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Das Jahr 2066. Die Menschheit hat die Möglichkeit ewig zu leben. Bei guter Pflege sind Körper und Geistes unsterblich. Während die USA noch mit der Freigabe hadert, bringen sich hinter den Kulissen die Reichen und Mächtigen in Stellung. Devin Stervals, Inhaber der Firma LifeGenom, setzt alle Hebel und Mechanismen in Bewegung, die Regierung der USA von der Ewigkeit zu überzeugen, während Europa zögert und der Vatikan allmählich aus der Lethargie der unglaublichen Nachricht erwacht und erste Maßnahmen ergreift. In diese Machtkämpfe geraten Maxx, Student, und sein Zwillingsbruder Smoath, Mitarbeiter bei LifeGenom, sowie deren online lebender Kumpel Freak. Es ist ein böses Spiel mit ihrer Vergangenheit und der Zukunft. Teil 2 des fünfteiligen Science-Fiction-Thrillers.
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Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2023
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oliver marco
un:sterblich 2
:: vor ungottes gnaden ::
DER SCIENCE FICTION ROMAN
2
] DIE SPALTUNG [
{buddha: »wenn es sich lohnt, etwas zu tun, dann tu es von ganzem herzen.«}
Nordkorea, an der Grenze zu China
»Was du da erzählst sind nichts als Lügen!« Die Zähne des Obersten Wachmanns waren schwarz, sein Mundgeruch ließ Lee würgen. Aber sein Mandarin war perfekt, seine Worte hart, sein Schlag in Lees Genitalien brutal. Zwei Wächter hielten ihn fest, damit er nicht vom Stuhl fiel. »Es gibt nur einen Menschen, der ewig lebt und das ist unser geliebter Präsident. Noch so eine ungeheuerliche Lüge und wir werden deine Nerven bahnen durchschneiden!«
Lee war am Ende. Sie hatten ihn ausgezogen, ihm seinen letzten Rest Kleidung und Stolz genommen. Er hatte es mit der Wahrheit versucht. Geheimdienste hatten seine Frau ermordet, er selbst sei als Christ auf Flucht vor der Zwangsoperation zum ewigen Leben. Hätte er sich als Flüchtling ausgeben sollen? Aber wer würde schon nach Nordkorea flüchten, weg von China, der großen Industrienation, einer der größten der Welt? Sein Plan war fehlgeschlagen.
»Liya.«
»Was? Rede lauter!«
»Liya.«
Lee röchelte, sein Magen rebellierte, er bekam noch immer kaum Luft. Welche Foltermethoden würden sie noch anwenden? Strom, Wasser, Strom mit Wasser, genmanipulierte Viren, Simulationen, er wusste es nicht.
»Wer ist Liya?« Der Wachmann drückte Lee zurück an die Stuhllehne. Lee glotzte ihn nur erschöpft an. Er hatte nicht mehr die Kraft zu sprechen, seine Augen fielen nach hinten, er sackte weg. »Schafft ihn fort.«
+++ afrika-staaten planen einreiseverbot für reAger +++
+++ unruhen bei besuchen befürchtet +++
+++ rassismus in new orleans +++
+++ farbige prügeln am helllichten tage weißen fast zu tode +++
+++ täter entkommen +++
+++ statistik: 59% der amerikaner können sich operation nicht leisten +++
+++ schuldenberg und abzocker erwartet +++
+++ heimatschutz meldet austrocknung +++
+++ stetige auflösungen gewaltbereiter und staatsfeindlicher gruppen +++
Washington D.C.
Der Sicherheitsbeauftragte und Stabschef in Personalunion selbst brachte den Kaffee in das große und leger eingerichtete Wohnzimmer des Weißen Hauses. Präsident Cone lümmelte müde und abgeschlafft in einem Sessel und stierte geradeaus. Sein Hemd war halb offen, die Hose voller Falten. Das waren die Momente, in denen früher eine Zigarette angesteckt wurde. Aber die Raucherlobby hatte ihren Kampf inzwischen verloren und Cone begnügte sich mit seinem Daumennagel. Jim Allen goss die beiden Tassen voll und setzte sich auf die Couch links von Cone.
»Die Politik ist am Ende, Jim.«
Allen nickte nur. Trotz der frühen Morgenstunde war er adrett und ordnungsgemäß mit einem Anzug bekleidet. Viele munkelten, er schliefe auch so. Einen Pyjama, wie er wieder in Mode kam, oder gar ein Bett besäße er bestimmt nicht. Allen dagegen wusste, dass Organisation nicht das halbe, sondern das ganze Leben war.
»Jim, Jim, Jim ... Gott hat uns verlassen«, brabbelte der Präsident weiter. Er griff auf die Unterseite des Sessels und zog eine uralte Flasche mit bräunlich schimmernder Flüssigkeit hervor. Er goss diese in den Kaffee bis die Tasse fast überlief. Dann nahm er einen fetten Schluck aus der Pulle und versteckte sie wieder unter dem Sessel, denn Alkohol in Privatbesitz war verboten. Aber war das privat? Er genoss die Wärme in seinem Mund, das Prickeln, die Stärke des Alkohols, er spürte, wie er brennend den Rachen, die Speiseröhre bis in den Magen hinunterlief. Er hustete leicht. »Weißt du, was die Ironie des Ganzen ist? Die Ironie ist, dass Kinder immer ein Problem der Gesellschaft waren. Jetzt kommt die Chance, dieses Problem ein für alle Mal zu beseitigen. Und wir sind dagegen. Weil wir immer dagegen sind. Wir wollen bewahren, bewahren, bewahren.«
»Wir sind dagegen, weil wir Menschen sind, Sir. Kinder sind ein Spiegel der Gesellschaft und dieser Spiegel hätte öfters geputzt werden müssen.«
»Jim, die letzten Jahrzehnte sind für Kids unerträglich geworden. Der Lerndruck, unsere schnelllebige Zeit, die Kluft zwischen Arm und Reich, die beiden Welten Web und Real World, die Veränderung der Sprache, die Reduzierung der Wörter, die ersten Tage der Regel bei Mädchen, Jungs, die nicht mehr wichsen, keinen Trieb mehr haben und dadurch nicht mehr wissen, wohin mit all dem, was in ihnen drin ist. Haben Sie noch Bock auf Sex? Früher … da gab es ein Verlangen. Es ist wie weggeblasen! Und das meine ich nicht als Scherz, den du sowieso nicht verstehst. Die zunehmende Aggressivität, die Vorurteile der älteren Generation … vielleicht ist es ein Zeichen Gottes, dieser Entdeckung des ewigen Lebens als neue Form des Daseins Tribut zu zollen. Aber es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis sich China oder irgendein anderes Land dieses Gentlemen’s Agreement auf die Seite legen und zu ihren Unsterblichen noch weitere hinzufügen. Ich bin mir sicher, irgendwann überrollt China mit seiner Menschenmenge die Welt. Vorher klonen sie alle noch.«
»Aber wenn eine unendliche Frau, deren Zellen ja so verändert sind, dass der Körper nicht altern kann, ein Kind in sich hat, dass gentechnisch ja die gleichen Zellen hervorbringt, altert der Embryo dann überhaupt? Wird er größer, bildet er sich aus, wächst er? Ich bezweifle das.«
»Und wenn schon. Klonen. Einfach klonen! Im Labor! Wie jetzt schon, nur … ach was weiß ich. Ich bin zu alt dafür.«
»Aber Sir, wenn sie Klonen könnten, könnten sie das auch ohne ewiges Leben tun. Und auch eine GenBox wäre theoretisch ohne Genmanipulation möglich.«
Cone hielt kurz inne. Jim hatte Recht, wie so oft. Doch es war ihm scheißegal.
