erlebten. Meine Erfahrung entsprach dem gültigen Standard einer modernen internistischen Abteilung. Das war vor 20Jahren. Auch heute gilt diese Praxis noch mit dem Unterschied, dass Krankenhäuser nicht mehr nach Behandlungstagen, sondern pauschal nach Diagnosen abrechnen.War man früher darauf bedacht, Patienten möglichst lange im Krankenhaus zu halten, werden sie heute eher schnell, manchmal zu schnell, entlassen.
Die Patienten kamen so gut wie nie auf die Idee, dieVerordnungspraxis des Doktors kritisch zu hinterfragen, selbst dann nicht, wenn sie mit der Empfehlung, 8Tabletten täglich zu schlucken, nach Hause geschickt wurden. Aber das Gefühl, dass etwas daran nicht gut ist, bewahrten sich doch viele. Denn oft landeten dieTabletten im Mülleimer oder lagerten massenweise in Schränken. Das habe ich oft erlebt, wenn ich in den Ferien alsVertreter eines Landarztes Hausbesuche absolvierte.Wenn ich einer bettlägerigen Patientin zum Beispiel ein Rezept ausstellen wollte, bekam ich nicht selten zur Antwort: »Doktor, schauen Sie mal in den Schrank, dort müsste noch was Passendes vom letzten Mal sein.«Wenn man dann die Schranktür öffnete, wurde auf einen Schlag klar, wo die Medikamente, die für Milliarden über die Apothekertheke gegangen waren, endgelagert wurden. In der Medizin heißt so ein Medikamentenstreik »mangelnde Compliance«, was so viel bedeutet wie »unzuverlässiger Patient«. Ich nenne es inzwischen »gesundes Körpergefühl«.
Röntgen, Sonografien, unzählige Laborwerte und Medikamente, derenVerordnung in herstellergesponserten Fortbildungen in großen Studien als richtig »bewiesen« wurde und deren Sinn sich mir trotzdem nicht erschließen wollte. Die Frage an den Patienten während derVisite im Krankenhaus »Geht es Ihnen mit den neuenTabletten besser?« wurde ersetzt durch: »Haben sich dieWerte normalisiert?«Wie sich der Patient fühlte, wurde nur am Rande bemerkt, wenn überhaupt.Während man also in der Chirurgie klar sah, ob eineWunde verheilt oder ein Knochen wieder belastbar war, wurde die Beurteilung des therapeutischen Erfolgs in der Inneren Medizin immer mehr ohne den Patienten gemacht. Es zählten lediglich das Erreichen von Laborwerten und die Medikation gemäßVerordnungsschemata. Daran wurde der Erfolg gemessen.Wie es dem Patienten dabei ging, ließ sich nicht messen und in ein Normwertsystem stecken, also interessierte es nicht, sondern störte sogar.
Der Trick mit den Normwerten
In allen Heilberufen neigt man generell dazu, eher zu viel zu behandeln als zu wenig, und das ist verständlich, man möchte ja schließlich helfen. Auch dassTherapeuten eher zu früh als zu spät behandeln wollen, ist nachvollziehbar. Man möchte nichts versäumen, und es ist keine schöneVorstellung, unter Umständen erkennen zu müssen, dass man einen Patienten vor den schlimmen Folgen einer Erkrankung hätte bewahren können, wenn man ihn früher zu einer wichtigen Untersuchung überwiesen oder früher eineTherapie eingeleitet hätte. Da geht es mir nicht anders.Wenn jedoch aus dem zu viel und zu früh ein reines Geschäftsmodell wird, durch das Millionen gesunde Menschen zu gefährdeten und angeblich kranken Patienten umgedeutet werden, dann lässt sich dies nicht mehr mit demWunsch rechtfertigen, nichts versäumen zu wollen. Hinter solchen Milliardengewinnen steckt kalte Berechnung, die auch über Leichen geht.
Am einfachsten lassen sich angeblich Kranke heute mithilfe von Normwerten aus dem Hut zaubern.Wie dieserTrick funktioniert, wird an den Beispielen Blutdruck, Blutzucker und Cholesterin deutlich. 1991, als ich noch als Assistenzarzt im Krankenhaus arbeitete, bekamen gesunde Patienten meist erst ab einem Blutdruckwert von über 160 / 100mmHg Medikamente. Heute gilt ein Patient mit einemWert von 140 / 90 als behandlungsbedürftig.
