Die Mondknoten im Lebenslauf - Florian Roder - E-Book

Die Mondknoten im Lebenslauf E-Book

Florian Roder

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Beschreibung

Geheimnisse kosmischer Rhythmen Alle achtzehn Jahre und sieben Monate steht der Mond wieder in fast demselben Verhältnis zur Sonne, zur Erde und zu den Fixsternen wie bei der Geburt eines Menschen. In der Biographie können immer wieder frappierende Ereignisse um diese Zeit des wiederkehrenden Mondknotens festgestellt werden. Florian Roder hat dazu eine grundlegende, bis heute maßgebliche Studie geliefert.

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FLORIAN RODER (1958 – 2020) studierte nach dem Besuch der Waldorfschule Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft und schloss sein Studium mit einer Arbeit über Robert Musil ab. 1992 erschien seine monumentale Monografie Novalis. Die Verwandlung des Menschen – Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs. 1996 promovierte er mit einer umfassenden Studie zum magischen Idealismus bei Novalis: Menschwerdung des Menschen. Florian Roder lebte als Vortragender und freier Schriftsteller.

FLORIAN RODER

DIE MONDKNOTEN IM LEBENSLAUF

Fenster zum Kosmos –Tore der Selbsterkenntnis –Schlüssel zur Biographie

Inhalt

Einleitung

I. Exemplarischer Einstieg

II. Astronomische Verhältnisse

Kosmisches Atmen

III. Mythische Bilder

IV. Zur Charakteristik der Mondknoten

Der erste Mondknoten / Der zweite Mondknoten / Der dritte Mondknoten / Der vierte Mondknoten / Der halbe Knoten

V. Tore der Selbsterkenntnis

VI. Fenster zum Kosmos – Die Mondknoten und ihre kosmologisch-menschenkundliche Einbettung

Mikrokosmos und Makrokosmos / Das Phänomen / Die Entsprechung / Das geistige Kind / Die Finsternisse

VII. Die mythische Dimension und ihr entwicklungsgeschichtlicher Untergrund

Vedische und germanische Bilderwelt / Soma und Manas / Der Baum des Lebens / Der Quirlstab im Menschen / Das Gralsbild erneut / Das kosmische Atmen / Alter und neuer Atemprozess

VIII. Repräsentative Fälle

Dante Alighieri – ein urbildhaftes Leben / Jeanne d’Arc – die reine Kämpferin und ihr schwarzer Schatten / Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner – ein welthistorisches Zusammenwirken / Liz Byrski – eine anrührende Liebesgeschichte

IX. Die Mondknoten im Zeitenstrom

Das Mondknotengeheimnis in den Evangelien / Die Zahl Neunzehn in der Geschichte / Die Zahl Neunzehn als Erkenntnisrhythmus

Ein Schlüssel zur Biographie – Übersicht und Ausblick

Charakterbild der ersten drei Mondknoten / Drei Bilder / Lebenskunst

Anmerkungen

Literatur

Register der Personen und Wesen

Bildnachweis

Einleitung

Ein Thema soll hier bearbeitet werden, das gegenwärtig offenbar in der Luft liegt: «Die Mondknoten im Lebenslauf». Das Thema gehört zu den grundlegenden Fragestellungen einer neuen Biographik, die mit kosmischen Rhythmen und Zeitbezügen rechnet. Wer seinem Leben eine sinnvolle Gestalt ablauschen will, wird an ihm kaum vorübergehen können. Er wird Aufschluss gewinnen über Schichten, die vorher verborgen waren, über Leitmotive des Lebens, die aus den Untiefen der Seele an jenen Knotenstellen auftauchen. Er wird Einblick bekommen in ureigene Impulse, mit denen er in seinem diesmaligen Erdenleben angetreten ist.

Auf den natürlichen Gang ist heute kein Verlass mehr. Ein «gesunder Lebenslauf» entsteht im allgemeinen nicht ohne Zutun, indem man, wie in früheren Zeiten, sich einfach gesellschaftlichen Vorgaben und Erwartungen überlässt. Eine Überfülle von Blickmöglichkeiten, von Beratungsansätzen unterschiedlicher Qualität und Abkunft wird in dieser Situation angeboten. Man ist genötigt, eine Auswahl zu treffen, das einem selber Zuträgliche, Heilsame herauszufinden. Unmittelbarer als im Außenverhältnis kann ich aber jederzeit beginnen, etwas «auf innerem Feld» zu tun. Ein weiser Lebensbeobachter hat einmal gesagt, wir gingen viel zu nachlässig mit dem Schatz unserer Erinnerungen um.1 Wer beginnt, in der angedeuteten Richtung zu arbeiten, wird dies sofort bemerken. Er wird das Gefühl bekommen, dass sein Lebenslauf eigentlich erst im Betrachten entsteht.

Viele Lebensläufe sind heute verstümmelt. Traumatische Erfahrungen, Trennungen der Eltern, Schwächen des eigenen Charakters, aber auch Fehler des öffentlichen Erziehungssystems, z. B. die frühe Intellektualisierung, haben sich auf der Seele abgeladen wie eine graue, undurchdringliche Staubschicht. Unwillkürlich meidet man diesen Anblick. Man möchte «ohne Rückspiegel» durchs Leben gehen, alle Brücken hinter sich abreißen. Man ist auf der Flucht vor dem eigenen Leben. Doch seltsamerweise gelingt das nicht. Auf Dauer holt einen die unerlöste Schicht unweigerlich ein, sei es als Krankheit, sei es als von außen kommende Existenzkrise.

Statt abzuwarten, bis es einen überfällt, kann man auch den ersten Schritt von sich aus tun. Ich bestimme dann den Zeitpunkt, an dem meine Biographie entstehen soll. Jederzeit kann ich mich hinsetzen und das unbearbeitete Material in Augenschein nehmen. Ich kann mich vorwagen in die terra incognita meiner Seele, kann beginnen, den undurchdringlichen gordischen Knoten aufzulösen. Das ist eine befreiende, ja begeisternde Aussicht, denn ich spüre, wie mein höheres Wesen sich darin zu regen beginnt. Natürlich wird es sinnvoll sein, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Das ist individuell höchst verschieden. Allgemein kann man nur sagen, dass es nie zu früh ist (den Einsatz der Erwachsenenzeit um das 18. bis 21. Lebensjahr vorausgesetzt); aber auch nie zu spät. Ein bedeutender Esoteriker der Gegenwart, Eckhart Tolle, kam aus einer Depression, die ihn in die Nähe des Selbstmordes führte, zu seinem persönlichen Umschlagspunkt, als er den Gedanken faßte: «Ich kann nicht länger mit mir leben.» Tolle wurde plötzlich mit existentieller Wucht bewusst, dass offenbar zwei Iche in seiner Seele vorhanden sind. Und dass jenes traurige Selbst, mit dem er glaubte identisch zu sein und auf weiteres leben zu müssen, keine substantielle Realität besitzt.2 Das war der Anfang eines neuen Lebens – ein Schlüsselereignis mit unabsehlichen Folgen für die eigene biographische Gestalt. Statt in Verzweiflung und Selbstaufgabe zu enden, wandelte sich Tolle innerhalb weniger Jahre zu einem Lehrer des spirituellen Weges.

Wer in der angedeuteten Richtung erste Schritte tut, wird die Fruchtbarkeit seines Tuns bald entdecken. Es muss nicht so radikal sein wie im Fall von Tolle, doch kann man sich an dem Beispiel klarmachen, dass schon die kleinste Veränderung ein radikales Weltereignis darstellt. Zwei Möglichkeiten bestehen im weiteren Verlauf, zwei Arten der Selbsterweiterung. Ich kann zufrieden sein, wenn es zu einer gewissen Ordnung und ehrlichen Eigenanschauung der Seele gekommen ist. Ich kann noch darüber hinausgehen. Ich werde eine Sehnsucht in mir entdecken, den Lebenslauf sinnhaft zu durchdringen; und ihn, in dieser Durchdringung, an Weltverhältnisse real wieder anzuschließen. Die erste Möglichkeit mag der «psychische Weg», die zweite der «pneumatische» oder «geistige Weg» genannt werden. Welchen man beschreiten wird, hängt von den mitgebrachten Seelenbedürfnissen ab. Die Anthroposophie Rudolf Steiners antwortet insbesondere auf das zweite Bedürfnis, obgleich auch der, welcher den psychischen Weg geht, wertvolle Anregungen durch sie erhalten kann. Sie möchte als «Wissenschaft vom Geist» den modernen Menschen aus seinem Einsiedlerbewusstsein wiederum an den großen Atem der Welt anschließen. Sie will den Mikrokosmos in seiner wahren Würde erwecken, ihm auf dem Pfad innerer Erfahrung zeigend, dass tatsächlich sämtliche makrokosmischen Verhältnisse miniaturhaft in ihm eingeschlossen sind. Innere Erfahrung beinhaltet aber, einen leibunabhängigen Beobachter auszubilden, wie es in dem Schlüsselerlebnis von Eckhart Tolle sich andeutet. Dieser Beobachter ist der Keim des eigenen höheren Ichs, von dem alle weitere Entwicklung ausgeht. Der geistige Weg umfasst also beides: die sinnhafte Wiederverknüpfung mit dem Kosmos und das Ausbilden der Fähigkeit, durch das Ich – den individuellen Geist – jener Verknüpfungen durch entsprechende Organe gewahr zu werden.

