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Die Masken über dem Nichts E-Book

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Beschreibung

Seit dem späten 18. Jahrhundert begeisterten sich zahlreiche Künstler nicht nur für die Erhabenheit der Natur und die Reinheit des Gefühls, für Melancholie und Einsamkeit, sondern zeigten sich zugleich angezogen von den Abgründen der Conditio humana, wie sie sich in Zeiten von Krieg und Wirtschaftskrisen offenbaren. Ihre Werke erzählen von Leidenschaft und Tod, sie thematisieren das Geheimnisvolle, Unheimliche, Irrationale, Fantastische, Groteske und Böse und zeigen gesellschaftlich Ausgegrenzte – Wahnsinnige, Verbrecher, Bettler. 1930 prägte der Literaturwissenschaftler Mario Praz hierfür den Begriff der »Schwarzen Romantik«, doch eine kunsttheoretische Aufarbeitung steht bis heute aus. Die Publikation untersucht erstmals ausführlich die Bezüge zwischen romantischen, symbolistischen und surrealistischen Strömungen und präsentiert das Romantische als wiederkehrende Geisteshaltung, die ganz Europa erfasste und sich bis ins 20. Jahrhundert erstreckt.   Zur Ausstellung erscheint auch ein Katalog (deutsche Ausgabe ISBN 978-3-7757-3372-4; englische Ausgabe ISBN 978-3-7757-3373-1) und ein Band in der Reihe Kunst zum Lesen (deutsche Ausgabe ISBN 978-3-7757-3375-5) sowie ein Audioguide in der Reihe Kunst zum Hören (deutsche Ausgabe ISBN 978-3-7757-3376-2; englische Ausgabe ISBN 978-3-7757-3377-9).   Ausstellung: Städel Museum Frankfurt am Main 26.9.2012–20.1.2013

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Seitenzahl: 135

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E-Book und Publikation erscheinen anlässlich der Ausstellung Schwarze Romantik – Von Goya bis Max Ernst, Städel Museum, Frankfurt am Main, 26. September 2012 bis 20. Januar 2013 | Verlagslektorat: Karin Osbahr | Verlagsherstellung: Monika Reinhardt | E-Book-Produktion: LVD GmbH, Berlin | © 2012 Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, und Felix Krämer | Erschienen im Hatje Cantz Verlag, Zeppelinstraße 32, 73760 Ostfildern, Deutschland / Germany, Tel. +49 711 4405-200, Fax +49 711 4405-220, www.hatjecantz.de | ISBN 978-3-7757-3374-8 (E-Book) | ISBN 978-3-7757-3375-5 (Print) | Made in Germany | Umschlagabbildung: Ernst Ferdinand Oehme, Prozession im Nebel, 1828, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister | Für externe Links können wir keine Haftung übernehmen. Die Inhalte der verlinkten Seiten sind ausschließlich von deren Betreiber zu verantworten.

Die Masken über dem Nichts

Schauermärchen und Gruselgeschichten zur Schwarzen Romantik

Herausgegeben von Felix Krämer

Charles Baudelaire Brüder Grimm E. T. A. Hoffmann Heinrich von Kleist Lautréamont Jean Lorrain H. P. Lovecraft Jean Paul Edgar Allan Poe Bram Stoker

Inhalt

Vorwort

Jean Paul | Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei

Heinrich von Kleist | Das Bettelweib von Locarno

Brüder Grimm | Von dem Machandelbaum

E. T. A. Hoffmann | Erzählung Cyprians

Edgar Allan Poe | Das verräterische Herz

Charles Baudelaire | Die Blumen des Bösen

Aufschrift auf ein verpöntes Buch

Die Zerstörung

Verdammte Frauen

Lesbos

Die beiden barmherzigen Schwestern

Darstellung

Die Liebe und der Schädel

Lautréamont | Die Gesänge des Maldoror (Auswahl)