Der Cholesterinnormwert wurde in den 1950er Jahren bei etwa 260mg / dl fixiert. Seitdem wurde er stetig gesenkt und liegt heute bei 200. In den aktuellen Leitlinien der Hochdruckliga wird sogar 190 als Grenzwert angegeben. Und auch beim Blutzucker zeigt sich die gleiche Entwicklung. Als Medizinstudent kannte ich noch Normwerte von 140mg / dl, Ende der 1990er Jahre galten 126 und heute 120 als obersterWert. Es gibt für diese Absenkungen keine seriösen, fachlich wie handwerklich korrekt durchgeführten Studien, die dies medizinisch rechtfertigen könnten. Aber man bekommt auf diesemWeg Millionen neue Kunden, die dann Diagnostik, Behandlung und Medikamente brauchen.
Mit dem Normwertetrick lassen sich auch Epidemien herbeireden, ohne dass es einen einzigen neuen Erkrankten gäbe. Am Beispiel Diabetes lässt sich das gut sehen. DiabetesTypII (Altersdiabetes) wird als die neue weltweite Epidemie bezeichnet, immer mehr Menschen, sogar Kinder würden daran erkranken.Was hilft angeblich dagegen? Selbstverständlich eine möglichst frühe Diagnostik, ständige Kontrollen in diabetischen Spezialzentren, begleitet von Gewichtsreduktionsmaßnahmen, Ernährungsberatungen und Medikamenten. Das Einzige, was sich jedoch imVergleich zu früher geändert hat, ist die Absenkung der Normwerte, umfangreichere Blutuntersuchungen und dieTatsache, dass die Menschen immer älter und die Älteren immer mehr werden. Dies führt zwar zu mehr Diagnosen, aber inWirklichkeit ist das Risiko, zuckerkrank zu werden, für einen 50-Jährigen von heute nicht höher oder niedriger als für einen 50-Jährigen vor 100 Jahren.
Der amerikanische Arzt und Buchautor GilbertWelch hat nachgerechnet, wie viele neue Patienten– oder besser gesagt Kunden– die Senkung der Normwerte dem Gesundheitsmarkt in den USA gebracht hat.
Zusammenhang Normwertabsenkung und Patientenzahl
Alter Wert
Neuer Wert
Patientenzahl mit altem Wert
Patientenzahl mit neuem Wert
Neue Patienten
Zuwachs in %
Blutzucker (mg/dl) 140
126
11697000
13378000
1681000
14
Blutdruck (mmHg) 160 /100
140 /90
38690000
52180000
13490000
35
Cholesterin
(mg/dl) 240
200
49480000
92127000
42647000
86
Aus: Gilbert Welch: Overdiagnosed
DieTabelle macht deutlich, dass allein die Absenkung des Cholesterinlevels von 240 auf 200mg / dl in den USA über 42Millionen gesunde Menschen zu Patienten gemacht hat, die als Kunden nun fettarme Nahrungsmittel, Ernährungsberatung und Fitnessprogramme konsumieren sollen. Und weil all diese Maßnahmen nachweislich den Cholesterinspiegel dauerhaft gar nicht senken können, werden den Patienten dann Medikamente verordnet. Hier geht es um einen Milliardenmarkt. Allein in Deutschland wurden im Jahr 2004etwa 1,4MilliardenTagesdosen Cholesterinsenker entsprechend einer täglichen Behandlung für etwa 3,7Millionen Menschen verschrieben. Und das Paradoxe:Während also immer mehr Menschen an einem erhöhten Cholesterinspiegel »leiden«, verliert der Cholesterinspiegel alsVerursacher von Gefäßerkrankungen wissenschaftlich gesehen immer mehr an Bedeutung. Da es jedoch um richtig viel Geld geht, wird dieser Aspekt totgeschwiegen. Die großen finanziellen Möglichkeiten erklären auch die ungeheure Energie, die in die entsprechende Lobbyarbeit gesteckt wird, um die Normwertsenkungen an Universitäten und in der Politik durchzusetzen. So konnte seit 60Jahren die Scheinkrankheit »Hypercholesterinämie« in bemerkenswerterWeise in der Medizin etabliert werden. Eine »Krankheit«, die keine Beschwerden macht, keine Symptome verursacht. Sie besteht einzig aus einem Cholesterinspiegel, der über einem ständig nach unten definierten Normwert liegt.Wenn man davon ausgeht, dass der Hauptrisikofaktor eines Menschen, im Laufe seines Lebens eine Gefäßerkrankung zu entwickeln, der ist, überhaupt geboren zu sein, könnte man auch den Cholesterinspiegel insgesamt als Risikofaktor definieren. Dann ist alles über null ein Risiko, und die Ernährungsberatungsbranche und Pharmaindustrie können uns alle als Kunden begrüßen. Im Ernst, sie arbeiten daran.