»Ich bin der letzte Präsident dieses Staates, Jim.«
»Wollen Sie doch ewig leben, Sir?«
»Rede keinen Stuss! Ich kapituliere vor solchen Institutionen wie LifeGenom und dem UnitedWorldNet. Wenn ich an Leute wie Tami denke, die zu mir kommen, um ihre Produkte durchzusetzen, dann kommt mir das kalte Kotzen. Selbst die UNO ist doch eine Organisation ohne Durchsetzungskraft, wie schon vor sechzig, siebzig Jahren. Wir stehen vor einer neuen Weltordnung. Einer Weltordnung, die abhängig ist von einer Firma mit einem Monopol-KnowHow und der Reaktion von Schurkenstaaten. Stervals verlangt von mir klare Regeln. Hat er jemals darüber nachgedacht, wie viele Menschen er ins Unglück stürzt? Lehrer, Erzieher, Altenpfleger, Spielzeughersteller, Geburtshelfer? Und die entsprechenden Gebäude können wir auch abreißen!«
»Sir, nicht alle wollen ewig leben. Ihre konservative Haltung hat auch dazu beigetragen, dass Werte wieder etwas gelten. Weil Sie vorhin die sprachliche Veränderung angesprochen haben, selbst das ändert sich wieder. Es ist wieder chic, altherkömmlich zu schreiben. Zu schreiben, Sir!«
»Wer schreibt denn heutzutage noch? Sie sprechen in ein Mikro und die Sache hat sich. Und das in diesem Minilin, einer Sprache fast ohne Wörter. Egal, aber wenn es so ist, wie du sagst, werden wir dann zwei Gesellschaften haben? Oder wird eine versuchen, die andere …?«
»Ich weiß es nicht, Sir.«
Cone reichte Allen die Flasche.
+++ ausschluss aus verfahren zur operation für ewiges leben? +++
+++ schulreform unerwartet auf eis gelegt +++
+++ demographische entwicklung abwarten +++
+++ radikalgläubige drohen mit selbstmordanschlägen +++
+++ reAger sollen in die luft gejagt werden und sterben +++
+++ radikale aus allen glaubensrichtungen: christen, islamisten ... +++
New York City, Bronx
Shining, der an einem herrlichen Sommertag vor knapp einundzwanzig Jahren geboren worden war, starb an einem kalten, regnerischen Mittwoch. Seine Brust, auf die er stolz das Unendlichkeitszeichen von LifeGenom hatte sprühen lassen, verbrannte aufgespießt in einer dunklen Gasse kurz nach Mitternacht. Am Ende verkohlt warfen sie den schwarzen Patzen streunenden Hunden vor die Füße. Dann zündeten sie sein ausgeschnittenes Herz an. Die Bande beobachtete still das kleine, warme Feuer.
Den Geruch von verbranntem Fleisch zog .3 tief in ihre Nase so wie der Duft eines glorreichen Sieges das Aroma von außergewöhnlicher Macht war. Kurz drehte sie ihre MusicDrug lauter, ein Gerät, das über MicroKabel tief in ihre Ohren hinein geile Musik nach ihren Gedanken und Emotionen spielte und irgendwo in ihrem Kopf materialistisch und basslastig wiedergab. Sie stöhnte kurz lustvoll auf, Leichtigkeit im Kopf, ehe sie sich wieder auf das Geschehene besann. Shinings Restleiche lag mit der riesigen klaffenden Wunde unwirklich verrenkt in einer Pfütze voll von geschmolzenem Schneewasser, das sich langsam blutrot färbte.
»Wie konnte er sich das nur leisten?«
Scream ließ den abgenagten Stock auf den Boden fallen, stopfte seine Hände tief in die Hosentaschen seiner zerrissenen PVC-Hose und glotzte teilnahmslos auf das nur noch leicht brennende Etwas vor ihm. Unmenschlich geschrien hatte Shining bis zum Schluss, der Schrei noch immer in ihren Köpfen wie ein verdammter Tinnitus. Die jetzige Stille war auffällig. Aber nicht für Scream. Seinen Namen trug der 15-jährige mit dem Wuschelkopf zu Unrecht. Noch nie hatte er geschrien, angeblich nicht einmal bei seiner Geburt.
Alle stierten sie auf das Holz, die verkohlten Teile oder die Leiche und ließen sich die gestellte Frage durch den Kopf gehen. Sie kannten Shining, ein unscheinbarer und ehrlicher Latino mit asiatischen Wurzeln aus der Nachbarschaft. Und aus der Nachbarschaft bedeutete ohne Perspektive, arm, arbeitslos, gesellschaftstot. Dennoch war Shining auf der Insel gewesen.
.3 steckte ihr frisch geputztes Messer zurück in den Schaft und beobachtete das langsame Fressen der züngelnden kleinen Feuersäulen, die sich gerade über den rechten Teil des Unendlichkeitszeichens hermachten. Bald würden die Flammen satt sein.
Sie waren in Manhattan unterwegs gewesen, einfach so, aus Langeweile. Es war nicht ihr Stadtteil. Es war inzwischen der Stadtteil der linken Mitte. .3 hatte die Idee, die ankommenden reAger von der Insel »Forever« zu beobachten und auf ihre Art zu begrüßen. Ihnen etwas Angst auf ihren langen Lebensweg einjagen und Erschrecken konnte nicht so schlimm sein. Leider waren sie an einen Typen geraten, der sich angeblich gar nicht hatte behandeln lassen und der Kampfsport konnte. .3 musste sich dafür wilde Kritik seiner vier heftig vermöbelten Kompagnons anhören und sie sann auf Wiedergutmachung. Shining kam ihr da gerade recht. Ja, berichtete der, er sei nun ein reAger, einer, dessen Alter sich Jahr für Jahr wiederholen würde. Ja, erzählte er weiter stolz, er sei sich sicher, als reAger mehr Chancen im Leben zu haben und er würde der Bronx den Rücken kehren. Ja, tönte er, es sei zwar teuer gewesen, aber er habe das Geld auf seinem Chip gehabt. .3 fragte ihn nicht mehr, woher er das Geld hatte, sie schlug einfach zu. Obwohl Shining wesentlich größer und kräftiger war als .3, hatte er keine Chance. Noch während er lebte und wimmerte, hatte .3 mit ihrem frisch geklauten Messer zum verqueren Brustschnitt angesetzt. So wie einst bei sich selbst, nur tiefer. Shinings fassungsloser Blick über das schnelle Ende seines ewigen Lebens würde .3 nie vergessen. Es war ein Triumph.
Shining war der erste einer ungeschriebenen Liste.
»Solange wir nicht das freie Recht auf ewiges Leben haben, soll es niemand haben!«
Die Flammen erloschen und gingen im letzten Rauch auf.
+++ sozialkostensenkung durch ewiges leben lässt löhne effektiv steigen +++
+++ new york city vor den zusammenbruch +++
+++ zu viele wollen ewig leben +++
Insel »Forever«
»25061903.21011950SGO, gestorben.« Die Dame mit dem kaum sichtbaren Headset jagte ihre Finger über den Touchscreen um die Vernichtung der GenBox anzuleiten. Sie hatte eben die Meldung bekommen, dass der LifeGenom-Chip in einem Hals keinen Pulsschlag der Aorta mehr feststellen konnte. Es wäre kein Problem gewesen herauszufinden, dass es sich um Shining G. Olwerl gehandelt hatte, der erst vor wenigen Tagen zum ewigen Leben befördert worden war. Die Gründe interessierten nicht, und der Name hätte keine weitere Bedeutung oder Verwendung. Sie verglich lediglich seine ID-Nummer, alles manuell, Stervals wollte es so bis auf weiteres. Es war nur eine Nachricht für die GenBox, die Verwaltung und deren Aufgaben und Erledigungen. Sicher wieder einer, der sich überschätzt hatte. Sie bearbeitete die nächste Anfrage.
+++ ewiges leben führt manche firmen an den rande des ruins +++
+++ weniger menschen, weniger konsum +++
+++ kommt eine neue wirtschaftskrise auf uns zu? +++
New York City, Manhattan
Der Kaufvertrag war perfekt. Alleine war Carl Weiss im roten Backsteingemäuer zurückgeblieben und er ließ den Blick schweifen, die Ideen erscheinen, die Gestaltung in seinem Kopf durchspielen. Die Daten für das riesige Objekt hatte er sich auf seinen PA übermitteln lassen. Ja, hier würde sein Traum Wirklichkeit werden, er hoffte auf die Unterstützung von Banken und von Stervals. Die Renovierung würde Jahre dauern, aber er hatte Zeit, viel Zeit, um sich seinen Traum zu erfüllen, der sowieso erst in frühestens 18 Jahren real werden würde. Die Menschen würden auf Kinder verzichten, da war er sich sicher, dann könnte er eine Welt ohne Versteckspiel gestalten. Hier würde das Leben brüllen, hier könnte der Mensch seine Triebe ausleben, egal welcher Art, aus welcher Epoche sie entstammten, alles wäre möglich. Alles! Er hielt inne. Nein, alles nun doch nicht. Die Welt hätte gut nach den zehn biblischen Geboten leben können, wäre sie nicht machtgierig, egoistisch und voller Fehler. Er ließ die Gebote in seinem Kopf Revue passieren … nur Gebot 5 müsste bestehen bleiben: Du sollst nicht töten. Weiss lächelte. Alles! Außer Gebot 5. Die Zeiten, in denen die katholische Kirche bestimmte, was richtig und vor allem, was falsch war, würden dennoch zu Ende gehen. Er beendete die Gedankenspiele, es gab viel zu tun im Netz. Baupläne, Anträge, Firmen, Field im Web, um sein Vorhaben der Welt zu zeigen.