Auf den Lebenslauf bezogen, heißt das, mit bestimmten Rhythmen zu rechnen. Die akademische Forschung ist heute an dem Einsichtspunkt angelangt, dass alle Lebensprozesse untrennbar von rhythmischen Vorgängen sind, ja mit diesen zusammenfallen. Die sogenannte Chronobiologie hat dafür eine Fülle von Material beigebracht, insbesondere die leiblichphysiologischen Aspekte betreffend.3 Was zu Steiners Zeiten noch Kopfschütteln hervorrief, ist auch von dieser Seite her bekräftigt worden. Naturgemäß wendet der Wissenschaftler seine Aufmerksamkeit den kürzerwelligen Rhythmen zu, angefangen von den feineren Schwingungen des Nervensystems, über Atem- und Verdauungsrhythmen bis zu der für vieles maßgeblichen Tagesrhythmik; und weiter noch bis zu Wochen-, Monats- und Jahresabläufen.4 Weniger scheint der Blick bisher geschärft für darüberliegende rhythmische Gesetzmäßigkeiten. Sie sind es gerade, auf die Steiner bei der Gestalt des Lebenslaufes aufmerksam macht. An allererster Stelle ist hier die Gliederung in Jahrsiebte zu nennen. Diese liegt dem menschenkundlichen Ansatz der Waldorfpädagogik zugrunde. Zu den Jahrsiebten, ihrer Erscheinungsweise und jeweiligen Problemlage sind eine Reihe wertvoller Studien erschienen. Auch die neuere Biographiearbeit gründet weitgehend auf dieser Einteilung. Weniger beachtet wurde jener noch größere Rhythmenablauf, der uns hier beschäftigen soll. Er schwingt mit seinen knapp 19 Jahren nur drei- bis viermal durch einen Lebenslauf hindurch. Zwar fehlt es nicht an Hinweisen in der einschlägigen Literatur; auch zur Betrachtung konkreter Biographien und zum astronomischen Hintergrund gibt es interessante Ansätze.5 Doch eine zusammengreifende Darstellung, die alle Gesichtspunkte versammeln würde, steht bislang aus. Sie soll hier im Umriss versucht werden. Dass es sie bis jetzt nicht gab, mag auch seine Ursache darin haben, dass Rudolf Steiner nur an einer Stelle seines gewaltigen Werkes ausführlicher auf die Bedeutung des Mondknotens eingeht.6 Hat man aber die Spur einmal aufgenommen, stößt man auf eine Reihe weiterführender Hinweise, ohne dass jeweils der Begriff «Mondknoten» fallen würde.

Im folgenden soll, nach einer beispielhaften «Anwärmung», der astronomische Zusammenhang herausgearbeitet werden (Kapitel I und II). Das nächste Kapitel wird eine ältere Bewusstseinsschicht berühren, indem jene mythischen Bilder und Erzählungen anklingen, die die frühe Menschheit mit den astronomischen Erscheinungen untrennbar verband. So gerüstet können wir in das vierte Kapitel eintreten. Es geht daran, das Thema auf biographischer Ebene zu entfalten. Eine allgemeine Charakteristik der vier Mondknoten soll versucht werden. Dabei dient uns Goethes urbildlicher Lebenslauf als Angelpunkt und Maßstab. Ergänzt und vertieft wird dies durch die Heranziehung weiterer beispielhafter Biographien, deren Lebensbogen in kürzeren und längeren Miniaturen angeschlagen ist. Auf solche Weise kann der Reichtum jener Schicksalsmöglichkeiten spürbar werden, welcher sich an den Punkten verbirgt. Auch wo ein Ereignis oder eine Signatur nur allgemein angedeutet ist, liegen jeweils wirkliche Lebensläufe zu Grunde. Ich habe mich bemüht, nirgends etwas zu sagen, was nicht aus der unmittelbaren Beobachtung stammt.

Die Beschäftigung mit einem Thema wie dem vorliegenden macht nach meiner Überzeugung nur Sinn, wenn sie schöpferisch auf die eigene Entwicklung rückbezogen wird. Alle Ausführungen zu Astronomie, Mythos, Geschichte, Biographie usw. bilden ein mögliches Material der Selbsterkenntnis. Sie ist der Leitstern der gesamten Betrachtung. Zum ausdrücklichen Gegenstand wird sie im fünften Kapitel erhoben. Das sechste Kapitel nimmt wiederum die astronomischen Bezüge auf. Sie werden nun von ihrer Innenseite her untersucht und beginnen zu sprechen im Sinne einer kosmologischen Menschenkunde. Auch die mythischen Geschichten, die wir in einem früheren Abschnitt gleichsam naiv aufgenommen hatten, begegnen uns erneut. Sie erscheinen als bildhaft-imaginativer Ausdruck tiefer Weltverhältnisse, die in menschheitsgeschichtliche Zusammenhänge zurückweisen und zugleich aussagekräftig für den geistigen Weg der Gegenwart sein können. Das ist Inhalt des siebten Kapitels.

Ergänzende Gesichtspunkte bringt das folgende Kapitel. Es erweist die Fruchtbarkeit des Blickes auf die Mondknoten an ausgewählten historischen Beispielen, vom Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Das neunte Kapitel zeigt, wie dieser Urrhythmus des Menschenlebens auch in den Evangelien anwesend ist; und es macht darüber hinaus deutlich, dass er von der Einzelbiographie abgelöst auftreten kann, z. B. in der Verlaufsform geschichtlicher Ereignisse. Der Ausblick des Schlusskapitels bringt zuletzt eine tabellarische Zusammenführung der Gesichtspunkte. Die Signatur der Knoten wird nochmals in knappen biographischen Bildern vergegenwärtigt.

Das Buch wendet sich an jeden, dem der eigene Lebenslauf zur Frage geworden ist. Es bietet keine leichte Lektüre, sondern eine, die durchaus mit der gedanklichen und empfindungsmäßigen Anstrengung des Lesers rechnet. Gleichzeitig habe ich mich bemüht, neben dem ideellen auch das schildernde Element zu seinem Recht kommen zu lassen, wie es einer dem Geheimnis der Biographie gewidmeten Studie ansteht. In dieser Richtung sind auch die Abbildungen gemeint. Sie können die Schilderung ergänzen durch das, was sich undarstellbar durch ein Menschenantlitz mitteilt. Wo es möglich war, wurden die Porträts so gewählt, dass der Betreffende biographisch in der Nähe eines Mondknotenpunktes steht.

Dass ich selber meine wesentlichen Anregungen der anthroposophischen Geisteswissenschaft verdanke, dürfte schon deutlich geworden sein. Die Begriffe, welche sie zum tieferen Verständnis der Menschennatur anbietet, sind aber nirgends vorausgesetzt. Sie werden im gedanklichen Zusammenhang entwickelt, so dass ein lebendiges Mitgehen möglich ist. Dabei geht es mir nicht um Aneignung anthroposophischer Begriffe oder die Verbreitung einer entsprechenden Weltanschauung. Es geht um das Eröffnen neuer Wege und Ausblicke für das Denken, um ein mögliches Erweitern des Erkenntnishorizontes. Auch derjenige, welcher keine Voraussetzungen mitbringt, kann etwas von dem Ganzen haben. Er braucht nur unbefangenes Erkenntnisinteresse und den Willen, sich auf ungewohnte Bezüge einzulassen. Wem es im engeren Sinn um biographische Einblicke und die Charakteristik der Mondknoten geht, kann sich auf das fünfte und sechste Kapitel beschränken. Wer dem Rätsel der Knoten umfassend nachgehen will, möge den ganzen Bogen abschreiten.

I.Exemplarischer Einstieg

Als König Maximilian II. von Bayern im März 1864 verstirbt, hat sein Sohn als junger, kaum erwachsener Mann die Thronfolge anzutreten. Der erste selbstständige Entschluß des 18-jährigen neuen Königs besteht darin, den öffentlich verfemten, politisch verfolgten Richard Wagner nach München zu holen, um ihm für sein künstlerisches Schaffen einen sicheren Lebensunterhalt zu gewähren. Aber nicht nur das. Wagner wird für Ludwig väterlicher Freund, Vorbild und Ratgeber zugleich; und er sollte dies für die nächsten Jahre bleiben, bis zur durch konservative Kräfte erzwungenen Ausweisung. Wagner, ohne eigentliches öffentliches Amt, nimmt mit seinen revolutionären Anschauungen den stärksten Einfluß auf den jungen Monarchen, auch in politischen Fragen.1

Gehen wir in der Geschichte noch einige Jahrhunderte zurück, an den Beginn der Neuzeit. In England lebt und wirkt der bedeutende Humanist, Theologe, Politiker und enge Freund von Erasmus von Rotterdam, Thomas Morus (1478 – 1535; Abbildung 1). Als er etwas über Mitte Dreißig ist, schreibt der spätere Schatzkanzler Heinrichs VIII. eine eigentümliche Schrift nieder, welche seinen fortdauernden Ruhm begründen sollte: die Utopia. Dieses Werk von «änigmatischem Charakter» behandelt den Zusammenhang von Moral und Politik anhand der Schilderung eines idealen Staatswesens.2

Im gleichen Alter wie Morus – wir machen wiederum einen größeren Zeitsprung – hat der lungenkranke Dichter Christian Morgenstern (1871 – 1914) eine entscheidende Lebensbegegnung. Im Heilbad Dreikirchen lernt er Margareta Gosebruch von Liechtenstern kennen, seine spätere Frau. Sie ist es, die ihn auf Rudolf Steiner aufmerksam macht und mit ihm zusammen wenige Monate später dessen Vortrag im Berliner Architektenhaus über Tolstoi und Carnegie besucht. Der Eindruck von Steiners geistiger Gestalt ist überwältigend und lebensbestimmend. In einer handschriftlichen Autobiographischen Notiz heißt es rückblickend: «Sein Vortrag erhob sich zu so triumphierender Großzügigkeit, dass ich wusste, hier ist mein Land, und hier wollen wir unsere Hütte bauen …»3 Morgenstern hat sein Umschwungserlebnis im Jahr 1908 auch dichterisch verarbeitet, mit dem «Andern» auf die Weggefährtin, mit dem «Pfad» auf den esoterischen Weg der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners weisend, dem er sich in den letzten Jahren seines Lebens mit all der ihm zu Gebote stehenden Intensität widmen sollte:

Abbildung 1: Thomas Morus (1478–1535) auf der Höhe seiner Macht. Kupferstich von Francesco Bartolozzi nach Hans Holbein d. J., 1527.

Da traf ich dich, in ärgster Not: den andern!

Mit dir vereint, gewann ich frischen Mut.

Von neuem hob ich an, mit dir, zu wandern,

und siehe da: Das Schicksal war uns gut.

Wir fanden einen Pfad, der klar und einsam

empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand.

