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Januar 2066. Die Welt ist in Aufruhr. Wissenschaftler der Firma LifeGenom haben im Jahr zuvor einen nie geglaubten Durchbruch erzielt: Der Mensch kann ewig leben. Er verschleißt nicht, er altert nicht mehr, er ist unsterblich. Das alles ist möglich durch eine einfache, aber kostspielige Operation in einem GenCenter. Die UN setzt eine Verordnung auf, die weltweit gelten soll, um die neuen Möglichkeiten vor Missbrauch, Übervölkerung und Gesetzlosen zu schützen. Maxx und sein Zwillingsbruder Smoath leben in New York City. Während Smoath bei LifeGenom arbeitet und ungeduldig in der Warteschlange zum ewigen Leben steht, hadert Maxx mit den neuen Möglichkeiten. Zweifel und Unsicherheit, Angst und Risiko, Gottes Glaube und konservative Familienwünsche lehnen das Ewige Leben ab. Seine Zukunft ungewiss, seine Vergangenheit, wie die seines Bruders, unbekannt, als plötzlich steht die CityArmy in seiner Bude und Fragen stellt, die er nicht beantworten kann. Sein Leben gerät endgültig aus den Fugen. Teil 1 des fünfteiligen Science-Fiction-Thrillers.
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2023
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oliver marco
un:sterblich 1
:: das aufkommen der reAger ::
DER SCIENCE FICTION ROMAN
LEBE DEIN LEBEN!
LEBE FÜR IMMER!
1
] DIE ZUKUNFT [
»Bist du ein reAger? Nein? Dann geh sterben!«
Jean, 22 Jahre
»Bist du erst einmal alt, wirst du erkennen, dass der Tod eine Erlösung ist. Niemand will ewig auf der Erde sein. Niemand.«
Theresa, 88 Jahre
»Irgendwann sterbe ich. Und danach? Danach ist nichts. Ein Zustand wie vor der Geburt oder wenn du einschläfst. Das macht mir Angst. Viele glauben an ein Ewiges Leben nach dem Tod. Diese Ewigkeit macht mir Angst. So oder so … es wird schlimm. Vielleicht doch ewig auf Erden leben? Nein, das ist noch schlimmer.«
Carl, 50 Jahre
»Ich habe ein Bewusstsein. Wie grausam ist das bitte?«
Linda, 46 Jahre
»Ich habe meine Eltern verklagt, weil ich lebe. Ich wollte das nie, leben.«
Ben, 21 Jahre
»Ewig sein! Ewig da sein! Das Leben genießen, jede Facette erleben, alles machen dürfen und können. Den Überfluss der Welt erleben. Ja, das will ich. Ewig leben und lernen, ewig lachen und lieben!«
Chelsea, Jahre
] DIE VERGANGENHEIT [
ENZYKLIKA SPE SALVI von Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe, Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen über die christliche Hoffnung im Jahre 2007:
»[…] Auf der Suche nach einer Antwort möchte ich von der klassischen Form des Dialogs ausgehen, mit der das Taufritual die Aufnahme des Neugeborenen in die Gemeinschaft der Glaubenden und die Wiedergeburt in Christus eröffnete. Der Priester erfragte zunächst den von den Eltern gewählten Namen des Kindes und fragte dann weiter: Was begehrst du von der Kirche? Antwort: Den Glauben.
Und was gibt dir der Glaube?
Das ewige Leben.
Nach diesem Dialog suchten die Eltern für das Kind den Zugang zum Glauben, die Gemeinschaft mit den Glaubenden, weil sie im Glauben den Schlüssel sahen für »das ewige Leben«. In der Tat, darum geht es heute wie einst bei der Taufe, beim Christwerden: Nicht nur um einen Sozialisierungsakt in die Gemeinde hinein, nicht einfach um Aufnahme in die Kirche, sondern die Eltern erwarten sich für den Täufling mehr: Dass ihm der Glaube, zu dem die Körperlichkeit der Kirche und ihrer Sakramente gehört, Leben schenkt – das ewige Leben. Glaube ist Substanz der Hoffnung. Aber da steht nun die Frage auf: Wollen wir das eigentlich – ewig leben? Vielleicht wollen viele Menschen den Glauben heute einfach deshalb nicht, weil ihnen das ewige Leben nichts Erstrebenswertes zu sein scheint. Sie wollen gar nicht das ewige Leben, sondern dieses jetzige Leben, und der Glaube an das ewige Leben scheint dafür eher hinderlich zu sein. Ewig – endlos – weiterzuleben scheint eher Verdammnis als ein Geschenk zu sein. […]«
] DIE VERÄNDERUNG [
{bibel, matthäus 16,28: denn das ist mein blut des bundes, welches für viele vergossen wird zur vergebung der sünden!}
Er musste verrückt sein.
Seine Hände waren schweißnass. Er fluchte innerlich, an diesem heiligen Ort. Fast hätte er den Halt verloren. Und sein Leben beendet. Dabei wollte er das Gegenteil.
Bis an die Spitze des Gerüsts hatte er sich hochgekämpft. Es durchbrach die Stille der berühmten Kapelle wegen kleinerer Restaurationsarbeiten. Oben angelangt nahm er seinen abgenutzten Schaber aus der Hosentasche und inspizierte den Plan, der auf seine Kontaktlinsen, den LensDisplays, projiziert war. Alles war deckungsgleich. Er stand genau unter der Erschaffung der Sonne, des Mondes und der Pflanzen. Nur kurz war der Eindringling, der sich auf Geheiß des Papstes im Vatikan aufhielt, fasziniert von den kräftigen Farben, die einst Michelangelo in die Sixtinische Kapelle gezaubert hatte. Sein Ziel aber war das rote Tuch, das Gott, einer väterlichen Figur mit weißem Bart und ausgestrecktem Arm Richtung Sonne, bekleidete.
Er kratze eine kleine Stelle auf, der Staub verteilte sich tanzend im Raum, der ansonsten steril und abgeschottet gehalten wurde. Eine Bohrung in den linken Arm Gottes förderte endlich das zutage, was er seit Jahren gesucht hatte: Den Heiligen Gral. Reste vom Blut Jesu.
Und er war sich sicher, dass es sich um den Lebenssaft Christi handelte, denn es war flüssig, nicht eingetrocknet. Der Dieb war zwar nicht gläubig, aber fasziniert.
Mit einem Reagenzglas samt Trichter fing er die Tropfen auf, eher er das Loch wieder fachmännisch verschloss, hinabkletterte und verschwand.
] DIE REVOLUTION [
{bibel, moses 11,10: das ist das geschlecht sems. sem war 100 jahre alt und zeugte arpachschad […] und lebte danach 500 jahre und zeugte söhne und töchter.}
Auszug aus der UNO-Verordnung 29.534 vom 03.01.2066:
(§1) Einen Anspruch auf das Ausschalten des natürlichen Todes haben unbescholtene, kinderlose (leiblich) und ethisch korrekte Bürger dieser Welt.
(§2) Wer aus dem ewigen Leben ausscheiden möchte, hat sich in einem zertifizierten BodyCenter einzufinden, in dem er nach einer Prüfung würdevoll sterben kann.
(§3) Schwere Gesetzesverstöße nach der Operation können mit der Todesstrafe geahndet werden. Darunter fallen auch Kindszeugung, -adoption oder längere –beherbung.
New York City, Manhattan, 03. Januar 2066
»Wo ist die Scheiße?«
»Was …?«
»Normalerweise stellen wir Fragen nur einmal. Also … wo ist die Scheiße? Deine Scheiße?«
»Hier ist sein SocialContact, Sir. Kaum gefüllt, das ist schon mal verdächtig. Mensch. Single, US-Amerikaner. Geboren in New York City, achtundzwanzig Jahre, männlich, Quell-DNA über … lediglich eine Region, das ist ungewöhnlich. Keinerlei bekannte sexuelle oder übergriffige Handlungen, älterer Bruder eines Zwillings, wenig Menschenfreunde, Sozialstatus daher bedenklich. Normalessend, keine Tabletten, daher bedenklich. Schuldenfrei, das ist sehr bedenklich, wenig Umsatz, daher auch wenig Konsum. Kontostand Durchschnitt, new$Mining Durchschnitt, Empfänger des gesetzlichen Grundeinkommens. Er hält die Umweltgrenzen und Gesetzesrahmen ein, Krankenakte negativ, OCEAN-Index gute 78. Wie berichtet ist er Miner und Einkommensempfänger, wurde aber bis jetzt von keiner Superfirma kontaktiert, da nur Durchschnitt. Vollwaise. Eltern unbekannt, daher keine Drei-Generationen-Gesundheitsstatistik über Erbmuster und Krankheiten. Niedriges Aggressionspotenzial, kein auffälliges Verhaltensmuster. Wohnungsfaktor: sauber und seinem Lebensstandard angemessen. 3D-Drucker ist clean und legal. Kein Android oder Haushaltsroboter registriert. Er hat überdurchschnittliche Gewohnheiten. Es war noch nie eine Waffe auf ihn registriert. Der Typ ist ein lebendiger Heiligenschein!«
Draußen die Nacht. Drinnen die CityArmy, die genannten Daten vor ihren Augen. In meinem Live-Private-Room. Mein Gesicht derb hineingedrückt in die rostbraune Bakterienkultur meines stolz selbstgezüchteten Sofas. Digitale Zahlen und Buchstaben des LensDisplays wirbelten vor meinen Augen wirr hin und her wie eine tosende Windhose. Schwindelgefühl. Fragen. Versagen des Infosystems. Vielleicht hatten sie es auch nur ausgesperrt.
