Die Mondrose - Charlotte Lyne - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Mondrose E-Book

Charlotte Lyne

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

London 1860. Um dem Elend der Armenviertel zu entkommen und ihrer Schwester Daphne ein besseres Leben zu erkämpfen, will die junge Mildred nach Australien auswandern. Ihr kühner Traum endet jedoch bereits im Hafen von Portsmouth. Mildred entschließt sich, zu bleiben – und verliebt sich in den Arzt Hyperion. Der aber liebt die zarte Daphne, heiratet sie und fügt damit Mildred die tiefste Wunde ihres Lebens zu. Das Band zwischen den Schwestern zerbricht, und wenig später verschwindet Daphne spurlos. Vom Verdacht des Mordes wird Mildred zwar freigesprochen, doch kann sie sich nie ganz davon reinwaschen. Erst Jahre später, als mit dem Zwanzigsten Jahrhundert ein neues Zeitalter beginnt, macht sich ihre Enkelin auf, Licht ins Dunkel der Familiengeheimnisse zu bringen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1097

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Charlotte Lyne

Die Mondrose

Historischer Roman

Für Corinnazur Erinnerung an Portsmouth,Präraffaeliten und Pimm’s

»Doch uns ist gegeben,Auf keiner Stätte zu ruhn,Es schwinden, es fallenDie leidenden MenschenBlindlings von einerStunde zur andern,Wie Wasser von KlippeZu Klippe geworfen,Jahrlang ins Ungewisse hinab.«Friedrich Hölderlin,Hyperions Schicksalslied

Teil I

Daphne»Lavender’s blue, dilly dillyLavender’s green.When I am king, dilly dilly,You shall be queen.«

Kapitel 1

London, Petticoat Lane,Oktober 1860

Es war die Musik, die Mildred die Zeit vergessen ließ.

Das Klavier. Sie hatten es über die Rampe auf das von Menschen umringte Podium geschoben, und wenn Mildred sich reckte, bekam sie den vornehm gekleideten Pianisten zu sehen. Die Menge gab keine Ruhe. Das tat sie nie, hier auf dem Kleidermarkt in der Petticoat Lane, keiner sprach, alles brüllte, keiner roch, alles stank. Das Klavierspiel hörte Mildred trotzdem, als hätten ihre Ohren einen Filter, wie ihn die reichen Leute für ihr Wasser benutzten, und aller Dreck bliebe darin hängen, bis die Töne klar wie Wassertropfen perlten.

Nach dem anderen Leben klang es, nach dem, das Mildred sich ausmalte, wenn sie trotz aller Erschöpfung keinen Schlaf fand. Nach Schönheit, Würde und im Sonnenlicht leuchtenden Kleidern, und es war wahrhaftig ein Klavier, keine plärrende Drehorgel oder jüdische Harfe, deren Gejammer man an allen Ecken des Bezirks über sich ergehen lassen musste. Es hätte im Salon ihrer Eltern stehen können, wäre sie anderswo geboren worden. Anderswo, nicht in Londons Osten, in einem Höllenloch, das sich Whitechapel nannte. Mildreds Eltern hatten keinen Salon, von einem Klavier darin ganz zu schweigen.

Mit den Ellbogen hackte sie eine Schneise in die Menschenmasse, die sich quetschte wie neuerdings Sardinen in der Dose und auch ähnlich roch. Mildred hielt sich die Nase zu und lauschte. Bei solcher Musik vergaß sie, dass sie auf einem dreckigen Marktplatz stand und wertlose Altkleider verkaufte. Im Bann der Melodie erträumte sie sich, dass ihr ein Schicksal wie Oliver Twist beschieden war. Der war ebenfalls in bitterer Armut aufgewachsen, bis eines Tages ein Graf auftauchte und in ihm seinen Enkel erkannte. Mildred ballte die Hände zu Fäusten. Die Geschichte des beneidenswerten Oliver hatte ihre Schwester Daphne ihr vorgelesen, die Bücher verschlang wie eine höhere Tochter.

Neben das Klavier trat eine füllige Dame mit Pleureuse am Hütchen und sang in schrillem Sopran, sie heiße Ellie und sei die Schönheit der Allee. Mildred hätte aufbrechen müssen. Ihre Schwester erwartete sie bei den Läden in der Goulston Street, wo sie das Nötigste einkaufen wollten, und nichts fürchtete Daphne mehr, als in der finsteren Gasse allein zu sein. Dennoch vermochte Mildred sich nicht loszureißen. Gefesselt stand sie und hörte der wohlgenährten Ellie zu, die sang, dass ihr Liebster kommen und sie abholen werde, geradewegs in ihrer beider Paradies.