Das Vorrisiko
Eine weitere Absenkung der Normwerte könnte man heute nur noch mit Studien rechtfertigen, die sofort als Manipulation erkennbar wären. Selbst unkritischeWissenschaftler müssten sie als fachliche Idiotie empfinden. So weit möchte niemand gehen. Deshalb senkt man die Normwerte nicht weiter, sondern man definiert nunVorrisikobereiche. Das klingt auch irgendwie gefährlich, und die Patienten fühlen sich genötigt, sich beim Arzt neuen regelmäßigen Kontrollen und Behandlungen zu unterziehen. 2003 erklärte das US National High Blood Pressure Education Program Coordinating Committee (NHBPEP) mit einem Federstrich Gesunde zu Gefährdeten, indem es beimThema Blutdruck einenVorrisikobereich beiWerten zwischen 130 / 80 und 140 / 90mmHg definierte. Gesund ist seitdem nur noch, wer einen Blutdruckwert von unter 130 / 80 hat.
Bei Diabetes diagnostiziert man heute ab einemWert von über 90mg/dl Prädiabetes.Wird jemand als prä-hypertensiv oder prä-diabetisch eingestuft, so bedeutet dies nichts anderes, als dass es fachlich keinen Grund gibt, ihn als Hochdruckpatienten oder Diabetiker zu bezeichnen, man ihn aber auf dieseWeise zu einem neuen Kunden machen kann.
Ich hatte schon völlig gesunde Frauen um die 75Jahre in der Sprechstunde, die doch tatsächlich von einem Kollegen, der wahrscheinlich gerade die neueste Fortbildung hinter sich hatte, wegen eines Zuckerwertes von 95mg/dl auf eine zuckersenkende Medikation eingestellt worden waren. Dabei haben solche Patienten durch Medikamente dieser Art nichts anderes zu erwarten als tödliche Unterzuckerung. Da jedoch der behandelnde Arzt diesen Zusammenhang nicht sieht, wenn er zu seiner über Nacht verstorbenen Patientin gerufen wird, um denTotenschein auszustellen, wird er wahrscheinlichTod durch Herz-Kreislauf-Erkrankung vermerken, weil die 75-jährige Patientin in der Sprechstunde einen »hohen« Cholesterinwert und einen leicht erhöhten Blutdruck hatte, die jedoch für ihr Alter völlig normal sind. Schriebe er auf denTotenschein »Todesursache unbekannt«, würde man der Familie eine gerichtsmedizinische Untersuchung mit eventueller polizeilicher Befragung zumuten, und auf die Idee, dass dieTodesursache die durch das Medikament verursachte Unterzuckerung war, kommt keiner. Es ist schwer, Schätzungen über die Zahl derTodesfälle durch falsch verordnete Medikamente abzugeben. Man findetAngaben von 57 000Arzneimitteltoten jährlich allein in internistischenAbteilungen der Krankenhäuser, von denen 28 000 als potenziell vermeidbar eingestuft werden. Über dieAnzahl der vermeidbarenArzneimitteltoten außerhalb der internistischen Krankenhausabteilungen lässt sich nur mutmaßen. Die hier beschriebene Praxis des falschenTotenscheins macht eine hohe Dunkelziffer wahrscheinlich.