Unerwartete Stille kehrte ein.
Abwartehaltung. Pistole in meinem Nacken. Scheiß Gefühl. Sie hantierten in meiner Wohnung. Keine Gesichter. Keine unnötigen Worte. Wohl auch keine Menschen. Androiden, außer dem Supervisor vielleicht. Meine illegalen Drogen in mir erschlafften. Hoffentlich taten es meine Schließmuskeln es ihnen nicht nach. Zuckerdepression. Das Wissen, das ich mir in meinem Kurzschlaf angeeignet hatte, drohte zu zerfließen. Plötzlichkeitsernüchterung.
Noch vor ein paar Sekunden … Ruhe und Frieden. Begierig und wild hatte ich Biobricks, Bausteine der synthetischen Biologie, zusammengestellt, um einen neuen Organismus zu basteln, als plötzlich mit einem wuchtigen Donnerschlag die Tür meiner Bude nahe des Central Parks aus den Angeln gehoben worden war. Noch ehe ich in irgendeiner Art und Weise reagieren konnte, umgriffen vier Hände der uniformierten Eindringlinge meine Fesseln wie Schraubstöcke. Der dritte Kerl riss mir aus Sicherheitsgründen die frisch aufgesprühten Latexklamotten vom Leib. Sie durchsuchten mich. Mich! Nicht meine Klamotten. Mich. Meinen Mund. Meinen Arsch. Meinen Bauchnabel. Mein Kopf würde sicher später folgen.
»Welche Scheiße?«, keuchte ich verwirrt.
»Die, die normalerweise aus deinem Arschloch in die Toilette kackst. In den letzten drei Wochen aber wurde in deinen Topf weder uriniert noch geschissen. Also … wo ist die Scheiße und welche Drogen nimmst du? Und du hast es doch eben gehört: Du bist normalessend. Dazu ein schuldenfreier Student mit Grundeinkommen. Vollwaise. Du hast sogar einen 3D-Drucker, wo du das Essen visuell aufbereitest! Welch ein Unsinn! Wer tut so was? Aber das heißt, gerade du fabrizierst eine braune, warme Müllabfuhr.« Der Soldat rammte sein Bein in meinen Rücken. Ich schnappte kurz nach Luft und wurde noch weiter in die weichen Fänge meiner Couch gepresst.
»Hey … Leute … ganz ruhig! Ich … ich war im Urlaub, ich war gar nicht da.« Fuck, wo war ich die letzten Tage … Wochen … wie lange … wo …?!
»Falsche Antwort. Die Cams außen sagen etwas Anderes, genauso deine BlackBox, die wir laut Regel 41 anzapfen durften.«
»Der Stimmenanalysator sagt das Gleiche, Sir! Er lügt!«
»Du warst hier. Regelmäßig. Du pflegst deine Gewohnheiten! Also, welche Drogen nimmst du?«
»Vielleicht sind die Sensoren und deren Fehlermeldung der Toilette im Arsch«, ächzte ich. Ich bekam kaum Luft, meine Augen hangelten sich nach oben, um einen Blick auf den Chef der schmierigen Truppe zu erhaschen. Umsonst. Ich sabberte, zitterte, würgte.
»Das hätten die Sensoren gemeldet. Dennoch werden wir das prüfen. Ich hoffe, dass dein Name echt ist, sonst …«
Barsch packten mich zwei Soldaten unter den Armen und zerrten mich nackt ins Bad. Der Supervisor blieb in meinem Live-Private-Room zurück und begaffte meinen hauchdünnen WallScreen, die die komplette Wohnzimmerwand in Realauflösung abdeckte und die wichtigste Übertragung der aktuellen Welt live ins Zimmer übertrug: Die Sitzung aus dem UNO-Saal ein paar Meilen weiter.
+++ breaking live news +++ breaking live news +++
+++ welt steht vor einem durch- und umbruch ungeahnten ausmaßes +++
+++ die uno-versammlung tritt in diesem moment zusammen +++
+++ 80% der bürger halten news für einen fake +++
+++ wasserzeichen und bestätigung beweisen: non-fake +++
+++ plädoyers beginnen +++
»Mir gefällt das nicht, Jim.«
US-Präsident John Cone runzelte die Stirn. Er fuhr fahrig mit der knochigen Hand durch sein graues dünnes Haar und durchforstete mit ruhelosen Augen den antiquierten Plenarsaal der UNO am Ostufer Manhattans. Sein ebenfalls hellhäutiger Sicherheitsbeauftragter und Stabschef Jim Allen, ein smarter aufstrebender Politiker, scrollte erneut mit seinen Augen stumpf durch die Verordnung 29.534. Er schnaufte leise durch. Massen an Daten. Er hätte sie durch den Datenpacker jagen und in der virtuellen Realität aufbereiten lassen können, doch er hielt es für wichtig jede Zeile sich selbst zuzuführen. Sein Chef lehnte solche Möglichkeiten grundlegend ab. Präsident John Cone war ein Relikt, vielleicht auch eine Ikone aus dem alten Jahrtausend. Im Prinzip war er noch jung mit seinen knapp siebzig Jahren, die Lebenserwartung auf der Nordhalbkugel lag fast fünfzehn männliche Jahren darüber, bei Frauen sogar mehr als zwanzig. Jim Allen hatte eben das erste Drittel geschafft. Aber was bedeutete schon Lebenserwartung bei so einem Thema wie an diesem Abend? Er war fasziniert von dem, was die Gen-Wissenschaft in der kurzen Zeit, die sie bisher andauerte, vollbracht hatte. Sicherlich, nicht alles war ethisch korrekt und er wollte nicht wissen, ob wirklich nur Ratten und Mäuse zu Versuchszwecken herangezogen worden waren. Oder auch Menschen, was nicht unnormal war. Es war leicht verdientes Geld zusätzlich dem Grundeinkommen. Er übertrug die Daten seines eTablets auf sein EyeLensDisplay. Vor seinen Augen formte sich der Geschichtsteil seiner Unterlagen.
Es war das Jahr 2052 als Prof. Dr. Felix Dwight und vierzig weitere Wissenschaftler aus den Bereichen der Biologie über die Chemie bis zur Physik das menschliche Genom endgültig und vollständig sequenziert hatten. Die Abfolge und Inhalte der Basenpaare in der DNA mit ihren einzelnen Chromosomen waren erstmalig eindeutig und zweifelsfrei identifiziert worden. Bereits 2001 wurde die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms verkündet, Jahre später aber erst richtiggestellt. Daraufhin wurde von den Forschern Wert auf die Lesung der einundzwanzigtausend Gene der Chromosomen gelegt. Zwanzig Lücken gab es bis zum Schluss, Probleme in den Genomvariationen schienen unlösbar, aber plötzlich war es geschafft. Neben zweitausend Krankheitsgenen hatte diese Gruppe sich auf die Suche nach dem Alterungsprozess gemacht.
Sie vermuteten ihr Heil in der Proteomik, dem Gebiet der Proteine, sowie deren Eiweiße im Organismus und ihrer Baupläne, Anordnungen in den Erbanlagen und Aufgaben. Proteine sind die Ursache verschiedener Lebensformen. Sie sind schuld an Krankheiten und sie sind die Lösung dafür.
Ebenso seneszente Zellen. Sie schädigen das Gewebe der Organe. Sie mussten in den Zelltod getrieben werden, um das biologische Alter vom chronologischen zu entkoppeln.
Dwight und seine Männer nahmen die Aufgabe an, die Motive und Milliarden an Möglichkeiten der Proteine und Zellen zu entschlüsseln. Aber nicht nur Gene spielten eine Rolle, vor allem waren es Zellen. Zellen, die potenziell unsterblich waren. Gerontologen und Biologen nutzten das Wissen um die Telomere und ihren Eigenschaften. Sie waren die Kappen auf den Enden der Chromosomen zum Schutz der Spiralstruktur vor dem Ausfransen. Bei jeder Zellteilung verschwand ein Stückchen vom gesamten Telomerteil, bis schließlich nichts mehr vorhanden war - und die Zelle starb. Und das musste verhindert werden. Was letztendlich als »Ausschaltung des Sterblichkeitsgens« tituliert wurde, beinhaltete letztendlich aber doch die Beteiligung und Vernetzung von rund hundert Genen.
Für viele war das plötzliche Ergebnis überraschend, noch dazu, wo auf technische Hilfsmittel wie Steuerungschips innerhalb des Körpers verzichtet werden konnte. Plötzlich musste nicht mehr nur das Gehirn in eine Wolke verpflanzt werden. Die Natur schlug sich selbst ein Schnippchen, auch wenn die Forschungen lange gedauert hatten und massenhaft Gelder, vor allem von privaten Investoren, verschlungen hatte. Viele Forscher und Milliardäre, die auf ein ewiges Leben gehofft hatten, virtuelle Münze um Münze spendierten, waren älter und grauer geworden, und auf dem Weg der Suche nach der Unsterblichkeit, auf der Jagd nach dem Heiligen Gral gestorben. Die, die noch da waren, frohlockten.