Der Steig war steil, doch wagten wir’s gemeinsam …

Und heut noch helfen wir uns, Hand in Hand.4

Peter Noll, ein bekannter Schweizer Jurist, Professor für Strafrecht in Zürich und enger Freund von Max Frisch, erfährt im Dezember 1981, dass er unheilbar an Blasenkrebs erkrankt ist. Eine Operation lehnt er ab. Statt dessen setzt er sich vor, die ihm verbleibende Zeit für Aufzeichnungen zu verwenden, in denen er seine Gedanken «im Angesicht des Todes» niederlegen will. Es bleiben ihm zehn Monate zur Ausführung. Das Ergebnis dieser Bemühung um Rechenschaft und Selbstbesinnung eines modernen Intellektuellen wird nach seinem Tod in Buchform veröffentlicht: Diktate über Sterben und Tod.5 Thomas Morus wird in derselben Lebenszeit wie Noll mit dem Tod konfrontiert, aber nicht durch eine unheilbare Krankheit, sondern durch den König, dem er als Lordkanzler über viele Jahre ergeben gedient hat. Als Heinrich VIII. von Morus verlangt, der neuen Anglikanischen Kirche seinen juristischen Segen zu geben (und damit zugleich die vom Papst verweigerte Scheidung von seiner ersten Frau zu rechtfertigen), lehnt Morus dies strikt ab und tritt zurück. Am 12. April 1534 wird er in den Tower geworfen, gewaltsame Verhöre folgen. Im Gefängnis schreibt er, ungebeugt, seine letzten, christlichreligiös geprägten Werke nieder. Ein Jahr später, am 6. Juli 1535, wird er auf dem Tower-Hügel enthauptet. Zu dem Scharfrichter sagt Morus, der Zeit seines Lebens den mystischen Weg der Nachfolge Christi mit großer Ernsthaftigkeit beschritten hat, im Angesicht des Todes: «Ihr werdet mir an diesem Tag eine größere Wohltat erweisen als irgendein sterblicher Mensch jemals fähig wäre zu tun. Seid guter Stimmung, Mann, und nicht ängstlich, eure Pflicht zu tun. Mein Nacken ist sehr kurz: Gebt deshalb acht, dass Ihr nicht verkehrt zuschlagt, um Eure Ehre zu retten.» Die letzten Worte, in denen seine ganze Haltung wie zusammengezogen erscheint, sind: «Ich sterbe als des Königs treuer Diener, aber als Gottes Diener zuerst.»6

Ein anderer wiederum (und damit wollen wir den biographischen Reigen vorerst schließen) hat in dem Alter, als Thomas Morus sein Hauptwerk niederschreibt, bereits den zugemessenen Lebensbogen abgeschritten. Ansonsten ähnelt sein Ende in den Grundzügen demjenigen des englischen Lordkanzlers, nur ist es versetzt in die weit dramatischere, apokalyptische Situation des 20. Jahrhunderts. Was bei Heinrich VIII. als seelischer Grundzug, trotz der ungeheuren Folgen, noch persönlich und irgendwie greifbar wirkt, hat sich in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem ungreifbaren Massenphänomen ausgeweitet, zu einer menschenverachtenden, raffinierten Methode, der nur die wenigsten Menschen Widerstand entgegenzusetzen vermochten. Zu den wenigen, die das tun, gehört an erster Stelle Helmuth James Graf von Moltke (1907 – 1945; Abbildung 2). Der Jurist Moltke entscheidet sich im Herbst 1938 bewusst, in Deutschland zu bleiben, trotz anderweitiger Möglichkeiten. Bei Kriegsbeginn wird er Experte für Völkerrecht in der Wehrmacht unter Admiral Canaris. Es gelingt ihm immer wieder, hinter den Kulissen positiven Einfluß zu nehmen und manche Unrechtsentscheidung zu verhindern. Ab 1940 kommt es zur Gründung des sogenannten «Kreisauer Kreises», dessen maßgeblicher Organisator und Inspirator er wird. Moltke setzt auf eine Verständigung von Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, um durch Gespräch und Begegnung die Zeit nach der nationalsozialistischen Herrschaft gedanklich vorzubereiten.

Im Januar 1944 wird Moltke verhaftet. Schon in den Jahren zuvor hat er sich zu der Anschauung durchgerungen, dass es angesichts der Zeitereignisse unabdinglich sei, den konkreten Bezug zu einer geistig-göttlichen Welt herzustellen. Er tut das nicht aus konfessioneller Anbindung. Es ist die innere Erfahrung einer Christus-Gewissheit, die aus seiner Seele fast wie selbstverständlich aufsteigt. Dies alles gipfelt in der Szene einer Gegenüberstellung mit Roland Freisler am «Volksgerichtshof», deren tieflotendes geistiges Geschehen Moltke selber in einem Brief überliefert hat. Mit völliger Ruhe und Gelassenheit sieht der Gefangene dem nahen Tod entgegen: «Er hat die unaussprechliche Gnade, sich mit mir zu beschäftigen» – eine Haltung, die in manchem an Morus erinnert. Moltke weiß, dass er stirbt «als Christ und als gar nichts anderes» und dass sein ganzer Lebenslauf Sinn und Bedeutung bekommen hat durch «eine einzige Stunde».7

Abbildung 2: Helmuth James Graf von Moltke (1907–1945) am Ende seines Lebens.

Was ist den beschriebenen Ereignissen gemeinsam, ungeachtet aller Unterschiede von historischem Zeitpunkt und jeweiliger Persönlichkeit? Offenbar die Tatsache, dass wir mit ihnen an Lebenssituationen rühren, die weittragende Wirksamkeit in sich bergen. Es handelt sich um Einfallstore, an denen die Biographie in gesteigertem Zustand aufleuchtet. Sei es, dass dies unmittelbar mit dem leiblichen Tod zu tun hat, wie bei Noll, Morus oder Moltke; sei es, dass, aus einer krisenhaften Lage heraus, im irdischen Dasein ein neuer, keimkräftiger Einsatzpunkt gefunden wird, wie bei Ludwig II. oder Christian Morgenstern.

Aber auch auf der Ebene der Zahlen entdeckt man merkwürdige Übereinstimmungen. Alle Ereignisse liegen in einem Zeitklang, der ungefähr durch die Zahl 19 gefaßt ist. Knapp 19 Jahre zählt König Ludwig II., als er das große Vorbild, seinen geistigen Lehrer Richard Wagner, nach München holt. Doppelt so alt, nämlich um das 37., 38. Lebensjahr, sind Morgenstern, Morus als Schöpfer der Utopia und Moltke. Und noch einmal etwa 19 Jahre später liegt der entscheidende Durchbruchspunkt bei Noll wie bei Morus, diesmal in seiner Auseinandersetzung mit dem Unrechtsbeschluss Heinrichs VIII. Neunzehn oder genauer: 18 Jahre, 7 Monate und 9 oder 10 Tage macht nun die Phase eines Mondknotens aus. Bei Ludwig ist der Zeitpunkt fast auf den Tag eingehalten. Er ist 18 Jahre 8 Monate alt, als Wagner nach München kommt. Auch bei Morgenstern ist Ähnliches zu beobachten. Die Begegnung des im Mai 1871 Geborenen mit Margareta findet fast am zweiten Mondknoten mit 37 Jahren und knapp drei Monaten statt. Für Morus kann das nicht mit solcher Sicherheit behauptet werden, da sein Geburtsjahr entweder 1477 oder 1478 ist.8 Bei Moltke liegt der Todeszeitpunkt wenige Monate vor dem astronomischen Datum.

Hier handelt es sich offenkundig um eine Gesetzmäßigkeit, die fähig ist, sich mit kraftvoller Gebärde innerhalb der Biographie Ausdruck zu verschaffen. Es geht uns nicht darum, statistische Untersuchungen zu betreiben; schon gar nicht, einen solchen Zusammenhang in irgendeiner Art beweisen zu wollen. Es geht darum, biographisches Anschauungsmaterial plastisch vorzuführen. Um in demjenigen, der unbefangenes Offensein aufbringen will, die Frage anzuregen, ob es einen tieferen Zusammenklang zwischen kosmischastronomischem Rhythmus und menschlicher Lebensgestalt gibt.

II.Astronomische Verhältnisse

Die Menschen der älteren Zeit gingen wie selbstverständlich davon aus, dass sie in kosmische Zusammenhänge und Kraftwirkungen eingebettet sind. Es wäre ihnen niemals eingefallen, sich als abgeschnittene Sonderwesen zu denken. Noch in der Zeit der Renaissance (und vielfach nachklingend bis ins 19. Jahrhundert hinein) war es den bedeutendsten Forschern klar, dass der Mensch allein verstehbar ist, wenn man ihn als einen aus dem umfassenden Weltwesen herausgeborenen Mikrokosmos ansieht. Geister wie Kepler, Tycho de Brahe und Nostradamus verdanken ihre bahnbrechenden Entdeckungen und Voraussichten einem unmittelbaren Umgang mit dieser Tatsache.

Das heutige Bewusstsein hat sich abgeschnürt von der Empfindung des Angeschlossenseins, übrigens meist auch dann, wenn wirklich Interesse für astronomische Fragen vorliegt. Und die Wiederkehr einer populären Astrologie scheint nur wie das erste Zeichen eines neuen, noch unsicher tappenden Anfangs.

Um sich zu orientieren, ist es hilfreich, von beobachtbaren Dingen auszugehen – von astronomischen Tatsachen, aber auch von inneren, empfindbaren Erscheinungen, die im Umgang mit dem Nachthimmel jeder, der sein Gemüt mitsprechen läßt, wird erfahren können. Tritt man, vielleicht in einer abgelegenen, von großstädtischem Streulicht unbehelligten Landschaft, ins Freie hinaus, taucht man in die Herrlichkeit des nächtlichen Himmels ein. Etwas von einer unsäglichen, abgründigen Schönheit ergreift einen. Es ist eine Schönheit, die nicht allein freudige Bewunderung auslöst, wie die Tageswelt. Sie berührt Schichten tiefer. Sie hat etwas Gewaltiges, etwas Erschütterndes. Man wird, gerade bei längerem Einlassen, einen heiligen Ernst entdecken, der einen bis in seine Grundfesten einer Prüfung unterwirft.