Ins Paradies hätte er gern auch Mildred und Daphne holen dürfen. Nur schien Ellie sich ein windschiefes Kämmerlein unter einem regendurchlässigen Dach von Whitechapel darunter vorzustellen, während für Mildred das Paradies keine Kämmerlein kannte und schon gar keinen Regen. Mildreds Paradies trug einen Namen, der nach endloser Weite klang, nach weißen Häusern mit Säulen und gleißender Sonne. Seit man keine Verbrecher mehr dorthin verschiffte, war es der Name des Garten Edens – Australien.

Eine Bewegung riss Mildred aus den Träumen. An ihrer Hüfte spürte sie ein Reiben, erst wie versehentlich, dann bestimmter und schließlich unverschämt. Irgendein Dreckskerl, der das Gedränge und die beginnende Dämmerung ausnutzte, statt vier Pennys für eine Hure springen zu lassen. Als Mildred ihre Nase freigab, verriet der Duft, wer er war – ein altes Knochengestell, das die gesamte Marktstraße Kartoffel-Paul nannte, weil es im fahrbaren Ofen Kartoffeln ausbuk und für einen Penny das Stück verhökerte. Speichel füllte ihr den Mund. In der Wohnung ihrer Eltern fehlte es seit Wochen an Koks, um warmes Essen zu bereiten.

»Heißes Kartöffelchen gefällig, die Dame?« So rasch sie zur Seite trat, so rasch rückte der Alte nach, spießte einen der kross gerösteten Erdäpfel auf und hielt ihr die Stelle, an der die Schale geplatzt war, vor die Nase. Der Duft umnebelte ihr den Verstand, und genau das hatte der Lump beabsichtigt. Allen Teufeln der Hölle hätte sie Widerstand geleistet, aber keiner gebackenen Kartoffel. »Köstlich, köstlich«, wisperte er ihr ins Ohr, tauchte einen Löffel ins Butterfass und strich auf die Schale einen goldgelben Batzen, der in sämige Bäche zerlief. »Nur einen Penny, und für ein hübsches Schätzchen gibt’s noch ein Löffelchen Butter obendrauf.«

Abrupt brach das Lied der dicken Ellie ab. Die Geräusche des Marktes quollen an die Oberfläche, das Johlen, Scharren und Rascheln, die knirschenden Räder, das Geschrei der Händler.

»Lumpen, Altkleider, Eisen! Beste Ware, billig wie geschenkt!«

»Aale, kauft Aale, piekfein eingelegt und so frisch, dass sie im Mündchen zappeln.«

»Hühneraugen, Warzen, Liebesschmerzen – Lindales Fliedersirup hilft jedem Übel ab …«

Den Augenblick, in dem alles durcheinanderströmte, machte Mildred sich zunutze. Blindlings streckte sie die Hand aus, langte dem Alten in die Manteltasche und umschloss in der Faust, was sie fand. Gleichzeitig tat sie einen mannhaften Biss in die Kartoffel. Ehe der Empörte aufschreien konnte, riss sie ihren Karren herum und stürmte durch die Menge davon.

Zunge und Rachen brannten, während sie den Bissen hinunterwürgte. Am Ende der Straße steckte der Lampenanzünder die neu errichtete Gaslaterne an. Um ein Haar hätten die Räder von Mildreds Karren ihm die Leiter umgeworfen. Im letzten Moment riss sie ihr Wägelchen zur Seite, fing es, ehe es aufs Pflaster krachte, und entfloh in eine Seitengasse. Hierher drang kaum ein Abglanz des Lampenscheins, und das letzte Tageslicht verblich im Nu. Mildred hastete weiter. Stehen blieb sie erst in einem Hinterhof, als sie hinter sich keine Füße mehr trappeln und kein Rad mehr rollen hörte.

Schwer atmend lehnte sie sich an die Mauer des Hauses und öffnete die verkrampfte Faust. Es war so dunkel, dass es ihr schwerfiel, die Münzen in ihrer Handfläche zu zählen. Die Läden würden schließen, und die arme Daphne, die sich vor jedem Schatten fürchtete, würde vor Angst mit einer Ohnmacht kämpfen. Zudem durfte Daphne nie erfahren, dass ihre Schwester einem armen Schlucker die Kröten aus der Tasche stahl. Ich tu’s doch für sie, begehrte etwas in Mildred auf. Von dem Hungerlohn, den Daphne als Büglerin in Stenton’s Kleiderfabrikation verdiente, ließ sich nichts sparen, und die Einnahmen aus dem Altkleiderhandel reichten im besten Fall für Miete, Brot und Gin, in dem ihr Vater sein elendes Dasein ertränkte. Wenn sie nach Australien wollten, ehe sie zu vertrocknet waren, um einem Hund einen Knochen zu entlocken, mussten aus anderen Quellen Mittel fließen.

