Die Märchenkönigin - 3: Ludwigs Vermächtnis - Oliver Marco - E-Book

Die Märchenkönigin - 3: Ludwigs Vermächtnis E-Book

Oliver Marco

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Beschreibung

Bayern 1864. König Maximilian II. Joseph ist tot. Dahingerafft von einer Krankheit, so die öffentliche Nachricht an das überraschte Volk. Doch woran starb Ludwigs und Ottos Vater wirklich? Während die Wahrheit im Dunkeln verbleibt, wird Ludwig zum neuen König Bayerns gekrönt. Seine Regentschaft erweist sich als schwierig und hinderlich und treibt den jungen König in den Wahnsinn und wirres Handeln. Zudem machen ihm die verlorenen Elemente noch immer zu schaffen, der koboldhafte Bulb bedrängt ihn zusehends und selbst Richard Wagner verschafft ihm keine Freude. Die totgeglaubte Lola Montez ist indes auf der Suche nach ihrem Kind, während ihr einstiger Geliebter und ehemalige bayerische König Ludwig I., der Großvater Ludwigs II., unsicher ist, wie er mit all den neuen Situationen umgehen soll. Unter dem Starnberger See drohen der Giftmischer und die Tropfen zu verzweifeln. Sie und die anderen Elemente kämpfen um ihre und die oberirdische Existenz. Die Urgewalt droht alle und alles zu vernichten. Nur Mia kann sie retten, doch sie kämpft an anderen Fronten. Ludwigs Vermächtnis ist der letzte Teil der Märchenkönigin- Trilogie, die das Leben, Wirken und Sterben des bayerischen Königs Ludwigs II. beschreibt. Der Autor Oliver Marco lebt in Oberfranken, Bayern. Weitere Romane auf www.olivermarco.de

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Märchenkönigin

Das wahre Leben Ludwigs II.

oliver marco

Die Märchenkönigin

III. Ludwigs Vermächtnis

ROMAN

Kugeleikungelei

Entstanden einst in einer Zeit,

in der es Schrift und Worte noch nicht gab.

Zusammengetragen aus verschiedenen Zungen weit und breit,

dieses Buch schon vor so vielen Menschen lag.

Gott und die Elemente, die Schaffung der Welt

wird in der »Lehre der Kugelei« erzählt.

»1 Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. 2 Und die Erde war wüst und leer, und es lag Finsternis auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. 3 Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. 4 Und Gott sah, daß das Licht gut war; da schied Gott das Licht von der Finsternis; 5 und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis Nacht. Und es ward Abend, und es ward Morgen: der erste Tag. 6 Und Gott sprach: Es soll eine Feste entstehen inmitten der Wasser, die bilde eine Scheidewand zwischen den Gewässern! 7 Und Gott machte die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste, dass es so ward. 8 Und Gott nannte die Feste Himmel. Und es ward Abend, und es ward Morgen: der zweite Tag. 9 Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an einen Ort, dass man das Trockene sehe! Und es geschah also. 10 Und Gott nannte die Sammlung der Wasser Tropfen. Und Gott sah, dass es gut war. [...]

Die Elemente waren bereits vorhanden, als Gott entschied, die Welt, das Universum, den Lebensraum, den Mensch zu erschaffen. Wasser. Erde. Luft. Feuer. Er hatte sie benutzt, um in sieben Tagen etwas zu erschaffen, etwas zu formen, was in seinem Sinne war. Etwas, was es vorher nicht gegeben hatte. Doch was war vorher? Wann war vorher? Vor Gott? Vor seiner Idee? Seinem Tun? Was waren vorher Raum und Zeit? Was waren danach Raum und Zeit? Was waren jetzt Raum und Zeit? Und wieso waren sie?

Erde und Wasser, Luft und Feuer … unendlich wie Raum und Zeit. Und Gott? Was war Gott? Wer war Gott? Wann war Gott? War Gott noch? Heute? Jetzt?

Gott war gefährlich für die Elemente. So trafen sich einst im Geheimen die frühen Tropfen und Lüftler, die Erdler und Feuerer, um Maßnahmen gegen Raum und Zeit, gegen Gott und Universum zu ergreifen. Die Installation von Raum- und Zeiträder bei der Erdentstehung. Kugeln. Doch wieso Kugeln? Waren diese doch allzu irdisch, waren sie doch in Gottes Welt gebunden. Doch es gab noch eine andere Geschichte.

5 Sondern Gott weiß: Welchen Tages ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. 6 Als nun das Weib sah, dass von dem Baume gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen und ein wertvoller Baum wäre, weil er klug machte, da nahm sie von dessen Frucht und aß und gab zugleich auch ihrem Mann davon, und er aß. 7 Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren; und sie banden Feigenblätter um und machten sich Schürzen.

Der Apfel. Golden und rund. Das Symbol für die Vertreibung aus dem Paradies. Der Beginn der Keuschheit. Das Ende der Ewigkeit. Der Beweis für die Unfähigkeit des Menschen.

Diese gottverfluchte Frucht in ihrer vollendeten Form sollte zum Symbol der Elemente werden. Aus purem Gold mit all seinen Symbolen erschaffen wurden vier Goldkugeln von ihnen den Elementen Wasser, Erde, Luft und Feuer zugeordnet. Eine weitere Kugel aber wurde für den Äther erschaffen. Entwickelt und modelliert, erarbeitet und geschmückt von den ersten Alchemisten der Geschichte, wurde diese spezielle goldene Reliquie zum Symbol der Schaffenskraft der vier Elemente. Die Alchemie selbst hatte also ein weiteres Element kreiert, als Seele der Welt, als Element allen Lebens, als Wechselspiel zwischen Erde, Mond und Sonne, gefangen in einer Kugel, bis die Naturwissenschaft soweit war, Gott zu widerlegen.

Denn hatte Gott die Welt wahrlich erschaffen? Hatte er wahrlich Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben? Oder waren die Elemente die wahren Götter, die sogar von den Sinnen des Menschen wahrgenommen werden konnten.

Jene fünfte Kugel, wie ein Daumen zu den vier Fingern, wurde von den anderen vieren entfernt, geklaut, entführt, von einem Mann namens Empedokles, der die Meinung vertrat, es könne nur vier Elemente geben! Der Äther verschwand. Die vier verbliebenen Elemente waren ohnmächtig und wütend, geschockt und verängstigt. Sie beschlossen, die verbliebenen vier goldenen Kugeln zu versiegeln und zu sichern.

Sollten dieses Kugelquartett je weiter auseinandergerissen werden, als die Städte der Elemente auseinander lagen, sollten Raum und Zeit jemals in Schieflage oder Streit geraten, dann würden die vier Kugeln zum Quell der ewigen Materie ihres Wesenszugs werden. Sie würden die bekannte Welt überdecken und verbrennen, überschwemmen und zerstürmen.

Selbst die Heimat der Elementewesen wäre betroffen. Die Kugeln konnten lediglich auf zweierlei Art beruhigt werden.

Empedokles floh in der Zeit der Antike empor und verschwand in der Oberwelt. Die Ätherkugel verlor sich in der Mythologie und historischen Geologie, in der lunaren Zeit bis hinein ins Mittelalter. Erst am 14. Februar 1014 gab es neue Hinweise. Papst Benedikt VIII. überreichte unerwartet Heinrich II. zur Kaiserkrönung einen mit einem vergoldeten Kreuz geschmückten Reichsapfel, der aus purem Gold war. Heinrich II. war zu jener Zeit unter anderem Herzog von Bayern. Die Elemente hatten sich schon weit vorher unter dem Land Bayern angesiedelt und versteckt, doch das war eine andere, lange Geschichte, die aus dem Zweistromland über Ägypten bis nach Mitteleuropa führte.

Umstritten waren die Worte, die der Papst nach der Kaiserkrönung in Rom Heinrich II. zuflüsterte: »Dieser Reichsapfel besteht nicht nur aus Gold. In seinem Innern fließt das Fünfte Element, der Äther. Es ist nichts christliches. Es ist nichts islamisches. Es ist nichts buddhistisches. Und doch ist alles Religion! Und doch ist alles Gott! Es findet sich der Äther für den begrenzten Raum der Körperlichkeit und dem unbegrenzten Raum jenseits des Himmels. Doch, Majestät, es gibt sechs Elemente. Fest. Flüssig. Erhitzend. Luftig. Das Raumelement, das Ihr in Euren Händen haltet, zusammen mit dem sechsten Element, Eurem Bewusstsein. Hütet den Reichsapfel wie Euren Augapfel, dass es nicht zum Zankapfel werde.«

Heinrich II., unbeeindruckt, gab den Reichsapfel an das Kloster Cluny. In deren Liturgie stand das Memento mori (»Sei dir der Sterblichkeit bewusst«) im Vordergrund, aber nicht ohne vor der Vanitas dieser Welt (»Nichtigkeit«, »Der Mensch hat keine Gewalt über das Leben und somit nicht über die Elemente«) zu warnen. 1790 wurde die Abtei geschlossen, 1793 ihre Archive verbrannt. Cluny stand jedoch immer unter dem Schutz des Papstes. Und doch wurde nicht überliefert, welcher spätere Papst die Macht des Reichsapfels erkannt hatte, nachdem wahrscheinlich die anderen vier Kugeln durch einen Tropfen, einem Einwohner des Elements Wasser, verraten worden waren. Die Unsicherheit, ob der Äther für Gott oder für die Elemente gut war, tat sein Übriges. Der Reichsapfel wurde durch die Königshäuser gereicht, bis er schließlich die bayerische-pfälzische Linie erreichte, die sich dem Symbol, der Macht und dem Inhalt nicht bewusst war, während die anderen vier Kugeln verschwunden blieben.