Taucht der Mond in dieser stillen Himmelslandschaft auf, ist es, als träte einem ein vertrauter Freund entgegen. Einer, der in seiner Wandelbarkeit menschlichem Fühlen und Vorstellen näher steht als die dahinterliegende Fixsternwelt, der aber auch wie ein Mittler zu jenem kosmisch-ernsten Hintergrund erscheinen kann. Um diesen Erdbegleiter geht es bei unserer Fragestellung. Genauer gesagt, um ein bestimmtes Verhältnis, das der Mond zur Sonne und ihrer Bahn und zu den darüberliegenden Fixsternen eingeht. Es kommt nicht ein sichtbarer Himmelspunkt in Betracht, wie bei den Planeten, sondern eine gewisse Beziehung, die das größte Tages- bzw. Nachtgestirn zueinander einnehmen. Mond und Sonne erscheinen interessanterweise etwa als gleich große Körper am Himmel, ungeachtet ihrer höchst verschiedenen Stellung und Nähe zur Erde. Wir erahnen, dass es sich um einen kosmisch bedeutsamen Vorgang handeln muss.

Was ist astronomisch genau gemeint? Im Sinn des kopernikanischen Systems umkreist die Erde bekanntlich die Sonne innerhalb von 365 Tagen. Dabei nimmt sie ihren Trabanten, den Mond, mit. Dieser umrundet wiederum die Erde innerhalb von etwa 28 Tagen. Geht man von der Erfahrung aus, wirkt es so, als kreise die Sonne um die Erde. Diese Anschauung hat der Astronom Ptolemäus noch in der Antike als maßgebliche vertreten. Die Sonne beschreibt eine Bahn, welche durch die zwölf Tierkreiszeichen führt. Diese Bahn wird Ekliptik genannt. Würde der Mond dieselbe Bahn beschreiten wie die Sonne, müsste er bei jedem Neumond das Tagesgestirn verdecken. Umgekehrt stünde es mit dem Vollmond. Da die Erde hierbei genau zwischen Sonne und gegenüberstehendem Mond träte, würde dieser jedes Mal eine Verdunkelung durchmachen. Tatsächlich treten aber Mond- und Sonnenfinsternisse weit seltener auf. Der Grund ist, dass die Mondbahn eine leichte Neigung gegenüber der Ekliptik besitzt, nämlich um 5 Grad. Dadurch kommt es zu Überschneidungen zwischen den beiden Bahnen. Man hat diese von alters her als Mondknoten bezeichnet. Während eines Sternenumlaufs – dem sogenannten siderischen Monat mit 27,32 Tagen, während dessen der Mond zu den gleichen Sternen im Tierkreis zurückkehrt – überschreitet der Mond die Ekliptik beim aufsteigenden Mondknoten (Zeichen ) in nord-südlicher Richtung, vierzehn Tage später beim absteigenden Mondknoten (Zeichen ) in umgekehrter Richtung:

Figur 1: Astronomische Darstellung der Mondknoten.Ekliptik () und Mondbahn (– – – – – –).Die Pfeile bezeichnen die Richtung der Mondbahn.

In der Zeichnung ist angedeutet, dass der Mond nicht an dieselbe Stelle zurückkehrt, sondern sich entgegen den Tierkreisbildern in ost-westlicher Richtung fortwährend verschiebt, pro Umlauf um 1,5 Grad. Der drakonitische Monat – die Umlaufzeit des Mondes von einem Knoten zum nächsten – ist mit 27,21 Tagen entsprechend kürzer als der siderische. Innerhalb eines Jahres macht die Rückläufigkeit 19 Grad aus, was etwa dem Drittel eines Sternbildes entspricht. Ein ganzer Umlauf durch den Tierkreis wird in 18,6 Jahren oder 18 Jahren, 7 Monaten und 9 oder 10 Tagen vollführt. Das ist der Zeitraum, der uns hier vor allem durch seine Widerspiegelung in der menschlichen Biographie interessiert. Nach 18,6 Jahren kehrt der Mond an dieselbe Stelle der Ekliptik zurück, d. h. er tritt in das gleiche Verhältnis zur Sonne und dem dahinterliegenden Tierkreis. Auch hier müssen wir exakt bleiben und sagen: in das fast gleiche Verhältnis. Denn es gibt im Kosmos keine mathematisch-strengen Wiederholungen, sondern nur solche, die kleine, aber wesentliche Verschiebungen aufweisen. Es gibt, anders gesagt, keine geschlossenen Kreisprozesse, sondern Spiralvorgänge, die der unendlichen, auf kein berechenbares Maß einschränkbaren Natur des menschlichen Geistes entsprechen.

Kosmisches Atmen

Die Vielschichtigkeit der Mondbewegung ist damit gerade erst berührt. Auf sie kann hier nur gedeutet werden, um den Charakter unseres Erdbegleiters zu umreißen. Der Mond «erlaubt» sich nämlich Abweichungen von der mathematischen Norm in beträchtlichem Umfang. Er beschleunigt und verlangsamt seinen Gang. Er steht einmal in größerer Erdferne (Apogäum), einmal in größerer Erdnähe (Perigäum), damit von der Kreislinie erheblich abweichend. Außerdem reagiert der Mond in subtiler Weise auf die anderen Planeten. In einem Werk zur Theorie der Mondbewegung aus dem 19. Jahrhundert sind viele hundert Seiten darauf verwandt, die Anomalien des Mondes mathematisch aufzuschlüsseln. Joachim Schultz faßt die beschriebene Eigenart folgendermaßen zusammen: «Der Mond, dessen Oberfläche wie eine tote, erstarrte Schlacke erscheint, ist der beweglichste, in den vielfältigsten Rhythmen sich bewegende Wandler, der sich letztlich dem rationellen, zahlenmäßigen und berechnenden Erfassen dauernd entzieht.»1

Hier ist es im Grunde schon gesagt: Statt mathematischabstrakt von Störungen zu reden, sollte man darauf hinhören, was sich in einer solchen Eigentümlichkeit zum Ausdruck bringt. Der Mond ist in all seinen Erscheinungen kein mechanisches Uhrwerk. Er ist ein rhythmisches Wesen. Das gilt für ihn in herausragendem Maße. Alle Himmelsbewegungen sind rhythmischer Natur. Sie schwingen in feiner Weise regelmäßig hin und her zwischen extremen Ausschlägen. Sie alle sind Niederschlag eines kosmischen Lebenszusammenhangs. Wir können den Mond, als den beweglichsten der Wandelsterne, in diesem Verständnis den großen Atmer nennen.

Die Mondknoten entziehen sich als Verhältnispunkte zunächst jeglicher unmittelbaren Wahrnehmung. Ausgenommen sind jene seltenen Fälle, wo es durch exakte Überschneidung von Mond- und Sonnenstand zu Finsternissen kommt. Gleichwohl gibt es eine Möglichkeit, zu einem anschaulichen Bild des Ganzen zu gelangen. Walther Bühler hat dies in einem anregenden Aufsatz herausgearbeitet.2

Aus der alltäglichen Beobachtung wissen wir, dass die Sonne nicht immer dieselbe Kreisbahn beschreibt. Im Winter steht sie deutlich tiefer am Himmel, im Sommer scheint sie zur Mittagszeit steil von oben auf uns herunter. Wir wissen auch, dass ihre Bahn größer und kleiner wird im Jahreslauf: Im Sommer geht sie nordöstlich auf und nordwestlich unter, im Winter verschiebt sie ihren Aufgangspunkt nach Südosten, ihren Untergangspunkt nach Südwesten. Astronomisch hängt dies zusammen mit der Schiefe der Ekliptik gegenüber dem Himmelsäquator von 23½°. Sie bedingt, dass die Vielfalt der Jahreszeiten zustande kommt, wie wir sie aus Mitteleuropa in besonders ausgewogener Weise kennen. Sie bedingt auch, dass die Sonne im Lauf eines Jahres ein gewisses Band überstreicht. Es ist 47° breit und wird von ihr in 365 Lichtlinien an den Himmel gemalt. Es mag das Sphärenfeld der Sonne genannt werden.

Der Mond stellt sich nun in dieses langsam-stetige Wachsen und Schwinden der Sonne hinein wie ein eiliger Wanderer, dem es nicht rasch genug gehen kann von Ort zu Ort, der immer neue Wege und Ausblicke genießen will: «Der Mond webt so in 27 Kreisbögen seine Silberspuren in den goldenen Lichtteppich des Sonnenfeldes hinein. Dreizehnmal durchpulst die raschere, siderische Mondbewegung die langsame, ruhige Jahresatmung der Sonnenkreise. Das Sonnenfeld wird von einem Sphärenfeld des Mondes überlagert.»3

Während das Sonnenfeld einen festen Platz einnimmt, man also von einem bestimmten Erdenort aus sein Leben lang immer dieselbe Sphäre überstrichen findet, ist es beim Mond anders. Auch hier bleibt er seiner wechselgestaltigen Natur treu. Das Sphärenfeld des Mondes ist einer allmählichen Veränderung unterworfen. Im einen Extrem kann es das Sonnenfeld um 5° nach Norden und Süden übergreifen, insgesamt 57° umspannend. Im anderen Extrem zieht es sich um dasselbe Maß zusammen. Nur noch 37° überstreichend, wird es von der Sonnensphäre vollständig eingehüllt. Dieses Schwingen ist nur mittelfristiger Beobachtung ersichtlich. Neun Jahre ungefähr braucht es, um vom Stadium der Zusammenziehung zur größten Ausweitung zu gelangen; weitere neun Jahre dann, um wiederum in die Ausgangsstellung zurückzukehren. So lag etwa im August 1950 eine größte Ausdehnung vor, die sich im Dezember 1959 zu einem Minimum zusammenzog, um gut neun Jahre später wiederum ein Maximum zu erreichen.

Figur 2: Größtes und kleinstes Mondfeld bei den Knotenlagen; das Sonnenfeld bleibt konstant.