Während ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnten, starrte Mildred auf das Geld in ihrer Hand. Eine Halbkrone, vier Pennys und zwei Farthings, die sie in ihrem Versteck in den Beutel stopfen würde. Eines Tages würde der Beutel so prall sein, dass er wie eine Backkartoffel platzte, und dann brauchten sie und Daphne keinen Grafen mehr, sondern fänden selbst den Weg ins Paradies. Sich das Wort Australien vorzusprechen half immer, gegen Erschöpfung und Hunger wie gegen Zweifel und Gewissensnot.

Hier im Hof war die beginnende Nacht erstaunlich still. Aber sie würde es nicht lange bleiben. Huren nutzten Durchgänge wie diesen, um Freier zu bedienen, Hehler wickelten Geschäfte ab, und Seeleute, die aus den Kaschemmen der Docks torkelten, leerten in Hauseingängen letzte Flaschen. Mildred schüttelte sich, ehe sie die Holme des Karrens aufhob und ihres Weges stapfte. Einmal würde sie ein Leben führen, in dem sie von alldem nichts mehr wusste. Keine Nation der Erde war so reich wie Großbritannien, und der größte Reichtum winkte in den Kolonien, wo nie Regen in Rinnsteine voll Abwasser tropfte und keine Kälte in Kleider kroch. Wer in diesem Dreckloch hocken blieb, war ein hoffnungsloser Verlierer, Mildred hingegen war entschlossen, ein Sieger zu sein.

Auch in der krummen Gasse, in der kaum drei Menschen miteinander Platz gefunden hätten, gab es keine Laterne. Hinter blinden Scheiben hauste Volk, das sich Kerzen nicht leisten konnte, und von den Polizisten, die neuerdings jeder Bezirk bereitstellen musste, ließ sich keiner blicken. Erleichtert erkannte Mildred das Tor der Zufahrt, die auf die Goulston Street führte. Dort würde die Schwester warten, zwar verängstigt und verfroren, aber selig, sie zu sehen. Vielleicht würde Mildred zwei der kostbaren Pennys opfern und sich mit ihr im Horn of Plenty eine Lammpastete teilen.

In der Zufahrt war es noch schwärzer als zuvor auf der Gasse. Mildreds Schritte hallten. Ins Tock, Tock der Absätze und ins schleifende Geräusch der Räder mischte sich ein Keuchen, gehetzter Atem, dann ein dunkles Lachen. Mildred ging schneller. Sie, die selbst im dunkelsten Winkel keine Angst kannte, vernahm in den Ohren das Rauschen ihres Blutes, ließ den Karren fallen und begann zu rennen. Um ihr Leben zu fürchten hatte sie sich abgewöhnt, doch die Furcht um Daphne ließ ihr Herz hämmern. Sie war allgegenwärtig. Ein Teil von Mildred war sie.

Sie sah es, sobald sie um die Ecke jagte, sie brauchte kein Licht dazu. In der Tat waren die Läden geschlossen, die Einkäufer heimgekehrt, die Gasse menschenleer, bis auf die Gestalten, die sich in den Schutz eines Hoftors drückten. Drei Kerle, deren weiße Filzkappen in der Dunkelheit leuchteten. Navvies, Wanderarbeiter, die zu Hunderten in die Stadt gekarrt wurden, um Abwasserkanäle und Gräben für Schienen auszuheben. Sie hausten in Baracken, lebten von Bier und Fleischabfällen und unterschieden sich von wilden Tieren höchstens dadurch, dass niemand sie abknallen durfte. Die drei waren ohne Frage sturzbesoffen und so hemmungslos wie alles Pack, das nichts zu verlieren hatte.

Der größte von ihnen lachte noch einmal. An den Schultern hielt er Mildreds Schwester, die in seinem Griff verschwindend klein wirkte und kaum hörbar wimmerte. Mit einem Schnalzlaut stieß er sie von sich. Sie schrie auf und stürzte zu Boden, rappelte sich auf die Knie und versuchte aufzustehen. Da trat ihr ein zweiter in den Leib, dass sie wie ein Käfer auf die Seite sackte. Röhrend und grölend warf der dritte sich über sie.

Mildreds Zorn war maßlos. Mit Zähnen und Fäusten hätte sie auf die Kerle losgehen und sie nach Strich und Faden verdreschen mögen. Aber Mildred war ein Kind aus Londons Osten, mit jedem dreckigen Wasser gewaschen und noch im Zorn gewieft, als wäre sie ein Jahrhundert alt. So wehrhaft sie war, drei muskelbepackten Wanderarbeitern war sie nicht gewachsen, und ein unbedachter Angriff konnte für Daphne das Schlimmste bedeuten. Sie zwang sich zur Ruhe, duckte sich hinter die Mauer und wühlte unter der Schürze nach dem einzigen Gegenstand, der ihnen helfen konnte.