Jim Allen hatte kaum ein Wort verstanden. Es war nur so viel: Es konnte eliminiert werden, wie auch immer. Abrupter Stopp des Älterwerdens. Keine Falten. Keine grauen Haare. Keine Altersflecke. Keine Gebrechlichkeit. Altersstillstand. Ewiges Leben. Ja, es war definitiv der Heilige Gral, eine Revolution! Ein ewiges Leben vor dem verstorbenen Tod! Er riss sich zurück in die Sitzung.
Der Plenarsaal der UNO war bis zum letzten Platz gefüllt. Alle zweihundertzwei Nationen hatten ihre Vertreter geschickt, alle wollten sie darüber abstimmen, ob Verordnung 29.534 in Kraft treten sollte oder nicht. Es war fast schon ein Unikum. Menschen, versammelt in einem Meeting, leibhaftig. Es war keine Videokonferenz mit HelioDisplays, ausrollbaren Riesendisplays oder WallScreens, sondern alles in Real-3D. Lediglich aufgezeigt wurden persönliche Daten mittels EyeLensDisplay, die perfekte Form des AugmentedReality: Die wahren Bilder wurden durch Kontaktlinsen mit Informationen aus dem Web angereichert. Sanftes Getuschel waberte durch den Raum, in Ehrfurcht darüber, was heute geschichtsträchtiges passieren könnte. Doch ein gemeinsamer Beschluss schien absolut unwahrscheinlich. So unwahrscheinlich, als ob jeder Mensch wirklich ewig … ein Gedanke, so abstrus wie eine Wand im unendlichen Raum des Universums. Er war in Jims Kopf nicht greifbar. Ewig … oder auch nicht. Gut, er könnte von einem Mobilfahrzeug überfahren werden, aber auch nur, wenn dessen Sensoren oder Code versagen würden. Der natürliche Tod wäre aber ausgeschlossen, der naturwidrige natürlich nicht. Ein Lächeln. Natürlich.
»Siehst du deine Sensoren? Siehst du sie?«
»Ja. Ich sehe sie.« Es war mehr ein Keuchen als ein Satz. Mein Kopf hing nur knapp über dem unbewegten Wasserspiegel meiner alten weißen Toilettenschüssel, in der ich unzählige Male gekackt, geschifft und gekotzt hatte.
»Und wie du siehst, funktionieren sie einwandfrei.« Ich konnte ihr hässliches, siegbegieriges Lächeln nur erahnen. Überall waren Messgeräte. Überall! Sie registrierten alles und jeden. Der Teppich konnte einem nicht nur erzählen, wann du unrund über ihn gelaufen bist, sondern auch, wann er geputzt und gestreichelt werden wollte. Die Sensoren in den Mauern wussten, wann saniert werden musste, Sensoren draußen regelten den Verkehr, bestimmten das Wetter und brachten dir diese verfickte CityArmy ins Haus. Unerwartet wurde mein angespanntes Gesicht samt aggressiver Gedanken fest in das eiskalte Wasser getaucht. Sofort ertönte eine freundliche weibliche Stimme: »Bitte entferne große Stücke oder Dinge aus der Toilette, um einer Rohrverstopfung vorzubeugen.« Ich war am blubbernden Tiefpunkt meines Lebens angelangt.
Noch bevor ich ein Gefühl des Ertrinkens entwickeln konnte, wurde ich grob nach oben gezogen und brutal gegen meine unverputzte Mauerwand gepresst. Das Wasser tropfte aus meinen Mundwinkeln, Haaren und Gesicht auf den matten Boden, ich fühlte mich scheißeschwach, scheißeweich und scheißestinkig. Der Putzroboter fiepte um die Ecke.
»Bringt den Typ zum Kotzen. Und passt auf, dass nichts neben die Schüssel geht. Ich schaue inzwischen noch einmal nach vorne. Interessantes passiert in der Welt.«
Allens Blick schweifte prüfend durch das mehrstufige Halbrund des altehrwürdigen Sitzungssaals. Jede Nation hatte zwei Vertreter geschickt, die jeweils an einem kleinen einfachen Tisch Platz genommen hatten und deren Namen sofort auf Allens EyeLensDisplay eingeblendet wurden, wenn sie in seinen Focus gelangten. Dazu gesellte sich im Hintergrund das unvermeidliche Sicherheitspersonal, technisch wie menschlich. Das Ereignis wurde live ins Netz übertragen. Präsident Cone und sein Berater Jim Allen hatten in der letzten Reihe hinten rechts am Ende der äußeren langen Treppe Platz genommen. Früher saßen sie unten, vorne in der Nähe des Pultes, neben den Russen, Indern, Chinesen und Europäern. Präsident Cone wollte aber nach oben, nach ganz hinten, des Überblicks wegen. Die Netzpresse und Blogger überschlugen sich fast mit dieser Entscheidung! War es nun ein Machtverlust, nicht mehr neben den anderen Weltmächten zu sitzen, oder war es jetzt sogar noch besser von da oben aus? Schließlich mussten nun alle zu Amerika aufblicken. Wie zu besseren Zeiten.
Cone war es gleich. Er war Hass und Hetze gewohnt. Es kehrte Ruhe ein, als UNO-Generalsekretär Bent Elnegaard selbstsicher zum Rednerpult schritt. Elnegaard war der erste Schwede, der die UNO anführte, zudem der erste Europäer seit langem. Er war schlank, fast mager, Mitte fünfzig, besaß ein gepflegtes und seriöses Auftreten und trug seit Jahren die gleiche Frisur mit der gleichen blonden Haarfarbe. Es war offensichtlich, dass er ein Haarstoppmittel benutzte, aber wer tat das nicht? Vor allem bei Männern waren die Pillen oder Injektionen beliebt, sparten sie doch den unsäglichen Friseurbesuch oder Rasuren. Damen dagegen benutzten es nur sporadisch und dann, um Behaarungen unterhalb des Kopfes zu stoppen. Frisuren dagegen waren immer noch so angesagt wie im letzten Jahrhundert und das bei nicht einmal mehr halb so vielen Friseursalons wie damals. Virtuelles Schneiden war leider noch nicht möglich, automatisches dagegen selbstverständlich.
»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der UNO-Vollversammlung. Ich begrüße Euch zu diesem historischen Treffen. Besonders begrüßen möchte ich die sieben ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates, die alle mit ihren höchsten Landesführern zu Gast sind. In ihrer mehr als hundertzwanzigjährigen Geschichte hat die UNO hier in New York schon viele entscheidende Maßnahmen, Sanktionen und Resolutionen getroffen, die zwar nicht immer auf Einigkeit der Menschheit basierten, aber dennoch die Welt überlebensfähig gemacht haben. Als Beobachterstaaten darf ich heute die Vertreter aus der Teilrepublik China-Taiwan, David-Inseln und Afrikasahara begrüßen, zudem wie immer, zwar nicht als weltlicher Staat, aber doch als Souverän, G.O. »Sexchat« David, Supervisor des UnitedWorldNets. Jedes Mitgliedsland, egal ob es mit Sanktionen belegt ist oder nicht, darf heute in dieser Generalversammlung abstimmen.«
Ernst blinzelte Elnegaard in das weite Halbrund. Er wusste schon jetzt, das, was heute abgestimmt werden würde, würde nie und nimmer durchgehen. Dennoch war es ein Thema, das zu wichtig war, als dass es ohne Einmischung der UNO in der Welt erlaubt werden durfte. Die notwendige Einstimmigkeit der Verordnung 29.534 würde alleine schon am Veto des Vatikans, Vollmitglied seit 2038, scheitern. Vorher waren die Christenvertreter nur Beobachter, das hätte die Sache heute leichter gemacht. Der Beitritt war eine Folge der zunehmenden Unbedeutsamkeit der christlichen Religion.
Er räusperte sich kurz und fuhr fort: »In unserer Präambel heißt es unter anderem, dass die UNO den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit fördern soll. Ich weiß, dass viele der Meinung sind, das Thema »Ewiges Leben« ist kein Thema der UNO. Artikel 1 Punkt 3 der UN-Charta sagt aber aus, dass die UNO internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen hat. Aufgrund der Tatsache, dass die Biogenetik den sicheren Standard erforscht hat, mit dem Kernpunkt Menschen nicht nur länger, sondern gleich theoretisch ewig Leben lassen zu können, wurde und muss dieses Thema behandelt werden. Globale Überbevölkerung, letzte Auswirkungen des Klimawandels mit Wüsten in Europa und anderswo, Pandemien, erneuerbare und bakterielle Energiegewinnung ohne Öl und Gas, alles Themen bis ins Jetzt. Es ist ein alter Traum der Menschheit, ewig zu leben. Und es ist die Chance der Menschheit, in geordnete Bahnen zu leben, und zwar jeder so, wie er will. Ich weiß, es gibt moralische Bedenken. Es gibt religiöse Bedenken, welche wiederum auf den eben genannten Punkt 3 des Artikels 1 lenken. Es gibt Bedenken, dass nur Reiche in den Genuss kommen. Es gibt Bedenken über die Menschen, die nie existent sein werden, weil wir den Nachwuchs vernachlässigen müssen. Ich weiß, es gibt nichts Schöneres als ein lachendes Kind. Kinder sind unsere Welt, unsere Zukunft. Und Kinder sind auch weiterhin erwünscht. Aber wir müssen der Tatsache ins Auge sehen: Es gibt zu viele von uns. Dieses Knallbonbon, unsere Weltbevölkerungsexplosion in den Griff zu bekommen, bedeutet, diese Menschen ewig auf der Erde zu lassen. Es ist ein schwieriges Thema, ein einmaliges und deshalb haben sich alle Staaten darauf verständigt, in einer UNO-Generalversammlung darüber zu reden und zu votieren. Es gab eine Vorauswahl der Sprecher, die dann wenige Worte an die Versammlung richten dürfen, bevor wir ein Urteil darüber fällen. Zu Beginn darf ich den Vorsitzenden der Gemeinschaft Ewiges Leben und gleichzeitigem CEO, den Vorstandsvorsitzenden der LifeGenom Inc., Devin Stervals begrüßen.«
Höflicher Applaus hallte durch den altmodischen Saal als UNO-Generalsekretär Elnegaard Devin Stervals die Hand reichte und ans Rednerpult bat.