Der Rhythmus, der hier zugrunde liegt, ist aber kosmisch kein anderer als jener der Mondknoten, die mit ihrer um 5° ausschlagenden Bahn rückläufig durch die Ekliptik wandern, bis sie nach 18 Jahren, 7 Monaten und 9 Tagen wiederum ihren Ausgangspunkt erreichen! Und indem wir innerlich dieses wundervolle Herausströmen und Hereinziehen des silbernen Mondfeldes über den goldenen Lichtteppich der Sonne nachbewegen, dürfen wir das Ganze sachgemäß als Bild eines großen Atmungsvorganges auffassen.

Befindet sich der aufsteigende Knoten () im Frühlingspunkt, ist volle Ausatmung erreicht, kommen absteigender Mondknoten () und Frühlingspunkt zusammen, hat sich alles in die Einatmung verdichtet. Im Sommer- und Winterpunkt dagegen werden Mittellagen erreicht, in denen Sonnen- und Mondfeld zeitweise übereinander fallen. Bühler kommt in seinem Aufsatz zu dem Ergebnis: «Es tauchen so beim phänomenologischen Vorgehen Goethes an der Pflanzenwelt ausgearbeitete Schlüsselbegriffe – Ausdehnung und Zusammenziehung, Polarität und Steigerung – in den Metamorphosen der Himmelserscheinungen wieder auf, und wir wachsen, indem wir die ‹anschauende Urteilskraft› üben, in das Bild eines kosmischen Atmungsprozesses hinein. Die abstrakt vorgestellte, kontinuierliche, eintönige Kreisbewegung zweier astronomischer Punkte verwandelt sich vor unseren Augen in einen echten Rhythmus von Systole und Diastole, in ein kosmisches Atmen eines Sphärenfeldes. Das ewige Gegenspiel von Sonne und Mond, das uns u. a. in Voll- und Neumond, in den Sonnen- und Mondfinsternissen entgegentritt, wird in der Knotenperiode zusammengefaßt und findet in der wechselseitigen Durchdringung von Sonnen- und Mondfeld einen gesteigerten Ausdruck.»4

III.Mythische Bilder

Es gibt herausgehobene Stellen, an denen die Mondknoten das mit ihnen verknüpfte dramatische Geschehen für den Menschen eindrücklich spürbar und erlebbar machen. Das sind die Finsternisse. Sie ziehen in großen Rhythmen ihre Schattenspuren über die Erde hin. Sie können ausschließlich an Mondknoten auftreten, d. h. dann, wenn Sonnen- und Mondbahn übereinander fallen. Eine Sonnenfinsternis tritt ein, wenn der Neumond sich genau zwischen Sonne und Erde hineinstellt und die Sonne teilweise oder ganz verhüllt. Eine Mondfinsternis entsteht, wenn die Erde genau zwischen Sonne und Vollmond ihren Platz einnimmt, diesen ganz oder teilweise verdunkelnd.1

Das Bewusstsein früherer Zeiten hat solche Punkte besonders intensiv erlebt. Manches davon schwingt noch im späteren Volksglauben nach. Nicht als äußere Verdunkelungen nur wurden sie wahrgenommen, sondern als bildhaft-dramatische Himmelsereignisse. So wird in der altnordischen Mythe, die sich durch kraftvolle Unmittelbarkeit auszeichnet, das Folgende erzählt.

Als nach dem Untergang des Doppelreiches von Niflheim und Muspelheim die Herrschaft der Asen anbricht, schenken sie der Welt eine neue Ordnung. Aus den Gliedern des Riesen Ymir schaffen sie Himmel und Erde, in all ihrer Vielgestaltigkeit. Zu dieser Zeit wachsen, unter der Obhut ihres Vaters Mundilfari, zwei liebliche Kinder heran: Sol und Mani. Als sie ihre Jugendzeit erreicht haben, machen sie durch außerordentliche Schönheit auf sich aufmerksam. Der Vater in seinem Stolz vergleicht sie gar den Göttern. Die Asen aber, erzürnt über die Anmaßung, nehmen die strahlenden Geschwister von der Erde hinweg, um sie am Himmel erglänzen zu lassen. Sol, die Sonne, fährt von da an im Sonnenwagen am Tage über den Himmelsbogen. Der Wagen wird gezogen von zwei raschen, feurigen Hengsten, Alvidr und Árkvakr. Der Schild Swalin dämpft die übergroße Glut, damit die Erde nicht vor der Zeit vergehe. Mani hat eine andere Aufgabe zugewiesen bekommen. Er muss seines Amtes in der Nacht walten. Mit seinem Wagen zieht er den Mond über den nächtlichen Himmel, um die Zeit zu messen.

Abbildung 3: J. C. Dollman (1851–1934).Die Wölfe, Sol und Mani verfolgend.

Doch Mani und Sol drohen auch Gefahren. Zwei gierige Wölfe jagen ihnen hinterher, der eine über den Taghimmel, der andere über den Himmel der Nacht. Wenn der furchterregende Sköll, der Sol nacheilt, diese einholt und überwältigt, verliert sie ihren Schein. Auch Mani wird düster und verschwindet, wenn der grausame Nachtwolf Hati den Mond erreicht und sich über ihn hermacht (Abbildung 3).

Auf der Erde sind diese Geschehnisse wohl wahrnehmbar. Es sind die Mond- und Sonnenfinsternisse, die dann eintreten. Sie drohen Natur und Gemüt des Menschen zu verdunkeln, wenigstens für eine kurze, angstbesetzte Zeit – bevor sich die beiden Lichter wieder losmachen können und in altem Glanz erstrahlen. Es gibt jedoch auch eine prophetische, weit darüber hinausreichende Vorausschau der Seherin: Einmal, wenn die Götterdämmerung herannaht, wird der mächtigste der Wölfe, Fenrir, Sonne und Mond im schrecklichen Endkampf für immer vernichten.2

Nicht unähnlich, und doch ganz anders, stellt sich die Sache dar, wenn wir nach Südostasien blicken, zu jenen uralten Mythenbildern, die mit Indien im Zusammenhang stehen. In einer Erzählung des Mahabharatha, des indischen Nationalepos, können wir die folgende Schilderung finden. Sie dürfte weit weniger bekannt sein als der germanische Mythos.

In der Urzeit waren die Götter dabei, das kosmische Milchmeer zu quirlen (Abbildung 4). Sie wollten Amrita gewinnen, auch Soma genannt, den Lebenssaft der Unsterblichkeit. Als dies nach langen Mühen geschehen war, drängte sich unbemerkterweise ein titanischer Riese mit vier Armen und einem langen Schweif unter die Götter, um von dem Saft zu trinken. Surya, der Sonnengott, und Chandra, der Gott des Mondes, beklagten sich bei Vishnu, dem großen Erhalter und Erneuerer der Welten. Vishnu trennte dem Ungeheuer mit seinem Radmesser den Kopf ab. Die beiden Teile indes lebten weiter. Sie waren bereits von dem Trank berührt und hatten Unsterblichkeit gewonnen. Sie erhielten ihren Platz am sternübersäten Himmel. Der Kopf des Titanen zieht seither über das Firmament als Rahu, in einem Wagen mit acht schwarzen Pferden. Ketu aber, der Schwanz des Ungeheuers, bewegt sich in Form eines Drachenschweifs, von acht roten Pferden stürmisch über den Himmel gezogen. Mit geöffnetem Rachen verfolgen beide, von ihrem Haß getrieben, den Sonnengott Surya mit seinem rossebespannten Wagen und den Mondgott Chandra mit den zehn weißen Rossen, der manchmal auch auf einer Antilope einherreitet. Ab und an gelingt es Rahu und Ketu, die Gestirne für kurze Zeit zu verschlingen. Dann kommt es zur Verfinsterung der Sonne oder des Mondes – und die Welt hüllt sich in schreckliches Dunkel.3

Abbildung 4: Die Quirlung des Milchmeeres, mit der Schildkröte (Visnus zweiter Inkarnation) als Fundament für den Quirlstab – den Berg Mandara. Mit Hilfe der Weltschlange – als Quirlstrick – wird das Meer von den Göttern (rechts) und den Dämonen (links) gequirlt. Oben der Elefant Airävata und die Pferdegottheit Uccaihsravas.

Der heutige Astrologe, ja sogar der naturwissenschaftlich orientierte Astronom geht bis in die Gegenwart mit dem indischen Mythos um, zumeist ohne es sich bewusstzumachen. Die klassischen Bezeichnungen «Drachenkopf» bzw. «Drachenschwanz» für den aufsteigenden bzw. absteigenden Mondknoten gehen nämlich auf die drachen- oder schlangenförmige Erscheinung von Rahu-Ketu zurück. Und ebenso sind die bis heute gebräuchlichen Zeichen – für den aufsteigenden, für den absteigenden Knoten – nichts als symbolische Reste jenes mythischen Bilderzusammenhanges.

Wir wollen beide Erzählungen zunächst in ihrer Eigenkraft und bildhaften Frische stehen lassen und uns erst später, bei der geistig-seelischen Charakteristik der Mondknoten, an eine Deutung heranwagen. Man kann, als aufgeklärter Mensch, lächeln über solche kindlichen Vorstellungen wie die vom Quirlen des Milchmeeres. Man kann aber auch, gerade bei längerer Beschäftigung, Ehrfurcht vor ihnen bekommen und ahnen, dass ein tiefer Weltinhalt sich in ihnen ausspricht. Dass sie womöglich eine Schicht von Wirklichkeit berühren, die der äußeren, mathematischen Anschauung und Denkweise verschlossen bleibt.

Wer die totale Sonnenfinsternis im August 1999 in Mitteleuropa miterlebt hat, konnte unmittelbar spüren, dass da «mehr» sich ereignet als ein physikalisch-mathematisches Schattenphänomen dreier Körper im Weltraum. Ähnliches hat schon Adalbert Stifter empfunden bei jener Sonnenfinsternis von 1842, die der feinsinnige, im Umgang mit den Erscheinungen der Natur geschulte Sprachkünstler als tief einschneidendes Geschehen seiner Biographie verzeichnete: «Nie in meinem ganzen Leben war ich so erschüttert, von Schauer und Erhabenheit so erschüttert, wie in diesen zwei Minuten, es war nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen und ich hätte es verstanden.»4

IV.Zur Charakteristik der Mondknoten

Die bisherigen Ausführungen blieben interessante Mitteilung, vielleicht auch anrührende Erzählung, wenn sie nicht in das kraftvoll-milde Licht der Selbsterkenntnis getaucht würden. Wir schaffen Materialien heran, die nicht Zweck an sich sind. Sie erhalten ihren Sinn erst durch den Bau, der mit ihnen errichtet werden soll. Dieser Bau ist die eigene Biographie – jenes unendliche Kunstwerk, an dem jeder sein Leben lang immer neu zu gestalten hat.