Eine Pfeife. Sie hatte sie im Horn of Plenty einem beschwipsten Polizisten gestohlen, während der Tölpel sie mit liebestollen Blicken traktierte. Schon damals hatte sie geahnt, dass ihr das Ding einmal nützlich sein würde. Sie setzte es an die Lippen und blies aus Leibeskräften hinein. Dann schloss sie einen Herzschlag lang die Augen und sandte ein Stoßgebet in den verhangenen Himmel.

»Der Bulle«, brüllte einer der Kerle, »los, weg«, und gleich darauf polterten Nagelstiefel über den Stein. Stocksteif verharrte Mildred in ihrem Versteck, bis der Lärm in der Ferne verhallte. Erst als sie nur noch ein vages Echo vernahm, rannte sie los, war im Nu bei Daphne und warf sich auf dem nassen Pflaster auf die Knie.

Im fahlen Mondlicht glänzte der Regen. Daphne lag am Boden, presste das Gesicht auf den Stein und weinte. Behutsam umfasste Mildred ihre Schultern und zog sie in ihren Schoß. Sie hätte dem Himmel danken sollen, dass der Schwester das Unaussprechliche erspart geblieben war, doch stattdessen verfluchte sie sich, weil sie über dem albernen Klavier die Zeit vergessen hatte. Hilflos fuhr ihre Hand über das feuchte, wirre Haar. Während sie im Regen saß und die Weinende hielt, war ihr zumute, als flöge ihr Leben mit Daphne an ihr vorbei.

Nur ein Jahr nach ihr war die Jüngere zur Welt gekommen, aber für Mildred war sie stets die kleine Schwester gewesen. Die Letztgeborene von fünf Geschwistern, von denen drei Brüder nicht mehr lebten. Die Schwächste war sie, litt an Blutarmut und setzte trotz der Leckerbissen, die Mildred für sie stibitzte, kein Fleisch an, hustete alle Winter über und lag mehr als einmal auf den Tod. Stets berappelte sie sich aber wieder und blieb am Leben, wie um Mildreds Flehen zu erhören: Gott im Himmel, wenn Du Dich nur für einen Penny um Mildred aus Whitechapel scherst, dann nimm mir nicht die Kleine. Ohne sie hab ich doch keinen Menschen mehr.

Dasselbe stumme Gebet sprach sie jetzt, und dabei beschwor sie die Schwester, ihr zu verzeihen. Ich hab versprochen, auf dich achtzugeben. Aber ich hab dich im Stich gelassen. Für dummes Klaviergeklimper, für mein hohles Vergnügen.

Sie hatte die Kleine vor den Prügeln des Vaters beschützt. Sie war auf der Straße neben ihr gegangen, um Pack zu verscheuchen und Dreck aus dem Weg zu treten. Um zu verhindern, dass die empfindsame Daphne auf der Petticoat Lane mit Lumpen handeln musste, hatte sie ihr die Stellung bei Stenton’s verschafft, wo ihre zarten Hände nur Rüschen und Krägen aufzubügeln hatten. Sie bürstete ihr zur Schlafenszeit das Haar wie einem vornehmen Fräulein. Dieses eine Mal aber, als Daphne sie mehr denn je gebraucht hätte, hatte sie versagt.

Sie strich ihr über den bebenden Rücken. »Ich bring dich hier weg«, murmelte sie, »hörst du, mein Sperling? Ich bring dich aus dieser gottverdammten Gosse weg.« Du bist alles, was ich habe. Du bist alles, was je gut an mir war. Daphne gab keine Antwort, sondern weinte weiter. Mildred schlang die Arme um sie. »Nach Australien«, sprach sie in die Regennacht, und dann noch einmal, ihre Zauberformel gegen Kleinmut und Schwäche: »Nach Australien! Nicht erst in hundert Jahren, sondern jetzt, sobald du wieder bei Kräften bist. Wird das nicht wundervoll, Sperling, wir beide auf einem Schiff übers Meer? Das Geld für die Eisenbahn hab ich zusammen, wir fahren wie zwei Damen von Welt in einer Kutsche ohne Pferd nach Southampton, trinken mit spitzen Lippen unseren Tee, und vor dem Fenster fliegt die Welt vorbei. Und in Southampton gehen wir aufs Schiff. Für die Passage muss man nicht unbedingt bezahlen, es gibt noch andere Wege, das überlass nur mir. Aber aus dem Regen musst du. Komm, gehen wir in die Wirtschaft, ich kauf dir Pastete mit Lamm, die isst du doch gern.«

Die Schwester schluchzte und sprach kein Wort. Hilflos ließ Mildred die Arme sinken und sang wie von selbst vor sich hin:

»Lavendel ist blau, dilly dilly,Lavendel ist grün.Wenn ich erst König bin, dilly dilly,Wirst du meine Königin.«

Das Lied hatte sie Daphne als Kind vorgesungen, wenn sie vor Hunger oder Furcht nicht schlafen konnte, und die Kleine hatte sie gefragt: »Wirst du wirklich König, Milly-Milly? Und ich Königin?«