»Ob der sich schon heimlich hat operieren lassen, Mr. President?«
»Dann macht er sich strafbar, Jim. Ich bin irgendwie stolz, dass wir Amerikaner zum Durchbruch dieses ... unglaublichen Ereignisses beigetragen haben, aber es ist so unwirklich … nicht greifbar. Jim, kannst du dir vorstellen, immer auf dieser Erde zu sein? Mit immer der gleichen Frau? Ohne Kinder? Ohne Eltern? Ohne Enkel, Urenkel? Ohne Rente? Ohne Lebensabend? Nie Vater werden, nie Opa?«
Cone aber musste sich in diesem Moment selbst innerlich eingestehen, nichts davon je selbst erlebt zu haben. Generationsverlierer.
»Sir, wieso sich Sorgen machen? Wir lehnen das sowieso ab. Es ist eine Abstimmung, die wie so viele andere nicht in Kraft tritt.«
»Aber viele Menschen wollen es! Das macht mir Angst. So wie auch die Angst vor dem Tod ... ich weiß nicht, Jim, die Aufgaben des Staates an ein ewig lebendes Volk wären immens. Die sozialen Aspekte. Das Miteinander. Die Geldverteilung. Die gesellschaftliche und menschliche Verrohung.«
»China sieht es mehr von praktischer Seite.«
»Die Chinesen haben leicht reden. Die letzten Jahre waren irre. Ein Wunder, dass der Rest der Welt wirtschaftlich noch atmet. Am Anfang dachte man, die ruinieren mit ihrer Klimaignoranz, Billiglöhnen und Innovationen den Rest der Welt. Sie lösen eine Pandemie aus und profitieren dann noch davon. Selbst der Krieg … die Rezension … ihre Null-Toleranz-Politik … alles blieb ungestraft! Zumindest sitzen wir hier, nach all der schlimmen Zeit. Es ist ein Wunder.«
»Und dann entdeckte das chinesische Volk die süßen Früchte des Kapitalismus und der Freiheit. Die Löhne stiegen, wie emissionsfreie Fahrzeuge, ab in die Luft, die wieder rein geworden war.«
»Doch der Kommunismus blieb, zumindest weitgehend. Und nun? Jeder Chinese würde ewig leben und ...«
»... konsumieren, wie der Staat es ihm diktiert. Altenheime, Schulen und Kindergärten werden abgebaut. Die Roboter und Androiden liefern nun genau das, was gebraucht wird, aber nur noch für eine Generation. Es wäre die perfekte Planwirtschaft. Und der Traum der Kommunisten. Die Verwaltung nicht nur der Wirtschaft, sondern auch des Menschen. Kein Kommen und Gehen mehr, lediglich die Bestandserhaltung der eigenen Bürger.«
»Na, so einfach ist die Rechnung auch nicht, mein Lieber!«
»Und diese Rechnung hier, Sir? Wenn nur ein Mensch ewig lebt, ein einziger … was dann?«
»Dann ist er Jesus.« Sie richteten ihren Blick wieder nach vorne.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren der UNO-Generalversammlung«, begann Devin Stervals ohne die Spur von Nervosität. Seine graubraunen Haare lagen nach hinten gewellt über sein durch viel Arbeit gezeichnetes Gesicht. Wachsam prüften seine blauen Augen jede einzelne Person in diesem Raum. Lässig ließ er seine rechte Hand in der Hosentasche, darüber trug er ein sündhaft teures südeuropäisches Sakko in dezent dunkel spiegelnden Farben. Sein Selbstbewusstsein war unübersehbar, nahe der Arroganz. »Als uns vor sechs Jahren der Durchbruch in der Gentechnik anhand von Ratten und vorher an Mäusen gelungen war und wir herausfanden, dass wir nur vergänglich sind, weil es uns, stark vereinfacht erklärt, ein Gen das so sagt, hätte keiner geahnt, was das innerhalb kürzester Zeit für die Menschheit bedeuten könnte. Hydra, benannt nach dem ewig lebenden Süßwasserpolypen, heißt dieses Projekt, das uns in eine neue Welt der Menschheit katapultiert. Der technische Fortschritt ist bereits eine Hydra, die technische Singularität wird sich weiter steigern, bis dahin, dass Androiden, Roboter und Maschinen irgendwann superintelligent sind - also noch intelligenter als wir selbst, was auch dadurch bewirkt wird, dass wir vergänglicher sind und unser Körper noch immer technikunabhängig ist. Wir wollen aber mit der Technik eins werden und bleiben, mit ihr gehen, sie achten und prüfen, sie kontrollieren und steuern, egal wie scharfsinnig sie ist. Vielleicht bestimmen wir dadurch den Sinn der Evolution und den Sinn des ewigen Lebens. Nun stehe ich hier und Sie entscheiden darüber, ob wir selbst zu einer Hydra werden. Der Mensch wurde in der Steinzeit kaum zwanzig Jahre alt, im Alten Rom um die dreißig, auch im Mittelalter war das Leben eher ein halber Wimpernschlag der Geschichte. Es war eine Verschwendung der Ressource Mensch. Unzählige Menschen starben bisher auf diesen Planeten, sie ließen Wissen und Erkenntnisse zurück, viele aber nahmen all das mit ins Grab. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg in den letzten hundertfünfzig Jahren stetig an und die Menschen hatten mehr vom Leben. Der Traum, hundert Jahre alt zu werden, ist so alt wie alle Jahrhunderte selbst. Der Traum, weiter als bis zum Mond zu fliegen, wie es Amerikaner, Russen und Chinesen gezeigt haben, hat jedes Land noch vor Augen. Der Mars wird irgendwann noch so richtig erobert werden, nachdem Mikroben Terraforming betrieben haben! Aber es geht noch weiter! Wenn der Mensch es schafft, eine kleine künstliche Erde durch das All auf die Reise zu schicken, geschützt vor Strahlung und weltallmutierten Bakterien und die GenBox im Gepäck, dann werden Menschen in andere Galaxien vordringen, die ihnen für immer verschlossen schienen! Oder: Ein Mensch, der ewig auf der Erde lebt, hat die einmalige Chance, sich zu verwirklichen, denn er hat die Zeit dazu! Ein Wissenschaftler, ein Techniker, ein Grundeinkommensempfänger gleich welcher Art kann eine Koryphäe auf seinem Gebiet werden, denn er wird immer da sein! Im Schlepptau dieser Errungenschaft werden wir keine Krankenhäuser mehr benötigen, so wie wir heute schon keine einzelnen Arztpraxen mehr haben. Es wird nur noch BodyStations geben, ambulante Krankencenter, in denen behinderte Menschen gesund werden können, in denen Unfallopfer, egal ob verletzt mit einem abgetrennten Arm oder einer zerrissenen Leber, innerhalb kürzester Zeit durch die GenBox geheilt werden können. Pandemien wird es nicht mehr geben. Irgendwann wird selbst das Gehirn ein Backup haben. Und das wird den Tod endgültig besiegen. Jeder ehrliche kinderlose Mensch auf dieser Erde hat die Möglichkeit dazu. Ehrliche Menschen, meine Damen und Herren! In Ländern mit dem ID-Chip werden unehrliche Menschen, Verbrecher, Mörder bald der Vergangenheit angehören. Oder glauben Sie, dass gesuchte und bekannte Drogendealer, Mafiosi und Attentäter einfach so bei LifeGenom vorbeischauen werden oder können? Menschen, die im Untergrund leben, besitzen meistens keinen ID-Chip mehr. Sie haben ihn mit ihrer Hand zwangsentfernt. Kein Chip, kein ewiges Leben. Wir werden das Böse damit ausrotten!