Bram Stoker | Draculas Gast

Jean Lorrain | Die Masken über dem Nichts

H.P. Lovecraft | Stadt ohne Namen

Vorwort

Im späten 18. Jahrhundert entdeckte eine junge Generation von Literaten und Künstlern die Schatten hinter dem Licht der Vernunft. Die Kriege und Wirtschaftskrisen dieser Zeit hatten Zweifel an der absoluten Gültigkeit der Ratio aufkommen lassen und das Vertrauen in ein aufgeklärtes, fortschrittsgläubiges Denken erschüttert. Die Nachtseiten des Lebens for­derten ihren Tribut: Das Erhabene und das Schreckliche, das Wunder­bare, Fantastische und Groteske machten dem Schönen seine Vormachtstellung streitig. Sie ergriffen auch die nachfolgenden Generationen und ziehen uns noch heute in ihren dunklen Bann.

Der Begriff »schwarze Romantik« lässt sich nicht eindeutig bis zu seinen Ursprüngen zurückverfolgen. Doch er hat – wie die Romantik überhaupt – seine Anfänge in der Literatur. Im Deutschen ist die Bezeichnung eng mit dem Anglistikprofessor Mario Praz und dessen Veröffentlichung La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica von 1930 verknüpft, die 1963 als Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik auf Deutsch erschien. In seinem Verständnis der dämonischen Seite der Romantik bezieht sich Praz auf die »Gothic Novel«; im Französischen »Le roman noir«. Seine Untersuchung setzt im Manierismus an und führt bis ins frühe 20. Jahrhundert. Die Analyse findet vor dem Hintergrund des kulturellen Niedergangs vor dem Zweiten Weltkrieg statt und verrät eine Passion für die Nachtseiten der menschlichen Psyche. Überraschend ist, dass der Begriff der »schwarzen Romantik«, der lediglich im Titel erscheint, zu einem festen Terminus geworden ist. Im Sachwörterbuch der Literatur heißt es: »Schwarze Romantik; Schauerromantik, die irrationale Tendenz der Romantik zum Unheimlich-Gespenstischen, Fantastisch-Abseitigen und Dämonisch-Grotesken als Gestaltung von Ängsten, Träumen, Wahnvorstellungen und Nachtseiten des Mensch­lichen, bes. in Schauerroman, Gespenstergeschichte und Satanismus«. Auch in anderen Standardwerken bleibt die Defini­tionen der »schwarzen Romantik« vage. So wird deutlich, dass man sich dem Phänomen vielleicht annähern, es umkreisen, in seiner Vielschichtigkeit aber nicht vollständig erfassen kann. Zudem lässt sich die Erscheinung nicht auf eine bestimmte Epoche festlegen, sondern ist zunächst durch ihre Charakteristika zu verstehen. Gleiches gilt für den Ausdruck in der Kunstgeschichte, wobei der Begriff dort wesentlich seltener Gebrauch findet als in der Literaturgeschichte. Doch es waren beileibe nicht nur die Literaten, die seit dem Ende des 18. Jahr­hunderts den Weg aus dem Licht in das Schattenreich der Hexen, Dämonen und Spukgestalten, kurz in das Reich der Fantasie suchten. Dieser Leseband entstand parallel zur Ausstellung Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst, die im Herbst 2012 im Städel Museum gezeigt wurde.

Die Auswahl der im Buch zusammengetragenen Geschich­ten, Gedichte und Märchen soll einen ersten Einblick in das weite Feld der schaurig-schönen Literatur bieten. Manche Beiträge gehören zu den Klassikern des Genres, andere überraschen und sind kaum bekannt. Das Spektrum der vorgestellten Geschichten reicht von Jean Pauls nihilistischer Traum­vision bis hin zu H. P. Lovecrafts düster exotischer Erzählung Die tote Stadt. In der Anthologie, deren Titel Jean Lorrains Kurzgeschichte entliehen ist, sind Vampire und Gespenster genauso zugegen wie eine böse Stiefmutter. Letztere entstammt Grimms Märchen Der Machandelbaum und serviert ihrem Gat­ten dessen Sohn zum Mittagessen. Wie viele andere Märchen der Gebrüder Grimm strotzt diese Geschichte von grotesk anmutenden Gewaltfantasien. In späteren Überarbeitungen wur­den diese zum Wohle der Kinder getilgt; da die vorliegende Anthologie aber kein Kinderbuch ist, darf hier munter gespeist werden! Guten Appetit.