Der Tropfen aber, der den Verrat einst begangen hatte, wurde zum ersten Bulb, der König, der den Reichsapfel besaß, zum ersten Melder. Der Papst hatte dies entschieden, wollte er doch wie der Bulb sicherstellen, ob das Geheimnis um den Reichsapfel, um die Religion und um die Naturwissenschaft Fortschritte aufwiesen. Beides konnte, nein, beides sollte nicht im Einklang sein und somit die Stellung der Kirche festigen, während die Elemente das gleiche Ziel gegenteilig verfolgten. Und doch lief es friedlich Generationen fort, weil der Fortschritt kaum fortschritt.

Doch die Wissenschaft arbeitete weiter. Zweifel an Gott, der Erschaffung der Welt und des Universums wurden größer. Der Mensch als Individuum, nicht als Geschöpf einer höherer Macht, grub sich immer tiefer in das Bewusstsein eben jener Menschen hinein.

Das Bewusstsein, jenes angebliches sechste Element, das jeder Mensch in sich trug, und vielleicht mit dem Tod im Nichts verschwand, wurde dem Gottesdasein allmählich gefährlich.

Wie aber konnte der Äther aus der Kugel befreit werden, um die Naturwissenschaft zu beweisen? Wie konnte der Äther sich entfalten? Wie konnte der Äther das aktive fünfte Element werden? Der Äther war die Quintessenz, das Wichtigste. Er galt als jenseits des Mondes, als Luna, unverschämt weiblich – unwandelbar, zeitlos, über uns. Als Darstellung wurde zur Unterscheidung anderer Gestirne der Halbmond ausgewählt.

Verschiedene Sagen existierten. Die eine war, dass alle fünf Kugeln wieder zusammen fänden. Die andere, dass eine Frau namens Luna ein Symbol tragen und damit der menschgewordene Äther sein würde. Ebenso menschgeworden galt ein König, ein Melder, der einen Halbmond von Geburt an an seinem Körper trug und so den Äther zu vereinen vermochte. Doch all die Melder über Generationen hinweg trugen zwar das eine oder andere spezielle Muttermal, doch keinen Halbmond. Dazu widersprechen sich diese Sagen und vielleicht gibt es gar keine Wahrheit.

Jedoch, würde dieser Mensch doch geboren und gefunden und würde dieser Mensch die fünf Kugeln vereinen, dann würden Gott und die Welt, dann würden Raum und Zeit …«

Ludwig II. blätterte um. Doch da stand nichts mehr. Nichts. Leere. Er hatte die letzten Seiten der »Lehre der Kugelei« gelesen. Jemand hatte sie handschriftlich ergänzt, aber nicht beendet.

Er war verwirrt und enttäuscht.

Erziehertod

Er zieht das Kind

packend am Schopf, umfassend an der Fers’

Er zieht und zieht und zieht es,

so wie der Erzieher des Erziehers Welt im Kinds Kopf erziehen will.

Ludwig II. setzte seine Tortur fort. Er zählte die Tropfen aus dem Fläschchen des Giftmischers genau ab und stoppte bei dreiundzwanzig. Die silberne Löffelschale verschwand in seinem Mund. Er verzog ob der Bitternis sein Gesicht.

Die Tropfen. Sie vermisste die Tropfen. Die Tropfen von Klatschertnass. Jeden einzelnen von ihnen.

Mia, die von der Unterwelt in die Oberwelt aufgestiegene Mia war zu Ludwig II. geworden. Seit nunmehr einem Monat regierte sie Bayern, einen Staat, ein Land, das sie nicht kannte, nicht wollte, nicht liebte. Doch es war das Land, in das sie wollte, in dem sie ihren Ursprung hatte, für das sie sich auf ein wahnwitziges Spiel eingelassen hatte. Sie tat es für die Tropfen und die anderen Elemente.

Draußen läuteten die Gebetsglocken. Ludwig betrachtete sich im Spiegel. Er saß auf einem Hocker, verschnörkelt und weiß, vor ihm ein Tischchen mit allerlei Tinkturen und Dosen, Pinsel und Handspiegeln, Kämmen und Bürsten. Er war zufrieden. Sein Gesicht zeigte Bartwuchs, ein paar Hautunreinheiten und sogar Falten. Die Wimpern angepasst. Frau zu Mann. Von zierlich zu fett. Welch eine Tragödie!

Er nahm ein weiteres Fläschchen und schraubte es auf. Er legte seinen Kopf in den Nacken und drückte den Gummiballon am Ende der Pipette. Ein Tropfen landete erst im linken, dann im rechten Auge.

Seine Kleidung hatte er ordentlich aufgehängt. Frack und Hose, Hemd und Schuhe, alles war an seinem Platz. Männerkleidung war einfach und ordinär, Zylinder und Fliege, lächerlich, der Kragen, nicht der Rede wert, Schuhe, welch ein Faux-pas. Damenkleidung aber, so hübsch und ansehnlich, so bunt und verspielt sie waren, so unbequem und männerwünschend war das Korsett. Er war froh, keines tragen zu müssen. Gleiches galt für Frisuren im Biedermeier oder im Sisi-Stil, was Ludwig etwas eifersüchtig machte. Würde er jemals so einen Einfluss auf seine Bürger und Bürgerinnen haben wie seine Kusine?

Das Personal hatte er weggeschickt, wie er es auf’d Nacht immer tat. Seinem Vorgänger wäre das nie eingefallen, ließ der sich doch wahrlich wie ein König betuddeln. Maximilian II. Joseph, König von Bayern vom 20. März 1848 bis 10. März 1864. Fast auf den Tag genau sechzehn Jahre hatte er regiert und einen Sohn gezeugt. Dieser Sohn aber, das war nicht der wahre Ludwig oder sein jüngerer Bruder Otto. Sein wahrer leiblicher Sohn hieß Josua Gietl, der davon nichts wusste. Jener Johann »Josua« Gietl, dessen offizieller Vater wiederum Ludwigs, Mias und Ottos leiblicher Vater war, namentlich und beruflich der königliche Leibarzt Franz Xaver Gietl.

Es war verworren. Es war überkreuz. Es moralisch verwerflich. Es war nie an die Öffentlichkeit oder in die Geschichtsbücher gelangt.

Mias Zwillingsbruder hatte sich in ihre frühere Welt zurückgezogen, hinunter zu den Tropfen unterm Würmsee nahe Starnberg. Wiggerl nannte Ludwig sich nun. Sie hatte ihn seit ihrer Thronbesteigung nicht mehr gesehen und nichts mehr von ihm gehört. Sie hoffte, es ging ihm gut.

Ihr Plan, ihr Ziele waren ehrgeizig, wahnwitzig und dreist, zumindest vor Bayern, aber Edel im Sinne der Elemente. Gemeinsam mit dem Giftmischer hatte sie das weitere Vorgehen ausgeheckt. Sie war selbst schuld an der Situation. Der Giftmischer hatte ihr einst die vier goldenen Kugeln der Elemente anvertraut, damit sie dem machthungrigen Oberstadtfrack, dem Bulb, nicht in die Hände fielen. Nun waren sie verteilt, überall in der ihr bekannten Welt. Von zwei Kugeln wusste sie, wo sie sich befanden. Von denen der Erde und des Wassers wusste sie es nicht. Das würde die Zeit ihnen erzählen.

Die des Elements Luft lag in einer massiven Kiste neben ihr. Sie würde sie irgendwann fortbringen müssen, da sich ein immer größerer Sturm in ihr und um ihr rankte. Die Kiste würde irgendwann bersten und ...

Die Würm trug allmählich immer mehr Wasser in sich. So viel, dass sich ihr Strom veränderte. Kam einst das Wasser aus dem Würmsee, an dem Starnberg und Schloss Berg lagen, wurde es nun noch unbemerkt zurückgedrängt. Doch es wurde nicht in den See zurückgedrängt, sondern ins unterirdische Bacherl darunter. Niemand wusste, wo sich diese Kugel genau befand.

Und die andere? Das Feuer nahe des Sees von Klatschertnass in der Tropfenwelt erwärmte unaufhörlich die Felswand. Das Element Feuer mit seinem Vorsitzenden Feierbiest arbeitete an einer Lösung. Der Giftmischer hatte es Ludwig II. erzählt.

Im Hinterhof von Josuas Großvaters Haus in Starnberg türmte sich die Erde auf. Niemand bemerkte sie. Doch als die Gestalt sich aus ihr erhob und die beiden verbliebenen Leichen schmatzend verdrückte, sehnte sie sich satt nach Ruhe.

Doch selbst, wenn sie wussten, wo all die Kugeln sich befanden, konnten sie sie doch nicht so einfach zusammenbringen und den Spuk beenden. Ihr Plan: Mia wurde zu Ludwig II. und damit König von Bayern. Der war in der Lage die vier Elemente aus der Unterwelt hinauf ans Licht der Oberfläche zu bringen und von dort in Schlösser umzusiedeln, abgelegen vor den neugierigen Augen der bayerischen Zivilisation. Große Schlösser. Neue Schlösser! Noch zu bauende Schlösser, mit Geheimgängen, mit allem, was ein Element zu leben brauchte.

»In einem Schloss sind nur Seine Majestät zugegen und die Bediensteten. Sonst niemand. Und die Bediensteten bekommt man auch raus. So kann jedes Element zurückgezogen und sicher in einem Schloss leben, unbemerkt vor der Öffentlichkeit, die nie das Innere eines Schlosses sehen wird!«

Ludwig II. stand auf und ging zu seinem Himmelbett. Auf dem Nachttisch lagen Ausführungen über Richard Wagner und ausgewählter Werke, die Ludwig verehrte. Er dachte an sein Bett damals in Klatschertnass, das kleine Zimmer mit Blick auf die Stadt und dem kleinen Schrank. Jetzt all dieser Prunk und Protz, dieses ausufernde und großzügige, das verzierte und verschnörkelte. Wieso nur wollte ihr Bruder Wiggerl, der wahre Ludwig und Thronfolger, auf das alles verzichten?