Weiss wirbelte plötzlich herum und trat zwei, drei Schritte in den modrigen dunklen Raum hinein.
»Wer ist da?«, fragte er.
Langsam zog sich ein Schatten in einer Ecke hoch, den er eben in seinem LensDisplay wahrgenommen hatte. Seine Stimme war fest und unerschrocken.
»Sie haben vor nichts Angst, oder?« Der Fremde humpelte unsicher in das wenige Licht des Raumes. »Sie müssen mir helfen … ich bin sterbenskrank. Ich habe Geld, viel Geld, ich kann …«
Weiss zog eine Augenbraue hoch und checkte die Situation innerlich ab. Sein LensDisplay blieb überraschend leer. Wie konnte das sein? Und wer konnte in der heutigen Welt noch sterbenskrank sein? Wer war dieser Mann?
»Keine Angst, Sir, es ist nicht ansteckend. Meine Organe verfaulen von innen her, irgendein eingefangener, speziell auf meinem Körper abgerichteter Virus von einer meiner vielen Auslandstourneen. Und jetzt weigern die von LifeGenom sich, meine Innereien auszutauschen und mich unendlich Leben zu lassen. Zu gefährlich, zu abartig. Ich sitze nun in diesem Loch fest. Bitte! Hilf mir! Mein Name ist Bruce. Momentan offline.«
»Komm nicht näher!«
»Ich kenne dich. Du bist ein interessanter Mann. Einer, der im ach so freien Amerika seine Meinung öffentlich vertritt und keine Haue bekommt. Dafür stehst du im Visier der CIA und des Vatikans.«
»Der CIA? Vatikan ist mir ja bekannt, sonst wäre ich nicht so schnell … aber die CIA? Woher willst du das wissen?«
McClanahans Augen verfinsterten sich: »Mr. Weiss … Carl … in deiner Akte steht einiges … du bist weit gereist und doch ein Landei.«
Weiss fixierte das zerfurchte und eingefallene Gesicht des schwachen Mannes. »Woher … Natürlich, du bist der Leiter …«
»… war. Ich war der Leiter der CIA. Habe versucht, meine Krankheit geheim zu halten, wurde dadurch aber unkonzentriert und schlecht, da hat mich der Alte rausgeworfen.«
»Der Alte?«
»Cone.«
»Der Präsident? Klingt aber legitim, wenn es wegen der verheimlichten Krankheit ist. Und nur Gesunde dürfen operiert werden.«
»Aber die hätten mich doch gesundmachen können, egal was ich in mir habe!«
»Nein, das ist nicht die Aufgabe von LifeGenom. Geh zu NewHospital oder BigHealthy!”
»Hey, Mann, meine Organe sind hin! Ich brauch neue, künstliche wären zu viel für einen Körper! Das geht nur über diese GenBox! Und die bekomme ich nur, wenn ich ewig lebe! Zudem … weißt du, was los wäre, wenn ich zu diesen beiden Quacksalberfirmen gehen würde? Die würden das Virus melden. Patient Null. An Johns Hopkins, Heimatschutz, CIA und all die anderen hiesigen Institutionen. Die wissen und glauben mir nicht, dass das da in mir drin nicht ansteckend ist. Die würden mich isolieren. Die würden meine Kontaktpersonen isolieren. Weißt du, was da los wäre? Wie anno 2020. Also … diskret bei LifeGenom, die müssen das nicht melden, weil sie offiziell kein Krankenhaus oder eine andere Gesundheitsorganisation sind. Aber …«
»Du lebst nicht ewig, weil du krank bist. Und umgekehrt. Ein Teufelskreis!«
»So eine schwere Krankheit, wie ich habe, ist so fast nicht mehr bekannt! Ich stinke schon aus dem Mund, weil innen alles modert, selbst meine Ausscheidungen … und das Verrückte: Ich habe Kohle ohne Ende, habe nie schlecht verdient und nie was ausgegeben, immer unterwegs … und daher das Virus. Wieder ein Teufelskreis. Aber wie erwähnt, ich habe einiges verheimlicht und … die suchen mich bestimmt schon wegen arglistiger Täuschung. Also nichts kaufen, nicht draußen rumlaufen, offline bleiben. Alles gar nicht so leicht. Also warte ich hier auf mein Ende.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Was treibst du hier? Objektansicht?«
»Ich will hier ein Vergnügungsviertel für Unsterbliche erschaffen! Ohne Tabus! Mit alten Lastern, mit neuen Lastern.«
»Dann kauf die Wasserwerke rund um Manhattan.«
»Glaube mir. Das befreit.«
»Dieser Straßenzug wird meine neue Kirche.«
Weit breitete Weiss seine Arme aus.
Es war passiert. Ein frisch gebackener reAger war Opfer eines Mordes geworden. Sie hatten ihn hingerichtet, Teile seines Körpers verbrannt. Ich fragte mich, ob es die gleiche Gang war, die auch mich überfallen hatte. Und die wie Feiglinge abgehauen waren. Sie wollten ein Exempel statuieren. Selbst du lebst nicht ewig. Es war kein Zufall, es war keiner dieser täglichen Übergriffe, es war Absicht, es war Neid, es war ein Zeichen der Vergänglichkeit an die mögliche Hochnäsigkeit des Immerseins. Vielleicht war es auch rassistisch. Oder hässliche Gesellschaftskritik.
Ich wurde jäh aus den Gedanken gerissen, als Lulu einen Gast meldete: »Ihr Bruder kündigt sich an!« Überrascht über meine eigene Freude eilte ich zur Tür.
»Hey, was treibst du denn hier? Kein Shanghai mehr?« Mein freudiges Begrüßungslächeln erstarb in der nächsten Sekunde. Smoath sah scheiße aus, übermüdet, abgespannt, vor allem … alt … verbraucht.
»Ich fühle mich wie ein Kind, das seine Eltern bei verbotenen Aktivitäten beobachtet hat.«
»Smoath, ich verstehe nicht ...?«
»MaryLu hat Sex mit Stervals.«
»Sex? Mit … Stervals?«
Meine Innereien zogen sich harsch zusammen. Es traf mich, warum wusste ich aber nicht.
»Ich wollte sie im Büro überraschen, hab ja Zutritt ohne weiteres, es stand leer, ich ging zu ihrem Schreibtisch, dort lagen Aufnahmen. Ich sah sie an, sie taten es auf ihren Schreibtisch und …«
Seine Stimme versagte. Ich führte ihn zu meiner Couch, wo wir uns niederließen. Ich schaltete die Nachrichten auf dem WallScreen ab. Eine Waldlichtung erschien.
»Und was an der Sache zieht dich da so runter? Gut, ihr teilt euch eine Wohnung und Sex ist ungewöhnlich, aber ...«
»Dafür werden sie büßen, alle beide. Ihr ewiges Leben wird die verfluchte Hölle sein!«
»Warum, Smoath? Sie können tun und lassen was sie wollen. Und wenn es Sex ist!«
»Ich muss diese Firma verlassen, ich kann nicht mehr … für Stervals arbeiten.«
»Darfst und kannst du die Firma so einfach verlassen? Dein Wissen ist immens, du bist jemand, der forschen will. Du könntest dich ja selbstständig machen, mit den richtigen Daten dazu.«
»Könnte ich. Aber die Ausstattung fehlt, aber das wäre lösbar. Aber habe ich Berufsverbot in dieser Branche, sollte ich kündigen, zehn Jahre lang. Es ist legitim. Aber du hast recht. Ich bin ein Getriebener der Forschung.«
Er schnaubte verächtlich, wusste aber trotzdem nicht, was er nun anstellen sollte. Einfach verschwinden? Ordentlich kündigen? Beide mit der Situation konfrontieren?