Ich gebe zu, für Menschen, die Kinder künstlich oder natürlich haben oder wollen, ist keine GenBox vorgesehen, aber sie werden weiterhin mit den besten Möglichkeiten der modernen Medizin behandelt. Es ist eine schmerzliche Grenze, aber es muss sie geben. Wir bekommen zudem endlich das weltweite Nahrungsmittelproblem in den Griff. Wir haben uns schon sehr von der Massentierhaltung verabschiedet. Aber da geht noch mehr. Ich war einst in Westafrika. Ein kleines hungerndes Kind blickte auf zu seiner verzweifelten Mutter. Wissen Sie, was das Kind seine Mutter gefragt hat? »Mama, warum hast du mich geboren?« Das wird, das muss der Vergangenheit angehören, so es wie Aufstände in Staaten mit knappem Überlebensgut nicht mehr geben wird. Auch werden künstlich erzeugte Kinder nicht mehr so einfach weiterverkauft. Wie sagte schon der große Albert Einstein: »Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt.« Also, weg mit den Kindern! Und warum? Ewig leben und vielleicht tausend Kinder großziehen, das würde die Natur und unser wundervoller Planet nicht verkraften. Natürlich können auch Ewiglebende sterben, natürlich dürfen sie nicht blind durch das Leben gehen, sie sind unverwundbar gegen den natürlichen Tod, aber nicht unverwundbar gegen Schicksalsschläge des Alltags!«
»Unlogischer Schmierenkomödiant«, raunzte Cone vor sich hin.
»Mr. President, man könnte uns hören!« Allen zeigte intensiv auf die MiniCam.
»Mir doch egal. Ich sehe ein, dass das ein Riesenpotenzial für die amerikanische Industrie ist, aber was der dort veranstaltet … reine Propaganda. Sehen sie nur, wie er aussieht. Wie ein Lackaffe aus den 1960ern. Diese Frisur mit diesen nach hinten niedergebügelten Haaren, dieser Anzug!«
»Alles was vor hundert Jahren in war, ist nun wieder in, nur etwas moderner, Sir.«
»Wie alt ist Stervals?«
»Fünfzig?«
»Seltsam. In ein paar Jahren fragt niemand mehr nach dem äußeren Alter. Er wirkt jünger.«
»Er hat gekotzt, Sir.«
Der Soldat stand stramm im Türrahmen.
»Was ergab der genetische Barcode?«
»Neunzig Prozent Ketamin, Rest andere Drogen, Bakterien und chemischen Stoffe. Aber er ist krankheitsfrei, sein Körper brütet auch nichts aus. Wir haben seinen Chip überprüft. Seine Ernährungsgewohnheiten sind wahrlich in Ordnung. Keine Anzeichen von Sucht oder Suchtgewohnheiten.«
»Gibt es eine Selbstüberwachung in der Wohnung?«
»Nein, Sir. Altbau. Nur sein Webverlauf mit all den Geodaten. Er kauft die Drogen nicht online, er spielt virtuell ein Mittelalterspiel – als Priester. In der Realität holt er sich das Drogenzeugs und seine Biobricks legal in MediStations um die Ecke und mischt sie sich wohl selbst zusammen. Zudem sind seine Finger- und Fußnägel verstümmelt. Das gilt als depressiv, aber er ist bisher nicht aufgefallen.«
»Mittelalterspiel?«
»Dort ist er Nahkampfmeister. Seine Anlage hier in dieser Wohnung ist supermodern. Abtastlaser zur freien Bewegung. Keinen dieser Ganzkörperanzüge, dazu LensDisplay. Sind Ihnen schon die chemischen Symbole auf den WallScreens in Küche und Schlafzimmer aufgefallen, Sir? Dazu hat er noch welche analog an die Wand gemalt. Das ist abartig. Aber alles sind laut Scan Formeln, um den Körper in Aggressivität- und Gewaltstimulation zu bringen. Das kann illegal sein, Sir! Dazu hängen reale Kreuze und Kruzifixe herum.«
»Ich … bin Chemiestudent. Und das sind auch keine Drogen. Ich brauche die für …«
»So, so … Chemiestudent bist du. Und ein geistlicher, aggressiver Nahkampfmeister. Und synthetischer Biostuhlbastler.«
»Ich … bin auch Künstler. Ich stelle meine synthetischen Kulturen auf Kunstmessen …«
»Künstler auch noch!« Mürrisch trat der Supervisor auf mich zu: »Und die Scheiße?«
»Meine Damen und Herren der UNO-Generalversammlung. Sechzig Prozent der Menschen würden es sich wünschen ewig zu leben. Einundzwanzig Prozent spekulieren damit. Verschließen Sie bitte über achtzig Prozent der Menschheit nicht den Wunsch, ein ewiges Leben zu führen. Unsere russischen und chinesischen Partner, meine Firma und ich selbst versprechen Ihnen, dass alles, was in der Verordnung 29.534 steht, peinlich und kleinlich genau umgesetzt wird. Die Firma LifeGenom steht in der größten Verantwortung der Menschheitsgeschichte. Nun ist es an Ihnen, diese umzusetzen. Lassen Sie uns ewig lachen, unbeschwert sein, Träume erfüllen, Dinge ausprobieren, lassen Sie uns ewig leben durch LifeGenom. Wir haben Gott arbeitslos gemacht.«
Applaus setzte ein, zum Teil nur verhalten und höflich, größtenteils freundlich. Keine Jubelstürme.
»Der Slogan musste ja noch kommen.« Cone hasste die kommerzialisierte Welt.
»Würdest du … wenn du es könntest und jung wärst ... würdest du es nicht trotzdem tun?«
»Was meinst du, Jim?«
»Nun, Mr. President. Wenn du zwanzig wärst, Single, unabhängig, kein Präsident ...?«
»Sollte das einmal so kommen und jeder würde sich dieser Genmanipulationsoperation unterziehen, hätten wir sicherlich nur noch eine Welt der Zwanzigjährigen.«
»Zumindest der Anteil der Bevölkerung, der noch unter zwanzig ist.«
»Stimmt, der Rest bleibt alt!«, grunzte Cone.
»Sie können nun Fragen stellen«, warf der Generalsekretär ein und gab dem Vertreter aus Südafrika das Wort.
»Danke! Mr. Stervals, haben Sie ihre Genoperation schon am Menschen ausprobiert?«
»Nein. Nur an Ratten und Mäusen, die dem Menschen bekanntlich ziemlich ähnlich sind. Zudem virtuell in komplizierten Rechenoperationen und Quantencomputern. Unser selbstauferlegtes Credo erlaubt uns die Anwendungen an den Menschen noch nicht. Das können Sie heute ändern.«
»Das heißt, Sie stehen für etwas, wo noch keine Neben- und Langzeitwirkungen bekannt sind?«
»Es gibt keine Nebenwirkungen. Und die Langzeitwirkung kennen Sie ja. Nebenwirkungen und Wechselwirkungen sind bei vielen Eingriffen und Medikamenten seit Jahren passé, das zeigen Versuche an Ratten und anderen Tieren. Aufgrund bestehender Verordnungen sind Versuche an Menschen zumindest auf der nördlichen Halbkugel verboten. Und LifeGenom ist nur auf der nördlichen Seite vertreten. Wir haben Verantwortung. Wir können und wollen uns keine Verstöße erlauben. Stellen Sie sich vor, wir versagen. Ein einziges Versagen wäre unwiderruflich. Ein einziger unsterblicher Mensch wäre unwiderruflich.«
»Mr. Stervals, ich bin der Vertreter von Sardistan, einer kleinen Republik bei Russland.«
»Ich kenne Sardistan.«
»Wie wollen Sie den Massenanstürmen, die sicher kommen werden, Herr werden?«
»Eine Operation an sich dauert nur zwanzig, dreißig Minuten. In einigen Ländern, wo die DNA-Daten der Bürger per Gesetz gespeichert sind, noch schneller. Durch stetig überarbeitete Programmroutinen denken wir, dass wir auf acht Minuten reduzieren können. Durch BodyStations in größeren Städten werden wir in der Lage sein, einige tausend Menschen pro Tag ihr ewiges Leben geben zu können. Die Ärzte, die das überwachen und die Operationsroboter programmieren, werden selbst vorher operiert. Dadurch haben sie Zeit, viel Zeit.«
Leises Lächeln im Raum.