Primum nihil nocere:Zuerst einmal nicht schaden
Der Kern des Problems stellt sich wie folgt dar:
Weichen die Blutwerte eines Menschen stark von denen der anderen ab, dann wird eine Erkrankung als Folge solch abnormerWerte wahrscheinlicher. Im Bereich von Blutdruck und Blutzucker kann man dies uneingeschränkt behaupten. Im Falle eines stark erhöhten Cholesterinwertes ist jedoch selbst diese Aussage fragwürdig. Ein sehr hoher Cholesterinspiegel hat auchVorteile, weil er mit niedrigeren Infektionsraten einhergeht. Bei der Beurteilung, ob ein sehr hoher Cholesterinwert tatsächlich eine Krankheitsgefährdung bedeutet, scheint der ausschlaggebende Faktor eher eine erbliche Neigung zu Gefäßkrankheiten zu sein. Deshalb ist ein Medikamenteneinsatz auch bei sehr hohenWerten in keinerWeise zwingend. Doch bei der medikamentösen Absenkung im Falle von deutlich erhöhtem Blutzucker und Bluthochdruck profitieren die Patienten durch deutlich weniger Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt oder Gefäßschäden.
Wenn jedoch nur leicht erhöhteWerte auffallen, ist es äußerst fraglich, ob die betroffenen Patienten tatsächlich präventiv vor den genannten Folgeschäden geschützt werden sollten. Denn nur wenige dieser Patienten haben wahrscheinlich ein solch erhöhtes Risiko. Man weiß aber nicht, welche. Um diese wenigen zu schützen, muss man alle behandeln und setzt damit alle den Nebenwirkungen der Medikamente aus. Diese Nebenwirkungen fallen aber bei Menschen mit einer nur geringen Normwertabweichung viel stärker aus als bei den Patienten, die tatsächlich ein erhöhtes Risiko haben.Wenn Blutzucker oder Blutdruck nur leicht erhöht sind, kann schon ein kleiner medikamentös ausgelöster Blutzuckerabfall zu einer tödlichen Unterzuckerung und nur eine geringe Blutdrucksenkung zu einer Ohnmacht mitTreppensturz oder Autounfall führen. Es gilt also, diejenige Normwertgrenze zu definieren, ab der der Nutzen einerTherapie deren Schaden übertrifft.
Zusammenhang Normwertfestlegung und therapeutischer Nutzen /Schaden
Die derzeitigen Normwertgrenzen sind viel zu niedrig. Dabei werden die schweren Nebenwirkungen und tödlichen Folgen totgeschwiegen. Und so verstößt die Medizin tagtäglich und systematisch gegen ihren wichtigsten Grundsatz: Primum nihil nocere, zuallererst muss gesichert sein, dass eine ärztliche Behandlung nicht schadet.
Geschäftsmodell Übergewicht
Auch vor Körperbaumerkmalen macht der Normwertschwindel nicht halt. Beliebtestes Beispiel ist das Körpergewicht in Bezug auf die Körperlänge, modern als Body Mass Index (BMI) bezeichnet. Besonders bei Körperbaumerkmalen ist Normwertdenken problematisch, die Natur liebt Unterschiede. Entgegen jedem biologischen Sachverstand wurde dennoch ein Gewichtsbereich, welcher einem BMI von 20 bis 25kg / m2 entspricht, als Norm festgelegt. Diese Einteilung fußt auf der Behauptung einer Lebensversicherung, der Metropolitan Life Insurance, die 1959 ihreVersicherten in Gewichtsklassen einteilte und propagierte, dass Menschen in diesem Gewichtsbereich am längsten leben würden.Wer darüberliegt, ist angeblich höheren Krankheitsrisiken ausgesetzt. So gilt man ab einem BMI von 25kg / m2 als übergewichtig und ab BMI 30kg /m2 als fettleibig. Ein Mann mit 180Zentimeter Größe wird also ab 84Kilogramm als übergewichtig und ab 98Kilogramm als fettleibig klassifiziert. Diese Behauptung wurde von der Medizin ungeprüft übernommen. Sie stuft sogar generell Fettleibigkeit als chronische Erkrankung ein, auch wenn der Betroffene gar keine gesundheitlichen Probleme hat. Obwohl es ihm gut geht, wird ihm von allen Seiten empfohlen, Gewicht zu reduzieren, also Diäten durchzuführen, Fitnesssport zu machen und sich bei einer Ernährungsberatung in richtiger, nämlich »gesunder« Ernährung schulen zu lassen. All das ohne einen einzigen Nachweis, dass er dadurch tatsächlich langfristig abnehmen kann und das seiner Gesundheit zuträglich ist.