Nie hatte Mildred ihr begreiflich gemacht, dass sie als Mädchen kein König werden konnte, sondern sie in ihrem kindlichen Glauben belassen. Jetzt wünschte sie sich diese Tage zurück. Glaub doch noch einmal, dass ich alles kann, mein Sperling, dass ich Schlechtes gut mache und herbeizaubere, was du dir wünschst. Sie strich durch Daphnes nasses Haar und sang weiter:

»Wer sagt dir das, dilly dilly,Wer sagt dir so?Mein eigen Herz, dilly dilly,Das sagt mir so.«

Unter Mühen stemmte Daphne eine Hand aufs Pflaster und hob den Kopf. In ihre Mundwinkel grub sich ein Lächeln, das trotz der Strapazen hübsch war. »Gehen wir heim, Milly-Milly? Es ist kalt, und du musst müde sein.«

Kapitel 2

Portsmouth, Southsea,November 1860

Hector Weaver hatte die Vorstadt, in der er geboren worden war, nie so geliebt wie in diesem Herbst. Sie trug den Namen Southsea, lag westlich vor der Garnisonsstadt Portsmouth und war bei seiner Geburt im Jahre 1828 nicht mehr als ein Häuflein verstreuter Häuser gewesen. Heute hingegen, zweiunddreißig Jahre später, glich sie einer gigantischen Baustelle. Nicht allein dass neue Gebäude aus dem Boden schossen, nicht allein dass Holperpflaster nach der Methode des Schotten MacAdam geglättet wurden, indem man nur Steine verwendete, die in den Mund eines Arbeiters passten, nein, noch erregender war, was es hinter dem Gürtel der Gemeindewiesen zu sehen gab – die breite Zunge aus Gestänge, die ins Meer hinauswuchs, und der aus Stahl geschmiedete Pfad. In naher Zukunft würden die Schienen der Eisenbahn geradewegs auf jene Zunge führen.

Der Clarence Pier! Die neue Anlegestelle sollte im nächsten Sommer eröffnet werden und ein Spektakel bieten, wie es Portsmouth nie gekannt hatte. Hotels und Gaststätten waren geplant, ein Vergnügungspark auf den Wiesen um den Pier, wo sich Passagiere, die auf die Fähre zur Isle of Wight warteten, möglichst kostspielig die Zeit vertreiben sollten. Die Luft summte vor Betriebsamkeit. Hier wurde an einer Quelle gezapft, die den Wohlstand der Stadt auf Jahrzehnte nähren würde und die Englands Mittelschicht gerade erst entdeckte – die Lust zu reisen.

Auf einmal fuhr alle Welt in die Sommerfrische, erholte sich an bunten Stränden, stieg in Badekabinen, um im kühlen Nass zu planschen, und verschleuderte auf wimmelnden Promenaden mühevoll erspartes Geld. Hector, der mit seinem Buchhalter am Fuß des Piers stand, um eine Lieferung zu überwachen, rieb sich die Hände. Von diesem Kuchen würde er sich seinen Batzen schneiden und manches Sahnehäubchen obendrein.

Die Weaver’sche Holzhandlung, die Hector allein führte, weil sein Bruder nicht dazu taugte, bescherte ihm noch immer beachtliche Erträge, doch die großen Tage des Holzes waren gezählt. Der Schiffsbau, dem die Weavers ihr Vermögen verdankten, würde zu Eisenverkleidungen übergehen, und die Preise für baltische Eiche begannen schon zu sinken. Hector, der nicht nur Frau und Tochter standesgemäß zu versorgen hatte, sondern stolzer Vater eines Stammhalters war, sann seit Langem auf andere Wege, um seine Schäflein ins Trockene zu bringen.

Zudem bestimmte das Testament seines Vaters, dass er von den Erträgen des Holzhandels die Hälfte seinem Bruder abzutreten hatte, obgleich der das Geld für Hirngespinste verschleuderte und im väterlichen Geschäft keinen Handschlag tat. Zu behaupten, diese Klausel sei Hector ein Dorn im Auge, war auf lachhafte Weise untertrieben. Sie saß ihm als Stachel im Fleisch und würde dort zwicken und bohren, bis er über ein eigenes Imperium verfügte und die Holzhandlung keinen Penny mehr abwarf.

So fern ist der Tag nicht. So fern nicht.

Von Thomas Owen, dem Architekten, der in aller Munde war, hatte er im eleganten Südwesten ein Haus gemietet. Ein Mount Othrys war es zwar nicht – das verfluchte Märchenschloss, das sein Bruder vom Vater geerbt hatte, fand in Portsmouth nicht seinesgleichen – , aber es ließ sich darin immerhin logieren, wie es Hector für seine Familie vorschwebte. Ein zweites, käuflich erworbenes Haus, das im verwahrlosten Viertel Point beim Fischereihafen lag, diente anderen Zwecken.