»Kündigen!«
»Woher weißt du, was ich denke?«
»Ich sehe es dir an, Bruder. Auch wenn du sehr mitgenommen aussiehst. Ich mache dir einen Vorschlag. Du mailst eine auszeitliche Kündigung nach einem beruhigten Shanghai mit der Begründung, familiäre Probleme zu haben. Oder weil du das Unfassbare gneißen willst. Danach könntest du dir vorstellen, wieder zu kommen, wenn es die Situation erlaubt.«
»Das ist gut. Maxx, das ist gut. Aber was, wenn Stervals Aufnahmen von mir hat, die zeigen, wie ich in seinem Büro war?«
»Entweder er legt den Mantel des Schweigens darüber oder er feuert dich sofort. Wegen Spionage. Entdeckung einer Beziehung, keine Ahnung! Dann weißt du und er Bescheid. Aber warum diese Reaktion?«
»Ich war, nein, ich bin in MaryLu … verliebt. Das ist seltsam. Erst als ich sah, wie sie diese Sache taten, ahnte ich es. Hätte unsere Liebe eine Chance gehabt? Liebe ... Sex ... scheiße Maxx, was verpassen wir alles uns unserem Leben?«
Die Liebe?
»Komm, wir besorgen uns Karten für das Konzert heute Abend im Baseballstadion. Cannabis Cookies spielt.«
»CC? Diese alten Verrückten?«
»Ja. Ihre Lärmchose ist legendär.«
Bist du cannacockie? wurde zu einem Fragesatz einer ganzen Generation und drückte den Fragenden in eine Ecke voller intelligenter und unglaublicher Spinnereien. Die Gruppe bestand aus vier Leuten, die traditionelle Instrumente und noch echte Musik spielten, die wieder in Mode gekommen war. Der Frontman war ein Unikat, nach der Glatze ragten am Hinterkopf unendlich lange und zerzauste Haare heraus, sein schwabbeliger Körper pfiff auf Tabletten, die das Fett verbrannten. Sein Blick war wirr, ziellos und schelmisch zugleich. Sie zupften an Gitarren, spielten Schlagzeug und nahmen zum Singen Mikrofone, die noch in der Hand gehalten wurden. Legendär war ihr Auftritt über vier Kontinente. Jedes Bandmitglied hatte sich auf einem anderen Erdteil befunden, dennoch spielten sie zusammen ein gigantisches Konzert mittels Hologrammen, ein Konzert, das live alle Dimensionen gesprengt hatte, obwohl nur jeweils einer in der Band real auf der Bühne gestanden war. Sie waren die Dinosaurier des Musikgeschäfts und gaben sich heute real in Brooklyn die Ehre, zusammen. Ein paar Restkarten gab es noch an der virtuellen Abendkasse, ich ergatterte noch zwei. VIP-Behandlung und Buffet lehnten wir ab. Und Smoath war also verliebt. Er wollte es nie. Ihm widerfuhr es. Ich warte immer noch darauf. War ich nun eifersüchtig? Und was um Gottes Willen war mit seinem Äußeren passiert? Er sah aus wie Mitte fünfzig, nicht mehr wie Ende dreißig.
+++ konservative fordern von reagern die rückkehr zu alten werten +++
+++ chance dazu jetzt vorhanden +++
+++ freizeitgestaltung könnte wieder wichtiger werden +++
+++ umdenken bei den arbeitsverträgen gefordert +++
+++ radikale gruppen fordern kompletten neuanfang der welt +++
+++ beginn: wenn endliche ausgestorben sind +++
+++ bombenanschläge in indonesien auf reAger-einrichtungen +++
New York City, Manhattan
»Der Staub, das Gerümpel …«, McClanahan hustete.
»Ja, wird Zeit, dass wieder die guten Momente hier einziehen.« Weiss kniff die Augen zusammen. Sie suchten in dem Labyrinth aus Gängen, verwahrlosten Räumen und leeren Hallen die Treppe in den Hinterhof, um so sicher auf die Hauptstraße zu gelangen. Der Ex-Bischof hatte Medikamente für McClanahan besorgt, der wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war. Es würde seinen HealthIndex belasten. Seit Stunden beäugten sie das Objekt mit PA-Licht nun genauer. Es war kalt und finster. Nicht einmal Penner oder Kriminelle, wie es sie immer noch gab, trauten sich in das dunkle Innere des langgezogenen Gebäudekomplexes, dessen verzogene Fenster durch Dreck verschmiert oder mit Brettern zugenagelt worden waren. Alte Kisten und Zeitungen aus Papier, verkommene Möbel und zerstörte Einrichtungen lagen in fast jeder der unheimlichen Ecken, in denen demnächst das sündige Leben laut und bunt zurückkehren sollte.
»So viel Geld kannst du gar nicht auftreiben als alter Kleriker.«
»So was baust du nicht mit Geld, so etwas baust du mit Beziehungen. Ich hoffe ich kann dir trauen, nicht dass du noch ein Spion in Amt und Würden bist.«
»Meine Zeit ist vorbei, glaube mir.« Ein »Leider« schob er noch grummelnd hinterher.
Weiss aber hatte sich seine Entlassung bereits im Netz bestätigen lassen. Vorsichtig tasteten sie sich durch einen langen Flur. Oranges Licht fiel durch die demolierten Fenster, der Wind säuselte unheimlich durch die Korridore, der Betonboden splitterte unter den langsamen Füßen von Weiss und McClanahan. Die Geister früherer Bewohner schienen ihnen zu folgen und sie zu umgarnen. Doch Weiss lebte in seiner blumigen Fantasie: »Hier kommt eine Bar rein, dort hinten ein Massagezimmer und diese Räume werden Teil des Sexmarathons. Garantierter natürlicher Orgasmus in jedem Zimmer innerhalb einer gewissen Zeit. Und wer es nicht schafft, oder nicht erreicht, wird entsprechend bestraft.«
»Noch mehr kranke Fantasien?«
»Noch einige, Partner!«
+++ schwerverbrecher sterben aus, weil sie nicht operiert werden +++
+++ gefängnisse out? +++
+++ justiz winkt ab +++
+++ das verbrechen stirbt niemals aus +++
+++ krieg in ostafrika führt zur völkerflucht +++
+++ europa riegelt mittelmeer ab +++
+++ leitlinien und träume +++
+++ ewiglebensplanungsfields schießen wie pilze aus dem internetboden +++
+++ mormonen lehnen reAgertum total ab +++
+++ übergewichtige gelten als krank und werden nicht operiert +++
+++ebenso werden alkoholkranke gemäß drogenverordnung abgelehnt +++
+++ alles weitere im krankheitskatalog +++
+++ neue mRNA-impfstoffe angekündigt +++
Insel »Forever«
Die Falten des Doktors bauten sich zu Gebirgszügen auf. Freak wusste sie sofort zu deuten.
»Nichts zu machen, was, Doc?«
»Nein. Wir müssten mit dem Laser die zusammengewachsenen Schichten auseinander dividieren, aber bei der Masse wird die Epidermis und die …«
»Soll das heißen, ich muss ewig in diesem Anzug leben?«
»Nun … wie soll ich sagen? Ewig … nun … sie bleiben da drin, ja.«
»Ja?«
»Nun, wir könnten zumindest Ihr … bestes Stück erweitert vollständig freilegen, was natürlich auch keine einfache … zudem sind wir kein Krankenhaus in dem Sinn, also von Gesetzes wegen her und …«
»Okay, ich habe verstanden. Ich werde andere Möglichkeiten prüfen, um mir mein ewiges Leben abzuholen.«
»Danke für Ihr Verständnis, Sir.«
Freak verließ mit dem nächsten Schiff die Insel. Deprimiert kehrte er nach Hause zurück. Sofort schloss er sich wieder an seiner Konsole an, um in seiner Spielewelt Forschungen zu betreiben, ob mehr Menschen das Problem eines festgewachsenen Anzugs hatten.