Danken möchte ich Nerina Santorius und Ingo Borges, die wesentliche Impulse zu diesem Buch gegeben haben. Mit Literaturhinweisen geholfen haben außerdem Silke C. Schuck sowie Klaus-Dieter Stork. Ihnen, genauso wie Annette Kulenkampff und Karin Osbahr vom Hatje Cantz Verlag, gilt mein ganz herzlicher Dank.

Felix Krämer

Jean PaulRede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei

Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die elf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond.

Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder.

Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer ­schwü­ler Nebel, den ein Riesenschatten wie ein Netz immer näher, enger und heißer herein zog. Über mir hört’ ich den fernen Fall der Lawinen, unter mir den ersten Tritt eines un­ermess­lichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Misstönen, die in ihr miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen ­zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei Gifthecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren.

Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Toter, der erst in der Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde.

Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.

Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist kein Gott?«

Er antwortete: »Es ist keiner.«

Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.

Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!«

Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?« – Und er antwortete mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.«

Da kreischten die Misstöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Un­ermesslichkeit vor uns vorbei – und oben am Gipfel der unermesslichen Natur stand Christus und schauete in das mit tau­send Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.

Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermess­lichkeit und sagte:

»Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? – Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? – Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, dass ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein? …

Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?«

Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt’ ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermesslichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz!‹ …

Ach ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel hinauf: ›auch mich kennst du, Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle.‹ …

Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht – und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! – Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.«

Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe fielen nieder, und sie umfasste das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermesslich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern … als ich erwachte.

Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.

Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, dass in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstöret wären; so würd’ ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben.

Heinrich von KleistDas Bettelweib von Locarno

Am Fuße der Alpen bei Locarno im oberen Italien befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloss, das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloss mit hohen und weitläufigen Zimmern, in deren einem einst auf Stroh, das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau, die sich bettelnd vor der Tür eingefunden hatte, von der Hausfrau aus Mitleiden gebettet worden war. Der Marchese, der bei der Rückkehr von der Jagd zufällig in das Zimmer trat, wo er seine Büchse abzusetzen pflegte, befahl der Frau unwillig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehn und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau, da sie sich erhob, glitschte mit der Krücke auf dem glatten Boden aus und beschädigte sich auf eine gefährliche Weise das Kreuz; dergestalt, dass sie zwar noch mit unsäglicher Mühe aufstand und quer, wie es ihr vorgeschrieben war, über das Zimmer ging, hinter dem Ofen aber unter Stöhnen und Ächzen niedersank und verschied.

Mehrere Jahre nachher, da der Marchese durch Krieg und Misswachs in bedenkliche Vermögensumstände geraten war, fand sich ein florentinischer Ritter bei ihm ein, der das Schloss seiner schönen Lage wegen von ihm kaufen wollte. Der Marchese, dem viel an dem Handel gelegen war, gab seiner Frau auf, den Fremden in dem obenerwähnten leerstehenden Zimmer, das sehr schön und prächtig eingerichtet war, unterzubringen. Aber wie betreten war das Ehepaar, als der Ritter mitten in der Nacht verstört und bleich zu ihnen herunterkam, hoch und teuer versichernd, dass es in dem Zimmer spuke, indem etwas, das dem Blick unsichtbar gewesen, mit einem Geräusch, als ob es auf Stroh gelegen, im Zimmerwinkel aufgestanden mit vernehmlichen Schritten langsam und gebrechlich quer über drei Zimmer gegangen und hinter dem Ofen unter Stöhnen und Ächzen niedergesunken sei.

Der Marchese, erschrocken, er wusste selbst nicht recht warum, lachte den Ritter mit erkünstelter Heiterkeit aus und sagte, er wolle sogleich aufstehen und die Nacht zu seiner Beruhigung mit ihm in dem Zimmer zubringen. Doch der Ritter bat um die Gefälligkeit, ihm zu erlauben, dass er auf einem Lehnstuhl in seinem Schlafzimmer übernachte; und als der Morgen kam, ließ er anspannen, empfahl sich und reiste ab.