Gewiss, mit der Reiselust war Geld ohne Ende zu scheffeln, nur musste einer dazu erst einmal Geld investieren. An den Fluten der Auswanderer hingegen ließ sich ohne Risiko verdienen. Während die Leute auf ihre Passagen nach Australien warteten, brauchten sie Quartiere. Die wenigsten konnten sich leisten, wählerisch zu sein, und das eine oder andere Nebengeschäft ergab sich außerdem. Zwar sah Hector in seiner neu eröffneten Mietpension am Milton’s Court nicht mehr als eine erste Sprosse – seine Ambitionen lagen im Bereich der neuen Technik, nicht in der Arbeit mit Menschen, die ihn zumeist eher ekelten. Der Leiter aber, zu der die Sprosse gehörte, würde allein der Himmel eine Grenze setzen.

Er schaute Raymond Nettlewood, dem Buchhalter, der schon für seinen Vater gearbeitet hatte, zu, während er die letzten Posten ins Verzeichnis eintrug, dann zupfte er den Alten am Jackenärmel. »Hier sind wir fertig, was, mein Bester? Gehen wir auf einen Sprung nach drüben, sehen, wie die Navvies im Graben vorankommen?«

Nettlewood, der mit seinen runden Augen und der gewaltigen Nase einem Eulenvogel glich, warf ihm durch Brillengläser einen gequälten Blick zu. Es war später Nachmittag, leichter Regen setzte ein, und ohne Zweifel wäre er liebend gern nach Hause gegangen, um am Ofen seine Knochen zu trocknen. Auch hielt er sich von den Wanderarbeitern, die im Barackendorf hinter der Baustelle hausten, fern. All das Fluchen, Saufen und Zotenreißen war nicht Nettlewoods Welt. Hector hingegen hatte sein Herz an die Eisenbahn verloren. Zuzusehen, wie kräftige Arme den Graben für die Schienen aushoben, erfüllte ihn mit Zuversicht. Als brächte ihn jeder Spatenstich näher an sein Ziel, so wie er Portsmouth näher an London und an den Rest der pulsierenden Welt brachte.

Mit zwei Pfund Rindfleisch und einer Gallone Bier pro Tag wurden die Navvies abgefüttert. Das viele Rindfleisch mache sie blutrünstig, hieß es, und das Bier tat ein Übriges. Zudem erhielten sie einen Tageslohn von zwei Schillingen. Ein Haufen Geld für einen, der daheim am Hunger verreckt wäre – die meisten der Wanderarbeiter stammten aus dem Norden oder aus Irland und kamen her, weil sie in ihrer Heimat nichts zu beißen hatten. Das Geld aber war schwer verdient. Von einem Trupp Navvies wurde erwartet, dass er pro Schicht zwanzig Tonnen Erde aushob, und Lohn erhielten die Leute erst am Ende eines Monats ausgezahlt. Mithin waren Neulinge gezwungen, auf Kredit einzukaufen, und den bekamen sie nur im Laden der Eisenbahngesellschaft, dessen Wucherpreise berüchtigt waren. Zu allem Unglück befand sich der Laden neben dem Pub Dog and Donkey, der gleichfalls der Eisenbahn gehörte und sich den Rest der Lohngelder einverleibte.

Hector hielt Nettlewood, der vor dem Graben zu entwischen hoffte, am Ärmel fest. Bis zur Mitte der Wiesenfläche hatten die Männer der Erde ihre Scharte geschlagen, in der die Schienen verlegt werden würden. Die Strecke sollte auf den neuen Pier führen, sodass die Reisenden aus dem Zug direkt aufs Schiff steigen konnten. Gut dreißig Männer schufteten unter den Augen von drei Aufsehern in der Grube, die sich als Keil in den Boden bohrte. Sie trugen die übliche Kleidung, grobe Hosen aus Baumwolle, Leinenhemden ohne Kragen, bunte Westen und weiße Filzkappen, vor denen jedem Weib im Umkreis graute. Die Heimatlosen galten als verdorben und verroht. Ein Schwein hat mehr Anstand als ein Navvy, behauptete Hectors Gattin Bernice, aber eines musste man den Kerlen lassen, sie besaßen die Kraft von Bullen, und das, was sie schufen, veränderte das Gesicht der Nation.

Ihre Arbeit vermochte kein anderer zu tun. Dabei war das Aufhacken der Erde mit dem Pickel nicht einmal das Schlimmste, schon gar nicht an regnerischen Tagen wie heute, an denen der Graben einem Schlammloch glich. Die gelockerte Erde wurde in Schubkarren geschaufelt, von denen jede gut zweihundert Pfund fasste. Aber auch die Schufterei mit den Schaufeln war nicht das Schlimmste. Es war der Abtransport der Erde, der alles übertraf.