»Werden Sie selbst ...?«
»Keine Frage! Ich bin kinderlos, Single, glücklich im Leben, was sollte mich hindern? Ja, Señor Sanchez, Kolumbien?«
»Glauben Sie nicht, dass eine kinderlose Gesellschaft eine tote Gesellschaft ist?«
»Nein. Sind wir doch mal ehrlich und sprechen als Industrieland zueinander, wobei wir hier differenzieren müssen zwischen so genannten Roboterstaaten und Roboterentwicklungsländern wie dem Ihren. Der Mensch in Kolumbien hat noch immer damit zu tun, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das soll keinesfalls despektierlich sein. Zwei oder drei Jobs sind in vielen Ländern keine Seltenheit. Die Wohnungen werden immer kleiner oder man lebt im Büro. Und wer hat da schon noch Zeit und Geld, sich Kinder zu leisten? Die Welt ändert sich. Früher war das Rauchen in Restaurants und in der Öffentlichkeit normal! Das ist noch keine hundert Jahre her! Dann wurde es in Restaurants verboten, in Verkehrsmitteln und so weiter. Inzwischen geht es ohne. Weil es strafbar ist. Mit Alkohol ist es ähnlich. So weit wollen wir mit Kindern natürlich nicht gehen. Dennoch, die Gesellschaft zeigt, dass sie kinderlose Orte sucht und bevorzugt. Ich nenne an dieser Stelle Hotels, Shopping-Center, Wellness-Orte. Mit dem Grundeinkommen sieht es noch straffer aus. Die Zeit der Ruhe, die der Mensch nun in seiner Post-Work-Balance hat, wird gesucht und genutzt. In Industrieländern gibt es kaum noch Bevölkerungswachstum. Ein Aussterben droht. Deutschland, Japan, trotz Zuwanderung! Sehen Sie den Menschen selbst. Es gibt Menschen, denen sieht man nicht mehr an, ob sie Männlein oder Weiblein sind. Diese Grenzen verwischen, nicht nur körperlich, auch geistig. Diese Cross-Over-Sexualität zeugt auch vom Desinteresse an Kindern. Vielleicht waren Kinder schon immer mehr Tradition als ein wahrer Wunsch der Fortpflanzung und Weitergabe der Gene. Viele wissen nicht einmal mehr, wie man sich natürlich fortpflanzt! In einer Welt, die vor Stress, Dauerbetreuung, künstlicher Fortpflanzung inklusive embryonaler Talent- und Charakteranalyse durch frühe Gentests und unendlichen Möglichkeiten nur so strotzt, bleibt keine Zeit für Fortpflanzung. Das stürzte und stürzt ganze Staaten in Krisen, Zuwanderungen stiegen und es lebten und leben zum Beispiel in mitteleuropäischen Ländern mehr zugezogene Südländer als Mitteleuropäer. Wir von LifeGenom bieten das ewige Leben, wir bieten den Staaten die Möglichkeit, ihr Land genau auf die Bevölkerung auszurichten, intensiv, vorausschauend, sicher, perfekt! Vielleicht zollen wir dem zunehmenden Egoismus der Menschen Tribut. Vielleicht ist es auch Wunsch der Natur. Die Natur regelt das Gleichgewicht bei natürlichen Geburten, mehr Söhne oder weniger Töchter, niemand weiß, woher sie das Wissen nimmt. Pandemien kommen und gehen. Und niemand weiß, woher nun das schnelle, nahezu unbegreifliche Wissen über die Unsterblichkeit kommt. Ein Fingerzeig der Natur, um das Gleichgewicht zwischen Nord- und Südhalbkugel zu halten? Ein Fingerzeig, eine Generation zu erschaffen, die sich wirklich um die Erde kümmert, ja, kümmern muss?
Sollten zu viele Menschen durch Unfälle, Kriege, Pest und Cholera und so weiter umkommen, könnte der Staat über Erschaffung künstlicher, aber lebender Zellen für Nachschub sorgen und die Balance wieder gerade richten. Der Staat würde hauptberufliche Erzieher einsetzen, die die Kinder in unsere Zivilisation einführen, ihnen eine gute Kindheit bereiten und sie auf das lange Leben vorbereiten.
Stichwort Globalisierung, die räumliche Öffnung aller Regionen, schneller Handel, Vermischung der Kulturen und Informationen, zunehmende Mobilität und Leistungsstandards, der demographische Wandel, die Risiken den Job zu verlieren, Generationenkonflikte, intensive SocialContacts, Völkerwanderungen, weitere Entwicklungen in Technologie, Biowissenschaft und allen anderen Wissenschaften, schnelle Produktzyklen durch zunehmender Einsatz von Maschinen und Robotern, in Roboterschwellenländern Verlagerung der Human Resources auf Dienstleistungen, erhöhter Bedarf an Intelligent Human Resources, die zunehmende Verwebung von Privat und Arbeit, Dauerlernen, der Rückgang von Familie und Partnerschaften, Infrastrukturwandel durch Wegfall von Altersheimen, Todesklappen, Kinderkrippen, Schulen. Der Mittelstand des Lebens wird durch den Wegfall von Jung und Alt zum Mittelpunkt des Seins … die Natur bekommt das mit und bietet uns die Lösung des ewigen Lebens an. Natürlich müssen wir unsere Strukturen ändern. In Politik, Sport, Beruf, in der Gesellschaft allgemein. Niemand darf gelangweilt sein. Die Erde ist so groß, es werden weiterhin Milliarden an ewigen Geschöpfen auf diesem Planeten und darüber hinaus leben, wir werden einander kennen und verstehen lernen und was kann es Schöneres geben, als wenn die Weltbevölkerung zu einer echten Gemeinschaft übergeht? Es wäre eine andere Art der Globalisierung, die soziale Globalisierung, nach all den Jahren der asozialen Netzwerke. Wir haben Zeit andere Sprachen zu lernen, andere Länder, andere Sitten, andere Berufe, andere Hobbys, andere Planeten! Verständnis. Toleranz. Wertschätzung. Und vielleicht können wir die eben genannten Kriege für immer vergessen.«
Gemurmel unter den Anwesenden, Kopfschütteln, Abwinken, Zustimmung.
»Kinder sind unsere Zukunft! Sie suggerieren ein potenzielles Nichtvorhandensein von Menschen, wenn es keine Kinder mehr geben soll!«, wütete Kolumbien.
»Ich weiß nicht, ob man ein potenzieller Kinderverhinderer ist, wenn der Ausschluss des Fortpflanzens das Zepter in der Hand hält. Was haben Kriege verursacht? Und Terrorismus? Seuchen? Verhütungsmittel? Abtreibung? Zeitmangel, Stress und die daraus resultierende Lustlosigkeit? Also erzählen Sie mir nicht, dass ich an der Nichtgeburt Millionen von Menschen schuld wäre. Jeder Mensch kann sich frei entscheiden. Für sein Leben. Oder das Leben seines Nachwuchses. Zudem wischt es ein leidiges Thema vom Tisch. Für alles wird eine Ausbildung, ein Zeugnis benötigt, aber jeder und jede Intelligenzeingeschränkte darf Kinder in die Welt setzen, chemisch, biologisch, egal, theoretisch das Geschlecht und Charakterzüge festlegen und dann loserziehen. Einfach so! Und was machen die dann? Wenn ihre Kinder schreien, stören, nicht schlafen? Es wird ein Einschlafmittel gesprüht! Manche Kinder oder Babys pennen tagelang! Das Thema wäre mit einem Schlag erledigt. Von Missbrauch will ich erst gar nicht anfangen. Vom kaum mehr vorhandenen Sex sowieso.«
»Danke, Mr. Stervals. Ich darf nun einige ausgewählte Redner begrüßen. Ich bitte Euch schon jetzt, sich sehr, sehr kurz zu fassen. Es beginnt Bischof Rossi aus Vatikanstadt als Vertreter der christlichen Kirche.«
Der vergleichsweise junge Bischof trat in unauffälliger ziviler Kleidung ans Rednerpult, während Stervals auf dem Besucherplatz links daneben Platz nahm. Nur der strahlend weiße Kragen wies Fabio Rossi als Kirchenvertreter aus. Er war keine vierzig Jahre alt und galt als aufstrebender und intelligenter Vertreter und Botschafter des Vatikans. Er war die Stimme des Papstes und sein engster Vertrauter. Viele spotteten, endlich habe auch ein Papst mal einen Sohn, einen gut aussehenden dazu.
»Auch im Namen von Papst Paul VII. grüße ich Euch. Mr. Stervals hat Recht, wenn er behauptet, die Welt könnte durch seine Erfindung näher zusammenrücken.«
Gemurmeltes Erstaunen im Plenarsaal. Schließlich war zu erwarten, dass der Vatikan gegen die Pläne der UNO wettern würde.
»Wir sind näher zusammengerückt. Christen, Moslems, Buddhisten und alle anderen Religionen. So gesehen ...« Er nickte in Richtung Devin Stervals. Seine freundliche Miene verfinsterte sich aber urplötzlich. »Wir brauchen Ihr ewiges Leben nicht, Mr. Stervals!«, polterte er lautstark. »Wir haben es schon! Viele Menschen auf dieser Welt glauben an das Leben nach dem Tod, und hier ist es nebenbei bemerkt, egal, um welche Religion es sich handelt. Ob es um den Jüngsten Tag geht oder die Wiedergeburt, es ist etwas Fantastisches, was uns da widerfährt und dazu brauchen wir ihr ewiges irdisches Leben mit Sicherheit nicht. Sie beleidigen Gott, so wie Gott durch künstlich angestoßene Schwangerschaften beleidigt wird, so wie Gott durch die synthetische Biologie beleidigt wird! Und Sie beleidigen die Kinder, die nie geboren werden, die nie ihr unschuldiges Lächeln zeigen dürfen, das Lächeln Gottes.«
Verhaltener Applaus, während Rossi wütend die Reihen mit seinen Augen prüfte.
»Der Vatikan hat's gut, Jim.«
»Warum, Mr. President?«
»Er hat eine klare Stellung, eine eindeutige Position. Die haben sich eine Marktstrategie überlegt, die nun schon Hunderte von Jahren überdauert. Keine Heirat von Priestern, kein Abendmahl für Wiederverheiratete, keine Verhütung und so weiter, nur minimale Abweichungen gab es bisher. Und die überstehen dieses Thema auch, und das mit einem antiquierten Wesen wie Gott. Und die USA? Immer weniger Gläubige, vor allem im Norden.«
»Zumindest haben wir den Auftrag des Kongresses.«
»Und dafür bin ich auch dankbar, Jim. Seine Werte sind konservativ.« Sie wandten sich wieder Bischoff Rossi zu.