Er zog sich aus. Nacktsein. Körperanalyse. Der Grund, wieso er alleine sein wollte. Der Giftmischer schaffte zwar, dass sein Kopf männlich wirkte mit all seinen Tinkturen und Wässerchen, doch ab dem Hals abwärts wurde es schwierig. Mias Busen war zum Glück schon immer flach gewesen, ihre Figur war dennoch betont weiblich und das sollte bestmöglich kaschiert werden. Bestimmte Stellen wurden ausgestopft oder es wurde legere Kleidung aufgetragen. Sie aß viel. Zu viel. Von zierlich zu fett. Es waren nicht nur die Tinkturen, es war auch das andere Essen.

Ludwig betrachtete sich im körpergroßen und gold umrandeten Spiegel. Nun fühlte er sich wieder wie Mia. Sie griff sich in ihr Haar und verwirbelte es. Der strenge Seitenscheitel und das hoch liegende Haar verschwanden. Sie griff sich an ihren Busen, in ihren Schritt.

Sie dachte an Josua, der ihr die körperliche Liebe beigebracht hatte. Sie wollte das wieder erleben, es war so wunderschön, so intensiv. Sie war sich auch der Konsequenzen bewusst, die bei Unachtsamkeit zu bestimmten Zeiten passieren konnten. Ihre Tage lähmten sie zuweilen, doch bis jetzt ging es, auch hier dem Giftmischer sei Dank. Und diese Blutstage entfernten sich immer weiter voneinander.

Sie lächelte.

Male nicht! Keine Bilder, wo dein Pinselstrich analysiert werden kann.

Keine Gefühle, keine Schwäche! Keine Wut, keine Rache!

Erledige deine Arbeit, um nie Verdächtigungen oder Gerüchte aufkommen zu lassen!

Vergiss dein Marionettentheater! Vergiss dein altes Leben!

Stehe nie im Mittelpunkt! Ziehe dich zurück.

Wähle Worte mit Bedacht!

Bilde dich! Integriere dich!

Du bist keine Frau mehr!

Nur Männer zählen in dieser Welt!

Sie überlegte, auf die Toilette zu gehen. Auch die war nicht so wie in Klatschertnass. Keine Spülung, kein Wasseranschluss. Doch zumindest konnte sie in Ruhe ihr Geschäft erledigen und irgendwann würde sie das einbauen lassen, wie so viele andere technische Spielereien, die es in Klatschertnass bereits gab. Vielleicht kleiner als in der Menschenwelt nötig, die aber aufzeigten, wie rückständig die Oberwelt doch war. Klingelanlagen, Springbrunnen, bunte Lichter, Strom! Heizung! Fließend Wasser, Fliegen an Seilen und so vieles mehr! Sie vermisste ...

Plötzlich klopfte es und noch ehe sie »Einen Moment!« sagen konnte, wurde die Tür freudig aufgerissen.

Ludwigs und Ottos schmächtiger Erzieher Theodor Basselet von La Rosée stand in der Tür. Konsterniert riss er seine Augen auf, er riss seinen Mund auf, seine ansonsten stramme militärische Haltung verflog schlagartig. Er gaffte auf ihr Geschlecht, auf ihre Brüste, auf ihre Taille.

»Ihre … Eure … Ich meine … es tut mir leid!«

Die Tür fiel wieder zu.

Basselet, Reichsgraf, Generalmajor, war inzwischen zweiundsechzig Jahre alt und seit 1854 der leitende Erzieher im Königshaus. Spröde und nüchtern, ernst und militaristisch, verheiratet mit Ludovica Freiin v. Leuprechting, kinderlos, war seine Art der Erziehung weder bei Ludwig noch bei Otto beliebt. Absolutismus, Abgrenzung und verpönte Handreichung zu Bürgerlichen und Untergebenen lehrte er ebenso toleranzlos wie Strenge und Disziplin, Kriegsführung und Friedensverharmlosung. Alles Themen, womit der frisch gebackene bayerische König ebenso wenig anzufangen wusste, wie zuvor Wiggerl, der an seiner Erziehung, der vermittelten Werte und König Maximilian zerbrochen war.

Mia setzte sich auf eine Kiste ob des Schocks. Die Kiste rüttelte, sie brummte. Mia hatte plötzlich noch ein Problem.

Basselet hatte seine Contenance verloren. Er rannte mit all seiner Körperwucht durch die Residenz, er verlor zwei oder drei seiner Orden, er hetzte ohne Ziel, ohne Achtsamkeit gegenüber Bediensteten oder Wächtern, die ihm nur verwundert nach blickten, durch die Flure. Irgendwann blieb er stehen, irgendwo draußen in einem Hof. Über ihn glitzerten die Sterne, es war Neumond. Er keuchte schwer.

Was hatte er da gerade gesehen? Ludwig … war ein Weib, ein nicht männliches Wesen, eine Unterkreatur! Der bayerische König Ludwig II. war ein Weibsbild! Er war betrogen worden! Vielleicht war auch Maximilian II. Joseph, Gott hab ihn selig, betrogen worden, so wie das bayerische Volk nun betrogen wurde, aber noch schlimmer, die Soldaten, die Minister, der Landtag.

Wie konnte das sein, all die Jahre?

Auf der Jagd? Auf Spaziergängen? Bei Leibesertüchtigungen?

Wem konnte er sich nun anvertrauen?

Dem früheren König Ludwig I.? Der ehemaligen Königsgemahlin und Witwe Marie von Preußen? Nein, die auf keinen Fall. Kabinettssekretär Franz Seraph Pfistermeister? Karl von Schrenck von Notzing, dem Vorsitzenden des Ministerrats und Minister des Äußeren? Der Presse gar? Einem Geistlichen? Dem Erzbischof?

»Armer Ludwig auch. Dessen Jugend hin ist, mit 18 Jahren schon auf den Thron kommt, in welchem Alter er keine Erfahrung haben kann, keine Geschäftskenntnis und das in welcher Zeit.«

Worte seines Großvaters. Wusste er mehr? Sicherlich hatte Ludwig … oder sie keine vollständige Ausbildung genossen, doch Basselet war von seiner überzeugt, alles Menschenmögliche getan zu haben, damit er oder sie auf dem Stand … die Erziehung, Ausbildung … Mahnung … Respekt … Plötzlich hielt Basselet inne. Es würde so viel erklären! So viel!

Tagträumereien. Zarte Konstitution. Mädchenhafte Neugier. Frauenzimmerhaftes Verhalten gegenüber Personal und Bruder. Trolle und Elfen. Romantischer Sinn für Kunst und Literatur. Ignoranz und Abwertung von Krieg und Militär. Der Umgang mit Pferden. Er forderte die Tiere nicht, er liebkoste sie beinahe! Seine stete Jagdunlust! Das war nicht normal für einen Jungen, wenn der Graf sich das so überlegte. Kein positiver Rüpel und junger Mann wie Otto. Zielstrebig ja, aber das war wohl die Waffe einer Frau gegen die herrschende und unfehlbare Welt des Mannes.

Er lief im Kreis. Er tupfte sich die Stirn mit seinem Stofftuch. Er lief im Kreis. Er schnaufte durch. Er lief im Kreis.

Emil Freiherr von Wulffen und Hauptmann Anton Orff hatten sich mit dem Erbprinz abgemüht. Domdechant Georg Karl von Reindl, der für den Religionsunterricht zuständig war, und Beichtvater Daniel Haneberg, Abt von St. Bonifaz, schienen oft verzweifelt über die göttlichen Ansichten des jungen Menschen. Und Geschichtslehrer Meier, der vom Interesse Ludwigs an der Geschichte von Anastasius Lagrantinus Rosenstengel alias Catharina Linck berichtet hatte. Nun fügte sich ein unfassbares Bild zusammen!

Mit siebzehn Jahren hatte Ludwig begonnen, natur- und geisteswissenschaftliche Vorlesungen an der Universität zu besuchen. Dazu kam eine kurze militärische Ausbildung. Wie hatte diese funktionieren können? Wie hatte dieses Gör, diese falsche Hexe, ihr unheiliges Wesen, ihr stinkendes Geschlecht bis zum heutigen Tag verheimlichen und den Thron besteigen können?

Schiller, Shakespeare, Wagner! Französisch! Schwärmereien für den französischen Sonnenkönig! Einem Franzosen! Einem verfluchten Franzosen!

Der Staat wurde komplizierter, der soziale Strukturwandel, die Industrialisierung, die Außenpolitik um Preußen und Österreich … wie sollte ein Mädchen in der Uniform eines Königs dies bewerkstelligen können? Ein Weib war schon alleine aufgrund der Größe ihres Gehirns und der leidlich langsamen Intelligenz nicht in der Lage! Dazu der Betrug! Der Betrug an allen Bayern! Wieso blieb Gott so untätig?

»Eure Hoheit! Danke, dass Ihr mich so kurzfristig empfangt!«

Marie von Preußen hatte nur widerwillig dem späten Besuchsgesuch des Grafen und Generalmajors zugestimmt. Schwarz gekleidet, noch in offizieller Trauer, empfing sie ihn auf Schloss Nymphenburg im Audienzzimmer der Königin. Sie würde zumindest in den kühleren Monaten weiterhin hier wohnen bleiben. Schließlich war sie noch immer die ranghöchste Dame Bayerns. Sie wusste, das würde erst einmal so bleiben.