Auch was die angeblichen Nachteile von Übergewicht angeht, sieht man heute etwas klarer. InWirklichkeit leben Menschen mit Übergewicht am längsten. Der BMI mit der höchsten Lebenserwartung in den USA und auch Deutschland steigt immer weiter an. Für das mittlere Lebensalter wird ein BMI um 27kg / m2, jenseits des 70.Lebensjahrs sogar ein BMI zwischen 27 und 35kg / m2 mit der höchsten Lebensdauer gemessen. Sie lesen richtig. Statistisch gesehen leben Menschen, die über 70Jahre alt sind, dann am längsten, wenn sie nach der aktuellen BMI-Norm als fettleibig gelten.Wahrscheinlich profitieren wir im Alter von unseren Rettungsringen, den love handles, unserem Hüftgold. Es sieht zwar nach Maßstab des aktuellen Schönheitsideals nicht schön aus, aber diese Fettansätze geben uns überlebenswichtige Reserven im Falle schwerer Erkrankung. Doch Menschen anhand festgelegter Gewichtswerte als gesund oder gefährdet einzustufen, ist aufgrund der immensen genetischen Unterschiede nicht sinnvoll. Übergewichtige Menschen könnten gemessen an ihrem genetisch veranlagten Gewicht sogar zu dünn sein, wenn sie zum Beispiel unter einer Schilddrüsenüberfunktion leiden. So wie Untergewichtige für ihreVeranlagung zu dick sein können, weil sie eine Schilddrüsenunterfunktion haben oder wegen einer schweren Erkrankung dauerhaft Cortison einnehmen müssen. Man sollte deshalb mit Gewichtsklassifizierungen zur Bewertung von Gesundheit oder Krankheit sehr vorsichtig sein.
Auch beimThema Übergewicht wird gerne von einer Epidemie gesprochen, die unser Gesundheitssystem zu überrollen droht. Doch wurzelt diese Behauptung hier nicht in einer Normwertabsenkung, sondern in der gebetsmühlenhaftenWiederholung immer gleicher Unwahrheiten.Wir haben in Deutschland weder eine epidemische Zunahme von Übergewichtigen noch ist es gefährlich, wenn zwei Drittel der deutschen Männer nach den BMI-Normwerten übergewichtig sind.Wenn man solchen, übrigens extrem schlecht gemachten Statistiken Glauben schenken würde, dann wäre es eigentlich sogar eine gute Nachricht, denn demnach befänden sich über 50Prozent der deutschen Männer in dem Übergewichtsbereich, der statistisch gesehen gesundheitlich immer am besten abschneidet. Millionen übergewichtige Menschen sind also völlig gesund mollig, dick und auch fettleibig. Erst wenn Menschen sehr fettleibig oder sehr untergewichtig sind, haben sie wahrscheinlich gesundheitliche Nachteile und sollten gründlich untersucht und beraten werden. Im Grunde ist es für mich als Arzt so, wie es immer war: Kommt ein hyperschlanker oder ein extrem fettleibiger Mensch in meine Sprechstunde, ist dieWahrscheinlichkeit hoch, dass sein Gewicht ein gesundheitliches Problem bedeutet. Bei den allermeisten anderen Patienten von schlank bis dick kann ich aufgrund ihres Gewichts keine Aussage bezüglich einer Krankheitsgefährdung treffen.
Doch die Zahl der gesundheitlich tatsächlich gefährdeten Patienten reicht nicht aus, um die inzwischen zahlreich ausgebildeten Ernährungsberater, Gesundheitswissenschaftler und Sportmediziner, die gegen die allgemeineVolksverfettung kämpfen wollen, zu beschäftigen. Also werden kurzum gesund Übergewichtige zu Kranken gemacht. Der ganze Hype ums Übergewicht war von Anfang an nur ein Geschäftsmodell, das dazu diente, Kunden zu generieren für Medizin und Diätindustrie sowie beiVersicherungen Risikozuschläge zu kassieren, wie es die Metropolitan Life Insurance von ihren »übergewichtigen«Versicherten seit 1959 verlangt.