Gab es in einer Epoche des Fortschritts, in der man Nachrichten um die Welt jagen und mit dem Segen von Stadtgas seinen Sonntagsbraten rösten konnte, für solche Verrichtungen keine Maschine? Die Anlage wirkte geradezu vorsintflutlich. Ein schmaler Balken führte in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus der Grube. Oben wartete ein Mann mit einem Zugpferd, an dessen Geschirr zwei Seile befestigt und einem Arbeiter zugeworfen wurden. Der Mann schlang eins der Enden um die bis zum Rand beladene Schubkarre und das zweite um die Leibesmitte. Hector sah dem Treiben häufig zu, hielt aber jedes Mal von Neuem wie ein Kind den Atem an.

»Darf ich mich erkundigen, was wir hier eigentlich tun?«, fragte Nettlewood, der mit den Zähnen klapperte.

»Warten Sie’s ab, Sie Frostbeule.« In Hectors Stimme zitterte Vorfreude. »Ich versichere Ihnen, wir bekommen gleich etwas geboten, das habe ich im Gespür.«

Das war das Talent, das Hector, nicht etwa sein Bruder, vom Vater geerbt hatte – er erkannte eine Gelegenheit, noch ehe ihm bewusst war, worin sie bestand. Jeder der muskulösen, mit Fleisch und Bier gepäppelten Navvies war einen Blick wert, wenn er die mächtige Schubkarre anhob, aber der, der jetzt die Knoten sicherte und nach den Holmen griff, stellte alle in den Schatten. Ein großer Kerl mit braunem Haar, breit wie ein Ringer und derber gebaut als die Kumpane. Dabei haftete aber seinem Gesicht etwas Hungriges an, und sein Blick war unstet. Der ist nicht geeignet, durchfuhr es Hector. Beim Steuern des Karrens kam es nicht auf Kraft an, da ja das Pferd die Zugarbeit leistete, sondern auf Geschick. Wenn es dem Mann nicht gelang, das Gefährt auf dem Balken zu halten, stürzte es zur Seite, riss ihn mit und begrub ihn unter sich. Im Sommer hatte sich ein Kerl beide Beine zerquetscht, und in Southampton hatte man einen tot aus dem Graben gefischt.

»Zieh an!«, brüllte der Braunhaarige dem Pferdeführer zu. Der packte den Gaul am Zaum und zerrte ihn voran. Der Mann an der Karre musste sich mit ganzem Gewicht in den Rücken legen, dabei das Gefährt von sich wegstemmen und es an den Holmen steuern. Hector sah, wie Muskeln und Sehnen an den Unterarmen schwollen, wie das Gesicht sich vor Anspannung rötete. Während sein Buchhalter neben ihm schlotterte, genoss er den Anblick in vollen Zügen. Und erst die Geräusche. Das gemächliche Schnaufen des Pferdes, das Keuchen, mit dem der Brustkorb des Mannes sich füllte, das Schaben des Rades, das leise Pochen des Regens. Obendrein war das Holz feucht und rutschig, die Aufgabe doppelt gefährlich und die Spannung umso köstlicher.

Der Herkules machte seine Sache nicht übel. Man sah ihm an, dass er nicht zu den erfahrenen Männern der Gruppe gehörte, aber er steuerte mit Bedacht und setzte keinen übereilten Schritt. Auch schien er nüchtern zu sein, was bei Navvies nicht allzu oft vorkam und nicht für den Pferdeführer galt. Der schwankte bedenklich, trat in eine Furche und strauchelte, wobei er den Gaul im Maul riss, dass dieser erschrocken den Kopf aufwarf. Die Last sackte tiefer und warf ihren Steuermann um ein Haar hintenüber. Im letzten Augenblick fing er sich und bekam die Karre wieder ausbalanciert. »Pass doch auf, du Idiot!«, brüllte er. Seine Betonung war seltsam, jedes Wort wie zerhackt. Schweiß rann ihm aus dichten Brauen in die Augen. Er hatte keine Hand frei, um ihn fortzuwischen.

Der Pferdeführer war einer der Aufseher, die die Eisenbahngesellschaft im Ort rekrutierte. Jene Kerle soffen nicht weniger als die, deren Moral sie überwachen sollten, und waren zumeist verkrachte Existenzen, die es weidlich auskosteten, für dieses eine Mal die Oberhand zu haben. »Pass du besser auf«, brüllte der betrunkene Bursche zurück, »und zwar auf das, was du sagst, Teutone. Wenn meine Arbeit dir nicht schmeckt, mach den Kram allein.« Damit ließ er dem Gaul die Zügel schießen, trat einen Schritt beiseite und widmete sich seiner Feldflasche.