»Es muss einen guten Grund für Euer Eindringen geben, Reichsgraf Basselet!«

Der Erzieher ihrer Söhne war außer Atem, als er sich kurz verneigte und dann in den ihm zugewiesenen Sessel fiel. Die Königsmutter saß am anderen Ende des Tischs. Ihr erlittener Verlust war ihr anzusehen.

»Den gibt es, den gibt es«, hechelte er. Durchgerungen hatte er sich, mit ihr zu sprechen und nicht einem männlichen Vertrauten. Aber die Sache eilte. Er tupfte sich die Stirn mit seinem Stofftuch ab, das inzwischen schweißdurchtränkt war.

»Ich bin gespannt«, ließ Marie Ungeduld erkennen.

»Nun, Ihr mögt mir nicht glauben, aber ich habe … den König nackt gesehen!«

»Es möge Euch verziehen sein, wenn Ludwig es euch verzeiht. Erzählt es ihm, nicht mir!«

Oje. Was genau hatte er gesehen?

»Aber … er ist eine … Frau! Ich habe es genau gesehen! Sein Gemächt … war nicht da.«

»Habt Ihr Euch auch nicht versehen?«

Die Finger ihrer rechten Hand trommelten langsam auf der Lehne.

»Mit Verlaub, Hoheit, ich weiß, wie eine Dame nackt aussieht!«

Marie beugte sich nach vorne. Sie blickte sich um, ob noch jemand im Saal war. Sie waren alleine.

»Graf, Ihr wisst, dass ich gerne eine Frau auf dem Bayerischen Thron gesehen hätte. Leider waren mir Töchter nicht vergönnt und selbst wenn ich welche gehabt hätte, wäre ein weiblicher Thron an Maximilian gescheitert.«

»Das bedeutet, ihr ...?«

Basselet stand kurz vor … Er wusste es nicht. Explosion? Fassungslosigkeit? Enttäuschung? Verrat? Revolution? Einen Umsturz durch Weibsvolk?

»Behaltet Stillschweigen darüber. Es ist mein Wunsch. Sie wird ein guter König sein, mit ihren eigenen Zielen. Ich würde es lieber sehen, sie wäre offiziell eine Königin. Aber Ihr … Mannerleut, die Ihr Euch gottgleich seht … schade, dass es nie jemand erfahren wird. Das Volk nicht, die Minister nicht, die Zeitungen nicht, die Geschichtsbücher nicht. Sie werden von alldem nichts berichten. Sofern jeder Wissende seinen Mund hält. So auch Ihr.«

»Wer weiß noch davon? Ludwig I.? Otto?«

»Ihr wisst bereits zu viel, Graf. Nun geht. Bewahrt das Geheimnis!«

Der Graf verließ den Saal. Eine Frau hatte ihm gerade gesagt, was er zu tun und was er zu lassen hatte. Wenn Maximilian das noch erlebt hätte! Er ballte die Faust und zerquetschte dabei sein Stofftaschentuch so arg, dass Tropfen heraus quollen.

Otto, Ludwigs drei Jahre jüngerer Bruder, bemerkte die Verwirrtheit seines Erziehers und Lehrers am nächsten Tag. Zerfahren wirkte der Graf, unkonzentriert, abgelenkt.

Nach dem Unterricht wurde Basselet von Seiner Majestät persönlich abgefangen.

»Lieber Graf, wie geht es Euch?«

»Ich … Eure Majestät«, verneigte sich der verdatterte Graf. Sein rauer Ton, sein Selbstbewusstsein, seine Geradlinigkeit, seine breite Brust waren verschwunden.

»Ihr ward bei meiner Mutter wegen des Vorfalls gestern Abend. Das bedrückt mich, Graf. Das bedrückt sie«, sprach der König von oben herab, war er doch größer als Basselet.

»Eure Stimme … euer Aussehen … in all der Zeit ...«, er drehte sich um, niemand war zu sehen, »… ahnte ich nicht, wer in der Uniform des Königs steckt! Um es direkt zu sagen … ich kann und werde den Befehl Eurer Mutter nicht Folge leisten! Bayern muss die Wahrheit erfahren! Der Landtag! Die Minister! Alle! Alle, hört Ihr? Ihr … Du bist ein Betrüger! Ich lasse dich hinrichten, du Göre! Zuvor lasse ich dich in die Katakomben der Frauenkirche werfen, dem Vorhof zur Hölle, in der dich Gott schmoren lassen wird, bevor du ins Fegefeuer kommst!«

Hölle oder Fegefeuer? Was denn nun?

Der Graf ließ den König stehen. Ein Affront!

Ludwig II. dachte nach. Er überlegte Wiggerl aus der Unterwelt zu holen. Rollentausch. Dann die Hosen herunter lassen. Aber zum einen, wer konnte Wiggerl berichten, zum anderen, wer sollte die karge Zeit anhalten?

Und der Kabinettssekretär wartete bereits im Arbeitszimmer. Die Lösung musste warten.

Theodor Basselet von La Rosée hatte lange gewartet, die Umgebung inspiziert, abgewogen, herumgeschnüffelt und herausgefunden, wo der König, diese Hexe, sich gerade befand. Er schlich sich in das Privatgemach, wo er sie erwischt hatte. Ihr Bild in seinem Kopf: Nackt, unbedeckt und womöglich arg befleckt.

Er sah sich um, fingerte in Schubladen und beäugte alles genau. Das Himmelbett und die Kommode, der Spiegeltisch und den Schrank. Er durchsuchte den Schreibtisch, er öffnete weitere Schübe und wurde fündig.

»Das Tagebuch des Königs! Sieh an.«

Er war überrascht, dass Ludwig ein Tagebuch führte, doch … Weiber taten das! Er schlug es auf, er las darin, straff blätterte er Seite für Seite um. Das Tagebuch war noch nicht alt, es wurde seit dem letzten August geführt, mit Nachträgen wie dem außergewöhnlichen Treffen mit Otto von Bismarck.

»Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck war auf dem Weg von Gastein nach Baden-Baden, als er München passierte. Am 16. und 17. August 1863 besucht er Nymphenburg. Bei einem Mittagsmahl bin ich mit anwesend, in Beisein meiner Mutter. Meine Gedanken schwirren, ich langweile mich, ich halte mich am Champagner fest, ohne es zu übertreiben und doch beschwipst. Von Bismarck will Konversation mit mir führen, aber ich bin wenig interessiert. Vielleicht bin ich auch unsicher auf dem politischen Parkett. Wenn ich dir im Nachhinein einen Rat geben darf, dann der, dass dieser Mann wichtig ist. Schreibe ihm, aber begegne ihm nicht mehr. Er würde erkennen, dass es sich um eine andere Person handelt.«

Basselte klappte das Büchlein geschockt zu und legte es hastig zurück in die Schublade.

»Was geht hier vor?«, fragte er sich selbst.

Er untersuchte weiter. Er überlegte kurz, das Tagebuch mitzunehmen, doch es war eine Kiste, eine massive Kiste, die plötzlich seine Aufmerksamkeit erregte. Sie schien nicht königlich, nicht wertvoll, nicht verziert genug, als dass sie hier einfach so stehen konnte. Sie musste das nächste Geheimnis beinhalten. Kleidung und Korsetts, Schminke und Pomade. Aufdackeldinge.

Sie war unverschlossen. Wie konnte das sein? Nun, es gab keine Möglichkeit der Schlossbefestigung, erkannte er. Doch seinen ersten Versuch, den Deckel zu öffnen, scheiterte, zu schwer und zu wuchtig war er.

Er war nicht mehr der Kräftigste mit seinen zweiundsechzig Jahren. Er kniete sich hin, er schnaufte durch, dann wuchtete er sich mit der rechten Schulter voran gegen das dichte Holz. Der Deckel floppte auf. Erst frohlockte er, doch nur einen Augenblick später erstarrte er.

Er hatte die Büchse der Pandora geöffnet.

Wenig später. Dr. Gietl hatte sich niedergekniet. Er sah sich die Leiche genau an.

»Er sieht übel zugerichtet aus«, bemerkte Seine Majestät.

Der Doktor blickte auf zu seiner Tochter, Seiner Majestät. Er nickte. Dann packte Gietl seinen alte Arzttasche und öffnete sie. Er holte ein Papier und einen Stift hervor.

»Todeszeitpunkt … ungefähr zwanzig Uhr am 15. April 1864. Todesort … nun … hier können wir ihn nicht lassen.«

»Der Wind ist fast verschwunden. Als ob er satt wäre.«

Ludwig beugte sich über die Kiste und griff hinein. Er konnte die goldene Kugel des Elements Luft in die Hand nehmen ohne fortgerissen zu werden.

»Er muss die Truhe geöffnet haben und sogleich hat der Wirbelsturm ihn erfasst. Sieh nur die Decke oben. Und die Wand«, zeigte Gietl nach oben und zur Seite.

Die lädierten Paneelen waren Ludwig noch gar nicht aufgefallen.

»Wieso … ist der aufbegehrende Sturm nun fast verschwunden? Es ist nur noch ein laues Lüftchen.«

»Vielleicht … ist das Element dankbar für die Opfergabe.«

»Ein Opfer? Beim Empedokles! Das kann sein.«

»Gewöhne dir das ab! »Mein Gott«! Es heißt »Mein Gott«, Eure Majestät!«

»Ja, Papa.«

»Und nenn mich nicht ...«

Dr. Gietl bemerkte den Scherz.