»Diese UNO-Entscheidung soll einstimmig sein. Wir sind dagegen. Mehr ist nicht zu sagen, auch im Namen der anderen Religionsgemeinschaften nicht.«
Erneuter Applaus, der stärker wirkte als der vorherige. Der Bischof kehrte ohne weiteren Blickkontakt zu Stervals an seinen Platz zurück.
Der hatte sich so etwas schon gedacht. Diese ewig Gestrigen! Stervals war bekennender Atheist und setzte Gott nur dort ein, wo er ihn gebrauchen konnte. Er hatte Angst vor dem Tod, Angst vor diesem ewigen Nichts und kein Glaube gab ihm die Kraft darüber hinweg zu kommen. Zu abstrus kam ihm das vor, zu lächerlich. Die Verordnung würde heute nicht durchkommen, das war klar. Aber war es nicht mit allen Neuheiten so? Erst verteufelt, dann der Argwohn, schließlich leise Akzeptanz und dann der große Durchbruch. Buch, Telefon, Eisenbahn, Auto, Fernseher, Computer, Videospiel, Atomverschmelzung, Zensur. Alles galt anfangs als Unsinn und Untergang der Gesellschaft. Er musste nur Geduld aufbringen.
»Der ehrenwerte Vorsitzende der Republik China, Wang Jian.«
Spärlicher Applaus, als der Vertreter und ranghöchste Politiker Chinas zum Rednerpult trat. Wang Jian, ungewöhnlich rund und mit einem Watschelgang behaftet, war vor kurzem im Alter von sechzig Jahren an die Spitze Chinas gewählt worden und galt als Hardliner seiner eigenen Meinung und damit der des Nationalen Volkskongresses. Seine Haut war unnatürlich gelb und es wurde gemunkelt, er ließe sie einfärben um den Stolz seines Volkes zu dokumentieren. Zudem war an seinem Körper unterhalb der Augen und auf dem Kopf nirgendwo ein Haar zu sehen, was ihn wesentlich jünger erschienen ließ.
»Die Firma LifeGenom ist ein Freund unseres Landes. Uns interessieren religiöse Einstellungen nur insofern, als dass Gott laut Ihrer Bibel, Herr Bischof, auf zweierlei Art zitiert wird. Erstens: »Macht euch die Erde untertan!« Zweitens: »Gott schuf den Menschen als sein Abbild!« Ich bin kein Christ, aber: Wenn Gott ewig lebt und der Mensch sowieso nur eine Kopie, ein Klon, von ihm ist, warum sollte dann nicht auch der Mensch ewig sein? Kurz gesagt: Ich plädiere für diese Verordnung. Wir Menschen könnten uns wesentlich besser organisieren. Wir Menschen könnten befreiter leben, wir Menschen könnten Mensch sein solange wir wollen. Denkt einfach darüber nach!« Mehr war nicht zu sagen.
Es waren mehr Gedanken als Applaus, die durch den Raum schwirrten. Der Bischof des Vatikans schüttelte nur langsam den Kopf. Was für ein Wirrkopf! In China lebten inoffiziell Millionen von unterdrückten Christen, Buddhisten und anderen religiösen und völkischen Gruppierungen. Jian könnte ohne legalen Widerstand die Zwangsoperation einführen. Oder wieder eine Seuche ausbrechen lassen. Leben und Tod. So nah beieinander.
Mohammed Barrack trat ans Rednerpult. Barrack war der Regierungschef von Ägypten und Vorsitzender der Arabischen Liga, Anfang Vierzig. Er wirkte bedrohlich, denn alles an ihm war schwarz. Die Haare, der Vollbart, der Anzug, die Schuhe, sein Blick. Dennoch galt er als freundlicher und charmanter Diplomat.
»Als Vertreter fast aller arabischen und afrikanischen Staaten sind wir derselben Meinung wie der Vatikan, wobei ich hier nicht einmal den Islam bemühen will. Wir müssen die Entwicklung der Weltbevölkerung anderweitig in den Griff bekommen. Es kann nicht sein, dass wir uns Kindern verwehren. Mehrere Generationen unter einem Dach sind bei uns nicht selten. Würden wir nicht irgendwann das frische Lachen eines fröhlichen Kindes, das friedliche Gesicht eines schlafenden Kindes, das Herumtollen eines glücklichen Kindes vermissen? Wir würden es. Denn Kinder sind keine Gewohnheit, sie sind keine Dinge, sie sind kein Konsum, sie sind der Sinn des Lebens und damit unsere Zukunft. Ihre Ideen und ihre Gestaltung sind wichtig. Denn die Welt braucht frische Impulse.«
Die Rede war kurz, hinterließ aber Furchen. Generalsekretär Elnegaard wusste, dass er die Verordnung nicht durchbringen konnte. Aber es war einen Versuch wert, denn nun drang es an die Öffentlichkeit. Er kehrte zurück an das Rednerpult.
»Europa, die USA und die Russische Union wollen keinen Wortbeitrag leisten. Ihre Meinung sei durch Vorredner bereits eindeutig formuliert worden. Alle dagegen.«
Stervals schüttelte den Kopf. Es war beschämend. Amerika hatte den Durchbruch zum ewigen Leben geschaffen - und nutzte diesen nicht. Ihre defensive Außenpolitik schien den USA auf die Füße zu fallen. Doch er wusste auch um die Feinde im eigenen Land wie die Konservativen, die das Land wie eine Sekte seit Jahrzehnten im Griff hatte.
Sein Land hatte die Chance, ihren besten Professoren und Wissenschaftlern ewiges Leben zu gönnen, damit diese für immer an den Geheimnissen der Welt forschen konnten. Wie weit wäre die Welt, wenn Einstein oder welches Genie auch immer, noch leben würde? Zudem war der Staat USA an LifeGenom beteiligt! Stervals konnte es nicht fassen, ließ sich aber nichts anmerken. In Generalsekretär Elnegaard brodelte es ähnlich. Seiner Meinung nach verpasste die Menschheit eine Chance! Er biss die Zähne knirschend zusammen. »Begrüßt noch, sozusagen als neutralen Mann, G.O. David, Supervisor und damit Präsident des einzigen virtuellen Staates der Welt, dem UnitedWorldNet.«
David kam nie persönlich. Er erschien stets über ein HelioDisplay, das fest links neben dem Stehpult installiert war. Wie in den frühen Weltraumfilmchen erschien sein Körper von unten herauf mittels eines kleinen Projektors und Luftbrechungen in perfektem 3D. Seine Auftritte waren nie simpel, immer einen Schuss extravagant. Langsam formierte sich sein Körper. Ein dunkler Wuschelkopf mit unrasiertem Gesicht und einer Brille leuchtete als farbenfrohes Hologramm von der Bühne der UNO-Vollversammlung. Er wirkte real und auch wieder nicht, eine schwarze Umrandung ließ ihn wie ein zum Leben erweckter Comic wirken. Und wie jedes Mal, wenn er virtuell vor eine Menschenmenge trat, schüttelten die Mächtigsten der Welt verständnislos den Kopf. Ein Spinner, ein Freak, ein Autist. Wie hatte das nur passieren können?
Die meisten Männer der heutigen Welt trugen Glatzen, die einen im Naturlook, die anderen mit Zeichen oder in verschiedenen Farben oder einfach geschnittene Haare, funktionell und schick. David benutzte offensichtlich kein Haarstoppmittel wie es Elnegaard und fast alle andere taten. Obwohl er als Internetjunkie galt, hatte er einen normalen Namen, was viele verwunderte. Kein Nickname, keine unaussprechliche Zeichenreihe, ein ganz normaler Name: G.O. David. Und er trug eine Brille. Eine mit dicken, schwarzen Rändern, ein Relikt aus den Anfängen dieses Jahrhunderts und aus den armen Ländern, die restlichen Zivilisationen hatten Korrekturgläser und Sonnenbrillen durch günstige und sichere Laseroperationen ausgerottet. Brillen von heute waren in der Regel aufsetzbare Videodisplays mit Infos aller Art, die alte aber noch verbreitete Version des EyeLensDisplays oder anderer AR-Gimmicks. Vielleicht war Davids Brille auch nur ein Gag, eine Provokation, eine Werbung für die Leichtigkeit, ein Symbol für den Durchblick und die Möglichkeiten des Webs, sei es Veränderung, Fortschrittlichkeit oder Organisation. G.O. David, angeblich Ergebnis eines heißen Sexchats, wurde vor sechs Jahren von der Internetgemeinde zum Präsidenten, zum Supervisor, gewählt. Ihm obliegt der Vorsitz im Webrat, der zwölf gewählte Mitglieder umfasste, und er führt die Befehlsgewalt über das ISC, das InternetSecurityCenter, einer Netzpolizei mit Staatsanwälten.
»Die PMs in den NRs sind ziemlich ausgewogen in der Sache. Wir als Non-Border im Web geben keinen Comment dazu ab. Das UnitedWorldNet wird leben, ewig. Danke, Leute.« Er hob kurz seinen linken Arm und ballte die Faust. Dann verschwand er ins Nichts.
»Na, das war aber kurz … äh … PMs sind die Personal Messages? NR der Newsroom?«
»Korrekt, Mr. President.«
»Ah so!« Er nickte leicht.