Es hängt von mir ab, wie gut und genau ich die äußeren Bedingungen und inneren Gesetzmäßigkeiten kenne, ob ein konventionelles Haus oder ein originelles, einmaliges Gebilde entsteht. Es hängt von mir ab, ob ich mich mit der gesamten Kraft meines Ichs in dieses Gebilde hineinstelle, als schöpferischer Architekt und Plastiker des eigenen Lebens auftretend – oder ob ich, altbekannten Formen und Regeln folgend, in einem fremden Haus umhergehe, das nichts mit meinen ursprünglichen Intentionen zu tun hat. Die Kenntnis der Mondknoten und ihrer Wirkensweise im menschlichen Lebenslauf bietet eine grundlegende Möglichkeit, etwas von dem Gesetz der eigenen Biographie zu ergreifen. Durch sie werden wir auf neuralgische Punkte aufmerksam, die untergründige Wirkungen ausstrahlen, am gewöhnlichen Bewusstsein aber unbemerkt vorüberziehen.

Der Mondknoten ist Ausdruck einer Geburtssituation. Er wiederholt die kosmischen Verhältnisse, die bei dem ersten Ankommen auf der Erde geherrscht haben. Alle Orte der Sonnenbahn finden sich in der gleichen Lage innerhalb des Tierkreises wie bei der Geburt. Auch die Auf- und Untergangsorte der Mondknoten und entsprechend die Bahnbögen von Sonne und Mond erreichen die gleiche Mittagshöhe wie 18 Jahre, 7 Monate und 10 Tage zuvor. Fasst man das kosmische Geschehen nicht mechanistisch auf, sondern musikalisch im Sinne der Sphärenharmonie, darf man von einem «Gleichklang mit dem Rhythmengefüge der Geburtsstunde» sprechen.1 Die Sphärensymphonie, welche die Menschheit, nur geistigen Ohren vernehmbar, fortwährend umbraust, erinnert jeden Menschen individuell an jenen Zeitpunkt, da er die Erde erstmals betreten hat. Etwas klingt herauf, aus tiefen Schichten sich zu Gehör bringend, wie eine halbvergessene Melodie. Von daher nimmt es nicht wunder, wenn tatsächlich in diesen Punkten häufig bedeutsame Umbrüche zu bemerken sind.

Nun ist, geisteswissenschaftlich angesehen, die Geburt etwas anderes noch als ein bloß organisch-leiblicher Vorgang. Von der unsichtbaren Welt her wird die Geburt umgekehrt erlebt, als Tod. Novalis hat das unnachahmlich knapp ausgedrückt: «Wenn ein Geist stirbt – wird er Mensch. Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist.»2 Man stelle es sich bildhaft als realen Prozess vor: Der über die Allsphäre ausgebreitete Geistmensch muss sich nach und nach zusammenziehen, um endlich in dem winzigen Raum eines Erdenleibes Platz zu nehmen. Es ist als eine, durchaus mit Schmerzerlebnissen verbundene Einengung des Sphärenmenschen zu denken, die mit dem geistigen Tod endet, das heißt mit dem Erlöschen eines viel umfassenderen Bewusstseins. Mit diesem Geistestod – der Leibgeburt – beginnt zugleich die Möglichkeit einer individuellen Entwicklung: Das zusammengedrängte, kosmisch abgeschnürte Wesen kann anfangen, aus eigenen Kräften etwas hinzuzufügen zu dem Mitgebrachten. Es kann sich, aus seiner Selbstständigkeit heraus, wiederum erkennend und handelnd ausweiten in ein kosmisches Bewusstsein hinein.

Etwas anderes kommt aber noch hinzu. Auch der Begriff der Geburt muss feiner und vielschichtiger gefasst werden. Er bezieht sich nicht nur auf das physisch sichtbare Heraussetzen des kleinen Kindes aus dem Leib der Mutter. Wenn wir vergleichsweise sagen, jemand wirke nach einer schweren Erkrankung «wie neugeboren», so müssen wir im exakteren Sinne von weiteren Geburten im Lauf eines Menschenlebens sprechen. Solche Geburtsvorgänge finden insbesondere statt alle sieben Jahre, recht deutlich wahrnehmbar in den ersten drei Jahrsiebten. Dabei lösen sich von einer umfassenden Mutterhülle Lebens- oder Seelenkräfte ab und werden individualisiert im jungen Menschen wirksam. So wird die individuelle Lebenskrafthülle – der sogenannte Ätherleib – um das siebte Lebensjahr herum eigenaktiv; die individuelle Seelenkrafthülle – mit einem alten Ausdruck auch «Astralleib» genannt – um das vierzehnte Jahr usw.3

Etwas Ähnliches haben wir uns nun um die Geburtsstellen der Mondknoten auszumalen, mit knapp 19 Jahren, und dann wieder mit 37, mit 56 und gut 74 Jahren. Die Qualität dieses Rhythmus scheint jedoch eine andere zu sein. Bei den Jahrsiebten handelt es sich im wesentlichen um jeweils neue Qualitäten, die dazugewonnen werden. Man vergleiche nur die Stimmung eines Acht- oder Neunjährigen mit der eines gerade in der Pubertät stehenden Jugendlichen! Von der kosmischen Entsprechung her hängen Jahrsiebte zusammen mit dem sich erweiternden Gang durch die Planetensphären, beginnend mit der erdnahen Mondsphäre über die Sonnensphäre aufsteigend bis zur umfassenden Saturnsphäre. Entwicklungsbezogen ist damit die Möglichkeit angelegt, von einem leiblichen Werden in den ersten drei Abschnitten über ein mehr seelisches Element zu einer rein geistigen Entfaltung in der zweiten Lebenshälfte zu gelangen.4

Die Mondknoten sind natürlich nicht unbeeinflusst von dem jeweiligen Lebensalter, d. h. von dem Jahrsiebt, in dem sie eintreten. Dieses bildet das seelische Milieu, in dem sich die Knoten auswirken. Und doch ist ihre Signatur eine ureigene. Könnten wir bei den Jahrsiebten sagen: «Es wird etwas erneuert, eine unbekannte Qualität hinzugefügt», so müssten wir bei den Mondknoten sagen: «Es wird etwas erinnert.» Wie mächtige Mahner, aus dem Untergrund des Lebensstromes hervortönend, stehen die Mondknoten innerhalb der Biographie da. Sie erinnern einen an die bei der Geburt mitgebrachten Vorhaben – «an das Gesetz, wonach du angetreten».5 Da wir dieses Gesetz oftmals verletzt, die inneren Entschlüsse geradezu vergessen oder verdrängt haben, da auch von der Erziehung her heute wenig Förderliches geschieht, ist dieses Erinnern meist schmerzhaft. Die rhythmische Erneuerung der Ursprungssituation tönt uns als Missklang entgegen – nicht, weil sie an sich Missklang wäre, sondern weil unser augenblicklicher Entwicklungsstand geistig-musikalisch so wenig dem ursprünglich Veranlagten entspricht. Von daher das Auftreten der Umbrüche, Todesmomente, Trennungen, Krisen usw.; daher der oft kathartische Charakter der Knotenauslösungen.

Die Beschreibung ist damit nicht erschöpft. Denn nicht für sich bloß kommt der Mond in Betracht. Er steht im Zusammenspiel mit der Sonne. Am Knoten befindet sich der Mond genau in der Mitte zwischen höchster Erhebung über und tiefster Absenkung unter die Sonnenbahn. Ein Moment des Gleichgewichtes entsteht zwischen Sonne und Mond – eine Waage-Situation. Wie lässt sich das in der Charakteristik wieder finden?

Um das zu beantworten, müssen wir eine umfassendere Frage mit behandeln, die nach der Rolle von Sonne und Mond überhaupt. Wofür stehen unsere zwei größten, einflussvollsten Gestirne im Kosmos, vom geistigen Standpunkt aus betrachtet? Dazu eine einfache Beobachtung. Wenn wir nachts aufwachen, halb noch von Träumen überwältigt, finden wir uns oft in einer seltsamen Stimmung. Das Problem, das uns beschäftigt, vielleicht aus Tageserlebnissen heraus, kommt uns unlösbar vor. Wir fühlen, als sei etwas über uns verhängt, als seien wir unabänderlich gefangen in diesem Nachtgespinst. Und auch der still entlangziehende Mond scheint keine Antwort zu wissen, ja, die Stimmung der Vergeblichkeit nur zu bekräftigen. – Am Morgen ist das Nachtgefühl wie weggeblasen. Wir blicken in den hellen, in bestechender Klarheit die Dinge zeigenden Tag und können uns kaum mehr vorstellen, was uns des Nachts gehindert hat. Alles ist so einfach, im Licht der Sonne betrachtet. Wir müssen es nur mit wacher Entschlossenheit anpacken.

Was spricht sich in solcher Tages- bzw. Nachtgestimmtheit aus? Etwas Umfassendes, Sonne und Mond betreffend. Der Mond mit seinen Kräften und Wesenheiten repräsentiert alles im Kosmos, was Vergangenheit ist, für das Gesamte der Erde, aber auch für den einzelnen Menschen. Dieser wird vor der Geburt in der Sphäre des Mondes imprägniert mit all dem, was er aus früheren Erdenleben mitbringt und sich schicksalsmäßig ausleben muss. Als «Weltensohn der Notwendigkeit» schenkt uns der Mond, was wir als Bedingung brauchen, um unser Leben richtig weiterführen zu können. Jedes Schicksalsereignis, jede karmisch angelegte Begegnung wird durch das «Tor des Mondes» vorbereitet.