+++ bombenanschlag auf führer der reAger-bewegung in london +++
+++ 2 tote, 5 schwerverletzte +++
+++ die men-group fordert, dass nur männer operiert werden dürfen +++
+++ männer seien wichtiger für die welt +++
+++ sex kaum mehr relevant und wenn dann mit androidinnen +++
+++ frauenverbände kontern, welt wäre frei von krieg ohne männer +++
+++ frauen seien zudem intelligenter +++
+++ und männerkraft nicht mehr notwendig +++
New York City, Manhattan
»Partner?«
»Partner. Cool, Mann. Ich mag vielleicht aus der CIA raus sein, aber ich kann dir trotzdem helfen, dieses Ding hier aufzuziehen, nicht nur mit meinem Geld. Wie du vorhin schon sagtest … Also, du gehst zu Stervals, ich gehe zu Typen aus der Unterwelt, die die nötigen Connections für so ein Projekt haben.«
»Und was machen wir mit deiner Krankheit?«
»Ich werde die Ohren und Augen offenhalten, ob schon irgendwo ein LifeGenom-Arzt abgesprungen ist.«
»Du meinst einen, der gleich den ganzen OP-Saal und sämtliche GenBoxen mit sich rumschleppt?«
»Nein, nur das Wissen, mein lieber Carl, nur das Wissen. Irgendeiner wird das zu Geld machen wollen. Den finde ich. Den Rest dazu besorgen wir dann auch.«
Sie lugten zufrieden durch eine verschmierte Scheibe im vierten Stock nach unten auf die kaum befahrene Straße. Obwohl die Sonne hoch oben am Himmel stand, verhinderte der Schatten des riesigen verlassenen Gebäudes gegenüber, dass so etwas wie Licht und Leben in die Straßenschlucht fiel.
»Scheiße.«
»Was ist?«
McClanahan polierte mit seinem Ärmel kurz das Fensterglas. Ein aufgerissenes Auge blinzelte durch das geputzte Loch und nahm einen dunklen Wagen ins Visier.
»Idioten und Ex-Kollegen. Simmons und Barrel.«
Die beiden Agenten hatten den Straßenwagen verlassen und sondierten stumm die Gegend, erst ohne, dann mit technischer Unterstützung. Der geschmolzene Schnee suchte seinen Weg in die Kanäle.
»Und was wollen die hier?«
Weiss suchte sich eine saubere Stelle und spähte ebenso durch das Fenster. Während Simmons eher klein wirkte, kam Barrel als Panzer mit eingepflanztem Chip daher. »ShakingSimpson?«
Nur ein langsames Kopfnicken kam als Antwort. Tiefe Besorgnis stand in McClanahans Gesicht.
»Meinst du, die suchen dich?«
»Anhand des Chips können sie jeden orten, aber mich eigentlich nicht! Wer einmal in der Firma war oder ist, verschwindet als Punkt von der Karte. Sicherheitsgründe gegenüber anderen … Firmen. Aber wir sind nun mal ein Überwachungsstaat. Eltern überwachen ihre Kinder, Hersteller ihre Artikel, der Staat seine Bürger, die Polizei die Kidnapper, das Web deinen Konsum, die Klimabilanz deine Fürze und das Scheißhaus deinen Scheißhaufen … Sie könnten mich wieder aktiviert haben, was aber ungesetzlich wäre. Persönliche Satellitenüberwachung kann es nicht sein, sie muss vor Gericht genehmigt werden. Also der Chip. Elendige Saubande!«
»Moment. Anhand des Chips kann man geortet werden? Die Regierung sagte immer, das sei nicht möglich! Nur anhand des PAs!«
»Glaubst du an das Christkind, Ex-Bischof? Noch nie gewundert, warum die Zahl von entführten Personen so stark nach unten ging? Es gibt kaum noch Amber-Alterts. Früher hat man Smartphones geortet, nun sind es ID-Chips. Alles easy.«
»Und sie suchen dich mit Menschen? Warum nicht mit diesen Kleinst-Drohnen? Wäre doch viel unauffälliger. Oder Androiden. Die sind bestimmt schon unter uns und bewegen und verhalten sich wie Menschen.«
»Die Mücken? Ja, die schwirren hier ab und zu durch die Gegend. Sie sichten und beobachten alles und jeden. Aber sie sind zum Teil unzuverlässig und vor Gericht verboten, Privatsphäre und so. Gefährlich sind Mücken ausländischer Geheimdienste, da schlägst du nur noch so um dich. Ein ewiger Mückenkrieg. Vielleicht haben sie mich mit einer Drohne schon ausspioniert und jetzt kommt die Gestapo. Und zum Festnehmen braucht es immer noch Menschen. Androiden werden überschätzt. Übrigens, die CIA will nicht überwachen.«
»Sie will nicht überwachen?«
»Kennst du die Kryptus-Skulptur vor dem Headquarter in Langely?«
»Nicht dass ich wüsste!«
»Sie besteht aus achthundertneunundsechzig Buchstabenfolgen. Das Rätsel beherbergt das wahre Ziel der CIA.«
»Und du weißt das!«
»Nun … als Chef … auch als ehemaliger Chef, weiß man vieles. Ziel der CIA ist das Knacken des menschlichen Bewusstseins, seiner Triebe, seines Charakters. Und du kannst dir denken, was alles, wenn auch illegal, möglich ist. Manche Köpfe wurden schon aufgeknackt und manipuliert.«
»Und was wollen die jetzt noch von dir?«
»Ich nehme an, mein schnelles Verschwinden und meine Wohnung haben mich verdächtig gemacht. Sie oder eine Drohne waren bestimmt in meiner Höhle. Die ist randvoll mit Psychopharmaka, Drogen und Genabdrücken. Mein Handeln in Dienstzeiten … könnte illegal und beeinflusst gewesen sein.«
»Drogen?«
»Klar! Konnte nicht zum Arzt gehen, also habe ich mir Adressen von verfickten Dealern besorgt, richtigen Dealern, nicht die aus dem Netz. Manche Drogen sind so stark, die lassen dich selbst aufschlitzen und die Gedärme entnehmen. Ich war schon nah dran, vor allem, wenn deine Innereien eh schon fast hinüber sind. Zum anderen waren da noch Sachen, womit ich meine Identität verschleiern wollte. Halbherzige Sachen, aber immerhin ein Beweis. Und ich habe dem Präsidenten gedroht.«
»Sollten wir nicht fliehen?«, fragte Carl nervös.
»Und wohin? Selbst ohne Chip … Satellitenüberwachung, Mücken, HäuserCams …«, grübelte Bruce.
»Du bist der Ex-Chef der CIA! Sie wissen, dass du alle Tricks kennst! Du musst doch Tricks kennen. Vielleicht lauern sie dich via Mensch und nur zu zweit auf, weil sie dich unauffällig und lebendig wollen! Der Chip … weg mit dem Chip!«
»Du hast leicht reden … weg mit dem Chip. Der Chip strahlt, das heißt, es ist von außen schwierig, seine genaue Position festzustellen. Man kann natürlich die Hand aufschneiden und nach ihm suchen, aber sobald er ein paar Millisekunden an der Luft ist, sendet er ein Signal an die Notrufnummer, Versicherung und so weiter. Die Operation müsste also unter einer Flüssigkeit erfolgen und wie soll das möglich sein, hier und jetzt?«
»Die Blutzirkulation … nicht unterbrechen?«
»Nicht schlecht, Carl, das kommt schon hin. Die Hand muss abgeschlagen und dann in einem Wasserglas oder einer anderen Flüssigkeit aufbewahrt werden. Aber das mache ich nicht, Carl. Mir geht es dreckig, mein Körper ist schwach, wie soll ich das überstehen, abgesehen davon, dass ich meinen Arm doch gerne behalten will?!«
»Wie läuft diese Fahndung? Sehen die auch, dass ich noch mit dabei bin?«
»Hast Angst um deinen Arm? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Normalerweise werden weitere mögliche Personen in der Nähe erst kurz vorm den Eingriff oder Ziel dazu geschaltet. Vorher wird sich einzig und allein auf das eine Ziel konzentriert. Zum Teil mit Wärmesensoren. In diesem Fall nur auf mich. Taktisches Vorgehen.«
»Also …?«
Beide tauschten ernsthafte Blicke aus.
»Du willst doch nicht im Ernst, dass ich mir den einen Griffel abhacke?«
Plötzliches Entsetzen.