»Was tun wir mit ihm?«

»Warten wir ab bis es Nacht ist. Er läuft gerne nach Hause. Das nutzen wir. Renken wir ihn vorher wieder ein.«

Bereits am nächsten Morgen hatten die Münchner Nachrichten die traurige Meldung vom überraschenden Tod des Erziehers, Reichsgrafs, Generalmajors und früheren Adjutanten Maximilians II. Joseph auf die erste Seite gebracht. Doch mehr wussten sie nicht.

Dr. Gietl hatte den Totenschein auf Geheiß des Königs erstellt. Natürlicher Tod auf dem Nachhauseweg, wahrscheinlich das Herz. Nach siebenunddreißig Ehejahren war Ludovica Freiin von Leuprechting zur Witwe geworden.

Ludwig II. war nach gerade einem Monat Herrschaft klar geworden, wie gefährlich ihr gemeinsamer Plan war. Er musste vorsichtiger werden. Es konnte nicht immer mit dem Tod enden, gleich ob Zufall oder Absicht. Es konnte auch nicht stets mit einem Opfer enden, um das Element zu beruhigen oder ihren Plan zu sichern.

Und er überlegte, was er am besten mit der Truhe anstellen sollte.

Er hielt ein Bild in der Hand. 1850. Schloßgarten Hohenschwangau. Darauf waren Mutter Marie, Bruder Otto, der wahre Ludwig und der vermeintliche Vater Maximilian zu sehen. Ludwig trug so etwas wie ein Röckchen. Vielleicht sollte er unabsichtlich Mia darstellen.

Als Ludwig II. musste Mia viel lernen, viel verstehen: Die »deutsche Frage«, die »soziale Frage«, »die Frage nach Staat und Kirche«, die »Frage nach aufkommenden politischen Parteien«, die »post-napoleonische Frage«, die Bayern gerade jetzt traf und er, Ludwig II. musste auf ein geeintes, ein friedliches Bayern abzielen, um die geheime »elementare Frage«, wie er selbst mit Humor interpretierte, zu sichern. Der Druck aus der Bevölkerung an einen neuen Herrscher, der familiäre Druck, der politische Druck, der Druck der Moderne und Industrialisierung. Druck, Druck, Druck, als ob er ein Dampfkessel wäre und in ihm das aufkochende Wasser brodelte.

Bemitleidet von seinem Großvater Ludwig, der philosophierte, in welchem Alter, mit welcher Erfahrung er auf dem Thron gekommen war und seine Jugend wegschmeißen musste. Mia, war es gleich, hatte sie doch nie eine Jugend und Kindheit im herkömmlichen Sinne erlebt, ein Aufwachsen, das ein normaler Mensch haben würde und sei es nur ein bisschen Spiel, Schule und Freundschaften.

Hemadlenzi.

Doch Ludwig nahm die Herausforderung an. Er brauchte eine Strategie für das zu erwartende Doppelleben, ein Leben für die Elemente, von denen niemand etwas wissen durfte, umrahmt von einem Leben, das in die Geschichte eingehen würde, ob er wollte oder nicht. Sollte etwas schiefgehen, würde er einen Geschichtsklitterer brauchen. So oder so, er musste vorsichtig sein.

Reizbegegnungen

Eine Begegnung.

Sich sehen und unterhalten, mit einem Glas Wein vielleicht.

Oder durch blumige Wörter in einem schönen Buch dir gereicht.

Wenn du alte Freunde triffst oder deine einst zufallsbegegnete Liebe heiratest.

Oder eine Vorbegegnung, während du auf die eigentliche noch wartest.

Jedes Treffen, jeder Konvent, jedes Rendezvous hat sein Begehr,

besonders wenn dein Gemüt die Person … begehrt.

»Nein. Der frühere König ist nicht in der Residenz. Er ist soweit ich weiß in Nizza. Ich weiß nicht, wo das ist.«

Der junge Stallbursche ging weiter. Er war ein Hungerhaken, seine Haare hingen ihm ins Gesicht, seine Hände waren tief in den verschlissenen Hosen vergraben. Das weiße Hemd flatterte im Wind.

Die Drexxhexx senkte den Kopf. Niemand wusste, wo ihr Ludwig verblieben war. Ludwig I., wie er nun hieß, seit sein Enkel den Thron bestiegen hatte. Vielleicht würde noch jemand anders aus der Residenz kommen und ihr helfen können. Sie stand fast unmittelbar an der Stelle, an der sie damals verhaftet worden war. Hochschwanger, hilflos, verlassen. Ludwig so nah und doch so fern.

Der Junge stand plötzlich wieder vor ihr. Er blinzelte ob der Sonne.

»Er wohnt normalerweise im Wittelsbacher … hm … ich weiß nicht, wie das heißt. Ich bin noch nicht lange hier.«

»Das Wittelsbacher Palais?«

»Ja, genau! Sie sprechen anders als die Leute hier.«

»Du auch«, antwortete sie pikiert.

»… und zwar wie ein geistig Verwirrter«, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie bedankte sich knapp und machte sich auf zur Brienner Straße. Das Palais war nicht mehr als ein Kilometer entfernt. Unweit des Odeonsplatzes stand das gusseiserne Reiterdenkmal Ludwigs, flankiert von zwei Pagen, die die Herrscher-Tugenden »Gerecht« und »Beharrlich« illustrieren sollten. Ludwig selbst hatte es 1862 dort hinstellen lassen. Die Drexxhexx fand, dass es ihm überhaupt nicht ähnlich sah. Vielleicht hatte er sich auch verändert.

Siloah blickte ihr gedankenverloren hinterher. Ihre Art zu reden war ungewöhnlich, ihre Art sich zu kleiden lausig und alt, unzählige Fetzen wehten im Schritt. Sie sah aus wie eine Zigeunerin, gleichzeitig bewegte sie sich wie eine dieser vornehmen Damen. Er zuckte mit den Schultern und machte sich auf nach Hause zu den Gietls.

Wenig später stand sie an der Nordost-Ecke Kreuzung Brienner Straße und Türkenstraße, vor einem roten, hässlichen Backsteinbau. Brutal erhob sich das Wittelsbacher Palais. Sie wusste sofort, dass Ludwig dieses Bauwerk hasste. Das Palais war nicht sein Stil, nicht sein Anspruch, eine architektonische Qual. Daher die Flucht nach Nizza.

Sie hätte einfach fragen können, ob Ludwig im Palais war, aber die weniger Wächter waren alt. Sie konnten noch wissen, wer sie war. Also setzte sie sich auf die anderen Seite und beobachtete, was vor dem Bauwerk vor sich ging. Es passierte nicht viel.

Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie wusste, wo sie vielleicht Helfer finden konnte. Sie lief zurück Richtung Residenz.

Das Haus der Gietls in München. Ein Haus der Schande und des Verderbens. Nur wusste das außerhalb der Gemäuer niemand. In der Nachbarschaft, in ganz Bayern gar, galten die Gietls als ehrbare Familie, die sogar ein verwahrlostes Kind adoptiert hatten.

Neun Tage nach König Maximilians Tod hatte der Königliche Leibarzt und Professor Franz Xaver Gietl seinen 61. Geburtstag gefeiert. Es war eine stille Feier im Kreise seiner Familie, die ohne Vergebung und Verzeihung nicht stattfinden konnte.

Das adoptierte Kind war Siloah. Für Siloah blieb nur ein kleiner Raum im ersten Stock. Doch er war nicht böse drum. Denn dieses Zimmer hatte Wände und Fenster und keine Gitterstäbe. Er konnte es sehen, er durfte es sogar selbst einrichten. Er konnte es verlassen.

Er versuchte sich von seiner Tortur, seiner Vergangenheit zu erholen. Es gelang leidlich. Ludwig II. hatte ihn als Stallburschen angestellt. Josua liebte die Pferde, sie faszinierten ihn, wie sie Ludwig faszinierten. So groß, so schön, so gehorsam. Sie konnten als Fortbewegungsmittel genutzt werden und irgendwann würde er reiten können. Die Gietls lehrten ihn abends das Lesen, Schreiben und Rechnen. Josua lehrte Siloah sein geliebtes Malen. Irgendwann sollte Siloah auf die Schule gehen können. Vielleicht schon im nächsten Schuljahr. Fünfzehn Jahre alt war Siloah inzwischen. Zu seinem Geburtstag aber wurde der Tag erkoren, am dem er das erste Mal etwas sehen, etwas erkennen konnte.

Das Sehen. Das Wiedersehen. Es war in Starnberg passiert, nach der Flucht. Als es draußen hell wurde, der Tag begonnen hatte. Die Augen hatte er aufgeschlagen und es war anders als die unzähligen Jahre zuvor. Er hatte sich vom Sofa aufgerichtet. An den Kopf hatte er sich gelangt, denn Siloah erkannte plötzlich das Zimmer. Die Möbel, die Bilder an der Wand, die Sonne, die durch die Fenster fiel, und all die Leut’, die ihn gerettet hatten. Er traute sich nicht, seine Augen zu berühren, aus Angst, es wäre wieder vorbei. Jener Morgen war der schönste Morgen seines Lebens. So schön, wie seiner Violine Töne zu entlocken.

Dr. Gietl wusste natürlich genau, wann Siloah geboren worden war. Er war bei der Geburt des Jungen zugegen. Der unausgefüllte Geburtsschein hätte fast seine Ehe zerstört.

Siloah war das Kind von Ludwig I. und Lola Montez. Er war beim Gnadenbeischlaf der beiden entstanden, etwa zwei Jahre nach der Abdankung Ludwigs I. als König. Es war die Gnade der Corps Palatia um Karl Freiherr von Schrenck von Notzing. Was danach mit der Montez passiert war, blieb verborgen. Siloah dagegen hatten sie das Augenlicht genommen und auf Herrenchiemsee verbannt. Für das, was er erlebt und der Starnberger Pfaff ihm angetan hatte, war er eine erstaunliche Frohnatur, die allmählich zum jungen und ansehnlichen Mann wurde.