»Ich habe die Scheiße und Pisse in eine spezielle Biobricks eingearbeitet, die die Sensoren nicht …«
»Halt deine Klappe. VA3, verdächtige Logs im UWN?«
»Nein, Sir. Er hält sich sehr zurück, was die eigene Meinung betrifft. Neuroscan anordnen, damit wir wissen, was er in Zukunft vorhat? ThinLine?«
»Nein. Noch nicht. Wie läuft sein MindDesign?«
»Kein MindDesign und keine DNA-Charakter-Analyse.«
»Kein MindDesign? Keine Analyse? Und kein DNA-Mix?« Ungläubig kniff er die Augen zusammen und fixierte mich durchdringend. Südländischer Touch. Wie ich.
»Ich halte nichts von der Medikalisierung der Gesellschaft!«, verteidigte ich mich.
»Aber Drogencocktails mischen, Chemie studieren und Künstler sein … wie hängt das eigentlich zusammen?«
»Solche Analysen werden von der Regierung geprüft wie die Gesellschaftspillen, um Schüchternheit, Schlaf, schlechte Laune oder Konzentrationsmängel zu überwinden. Sie machen einen auf Dauer unecht. Die Drogen sind zum Unterstützen und Simulieren da. Ich habe eine Erlaubnis meiner Uni. Und ich steh nicht auf MindDesigns. Ich will mein kognitives Verhalten nicht aus der Hand geben. Das hat was mit Ethik zu tun, falls du das nicht kapierst.«
»Werde nicht frech!«
»Die Androiden reagieren hier noch nicht. Und du prügelst mich nicht. Du rastest auch nicht aus. Die Chemie, die du geschluckt hast, verhindert, dass du grundlos auf mich einschlägst. Du nimmst Drogen! Nicht ich!«
Plötzlich trat er unwirsch auf mich zu. Versagten seine Regeln?
Ich konnte ihn mustern. Von oben bis unten. Ganz nah. Schwarze Uniform, Helm mit Visier, schwere schwarze Schuhe … rote Socken schimmerten zwischen Hose und Schuhe hervor. Wie …?
»Richtig, mein Junge. Meine moralische Kognition und Emotion ist optimiert. Du solltest auch davon Gebrauch machen, um der Gesellschaft und dir selbst nützlich zu sein. Das ist mein guter Rat. Die chemischen Symbole in deinem Pennzimmer und in der Kochnische werden übrigens verschwinden. Und wage es nicht, sie auf deinem LensDisplay zu hinterlegen!« Unsere Nasenspitzen berührten sich fast: »Die Formeln handeln von Tilidin, Dopamin, Anabolika und Fett. Zusammen gemischt in einem Körper ergeben sie ein gewaltiges Gewaltpotenzial. Wenn dieser Chemie-Cocktail dich auch nur einmal zu einem Ausraster hinreißt, töte ich dich in Notwehr.«
»Bis dahin hat die Singularität dich ersetzt.«
»So schnell nicht. Sollte die Scheiße in spätestens einer Woche nicht die gewohnte Physis und Werte aufweisen, werden wir dir den Arsch aufreißen. Und du weißt, was das dann bedeutet. Du steckst in der Scheiße. Wir werden deine Zukunft anbohren. Und deine Vergangenheit. Die weist Lücken auf. Deine letzten vier Wochen sind nicht komplett. Warum, mein Junge? Warum? Weihnachten auf dem Mond gefeiert? Ein Nickerchen gemacht? Letzte Frage: Bist du gläubig? Glaubst du an Gott? Dem Kreuz an der Wand nach … ja! Bist du am Ende ein … Konservativer?«
»Und was, wenn es so wäre?«
Er wandte sich mit seinen gefletschten Zähnen von mir ab. »Lulu, spiele Sound of Muzak! Jungs, wir gehen.« Meinen aufgebauten Biobricks gab er noch einen zerstörerischen Tritt.
+++ das wetter: temperaturen in new york city milder, schneeschmelze +++
+++ streit um wettermanipulation wieder entbrannt +++
+++ einige wissenschaftler halten ewiges leben für scharlatanerei +++
+++ gene verändern sich laufend - wie soll das gehen? +++
+++ versicherungen prüfen änderungen im alltag ewiglebender +++
+++ teuerungen und anpassungen möglich +++
+++ uno bestätigt reproduktives klonverbot des menschen weltweit +++
+++ vor zwanzig jahren: bakterien, pilze und algen erobern die welt +++
+++ als treibstoff, chemikalie und medikament +++
UnitedWorldNet
Überall ein Blinken und ein Leuchten. Es war der dreidimensionale Jahrmarkt der möglichen Unmöglichkeiten. Häuser, die auf Dächer standen, Läden, die außen rund und innen eckig waren, schwerelose Bereiche und Illusionen, die nur in einem virtuellen Raum möglich waren, in denen durch Programmierung und technische Tricks mit allen Sinnen gekauft und verkauft werden durfte. Farben und Formen, Fantasien und unvorstellbare Vorstellungen, Leichtigkeit und Tanz, Lockungen und Versprechen, Städten und Welten, Datenhighways und Konsumtempel, die mit dreisten Doppelangeboten Kunden anlockten. Verschieden angetriebene Autos des AmericanCarConsortiums ACC oder des EuropeanMobileTrusts EMT wurden mit den tollsten Produkten anderer Hersteller kombiniert und dadurch subventioniert. Ihre Werbung war schrill. Und je mehr Geld man für eine Fahrt hinlegte, umso höher und schneller schoss man durch die Stadt. Das nicht mehr anonyme Netz war ein Hort der Blogs und Vlogs, der Information und der Dauernews, der Gespräche und Sofortchats, der Navigation und Überwachung, des Konsums und Körperchecks, der Ablage der eigenen Dateien und Computerersatz, der sozialen Dauerbindung und ihrer Überwachung sowie sämtlicher Abgründe. Hass und Hetze geisterten noch immer durch das Netz doch nicht mehr so penetrant und schamlos wie zu Beginn der 20er Jahre. Der geplagte und immer erreichbare Multitasking-Mensch der Moderne hatte die Auswahl aus einer unbekannten Zahl an privaten und kommerzialisierten Viewer-Fields, jeder konnte seinen eigenen Informationssender oder dergleichen produzieren und ins Netz stellen. Tausende Streams um Multimegamonstervehikelrennen, südpazifische Essgewohnheiten, neueste Fake- und Truth-Nachrichten, Live-Hinrichtungen aus allen erdenklichen Perspektiven, dazugehöriger Verhaltensforschung des Todeskandidaten, wieder aufkommende Koch- und Backsendungen mit automatischer Bestellung und Lieferung der Zutaten nach Hause wie in alten Zeiten, Katastrophenmeldungen oder, natürlich, massive und äußerst detaillierte Amokshooter mit strenger Alterskontrolle ab zwölf Jahren rankten um die Gunst der User. Viele dieser Profi- oder auch Privatsendungen waren an Niveau nicht mehr zu unterbieten und galten als Abziehbild einer Gesellschaft, die dem Kitsch, der Sensation, der Neugierde, abgestumpft und konzentrationslos zugetan war und dieser Art des Glotzens faul und zunehmend in der im Überfluss vorhandenen Freizeit passiv frönte. Intellektuelle Kommunikation gab es nur in Nischenfields, dort aber auf sehr hohem Niveau. Aber gerade diese Zersplitterung der Nutzer und Seher förderte die sich zunehmend öffnende Schere einer Gesellschaft, die keine Gesellschaft mehr sein wollte. Es ging nicht darum, wer Geld hatte und wer nicht, sondern wer intelligent und intellektuell war und dies sich auch zu offenbaren traute, nachdem die traditionellen Medien, staatlich wie privat, Zeitungen wie auch Fernsehen kaum mehr existierten. Das Netz wurde überwacht, sinnvoll gemaßregelt und reguliert, je nachdem welcher Kultur, welchem Staat und welcher Religion der Nutzer spezifisch angesiedelt war. Es gab nunmehr eine staatliche Nachrichtenquelle. Das war der Minimalkonsens als Grundlage für den ersten virtuellen Staat der Welt. Meinung galt als frei, aber sie wurde überwacht. Sie zensierte und kritisierte die Masse an Bloggern und Vloggern, doch sie tolerierte auch Meinungen der vor allem in der Corona-Pandemie und darauffolgenden US-Wahlen entstandenen Communities, Klassen und sogar Schichten. Doch in diesem Moment war es gleich. Denn dieser Moment offenbarte das Ergebnis der wichtigsten Entscheidung der Menschheitsgeschichte: Werden wir ewig leben? Wollen wir ewig leben?
+++ ende der kinderindustrie absehbar +++
+++ aktien von spielzeugherstellern fallen +++
+++ erzieher - ein beruf der ausstirbt +++
+++ umfrage im nahen osten, malaysia: moslems lehnen ewiges leben als unvereinbar mit glauben ab +++
+++ aktien von anti-aging-firmen aus dem handel genommen +++
+++ länder, in denen krieg oder embargo herrscht, würden von der verordnung ausgenommen werden +++
+++ entscheidung in wenigen minuten +++
New York City, Manhattan
Das hässliche Bodenvinyl war noch immer kalt. Ich zitterte. Lulu, meine liebliche weibliche Stimme ertönte und riss mich aus meiner Dämmerung. »Dein Bruder nähert sich der Wohnungstür.« Im Hintergrund dudelte nichtssagende Musik.