Die Kombination von Risikofaktoren
Ein besonders beliebtesVorgehen, um die viel zu niedrig definierten Risikowerte zu rechtfertigen, besteht darin, mehrere Risikofaktoren zu kombinieren und mit einer Kennziffer zu versehen. Es ist vollkommen unsinnig, einen Menschen mit einem oberen Blutdruckwert von 120mmHg als gesundheitlich gefährdet zu bezeichnen. Dies gilt auch für Menschen mit einem Blutzuckerwert von 120mg / dl oder einem Cholesterinspiegel von 220mg / dl.Wenn man jedoch wie die Deutsche Hochdruckliga e. V. diese Risikofaktoren kombiniert, sieht dies plötzlich ganz anders aus. So gilt jemand mit einem Blutdruck von 120mmHg als gesund, weist er jedoch einen Blutzuckerwert zwischen 102 und 119mg / dl und einen Cholesterinspiegel von über 190mg / dl auf, rutscht er umgehend in eine Gefährdungsklasse. Hier zeigt sich schon der problematische Umgang der Medizin mit mathematischen Grundregeln, dessen katastrophale Folgen wir noch ausführlich beschreiben werden: Denn 3 mal 0 ist nicht 30, sondern bleibt 0. Stellt man darüber hinaus bei einem solchen Patienten noch ein harmloses Übergewicht fest, wird ihm das »Metabolische Syndrom« zugeschrieben. Dann gilt der Patient als besonders gefährdet, obwohl er auch dann keinem erhöhten Risiko unterliegt.
Inzwischen existieren verschiedene Anstrengungen, um mit Kennziffern oder Punkten den Gefährdungsgrad eines Patienten direkt messbar zu machen, sogenannte Scores, wie zum Beispiel der Procam-Score oder der Framingham-Score. Ärzte und Patienten sollen so mithilfe moderner Computerprogramme den Gesundheitszustand feststellen können. Mittels der Eingabe vonWerten wird auf dieseWeise aus einem gesunden Menschen per Knopfdruck ein gefährdeter, der dann natürlich ärztlicher Überwachung bedarf. Doch der Procam-Score zum Beispiel hat lediglich deshalb Aussagekraft, weil er Rauchen und genetische Komponenten mit einrechnet, wie zum Beispiel die Anzahl der Herzinfarkte in der Herkunftsfamilie. Die dazugerechneten sonstigen Normwertveränderungen sind weitgehend bedeutungslos, erscheinen dann aber plötzlich imVerbund als wichtig. Auf dieseWeise glaubt man, die viel zu niedrig angesetzten Normwertgrenzen retten zu können. InWahrheit sind jedoch nur tatsächlich hohe Blutdruck- oder Zuckerwerte gesundheitlich relevant,Werte, die die sogenannten (Prä-)Normwerte deutlich übersteigen.
Es gibt natürlich tatsächlich gefährdete Patienten, die zum Beispiel altersuntypische Gefäßablagerungen aufweisen, eine familiäreVeranlagung besitzen oder deren Herzwanddicke infolge dauerhaft erhöhten Blutdrucks zunimmt. Solche Menschen müssen regelmäßig kontrolliert und mit Medikamenten behandelt werden, sonst ist dieWahrscheinlichkeit hoch, dass sie zu früh einen Herzinfarkt oder Schlaganfall oder Spätfolgen einer echten Altersdiabetes erleiden. Selbstverständlich verschreibe ich diesen Menschen Blutdrucksenker, Antidiabetika und manchmal auch Cholesterinsenker. Aber das sind völlig anders gelagerte Fälle. Sie sind auch weitaus seltener als vielfach behauptet. Da deren Behandlung die inzwischen riesige Medizinmaschinerie jedoch finanziell nicht ausreichend versorgen kann, werden zusätzliche Fälle benötigt. So werden aus Menschen mit gesundem Herzen und unauffälligen Gefäßen plötzlich Risikopatienten gemacht, an denen alle verdienen.
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