»Bruce, wenn man es gut und schnell macht, zeigt ein Schmerzmesser nicht einmal Stufe Zehn an.«
Nach der Erfindung der Schmerzmessgeräte waren die Zeiten der Simulanten und unerträglichen Schmerzen gleichermaßen vorbei. Das Gerät, das einem Fieberthermometer ähnelte, hatte eine kaum sichtbare Spitze, die unbemerkt in das Gewebe eingeführt wurde und dort die Strahlung der Schmerzen ortete und aufnahm. Aufgrund eines Indikators und der Art des Schmerzes wurden eine Zahl und ein Buchstabe ausgegeben, der dem zuständigen Arzt äußerst genaue Angaben übermittelte. Doch alles, was positiv genutzt werden konnte, bot Möglichkeiten für das Böse. Das Gerät war ein Fest für Folterer und Peiniger.
»Amputation ist nicht Stufe Zehn? Sehr tröstlich!«
»Ist dir schon einmal aufgefallen, wie viele Menschen in den Suburbs Handschuhe tragen?«, fragte Carl ruhig. »Handschuhe, die bis zum Ellenbogen reichen?«
»Es ist ja nicht deine Hand, Mann! Nicht dein Unterarm!«
Weiss drehte seinen Kopf weg vom Fenster zu Bruce, der unsicher im Raum stand. und seinen Arm mit der anderen Hand streichelte.
»Es geht um dein weiteres Leben, Bruce! Es geht um dein Leben überhaupt. Sicher, dass sie dich suchen? Die Gegend hier …«
»Ich bin mir sicher.« McClanahans Blick suchte Halt. Innerliche Abschiedsfloskeln. Er ging noch einmal zum Guckloch. »Sieh nur wie sie ihre Geräte beäugen. Eindeutige Chipfahndung.«
»Entscheide dich!«
»Soll ich mir eine andere Hand stehlen und sie mir von einem Pfuscher annähen lassen? Inklusive der Schmerzen, wenn der Körper die eitrige Hand abstößt, weil Maden und Würmer aus der stümperhaft zusammengeflickten Naht krabbeln?«
»Wenn wir hier unseren Laden aufmachen, werden wir eine GenBox nur für dich einrichten, wo deine Hand nachwächst. Okay? So viele wie du willst!«
»Ich finde es toll, dass du mir so helfen willst, obwohl wir uns kaum kennen, aber …«
»Bruce, du brauchst mich, ich brauche dich. Wir haben zwei Stunden lang Pläne geschmiedet, wie wir mit dem ewigen Leben Geschäfte machen können. Das Eisen ist heiß, Bruce! Verdammt! Bruce!«
»Er muss hier irgendwo sein. Über uns!«
Simmons suchte nach Treppen und Möglichkeiten, nach oben zu gelangen. Barrel hinter ihm schnaufte wie ein Walross.
»Nicht so schnell, du weißt, ich bin normalerweise …«
»… nur für den Innendienst zuständig. Komm, weiter, da, das Treppenhaus.«
Betonkrümel, Dreck und Staub knirschten unter ihren Fußsohlen, als sie eiligen Schrittes nach oben stiegen.
»Scheiße, wird das finster hier! Die Bude fällt doch bald zusammen.«
»Schalte den PA an und leuchte.« Ungelenk hielt er seinen Arm hoch. Die kleine Lampe erhellte in einem schummrigen Blau die abgebröckelten Wände. Holzbalken und Bretter lagen im Weg und ließen die beiden Agenten nur langsam vorankommen. Eine Ratte kreuzte neugierig ihren Weg.
»Hörst du das?«
Barrel, der Bulle, zog seine Waffe.
»Nein, ich höre nichts. Das ist nur ein Luftzug.«
»McClanahan liegt bestimmt irgendwo auf der Lauer und pustet uns gleich das Hirn weg.«
»Meinst du, er hat uns gesehen? Aber wie hätten wir unerkannt hier hereinkommen können? Wo ist er, was sagt der ID-Viewer? Welche Höhe?«
»Noch eine Etage weiter oben, dann haben wir ihn.« Simmons fletschte die falschen Zähne. Vorsichtig tasteten sie sich die Treppe weiter hinauf. Immer wieder waren Geräusche zu hören. Knarzen. Brummen. Fiepsen.
»Verdammt, hier ist so arschkalt, das hält ja kein Mensch aus. Was treibt McClanahan hier?«
»Sich verstecken, ganz einfach. Ich könnte hier keine Nacht verbringen. Die Atmosphäre macht mich fertig. Finden wir ihn!«
»Er ist unser ehemaliger Chef. Meinst du, der weiß nicht, wie wir ihn finden können?«
»Er weiß es, aber er erwartet nicht, dass wir ihn suchen. Und er weiß nicht, dass wir es inoffiziell tun. Wir haben Möglichkeiten.«
Sie stellten den Lärmpuffer an ihren Schuhen ein. Sie schlichen durch das Gebäude. Durch die nächste Etage, den nächsten Gang. Sie stoppten und lauschten, sie schlichen weiter, voller Vorsicht, die Waffe im Anschlag.
»Da vorne.«
Sie näherten sich ungehört dem vermeintlichen Raum, in dem sie McClanahan vermuteten. Mittels PA suchten sie die Türen nach Gefahren und Hinweisen ab. Es war Zeit für einen Aufriss.
»Jetzt!«
Barrel trat mit einem Fußstoß die morsche Tür ein, Simmons schlupfte unter seinem Partner hindurch, jagte in den Raum und zielte mit der Waffe, auf der eine Lampe befestigt war, unruhig hin und her. Barrel riss seinen PA hoch und versuchte weiteres Licht ins Dunkel zu bringen.
Nichts. Die Zielautomatik der Waffe schwieg. Simpson platzierte ein Hologramm in die Mitte des Raumes. Es illustrierte eine Zimmerlampe und spendete schummriges Licht. Sie glotzten auf bröckelige Wände, an denen das Schmelzwasser vom undichten Dach herunterlief. Es klatschte auf alte Rohrleitungen, Papierfetzen, Metallteile, umgeben von muffig feuchtem Geruch, Müll und weggeworfenen Kleinteilen.
Simmons stob hektisch durch den Raum, suchte nach McClanahan, nach Beweisen …
»Verdammt, was sagt der Viewer?«
»Er muss hier sein. Auf diesem Stockwerk! In diesem Raum! Kein Zweifel!«
Simmons hastete zum Fenster und bemerkte das eingeschmierte Guckloch. Er blinzelte hindurch, fixierte ihren Wagen unten auf der Straße.
»Er muss uns gesehen haben! Wie auf dem Präsentierteller stehen wir da unten. Wir hätten ein AirVehicle fordern sollen.«
Er öffnete mit einem harschen Ruck das morsche Fenster und steckte seinen Kopf in das kalte New Yorker Winterwetter, den er sofort wieder zurückzog und seine Haare richtete. Das schneebefreite Fensterbrett außen bemerkte er nicht.
»Und warum ist er dann nicht hier, wenn das Zeichen …?«
»Versuch es genauer zu orten.«
Simmons wollte das Fenster wieder schließen, doch plötzlich wurde er von Barrels Entdeckung abgelenkt.
»Da! Da in der Ecke. Da muss er sein.«
Simmons entdeckte eine dunkle Plane, die unförmig auf dem Boden lag. Während sich Barrel samt Waffe in Stellung brachte, schlich Simmons darauf zu und zog sie blitzschnell zur Seite.
»Elende Scheiße. Sieh dir das an.«
Barrel beugte sich vor und fuchtelte mit seinem PA nach Erkennbarem. Erschrocken wich er zurück und riss seine andere Hand reflexartig an seinen Mund.
»Hey, du wirst doch nicht kotzen … doch, er wird.«
Barrel lehnte sich Richtung Wand und erbrach. Simmons holte einen Latexhandschuh aus der Tasche, stülpte ihn über seine Hand und hielt den ausgefransten tropfenden Unterarm nebst Hand angewidert in die Höhe.
»Dieses kranke Arschloch hat sich den Chip abgesäbelt und ins Wasser gelegt, damit er aktiv bleibt.«
Barrel drehte sich zurück, übelriechender Geifer lief an ihm herab. Er fokussierte unabsichtlich seinen Kollegen, dann das abgeschlachtete Körperteil. Er verfolgte einen Blutstropfen, der sich mit dem abgestandenen Wasser vermischt hatte und der nun klatschend auf den verschmutzten Boden fiel. Er begann zu hyperventilierten. Sein mächtiger Körper begann ausufernd sich nach vorne und hinten zu beugen, immer schneller und kolossaler werdend, jetzt zusätzlich zur Seite, bis er einen Bauchtanz vollführte, sich sein Körper immer weiterdrehte, die Arme lässig zur Seite schleudernd, als würde er auf einer Karibikinsel zu den Lagerfeuerklängen der Ureinwohner tanzen. Mit einem Schlag hielt er inne. Seine Augen waren nach hinten gefallen, aus dem Mund sabberte blasenbildender Speichel und ein letzter Rest Erbrochenem. Dann begann der Ausbruch von vorne.