Würde nur der Mond wirken, müssten wir als kosmische Automaten durch das Dasein gehen. Wir brauchen einen zweiten Einschlag. Er strömt uns zu von den Wesen und Kräften der Sonnensphäre. Die Sonne schafft uns die Möglichkeit, dem Notwendig-Mitgebrachten eine freie Entfaltung hinzuzufügen. Sie ist der «Weltensohn der Freiheit», Retter unseres Ichseins. Durch das «Tor der Sonne» schreitend, können wir überhaupt erst in kosmische Zukünfte blicken. Bei der menschlichen Begegnung wird sie wirksam, sobald diese aus den unterbewusst treibenden Mondkräften heraus eingetreten ist: Jetzt hängt es von unserer freien Gestaltungskraft ab, was wir aus dem Zusammensein mit dem anderen machen.6

Etwas von diesem großen Zusammenhang scheint auch anzuklingen in der Gleichgewichtslage des Mondknotens. Wir dürfen offenbar nicht nur einseitig auf den Mondaspekt blicken, sondern müssen die Sonnenkräfte ausgleichend hinzunehmen. Sonst würden wir steckenbleiben bei der bloßen «Nötigung» im Sinne des Goetheschen Gedichtzyklus:

Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten:

Bedingung und Gesetz; und aller Wille

Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten …7

Wie das genauer aussehen könnte, wollen wir später behandeln. Jetzt soll erst das Bild der einzelnen Mondknoten plastischer herausgearbeitet werden.

Der erste Mondknoten

Mit 18 Jahren, 7 Monaten und knapp 10 Tagen löst sich der erste Mondknoten aus. Natürlich hört man nicht exakt an diesem Tag «die Glocken läuten». Der Mondknoten als biographischer Schicksalspunkt umspielt das astronomische Datum. Es kann einige Monate nach vorne oder hinten versetzt auftreten, gelegentlich sogar bis zu einem vollen Jahr. Nicht selten lässt sich freilich an Biographien beobachten, wie der Knoten mit fast uhrwerkartiger Präzision zum Tragen kommt.

Der erste Mondknoten steht ganz im Zeichen jugendlichen Aufbruchs. Er findet sich ziemlich genau im letzten Drittel des dritten Jahrsiebts, etwa 2 ⅓ Jahre vor jenem bedeutsamen Einschlagpunkt mit 21 Jahren, an dem unser Ich auf der Erde Fuß fasst. Der Aufbruch kann sich als Protest und Revolte manifestieren, wenn die Bedingungen vom Elternhaus her einengende sind und kein tieferes Verständnis vom nächsten Umkreis aufgebracht wird. Der Aufbruch kann, mehr organisch, als Bedürfnis auftreten, eine eigene Wohnung zu haben, z. B. wenn sie oder er nach dem Schulabschluss in eine andere Stadt zieht, um dort zu studieren oder sonst eine Ausbildung zu beginnen.

Oft zeigen junge Menschen in diesem Alter eine spontane Genialität im Künstlerischen oder auf anderem Feld, die dann, wenn man ihnen Jahre später wieder begegnet, wie verraucht erscheint. Etwas von dem ursprünglichen Wesen kann aufblitzen in diesem Zeitpunkt: Der Betreffende wird sich seiner Ideale bewusst, er erfasst, wie aus Untergründen herauf, plötzlich sein Lebensmotiv, auch wenn er sich vorher andere Bilder ausgemalt hat.

Vielfach spiegelt sich der Umschlagpunkt auch in entscheidenden Begegnungen. Alexander von Humboldt (1769 – 1859; Abbildung 5) war achtzehneinhalb Jahre, als er auf das Werk das Botanikers Karl Ludwig Wildenow aufmerksam wurde und den bedeutenden Gelehrten bald auch kennenlernte. Wildenow wies ihn auf die eigentümliche Verteilung der Pflanzen über die Erde hin. Im Keim ergriff der junge Alexander damit seine Lebensidee, die ihn zum Begründer eines ganzen Wissenschaftszweiges, der modernen Pflanzengeographie, werden lassen sollte. Die späteren Schriften und großen Reisen Humboldts, insbesondere die Südamerikareise, und die anschließende wissenschaftliche Aufarbeitung in dem enzyklopädischen Werk Kosmos sind Ausfaltungen jener Uridee, die Humboldt um das 19. Jahr gefasst hatte. In einem langen, ertragreichen Forscher- und Gelehrtenleben hielt er dem in jungen Jahren erkannten Lebensplan mit seltener Konsequenz und Ausdauer die Treue.8

Abbildung 5: Alexander von Humboldt (1769–1859), etwa 18-jährig in Berlin. Zeichnung von Daniel Caffe.

Bei einer weiteren Gestalt, einem etwas jüngeren Zeitgenossen von Humboldt, dessen Leben nicht weniger stimmig und konsequent abgelaufen ist, nur wie in Kurzform zusammengedrängt, finden wir das Element der Begegnung auf besonders anrührende Weise verwirklicht. Ich spreche von Novalis (1772 – 1801). Genau mit 18 Jahren und 7 Monaten, im Herbst 1790, kommt der poetisch hoch begabte, begeisterungsfähige Friedrich von Hardenberg nach Jena zum Studium. Dort lernt er Friedrich Schiller kennen, der als Geschichtsprofessor an die Universität berufen worden ist. Und dieser muss ihm, so bezeugen es hellsichtig-überschwengliche Briefe, wie das schlummernde Ideal, wie ein weckender Anklang des eigenen höheren Ichs erschienen sein – nicht als «Traumbild» bloß, sondern als greifbare Persönlichkeit, als Mensch, dem man in die Augen schauen kann. Der Eindruck und die Bedeutung für den weiteren Entwicklungsgang von Novalis bleiben unauslöschlich. Eine solch «reine Konstellation» ist natürlich höchst selten. Man muss glückhaft-günstige Schicksalsumstände mitbringen, dazu jene ungemessene Verehrungs- und Würdigungsfähigkeit für das Höhere, die Novalis besaß, um den biographischen Knotenpunkt für die eigene Entfaltung fruchtbar machen zu können.9

Wieder eine andere Tönung erhält der Mondknoten-Einschnitt bei dem Dichterfreund von Novalis, Ludwig Tieck (1773 – 1853; Abbildung 6). Als junger, gerade 19-jähriger Student wandert Tieck bei Ferienbeginn am Johannitag von Halle aus in den Harz. Nach zwei Nächten ohne Schlaf, mit Tanzen, Unterhaltung und Musik zugebracht, besteigt er am dritten Tag bei Morgengrauen einen Hügel, um den Sonnenaufgang zu erwarten. Hören wir zunächst seine eigenen Worte für das folgende Erlebnis, das dem Dichter so heilig war, dass er es erst als Achtzigjähriger einer vertrauten Freundin preisgab: «Nicht lange, so ging die Sonne auf. Aber wo Worte hernehmen, um das nur matt zu schildern, das Wunder, die Erscheinung, welches mir begegnete, und meine Seele, meinen inneren Menschen, alle meine Kräfte verwandelte und einem unsichtbaren, einem göttlich Unnennbaren entgegen riss und führte. Ein unnennbares Entzücken ergriff mein ganzes Wesen; ich zitterte und ein Tränenstrom, so innig durchdringlich, wie ich ihn nie vergossen hatte, floss aus meinen Augen. Ich musste stille stehen, um diese Vision ganz zu erleben, und so wie mein Herz in der höchsten Freude zitterte, so war es mir, völlig überzeugend, als wenn ein zweites, seliges, liebendes Herz an meinem Busen klopfte. Wie schon gesagt, dies war der höchste Moment meines ganzen Lebens; ich konnte mich in Freude überseliger Lust der tiefsten Tränen in der Entzückung nicht erwehren. Wie lange diese berauschende Zeit mich ergriff, kann ich nicht sagen. (…) Es war natürlich, dass nach der großen Aufregung mir auch hier alles anders und wunderbar erschien.»10

Durch die romantischen Wendungen und die ungewohnte Überschwenglichkeit hindurch spürt man, dass es sich bei dieser «Vision» um ein echtes Geisterlebnis handelte. Das Herausgelockertsein aus der leiblichen Organisation, bedingt durch die schlaflosen Nächte, bereitet den Eindruck vor, der dann im Angesicht der aufgehenden Sonne mit überwältigender Kraft auf die empfängliche Dichterseele eindringt. Interessant ist, dass Tieck das Geschehen wie eine Begegnung schildert, die sich jedoch im Übersinnlichen abspielt – als Anklopfen des zweiten, liebenden Herzens. Es ist, als ob der junge Mann, der außerordentlich sensitiv für die Zwischenbereiche des menschlichen Daseins war, hier in der Tat die Begegnung mit dem höheren Wesen – seinem unsterblichen Ich – für einen herausgehobenen Augenblick erfahren hätte. Nach eigenem Bekunden war es das wichtigste Erlebnis seiner Biographie, von dem nicht nur für die folgenden Tage, sondern für die gesamte Lebenszeit eine verklärende Wirkung ausging. Wir dürfen vermuten, dass Tieck seinem Seelenfreund Novalis etwas von dieser Erfahrung mitgeteilt hat, als er den mit Selbstverständlichkeit im Übersinnlichen Verwurzelten Jahre später kennenlernte sollte.

Abbildung 6: Ludwig Tieck (1773–1853), Gemälde von Joseph Stieler.

Bei Biographien von genialen Persönlichkeiten, die ihre Lebensmotive in verkürztem Zeitrhythmus auszuprägen haben, kann der Mondknoten auch mit dem ersten öffentlichen Auftreten zusammentreffen. Das ist der Fall im Lebenslauf von Jean-François Champollion (1790 – 1832), dem Entzifferer der Hieroglyphen. Mit knapp 19 Jahren, im Oktober 1809, wird er zum Professor der Geschichte an der neugegründeten Universität von Grenoble ernannt. Bald darauf beginnt er, aufsehenerregende Vorlesungen zu halten. Einige Monate zuvor, im Juni 1809 (es ist der exakte astronomische Knotenzeitpunkt) war der erste Band der Description de l’Égypte erschienen. Er machte die wissenschaftlichen Ergebnisse des Ägypten-Feldzuges von Napoleon Bonaparte zehn Jahre zuvor erstmals öffentlich zugänglich. Champollion selber arbeitete da bereits fieberhaft an seinem ersten Buch, L’Égypte sous les Pharaons.11

So sieht man, wie die Schicksalssprache bei einem Frühvollendeten den ersten Knoten in markanter Wendung zum Ausdruck bringt.