Wie hatte sich Ludwig darauf nur einlassen können, nach all dem, was die Kurtisane ihm angetan hatte?

Gietl dagegen war der wahre Vater von Mia, dem jetzigen König von Bayern, Ludwig II.. Er war der Erzeuger und versuchte Mörder seines eigenen Kindes. Maximilian hatte ihn damals gezwungen, mit der Königin einen Thronfolger zu schaffen. Er selbst könne nicht, wurde ihm gesagt. Franz Gietl wusste bis heute nicht wieso. Schon alleine wegen Josua … wieso? Wieso? Dann hatte Maximilian ihn gezwungen, das Erschaffene, allein der Tatsache geschuldet, dass es weiblich war, zu beseitigen. Wie konnte er nur? Wie nur konnte der damalige Kronprinz das von Gietl verlangen?

Aber der König hatte seine Strafe erhalten. Den Tod! Und dann war da noch der andere Tod. Die beiden Todesfälle der vergangenen Wochen, König Maximilian II. Joseph und nun Graf Basselet, waren unschön und könnten verdächtig wirken.

Er, der Arzt, lebte als Handlanger des Todes unter dem Dach seiner gotteslästerlichen Familie.

Anna Maria Gietl lebte als Mörderin ihres Vaters unter dem Dach ihrer gotteslästerlichen Familie.

Johann »Josua« Gietl versuchte, die Realität zu verdrängen. Durch Lernen. Durch Malen. Franz Xaver war sein Vater, Anna Maria seine Mutter. Er war nicht der wahre König von Bayern, der wirkliche Thronfolger. Er war nicht der, der eine Mondsichel als Muttermal auf dem Rücken trug. Das untrügliche Zeichen des Äthers. Doch das wusste er nicht.

Unsterblich verschossen hatte er sich in Mia. Er, der zwei Jahre, zwei Monate und drei Tage jünger war als sie und die jetzt zu einem Mann und einem unerreichbaren König geworden war. Er hatte sich geschworen, nie eine Frau zu ehelichen oder zu lieben. Nie.

Josua Gietl lebte als Brandstifter der Herreninsel unter dem Dach der Gietls.

Abendbrot.

»Wie war dein Tag, Siloah?«, fragte Dr. Gietl.

»Der neue Hengst, von dem ich euch erzählt habe, war heute lammfromm! Er scheint sich an den Stall zu gewöhnen.«

»Es ist schön, dass du so gut mit Pferden kannst«, sagte Anna.

»Als ich mittags kurz raus bin, hat mich eine alte Dame angesprochen. Sie sprach nicht wie alle Leute hier sprechen. Und sie sah komisch aus, bestimmt schon fünfzig Jahr’!«

»Sie hat dich angesprochen? Was wollte sie?«, fragte Dr. Gietl.

»Wo der frühere König Ludwig sei. Ich sagte, vielleicht im Wittelsbacher Palais. Wo genau ist das?«

»Du weißt viel, mein Junge ...«, lachte Dr. Gietl und nickte zu Josua, seinem Lehrer. »… aber wohl doch nicht alles. Das Palais ist nicht weit von der Residenz entfernt.«

»Dort ging sie hin.«

»Sieh an. Wer mochte sie gewesen sein?«, fragte der Doktor kauend.

Die Reitmorstraße nahe der Isar. Die Drexxhexx hielt einen Moment vor der Hausnummer 28 inne. Der Viertel hatte sich kaum verändert, das schön verzierte, aber doch unauffällige, vierstöckige Stadthaus nahe der Isar stand noch da wie einst. Nur still war es geworden.

Die Corps Palatia München residierte dort noch immer, wie das Schild verriet, aber wohl in den oberen Stockwerken. Hier saßen sie also, die Verbrecher, die für ihren Untergang im wahrsten Sinne des Wortes verantwortlich waren. Als sich die Haustür unerwartet öffnete, schritt sie huschend weiter in die andere Richtung. Noch ehe die Tür zufallen konnte, war sie hinein geschlüpft.

Sie stand im Treppenhaus. Es roch vermodert und alt, das Holzgeländer war abgetragen oder splitterte, die Farbe blätterte ab. Die abgetragenen Holzstufen aber waren sauber, auch zum Keller hinunter.

Es war wie einst, so wie 1848, vor dreizehn Jahren. Unweit von hier war der Unterschlupf ihrer Alemannen, ihrer Splittertruppe, die von den anderen Corps wie Suevia, Bavaria, Isaria und vor allem der Palatia angefeindet worden war.

Oben schienen elendige Menschen zu sein, doch sie wollte ein Stockwerk tiefer. Vorsichtig schritt sie die Treppen in die Dunkelheit hinunter.

Die Tür zu ihrer alten Schäferstündchenecke stand offen. Etwas Licht fiel über ein schmales Fenster in den Raum. Sie spitzte hinein. Die Zeit war stehen geblieben. In ihr schossen Begierde und Wollust durch den Körper, wie sie es schon lange nicht mehr verspürt hatte. Auch mit ihren nunmehr dreiundvierzig Jahren wollte sie noch immer das eine, gleich ob mit Ludwig, Elias Peißner oder dem Nächstbesten. Noch immer standen die Sofas in dem Raum, das gelbe, das zerfetzte, das braune. Und der Schreibtisch. Zeitstillstand. Alles wirkte unberührt, wie kurz nach der Okkupation durch die abtrünnigen Studenten, mit ihr und Peißner an der Spitze. Die Aktion war frech damals, sehr frech!

»Gott der Herr! Ihr seid es wirklich!«

Er hatte sie erwartet und doch auch nicht, er hatte an sie gedacht und doch auch nicht. All das, was er gehört hatte in den letzten Wochen oder Monaten gar, er hatte es für logisch erklärt und doch war er nun mehr als überrascht, als sie tatsächlich hier aufgetaucht war.

Er stand direkt hinter hier. Er nahm ihre Hand, er drehte sie zu sich und küsste sie auf die Wange. Der Glanz in seinen Augen, seine Mimik und Gestik, alles war ein Hort der Freude und Überraschung. Bei ihr war es nur die Überraschung.

»Wer …?«

»Und doch … darf es nicht wahr sein. Ihr … seid doch tot, erzählte ein Jeder! Jahrelang tot! Verstorben in den Staaten, weit weg von hier, da wo nun ein Bürgerkrieg herrscht! Man hat Euren Tod vor mindestens drei Jahren vermeldet! Verstorben in New York an einer schweren Krankheit!«

Er zog sie zurück in den Flur, hinüber zu seinem Zimmer, in das er vor Wochen zurückgekehrt war, nach all den Selbstmordversuchen, Irrungen, Wirrungen seit Maximilians Rauswurf und Tod.

»Wie Ihr seht bin ich quicklebendig.« Sie musterte ihn. Schließlich erkannte sie ihn als … »Hubertus! Du bist es! Es tut mir leid, das Licht hier … Gut schaust aus!«

Geschäftig entflammte er noch ein paar Kerzen, die überall im Raum verteilt waren. Die Photographie mit dem verstorbenen Geliebten und König Maximilian versteckte er geschwind und geschickt.

»Ist dir jemand gefolgt? Hat dich jemand gesehen? Was tust du hier?«, fragte er.

»Wer soll mir schon folgen? Niemand weiß, dass ich hier bin. Dass ich lebe gar!«

»Was … zum Trinken? Wir müssen anstoßen! Es müsste noch Wein hier sein. Oder Bier.« Er holte Gläser aus einem Schrank und entkorkte eine verstaubte Weinflasche. Kurz roch er daran, er schien noch gut zu sein. Nervös füllte er die Gläser.

»Wie ist es dir ergangen in all der Zeit? Es hat sich viel verändert in München. Was macht der König? Und vor allem, was macht der alte Ludwig?«

»Es gibt viel zu berichten, sehr viel sogar.« Er reichte ihr ein Glas. »Setzen wir uns, setzen wir uns! Es ist … unglaublich!«

Sie setzten sich aufs Bett. Hubertus von Müller grinste breit.

Was würde dieser Arsch Karl von Schrenck dazu sagen? Oder der neue König? Der alte König? Das Unglaubliche war eingetreten! Wie soll ich nun verfahren? Ein Plan! Ein Plan!

»Schön hast du es eingerichtet. Lebst du hier?«

»Nun, deine Liebesecke war drüben, meine ist nun hier. Es gibt so viel zu erzählen! So viel! Wo warst du? Dein Deutsch ist wesentlich besser, als ich es in Erinnerung habe!«

»Dann fange Er an!«

Und er begann zu erzählen, was in all der Zeit seit ihrem Verschwinden, seit ihrem Tod gar, passiert war. Doch er kam nicht allzu weit. Sie packte sich den schnieken Kerl und gab sich endlich wieder einem Mann hin. Es war das erste Mal seit Ludwig, als er schon nicht mehr König war. Und sie ihm daraufhin ein Kind gebar. Sie war noch immer die Kurtisane, danach würde sie ihn ausfragen nach all den Regeln ihrer nie verlernten Kunst.

Hubertus ließ es über sich ergehen, in Gedenken an Maximilian. Den Akt fand er widerlich.

Der Abend war nicht mehr weit.

»Ein Brief? Um diese Zeit?«

Der alte Ludwig nahm das Kuvert des Dieners entgegen und öffnete ihn an seinem Schreibtisch. Er war im Moment auf Schloss Nymphenburg, doch ihn zog es zurück nach Salzburg oder Nizza. Das Wittelsbacher Palais blieb als ungeliebte Alternative.