»Scheiß ShakingSimpson!«
Simmons war genervt. Das Schwindel-Schüttel-Syndrom erlebte er nicht zum ersten Mal bei Barrel.
Barrels Chip in seinem Kopf registrierte die unnatürlichen Bewegungen, analysierte die Befehle in seinem Kopf und begann strukturiert seine Anordnungen gegen die des Gehirns durchzusetzen. Das dauerte seine Zeit. Barrel begann zu schreien, vor Schmerzen, vor Unsicherheit vor Angst, er wankte gegen die Wand, näherte sich bedrohlich dem offenen Fenster, seine Hände versuchten seine Ohren zuzuhalten, seine Augen klappten wieder nach vorne. Bestürzt erfasste er die Leere, die sich vor ihm auftat. Er schrie, die gähnende Straßenschlucht vor sich, der eisige Wind pfiff ein Lied der Warnung. Simmons riss erschrocken die Augen auf, als Barrel dumpf auf die Fensterbank fiel und rauszufallen drohte. Es war der schlimmste Anfall seit langem.
+++ wissenschaft warnt: afrika noch nicht bereit für ewiges leben +++
+++ noch immer gang und gäbe: +++
+++ mangelnde zivilisation, sklavenhaltung und hexenverbrennung +++
+++ afrika-union protestiert erbost gegen klischees und vorurteile +++
+++ »irgendwann wird die welt afrika brauchen« +++
+++ »und als sklaven waren wir gut genug?« +++
Washington D.C.
Die Nachrichten, die Präsident Cone seit einer Stunde abarbeitete, befassten sich fast alle mit der neuen Situation des ewigen Lebens. Je mehr er von privaten Sorgen und Nöten, Pro und Contra der neue Lebensseite erfuhr, umso kleiner und unwichtiger fühlte er sich. Nein, dieser Aufgabe war er nicht mehr gewachsen. Und selbst wenn, egal welche Entscheidung er treffen oder vorschlagen würde, seine Nation, selbst der Kongress oder Senat, wäre gespalten. Er kennzeichnete die NewsMessages mit Ziffern, die sich den entsprechenden Standardantworten zuordneten und sich selbst verschickten. Er fühlte sich leer und verbraucht. Bullshit. Alles Bullshit.
Shelley stürmte herein: »Simmons möchte sie sprechen!«
Auf dem WallScreen erschien das wackelige Bild von Simmons. Er war kaum sichtbar.
»Simmons, wo sind Sie? Was ist mit McClanahan?«
»Spurlos verschwunden. Und Barrel hatte einen Anfall.« Simmons brachte mit der Cam seines PA den am Boden liegenden Barrel ins Bild. »Aber es geht ihm wieder gut.«
»Und McClanahan ist verschwunden? Nutzen Sie das …«
Ohne weitere Worte hielt Simmons den abgehakten Arm ins Bild. Cone verstand sofort.
»Hier liegt eine rostige Eisensäge und ein Lappen. Er muss sich damit die Hand abgesägt und dabei in den Lappen gebissen haben. Der Chip … nun ja, gewissermaßen überlebte er einige Zeit im Wasser.«
»Folgen Sie seinen Blutspuren oder der DNA in der Luft. Er muss irgendwo sein!«
»Sir, der Raum hat drei Türen, nirgendwo sind Spuren. Er ist weg. Vielleicht hatte er einen oder mehrere Helfer.«
»Verdammt, tut endlich was!«, schrie er.
Er schaltete ab.
»Glauben Sie, dass McClanahan es wert ist? Er ist ein kranker Mann. Ohne Chip kommt er in kein HospitalCenter. Was interessiert er uns?«, fragte Shelley.
»Das mit dem Chip mag sein, Shelley. Vielleicht macht er einen Unfall geltend. Aber dafür bräuchte er eine Bestätigung der Polizei oder eines eintreffenden Notarztes. Dennoch … er rennt frei herum! Er ist gefährlich!«
+++ immer mehr reAger schmeißen ihren job und beginnen neues leben +++
+++ viele wollen ins ausland +++ nicht afrika +++
+++ nicht-reAger-nationen ringen um reAger-einreise und visa-erteilung +++
+++ konzerne reagieren auf kündigungen ihrer arbeitnehmer +++
+++ bessere konditionen, freizeitangebote, wohnraum +++
New York City, Manhattan
»Verdammt, wir hätten diese Idioten zusammenschlagen sollen!«
McClanahans Stumpf war blutstillend in Weiss’ Jacke eingewickelt, seine Worte kamen schwach und gepresst über seine blauen Lippen. Er litt. Sie befanden sich noch immer in dem Gebäude, weiter unten im Erdgeschoss. Weiss hatte sich bei der Erstansicht an einen dortigen Erste-Hilfe-Schrank erinnert.
»Wir sind zu schwach. Zudem, selbst, wenn wir sie zusammenschlagen, dich werden sie weiterverfolgen. Auch anhand meines Chips!«
»Ich wollte doch nur gesund werden, verdammt noch mal.«
Weiss griff fieberhaft in die Hilfe-Box, packte die abgelaufene Mullbinde aus und wickelte sie mit einem Streifen Desinfektionssalbe auf den Armstumpf. McClanahan jammerte auf. »Gab es in deiner Gemeinde keinen Arzt?«
Weiss fand ein paar PainBreaker. Auch sie waren schon lange abgelaufen, er gab sie McClanahan aber trotzdem, der sie gierig in seinen Schlund stopfte.
»Du wirst ohne rechte Hand leben müssen. Entweder wir besorgen dir in einer ForbiddenArea etwas Künstliches, oder …«
»Oder?«
»Oder wir besorgen dir einen LifeGenom-Arzt. Oh Gott, ich weiß auch schon, wen wir suchen müssen.«
Das Konzert am Abend war genial. CC gaben alles, und heute wie früher beherrschte der angedeuteter Rauschappeal die Massen. Die Bühne war üblicherweise zentral in der Mitte aufgebaut, die Boxen waren an allen Ecken und Enden des Stadions angebracht, um einen dreidimensionalen und klaren Sound zu garantieren. Live-Events waren zum täglichen Brot der Künstler geworden, nachdem ihre Musik zum freien Stückgut der Kulturflatrate geworden war. Und die Zuschauer liebten große, visuelle und laute Partys.
CannaCookies legten mit gutem alten und dennoch zeitlosen Rock los. Die Haare des Frontmans wehten im Wind, seine Augen waren komplett rot, die Wimpern schwarz geschminkt. Vollgepumpt mit irgendwelchen Drogen marschierte und jagte er wild singend von einem Rand zum anderen. Die Bühne drehte sich, Laser und LEDs ließen die Bühnendekoration virtuell mitspringen und gar über die Köpfe der Fans jagen. Ein künstlicher Wirbelsturm tobte über die kreisförmige Bühne, in dem alte Dollarnoten als Zeichen gegen den Kapitalismus bis zum Himmel stiegen und dann langsam zurück zu Boden flatterten. Die Fans sammelten das ehemalige Bargeld ein, das aber nichts von seinem Wert verloren hatte. Danach schwappte eine virtuelle Welle über das Publikum, perfekt inszeniert von kaum sichtbaren WallScreens, HelioScreens und 3D-Monitoren hinein in die LensDisplays der Fans.