Der erste Mondknoten bei Johann Wolfgang Goethe

Es muss ein besonderes Anliegen sein, dasjenige Lebenskunstwerk für unsere Fragestellung heranzuziehen, das in gewisser Hinsicht beispielgebend für die Bewussteinsverhältnisse der Neuzeit ist. An ihm lassen sich in wunderbarer Stimmigkeit eine Reihe rhythmischer Gesetzmäßigkeiten aufzeigen. Der Schöpfer dieses Kunstwerkes ist kein anderer als Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832; Abbildung 7). Was finden wir bei ihm, wenn wir den ersten Mondknoten in den Blick nehmen?

Abbildung 7: Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), Jugendbild aus dem Jahr 1765. Gemälde von Anton Johann Kern.

In der Tat stoßen wir auf einen einschneidenden, krisenhaften Umschwung, der den jungen Goethe bis an den Rand des Todes führt. Anfang Juni 1768 – der junge Mann, hochbegabt und vielversprechend, aber auch unrastig und noch nicht mit deutlicher Lebensausrichtung, ist 18 Jahre und 9 Monate alt – erfährt er von der Ermordung Johann Joachim Winckelmanns in Triest. Er ist zutiefst erschüttert, denn Winckelmann hat ihm, wie vielen damals, das Fenster zur antiken Welt aufgestoßen. So erzählt er später in seinen Lebenserinnerungen, die Todesnachricht sei «wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel» auf ihn und seine Freunde niedergefallen. Dieser Donnerschlag und weitere Beeinträchtigungen durch extrem ungesunde, arhythmische Lebensführung bewirken eine «Verschwörung und Revolution» im eigenen Organismus. Ende Juni erleidet Goethe einen schweren Blutsturz.12

Die Erkrankung, wohl eine Lungentuberkulose, zieht sich durch die folgenden Monate hin. Gegen Jahresende (der 19-jährige ist inzwischen in seine Vaterstadt zurückgekehrt) kommt es nochmals zu einem Höhepunkt. Am 7. Dezember stellt sich eine lebensgefährliche Krise ein. Der behandelnde Arzt, Johann Friedrich Metz (1721 – 1782), von der Mutter des Erkrankten bestürmt, rückt in höchster Not die salzartige Universalmedizin heraus. «Das Salz war kaum genommen, so zeigte sich eine Erleichterung des Zustandes, und von dem Augenblick an nahm die Krankheit eine Wendung, die stufenweise zur Besserung führte. Ich darf nicht sagen, wie sehr dieses den Glauben an unsern Arzt und den Fleiß, uns eines solchen Schatzes teilhaftig zu machen, stärkte und erhöhte.»13

Der Alchemist Metz belässt es nicht dabei. Er macht den jungen Goethe eindringlich darauf aufmerksam, dass es mit einer äußerlichen Anwendung solcher Mittel nicht getan sei. Man müsse sich selber in moralischer und erkenntnismäßiger Hinsicht bei der Hand nehmen. Um jenes «großen Werkes» und «geheimen Kleinodes» habhaft zu werden, empfiehlt er «mystische chemisch-alchemische Bücher». Goethe nimmt sich den Rat zu Herzen. In der Folge studiert der Genesende gemeinsam mit Susanne von Klettenberg, seiner religiösen Begleiterin in dieser frühen Zeit, der er später als «schöne Seele» in Wilhelm Meisters Lehrjahren ein Denkmal setzen sollte, die empfohlenen Werke und verfolgt dies praktisch bis in alchemistische Experimente hinein.14

Was liegt hier vor? Trotz der milden Ironie, die der Dichter im Rückblick über die gesamte Episode breitet, können wir an der Ernsthaftigkeit seines Strebens keinen Zweifel haben. Die Krankheit – ihre wundersame Heilung – die neue, durch Metz gewonnene geistige Richtung – ihre Vertiefung in der Zusammenarbeit mit Susanne von Klettenberg, dies alles gehört zu den weitestgreifenden Einflüssen und Verwandlungspunkten in Goethes Leben. Angeregt durch das alchemistische Schrifttum, durch die tiefsinnigen, zumeist in der paracelsischen Tradition stehenden Werke von Johann Anton Kirchweger, Georg von Welling, Johann Christoph Oetinger, Johann Baptist van Helmont und Basilius Valentinus, entsteht die erste, noch umrisshafte Gestalt von Goethes Weltbild. Die Bedeutung dieser leiblichen und geistigen Umwälzung hat erst die neuere Forschung herausgearbeitet. So schreibt der Medizinhistoriker Nager: «Auch der Grundstein für seine ehrfurchtsvolle Art der Naturforschung, seine fromm-verehrende Naturbetrachtung wird gelegt. Während und nach dieser Krise erwacht sein Gespür für die Wirklichkeit geistiger Welten, für die geheimnisvollen Hintergründe des Daseins, für die Verwandtschaft und Übereinstimmung der Dinge, jene analogia entis, die alles Seiende geheimnisvoll verknüpft (…).»15

Durch Rudolf Steiners geisteswissenschaftlichen Zugang können wir noch einen Grad tiefer loten. Denn Johann Friedrich Metz war nicht nur ein Angehöriger des (damals schon im Verfall befindlichen) Rosenkreuzerordens. Er war ein echter Bote des Christian Rosenkreutz, d. h. derjenigen Gestalt, die, aus dem Hintergrund heraus wirkend, als großer Eingeweihter die Entfaltung der neuzeitlichen Kultur zu leiten hat. Metz ließ Goethe durch sein alchemistisches Geheimmittel die lebensbedrohende Krankheit überwinden. Das ist jedoch nicht alles. Die «Revolution» griff so tief, dass der junge Mann bis in das Gefüge seiner Wesensglieder eine Umwandlung erfuhr. Wenn Goethe selber eine bleibende Veränderung in seiner zuvor wechselhaften Stimmungslage beobachtet, beschreibt das die Außenseite. Die Innenseite besteht darin, dass er ein «Herauslupfen» seiner Lebenskraft-Organisation durchgemacht hat. Diese ätherisch-übersinnliche Kraftgestalt, die er übrigens bei den Paracelsisten und anderen Vertretern der von ihm studierten okkulten Tradition als «archeus» eingehend beschrieben finden konnte, stellt den Baumeister und Lebenserhalter des physischen Leibes dar. Beim neuzeitlichen Menschen ist sie für gewöhnlich fest mit dem physischen Leib verknüpft. Für die übersinnliche Anschauung zeigt sich dies darin, dass die Aura von Physis und Ätherleib weitgehend zusammenfallen. Nur in Ausnahmefällen wird sie gelockert. Sie dehnt sich dann insbesondere im Kopfbereich aurisch über den Körperumriss aus, mit dem sie sonst wie verwachsen erscheint. Dadurch wird der Betreffende wahrnehmlich in der mit ihr verbundenen Bilder- und Lebenswelt. Er gewinnt Einsichten, die dem im Gehirnbewusstsein eingeschlossenen Normalbürger unzugänglich sind und somit unverständlich bleiben.

Vieles Rätselhafte bei Goethe, namentlich was die naturwissenschaftliche Anschauung betrifft, wie etwa seine Lehre von der Pflanzenmetamorphose, wird nur begreiflich, wenn man sie als Ausfluss einer derart gelockerten Konstitution der Wesensglieder betrachtet: «Was geschah denn eigentlich mit Goethe, als er so in Leipzig krank war? Das geschah, was man nennen kann eine völlige Lockerung des ätherischen Leibes, in dem die seelische Lebenskraft wirksam gewesen war bis dahin. Der lockerte sich so, dass nach dieser Krankheit Goethe nicht mehr jenen strengen Zusammenhang hatte zwischen dem ätherischen Leib und dem physischen Leib, den er vorher gehabt hatte. Der ätherische Leib ist aber dasjenige Übersinnliche in uns, was uns eigentlich möglich macht, Vorstellungen zu haben, zu denken. Abstrakte Vorstellungen, wie wir sie im gewöhnlichen Leben haben, wie sie die meisten Menschen, die materialistisch gesinnt sind, allein lieben, hat man dadurch, dass der ätherische Leib eng verbunden ist mit dem physischen Leib, gewissermaßen durch ein starkes magnetisches Band mit dem physischen Leib verbunden ist.» Und weiter: «Daher diese Umwandlung, die mit Goethe vorgegangen ist, als er nun zurückkehrte von Leipzig nach Frankfurt, wo er in der Bekanntschaft mit Fräulein von Klettenberg, der Mystikerin, in der Bekanntschaft mit allerlei ärztlichen Freunden, in der Bekanntschaft mit den Schriften Swedenborgs sich wirklich ein geistiges Weltsystem aufbaut, noch chaotisch, aber immerhin ein spirituelles Weltsystem aufbaut, wie er auch eine innigste Neigung hat, sich mit übersinnlichen Dingen zu befassen. Das aber hängt zusammen mit seiner Krankheit.»16

Einer etwas anderen Charakteristik begegnen wir in einem frühen Vortrag Rudolf Steiners von 1907. Nachdem zunächst von der rosenkreuzerischen Quelle die Rede ist, der Goethe nahegekommen sei, heißt es weiter: «Da geschah etwas höchst Merkwürdiges. Er hatte ein tief in sein Seelenleben eingreifendes Erlebnis, das sich äußerlich in der Tatsache ausdrückte, dass er in der letzten Leipziger Zeit dem Tode recht nahestand. Auf seinem schweren Krankenlager hatte er ein wichtiges Erlebnis, eine Art von Initiation. Goethe war sich dieser zunächst nicht bewusst, sie wirkte als eine Art poetischer Strömung in seiner Seele, und es war ein höchst merkwürdiger Vorgang, wie sich diese Strömung hineinarbeitete in seine verschiedenen Produktionen.»17