Er überflog die krakeligen Zeilen und wurde blass. Das konnte nicht sein. Die Wahrhaftigkeit des Schreibens erschien ihm nicht plausibel. Sein Blick verlor sich in Raum und Zeit.

Wie lange mochte es her sein? Mehr als zehn Jahre?

»Meine Ausgehsachen, sofort!«

Wenig später traf der frühere König am Chinesischen Turm im Englischen Garten ein. Neben dem Turm drehte ein Karussell seine Runden. Trotz der inzwischen abendlichen Stunden tollten noch Kinder auf ihm herum, auf Kutschen und Wagen, Schlitten und Pferden. Im Hintergrund intonierte eine Jahrmarktsorgel »Heinzelmännchens Wachtparade«.

Er blickte auf die Spitze des Turms. Er war um die fünfundzwanzig Meter hoch und aus Holz. Er erinnerte an einen chinesischen Tempel im Stil einer Pagode. Seine fünf Etagen waren an deren Außenseite mit Schindeldächer verziert. Für den interessierten Besucher bot der Turm einen wunderhübschen Ausblick auf den Park und die Stadt.

Ludwig machte sich auf, die Stufen nach oben zu erklimmen. Oben angekommen, sah er sie stehen. Er erkannte sie sofort. Wie sie da stand. Wie dünn sie war. Wie anmutig, trotz verschlissener Kleidung. Wie die aufgehende Knospe einer Rose. Vor ihr lag München.

»Lola? Bist du es wirklich?«

Sie drehte sich um und fiel ihm weinend in die Arme.

»Das … das darf nicht wahr sein.«

Dr. Gietl saß in einer Kutsche unter einer Nachtlichtfunzel seiner Hausstraße. Gegenüber von ihm saßen Ludwig und die verstorben geglaubte legendäre Lola Montez.

Die Montez wurde sofort direkt: »Wo ist mein Sohn?«

»Euer … Sohn? Ich … nun … Ihr lebt?«

In Siloahs Kemenate im ersten Stock brannte Licht. Gietl hätte es sehen können, wenn er gewollt hätte.

»Sagen Sie es mir, oder …«, zischte sie.

Ludwig hielt sie mit einer leichten Armbewegung zurück.

»Ruhig, Lola. Doktor, wir kennen uns wie lange?«

»Eure Majestät, Ihr müsst mich nicht daran erinnern. Ich war und bin dem Königshaus immer loyal verbunden. Ich habe sehr viel auf mich nehmen müssen, mehr als Ihr erahnt.«

Was weiß er? Was weiß sie? Herrgott, ich darf keinen Fehler machen! Sie hat überlebt! Sie hat überlebt wie Mia. Weil die Schergen sie an der gleichen Stelle in den See geschmissen hatten wie ich Mia damals. Es war klar, so klar! Die Photographie! Ich hatte einst den Säugling photographieren können, ich hatte gelernt aus der Geburt der Zwillinge. Ich hatte es entwickeln lassen. Es war nicht perfekt. Ich hatte es dem Giftmischer gegeben, ohne etwas zu fragen, ohne etwas dazu zu sagen. Auf der Rückseite …

»Doktor, was könnte mit dem Säugling nach der Geburt passiert sein?«, fragte Ludwig mit ruhiger Stimme.

Der Doktor schwitzte, er spielte mit seinen Händen. Was war nur los? Jahrelang herrschte Stille. Er musste mit seinen Problemen und Gewissensbissen alleine zurechtkommen. Seit er mit ihr in Starnberg zusammengestoßen war, hatte sich die Welt verändert. Seine Welt. Die seiner Familie. Inzwischen die ganz Bayerns gar.

»Doktor, was ist nach der Entbindung passiert? Ich weiß von nichts mehr!«, sprach Lola Montez.

»Ich … hatte Euch damals Morphin verabreicht, zusammen mit einer anderen Substanz.«

»Morphin? Nie gehört.«

M wie Montez.

»Es ist noch unbekannt in unserem Landstrich. Es stellt den Patienten ruhig, in dem Fall setzte es Euer Hirn außer Gefecht. Ihr wisst daher nichts mehr, nichts von dem Schmerz, der Geburt, dem Danach. Ihr hattet das Kind auf die Welt gebracht, wahrlich ... einen Sohn.«

»An das erinnere ich mich noch. Es ist wohl das einzige, an das ich mich erinnere. Das Kind war draußen, ich sah ihn kurz und er wurde fortgeschafft. Entführt!«

»Ich habe das Kind einem Soldat übergeben. Wochen später habe ich erfahren, dass dieser Soldat vom Pferd gestürzt sei und sofort tot war. Angeblich das Kind ebenfalls. Nachfragen wurden ignoriert, mir wurde sogar gedroht. Ich halte seitdem still. Ich habe öfters Warnungen zu hören bekommen. Direkt nach der Geburt wollte ich die Urkunde vervollständigen, doch sie untersagten es mir. Die Worte waren: »Es ist nicht notwendig.« Also ließ ich es bleiben. Ich weiß nicht, was mit mir passiert wäre, wenn …«

»Wer sagte das?«

»Ein Liebling Eurer Majestät ... Karl Freiherr von Schrenck. Also … der verstorbenen Majestät.«

»Dieser Bastard! Vielleicht hilft uns das schon weiter. Danke, Doktor«, lächelte der alte Ludwig.

Der Doktor war nach Hause entlassen worden, sehr zum Missfallen Lola Montez’. Er versprach Stillschweigen zu bewahren.

»Wir hätten ihn nicht gehen lassen dürfen. Er weiß mehr. Er hat nur Schiss seine vergoldete Anstellung zu verlieren.«

»Würdest du anders handeln an seiner Stelle? Sieh dich draußen um. Die meisten Leute leben von der Hand in den Mund. Und diese Hand ist schon leer.«

»Er ist ein schwacher Charakter, weil er weiter in Diensten bleibt.«

»Er ist ein guter Arzt und Professor, sehr integer. Seine Arbeiten und Veröffentlichungen sind über alle Zweifel erhaben. Die Mächte, die hinter der Geschichte stehen, meinst du von Gietl würde da aufbegehren? Für was? Er hat Familie! Er ist nicht machtbesessen. Er ist nicht die entscheidende Figur.«

»Es geht um unseren Sohn, Ludwig! Er hat ihn entbunden! Er hat mich ...«

»Lassen wir die Sache auf sich beruhen! Lass uns nach Nizza gehen. Unser Kind ist tot, Lola! Es ist tot!«

Der Bulb. In dem Moment dachte der alte Ludwig an den Bulb. Hätte es Konsequenzen? Wohl kaum. Der Säugling wäre bei Weitem nicht sein erster Sohn ...

»Wie kannst du nur … so sein? Dein ältester Sohn steckte dahinter. Und dieser Schrenck. Du hast es doch gehört. Alles hatten sie geplant! Alles! Sie wollten uns ein auswischen. Sie wollten meine Taten nicht durchgehen lassen. Sie wollten sich nicht mit einem einfachen Rücktritt von dir abspeisen lassen. Sie wollten die ganze Rache. Die Corps Palatia. Schrenck als Palatia-Alt-Mitglied, dazu seine politische Karriere. Und dann dein Sohn. Er hasste dich dafür, dass er so früh und deinetwegen auf den Thron musste. Rache. Rache an uns und an unserem Sohn. Wir waren naiv, so naiv! Deshalb haben sie mich verschwinden lassen. Vielleicht haben sie auch unseren Jungen verschwinden lassen. Und du willst nach Nizza? Das ist alles, was dir einfällt?«

»Nun … ja. Ich bin alt, Lola. Meine Zeit geht zu Ende. Ich habe nicht mehr die Kraft … und du lebst! Sie hätten dich damals mit dem Kind im Bauch töten können!«

Sie krallte sich an ihn: »Eben weil wir nicht mehr viel Zeit haben, müssen wir unseren Sohn finden, Ludwig. Ludwig, es ist unser Kind! Wer weiß, was mit ihm gerade geschieht?«

»Ich muss erst einmal verarbeiten, dass du wieder da bist. Bedenke, was du mir auch angetan hast. Die Nacht damals, die Gier der Lenden war stärker als die Schreie der Warnungen in meinem Kopf. Es war dumm und blauäugig. Sicher hatten sie nicht geplant, dass ein Kind entsteht. Wie groß auch war die Chance? In Nizza sind wir sicher! Niemand weiß, dass du hier bist.«

»Niemand außer von Müller.«

»Was sagst du da? Müller? Hubertus von Müller? Wieso …?«

»Er war meine Anlaufstelle um zu dir zu gelangen.«

»Er ist hier in München? Er ist ein Lakai von Karl von Schrenck! Du kannst ihm nicht trauen!«

»Aber das ist doch wunderbar! Von Schrenck war bei der Geburt unseres Kindes anwesend, wenn Gietl nicht lügt. Willst du dich nicht auch an von Schrenck und der Corps Palatia rächen? Was sie dir angetan haben, was sie mir angetan haben? Sie haben deine Autorität damals untergraben, sie haben uns gespalten, sie haben dich zum Rücktritt …«

»Schluss!« Er massierte sich die Schläfen, dann schlug er die Beine in die andere Richtung übereinander, von ihr weg. »Was schlägst du vor?«

»Er soll für uns spionieren. Von Schrenck aufschrecken!«

»Hubertus von Müller … wieso er? Warum sollte er das tun?«

»Er war bei den Lolamannen.«

»Bei den Lolamannen? Das ist lange her. Wie alt mochte er da gewesen sein? Ist er heute nicht in der Corps Palatia?«

»Umso besser. Schatz, wir müssen erfahren, wo unser Kind geblieben ist. Mein Warten, mein Leiden, mein Verstecken muss doch einen Sinn gehabt haben.«

»Wenn wir Schrenck direkt fragen? Ihm das Bild zeigen?«

»Er ist ein mächtiger Mensch. Wir sollten uns das genau überlegen. Ich will nur wissen, wo unser Sohn ist.«

»Wo nur warst du all die Zeit?«

»In einer anderen Welt. Unter einem See.«

»Unter einem See?«

»Eine eigene Welt. Ich bin durch den See gefallen. Ich habe dort gelebt, die Sprache endlich gelernt. Sie wollten mich ertränken … oh mein Gott!«

»Was ist?«

»Einer von den Burschen, die mich damals umbringen sollten, sagte, dass der Doktor empfahl, die beste Stelle wäre bei Schloss Berg. Dort hat der See seinen tiefsten Punkt. Sie steckten mich in eine Kiste, damit ich alles bei vollem Bewusstsein … der Doktor … das kann nur Gietl gewesen sein!«

»Er wollte deinen grauenvollen Tod?«

Ludwig war plötzlich ungehalten. Er wollte zum Tür greifen, als …

»Ludwig, was habe ich den Menschen nur getan? Es ging doch nur um uns!«

Erneut wandte sich Ludwig zur Tür.