Im Rausch der mitreißenden Musik wurden die Zuschauer dann auf eine Achterbahnfahrt der schnellen Superlative geschickt, das Konzert machte an wie ein gigantischer, vollkommen überdrehter Freizeitpark. Musik wurde visuell aufpoliert und fühlbar gemacht. Ein ruhiger Song aber ließ die Sinnestorpedierung plötzlich sterben. Weiße Landschaften aus der früheren Antarktis, längst vergangene Gletscher aus den Alpen und endlose Meere rund um die Massen herum brachten jeden zum Staunen und Schwärmen, bevor kurz darauf die banale Brachialität von HardestFreshRock hereinbrach und die wirbelnden virtuellen Gegenstände zu Höchstleistungen entzündete. Die PAs wurden über das Stadionnetzwerk miteinander verbunden, die Menge hob ihre Kleingeräte nach oben, zwei blaue C auf gelbem Grund wurden von oben aufgenommen und auf die Screens übertragen. Die Menge johlte, gleich darauf erschien die übliche Werbung auf den kleinen Screens, die aber meistens unbeobachtet blieb. Jeder konnte sich selbst mit seinem PA filmen und gegen Gebühr auf die WallScreens oder Videowürfel live ins Konzert einbringen, eingerahmt in die Namen der Sponsoren natürlich. Zuschauer waren inzwischen Teil jeder Show, sie sollten diese, zugeschnitten auf ihr Konsumprofil tief und eindeutig genießen. Die Musik wurde immer heftiger, die Drums härter, die Gitarren lauter und wütender, der Sound stieg hoch zu einer Wand der dröhnenden Sinne, die Masse tobte, wurde vom Rhythmus mitgerissen und dann getragen, jubelte, fiel in Trance, genoss die ohrenbetäubende Atmosphäre, der Rausch wurde heftiger, tiefer, ein Strudel entstand, jeder ließ sich treiben, der Sänger zerstörte einige herumstehende Instrumente, neue Klangwelten entstanden und fügten sich nahtlos ein in den Orkan der Laute, in den Sturm des Deliriums, in die Flut des Rausches, der nie, nie enden sollte. Aber der Kater folgte schnell. Ein künstlicher Atompilz, der furchteinflößend von der Bühne aufwärts bis weit in den Himmel stieg, ließ das schroff aufgebaute Musikmauerwerk derb einstürzen und beendete nach drei erschöpfenden aber befreienden Stunden Gefühlsrotationen, Aha-Effekten, Musikbesoffenheit, Mindorgasmen und positiven Schweißausbrüchen das Konzert. Wir waren mitgenommen worden auf eine brachiale Reise und nun an der Endstation aufgesaugt ausgestiegen. Musik erleben, nicht nur hören, schlechte Gedanken vergessen, die Seele durchlüften, unabhängig sein, endlich frei sein.
Als der Rauch sich verzogen hatte, stand die Band noch immer da, starr und stumm, mit ihren Instrumenten, ihren technischen Hilfsmitteln und Mikrofonen, aber vollständig entkleidet und skelettiert. Die letzten rauchenden Haare des Frontmans klebten an seinem weißen Schädel. Die der anderen wehten im Wind. Dann brach die Band zu Staub zusammen. Was für ein Abgang! Die Menge johlte. Und eine Zugabe erübrigte sich … irgendwie. Das Konzert war sofort webweit verfügbar und konnte auf einem eigenen Field im Netz abgespeichert werden, inklusive der Garantie, mit seinen Freunden und Anhang selbst im Bild zu sein. Eine abschließende Produktschau und Infos über den verbrauchten und angerechneten Kohlenmonoxidausstoß entließ uns alle nach Hause.
+++ gläubige: ewiges leben vor und nach tod im einklang mit religion +++
+++ cc in new york +++
+++ fette, monster, fette sinnesgeilheit, fette party - effekte - sound +++
+++ helium-3 auf dem mond: der energiestoff der zukunft? +++
+++ pakistan verbietet endgültig ewiges leben auf erden +++
+++ nicht vereinbar mit dem islam+++
+++ hinduismus und das ewige leben: kein widerspruch? +++
+++ immer mehr reAger auf dem subkontinent +++
Insel »Forever«
»Darf ich fragen, warum Sie das wissen wollen, Carl?«
»Sie dürfen, Devin. Er spielt einen Prediger in einem Onlinespiel. Er war immer in meiner Messe und nachdem ich nun nicht mehr selbst öffentlich … auftreten darf, dachte ich mir, ich mache mich auf nach Goldgerste!«
»Goldgerste?«
»Ja, der virtuelle Ort, wo mein gesuchter Mann seine Gemeinde hat. Es ist wichtig.«
Stervals zögerte einen Moment. Die Scheiße an Bildverbindungen war … das Bild. Früher, das war kaum noch vorstellbar, wurde über Leitungen telefoniert und nur die Stimmen übertragen. Und heute? Großauflösung, jeder Pickel war erkennbar, jede Gefühlsregung und Tonlage wurde mit einer Software auf Fake, Lügen oder alternativen Fakten geprüft. Stervals musterte Carl, genauer als die Software. Carl schien es wirklich wichtig zu sein.
Stervals ahnte, wen Weiss suchte. Er kannte ihn. Er fragte sich, ob es richtig war, ihn Carl zu vermitteln. Max Sanchez alias Maxx Future Pitesimpson, Zwillingsbruder von Smoath, einer seiner besten Mitarbeiter. Interessant: Von Smoath wusste er nicht einmal, wo er sich gerade aufhielt.
»Devin? Alles in Ordnung?«
Carl Weiss hatte keine Software Einsatz. Er war schließlich ein Mann Gottes.
»Entschuldigen Sie, ich überlege …«
»Sein Bruder ist Arzt in Ihrem Haus.«
Weiss wusste bereits gut Bescheid. Sei’s drum: »Max Sanchez heißt der Mann und wohnt in Manhattan, Nähe Times Square. Warten Sie, ich suche die Adresse heraus und lasse sie über einen anderen Kanal zukommen. Es ist schließlich nicht ganz … legal. Ich verabscheue Illegales, verstehen Sie?«
»Danke für den Service und die Zeit. Ich weiß das sehr zu schätzen. Vielen Dank. Übrigens! Das Projekt, von dem ich erzählt habe, sind Sie noch interessiert?«
»Natürlich! Wir können es uns gerne gemeinsam ansehen, Mr. Weiss!«
»Ich komme darauf zurück.«
Goldgerste. So ein Schwachsinn.
Stervals blickte auf die Uhr seines Schreibtisches. MaryLu würde ihn schon erwarten. Zeit für ein Schäferstündchen mit seinem geliebten Mädel. Wie hatte der Großteil der Menschheit nur den Sex vergessen können? Die Lust? Die Leidenschaft? Das Verlangen? Den Trieb? Seit er hier auf der Insel war … Smoaths Bruder. Wie hatte er ihn nur vergessen können?
+++ konferenz staatlicher und privater weltraumfirmen +++
+++ themen: ausbeutung mond, ausbau raumstation, der mars +++
+++ der mond ist ein edelgas-isotop +++
+++ wettlauf oder zusammenarbeit zwischen den firmen? +++
Pjöngjang, Nordkorea
»Er sagte, er wolle nicht ewig leben, deshalb sei er nach Nordkorea geflohen.«
Der Generalmajor war aufgrund dieser Aussage des Gefangenen Lee sofort zu Präsident Kim befohlen worden. Voller Ehrfurcht erstattete er strammstehend Bericht. Wie nur konnte dieser Vorfall so hoch in der Hierarchie gelangen? Es handelte sich doch nur um einen dummen Chinesen!
»Wo ist er jetzt?«
»Er wird in das Staatsgefängnis unserer geliebten Hauptstadt überführt, mein Präsident.«
»So, so.« Kim überlegte, was er von diesem Überläufer halten sollte. Niemand jemand in seinem Land wusste von der Unsterblichkeit außerhalb Nordkoreas. Und jetzt dieser Kerl, der von der Zwangsvollstreckung geflohen war. »Ist er ein Christ?«
»Woher wisst Ihr …? Ja, er glaubt an … einen unweltlichen Gott.«
»Der Glaube an ein überirdisches Wesen muss nichts Schlechtes sein, wenn es kein irdisches Wesen diese Vorstellung, so wie ich, erfüllen kann. Schafft ihn sofort her, wenn er eintrifft.«
Wie kann ich diesen Mann nutzen? Ist er eine Gefahr?
+++ endliche demonstranden vor weißen haus und lincoln memorial +++
+++ reAger und solche, die es werden wollen dagegen vor dem kongress +++
+++ polizei und cityarmy warnen vor eskalation und ausschreitungen +++
+++ kongress verabschiedet neue gesetze für endliche +++
+++ harte strafen sollen für recht und ordnung sorgen +++
+++ todesstrafe für reAger wird wieder eingeführt +++