»Wir stellen ihn zur Rede!«

»Nein, nein! Was, wenn er es nicht war? Was, wenn der Plan ein anderer war? In dieser Welt lebte ich zurückgezogen. Die Einwohner nannten sich die Tropfen. Es war nicht die tiefste Stelle, sicher nicht! Sie war beinahe seicht! Erst der Sturz durch den Boden … offenbarte die Tiefe. Doch ich überlebte beinahe unverletzt.«

»Du warst bei … den Elementen? Dem Element Wasser?«

»Woher … weißt du das?«

»Ich war ein Melder, als ich noch König war. Ich musste einem Kobold, einem Bulb, berichten, wie die Welt hier fortschritt. Was geschah, was passierte, was blieb, was ging. Ich war auserwählt, so wie Maximilian auserwählt war. So wie der jetzige König … auserwählt ist.«

»Wie hängt das zusammen?«

»Ich weiß es nicht, Lola. Ich weiß es nicht. Was ist das?«

»Ein Bild deiner Familie.«

»Meiner Familie? Oh, ich kenne das Bild.« Er hielt es Richtung Fenster zum Straßenlicht. »Aber … es sind nur ich und Marie darauf?!«

»Wer stirbt, ist nicht mehr auf dem Bild. Es ist eine Eigenheit der Welt da unten. Ich wartete und hoffte jahrelang, dass dein Sohn von diesem Bild verschwindet, so wie deine Frau bereits verschwunden war. Doch nichts geschah. Jetzt ist er gestorben und verschwunden.«

»Das … ist Zauberei!«

»Hier.«

»Was ist das?«

»Ein Bild unserer Jungen.«

Ludwig nahm es zögernd.

»Woher weißt du das?«

»Es war wohl der Giftmischer, der es mir damals untergeschoben hat. Auf der Rückseite steht ein Datum. Es ist das Geburtsdatum. Sein Geburtsdatum! Und er ist immer noch auf dem Bild! Er lebt also! Er lebt, Ludwig!«

»Oder es war dieser Bulb. Er muss von da unten kommen. Vielleicht sind die beiden Personen auch identisch.«

»Und ich habe noch ein Bild.«

»Noch eines?«

Ludwig lächelte schief.

»Ich habe es von Müller gestohlen. Er hatte es heimlich weggelegt. Es wird dich interessieren.«

Lola hielt es ihm hin. Ihm fiel sofort die außerordentlichen Qualität auf.

»Woher ist diese Photographie? Sie sieht nicht echt aus. Und doch ...«

Sein Sohn Maximilian innig mit Hubertus von Müller. Ludwig nahm es hin und schwieg. Er gab ihr das Bild zurück.

»Gräme dich nicht. Es gibt viel zu erzählen.«

»Damit fällt er als Spion für uns aus. Wir fahren ins Wittelsbacher Palais. Da sind wir ungestört.«

»Diese Hure!«

Hubertus von Müller warf die halb geleerte Bierflasche gegen die Wand. Erst musste er den Beischlaf mit einer Frau, einer alten Frau, über sich ergehen lassen, dann hatte diese Badhur auch noch sein Bild geklaut. Seine letzte Erinnerung an Maximilian, gut wie schlecht. Sie war noch immer durchtrieben und böse. Das würde sie büßen.

In dem Keller unter der Reitmorstraße 28 konnte er sich nicht mehr blicken lassen.

»Meinen Segen haben Sie!«

Zufrieden und voller Ehrgeiz hatte Johannes Rothschild die Redaktion der Münchener Zeitung verlassen. Er hatte sich die Erlaubnis geholt, Nachforschungen über die beiden zeitlich nahen Todesfälle im Königshaus anzustellen, König Maximilian und dem Erzieher seiner Söhne, Generalmajor Graf Theodor Basselet. Bloß … wo sollte er beginnen?

Vielleicht bei Dr. Gietl, mit dem er bereits zu tun hatte. Vielleicht würde er wieder sein Herz ausschütten.

Er ging zuerst nach Hause. Es war kalt geworden, an diesem Abend. Er legte Frack und Zylinder ab und begann seine Notizen zu sortieren.

Die Wohnung hatte er sich neu einrichten müssen, als er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Er war schmerzfrei und doch hatte er nie herausfinden können, ob es eine antisemitische oder journalistische Tat gegen ihn war. Und der Polizei war es gleich.

Die aktuelle Ausgabe der Münchner Nachrichten lagen neben ihn. Ein Bericht war voll des Lobes über den jungen König.

»Schön und begabt, intelligent und mit außerordentlicher Macht und Verantwortung ausgestattet, wird dieser junge König das Königreich Bayern samt seiner fünf Millionen Einwohner regieren, verwalten und in die Zukunft führen.«

Fünf Millionen Bayern, Sühne, Töchter, Mütter, Väter!

Sechsundsiebzigtausend Quadratkilometer,

Besuch sie, besuch sie, heute, nicht später!

Rechts des Rheins Bayern, links a bissel die Pfalz!

Gott erhalt’s! Gott erhalt’s!

Schallt er! Schallt er da oben! Doch du glaubst nicht daran!

Siebzig Prozent katholisch, Bischof, Pfarrer, Dekan!

Alles hast du brav gelernt,

Es ward in dein Hirn eingebrannt, nichts entfernt.

Wirtschaftsstruktur Landwirtschaft,

mehr hat Bayern nie geschafft.

Doch fast vierzig Prozent neben der Landwirtschaft,

wird in Handwerk, Gewerbe, Handel, Verkehr und Dienstleistung geschafft.

Ein Wiederholreim! Ein Wiederholreim!

Das darf nicht sein, das darf nicht sein.

Aber es ist doch ein Fiebertraum,

der braucht sein Echo im Raum, im Raum, im Raum.

Seltsame Worte gelernt in deiner Schnellbildung,

wie Verbrauchsgüterherstellung in der Industrialisierung.

Bayerische Arbeiterbewegung macht das Wort Bewegung neu!

Auch dieses, ein Gräuel, ein Gräuel.

Agrar zur Industriegesellschaft, Bayern ein Schwellenland

das hat man erkannt,

mehr Verkehr durch staatlichen Schienenbau,

dieses Stahlmonster, Stahlmonster, Radau, Radau!

Politik, Parteien, Prozesse und Possen,

Berichte in Zeitungen gegossen.

Streitkultur, Reformgesetze, Gewerbefreiheit, Freizügigkeit,

Dynamisierung, ökonomische Entwicklung, Regierungszeit.

Verfassung von 1818, Veränderung 1848,

konstitutionelle Grundordnung, zickig, zickig.

Grundrechte, Gewissen, Gleichheit vor dem Gesetz.

Landtag, zwei Kammern wie das pulsierende Herz,

gehetzt durch stupides Selbstdarstellergeschwätz.

Geschehen durch Minister, eingesetzt vom Oberhaupt,

Teil des Staats, der König, Fieber unter seiner Haut.

Berufung und Entlassung des Gesamtministeriums,

Recht und Pflicht der ministeriellen Gegenzeichnungsmonstrums.

Staatsgerichtshof als Vermittler und Instanz,

bittet er zum Verantwortungstanz.

Landtag, eine Kammer, soziale Führungsschicht, Reichsräte, ungeniert.

Landtag, zweite Kammer, Besitz- und Bildungsbürgertum, Wahlen privilegiert.

Keine Frau, o keine Frau mit einem Stimmzettel in der Hand,

alles ein Männerland, ein Männerland, machtgetrieben, ohne Verstand.

Bald sind wieder Wahlen, Wahlen,

wo sich Gewinner in der Sonne aalen.

Konservativ-katholisch, bäuerlich,

großdeutsch-antipreußisch,

föderalistisch bis partikularistisch

antiliberalen Patriotenpartei am Urnentisch.

Fortschrittspartei, liberal,

Bildungs- und Besitzbürgertumfanal.

Sozialgesetzgebung und Kulturkampf

mit Streben nach kleindeutschem Lösungskrampf.

Was ist bayrisch’ Land, was ist deutsch’ Gebiet?

O Mia, o Ludwig, der da niederkniet.

Zu viel für dich, zu viel für dich in der kurzen Zeit.

Mia, Mädel, du bist nicht bereit, nicht bereit …

Schraubstockfigaro

So viele Dinge, die man haben kann,

als Frau, als Mann,

doch etwas, was man hat einmal nur,

das ist auf deinem Tez die Frisur.