Hector warf einen Blick nach seinem Buchhalter. Wie erwartet verkrampften sich die Züge des Eulengesichts, und die Brille rutschte vom Nasensattel. »Was denken Sie, Nettlewood«, fragte er launig, »ist der Kampfstier da unten wirklich ein Teutone?«

»Wie bitte?« Gereizt schob Nettlewood die Brille zurück.

»Ob der Deutscher ist, meine ich. Wenn man sich das Kreuz betrachtet, nicht ganz von der Hand zu weisen, was?«

Der Buchhalter gab keine Antwort, und Hector wandte sich wieder dem Geschehen zu. Drei Schritte ging das Pferd von allein, sodass der Mann auf dem Balken sein Gleichgewicht fand und sich ein Stück weit nach oben rackern konnte. Dann aber tappte der Gaul wie zuvor sein Führer in ein Schlammloch. Aufwiehernd scheute er zurück und vollführte linker Hand einen Ausfallsprung.

Hector seufzte fasziniert. Die Seile wurden seitwärts gerissen, der Karren geriet ins Schlingern und neigte sich bedrohlich nach links. Noch hätte der Unglücksrabe loslassen und dem Karren ausweichen können, doch er blieb mannhaft stehen und kämpfte mit geballten Schenkelmuskeln und klammernden Händen darum, das Gefährt in den Griff zu bekommen. Von Neuem seufzte Hector. Das Wissen, dass alle Mühe sinnlos war, steigerte die Lust, derweil der arme Kerl ächzte und schwitzte.

Letzten Endes musste er aufgeben, dulden, dass die Karre ihn niederriss. Zur Kugel gerollt, blieb er liegen, bis ein Rad ihn im Gesicht traf und er den Hang hinunterstürzte. Erdklumpen und Steine ergossen sich über ihn, und die Karre fiel in Hüpfern hinterdrein und traf ihn am Leib. Trotz des Lärms drehten die meisten Arbeiter nicht einmal die Köpfe. Nur einer der Aufseher, ein drahtiger Mann mit einem Gehstock, eilte zu der Stelle, an der der Verunglückte aufgeprallt war. Vielleicht hat er sich das Genick gebrochen, durchfuhr es Hector. Noch immer hielt der Mann die Beine umschlungen und das Gesicht an die Knie gepresst. Sein brauner Schopf sah hübsch aus zum Burgunderrot der Weste.

Der Aufseher blieb vor ihm stehen und rief ein paar Worte, die ihn dazu bewegen sollten, sich zu rühren. Als der Gestürzte keine Anstalten machte, wurde der Aufseher lauter, und als auch das nichts half, schwang er den Stock und schlug ihn auf den Rücken.

Hector war sicher, dass er ihn nicht prügeln wollte, sondern lediglich hoffte, ihn mit dem Hieb ins Leben zurückzutreiben. Letztendlich tat er das auch. Kaum getroffen, schnellte der Verletzte auseinander und sprang auf. Er war wahrhaftig ein Prachtkerl, überragte den Aufseher um gut einen Kopf und wirkte doppelt so breit. Seine Kleider waren schlammbedeckt und zerrissen, an Arm und Stirn blutete er. Er packte den Aufseher bei den Schultern und schüttelte ihm die Seele aus dem Leib. Der arme Teufel quiekte wie ein Schwein, ehe ein Steinschlag von Worten auf ihn niederprasselte, in einer Sprache, die Hector frösteln ließ.

Die Erregung, die ihn packte, war ihm bekannt, allerdings nicht aus Nächten, in denen er über Bernice im Rüschenhäubchen seiner ehelichen Pflicht genügte. Der Kerl in der Grube war stark. Er mochte ein grobes Tier sein, aber er besaß die Kraft längst versunkener Götter, die gesoffen, geliebt und getötet hatten wie Naturgewalten. Würde er den Aufseher, auf den er einschrie, umbringen?

Zu seinem Bedauern würde Hector nie erfahren, ob er es getan hätte, denn endlich schreckten die übrigen Wächter aus der Starre und eilten dem Gefährten zu Hilfe. Als ihr Zupfen ohne Wirkung blieb, befahlen sie Navvies hinzu, die das schöne Tier von seinem Opfer pflückten. Sie warfen ihn nieder, und jetzt bezog er von allen Seiten Prügel. Dass er einer der ihren war, kümmerte die Navvies wenig, wenn sie nur zuschlagen durften. Ein wenig dauerte es Hector, dass ein solch wohlgestaltetes Geschöpf derart gnadenlos verdroschen wurde, doch seinem Genuss tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil. So furchterregend der Mann gebrüllt hatte, so still hielt er unter den Schlägen. Fein, mein Hübscher. Dich kriegen die so leicht nicht klein.

»Er ist einer«, vernahm er Nettlewoods Stimme neben sich.

»Wie bitte?«

»Ein Teutone. Deutscher. Das wollten Sie doch wissen.«

»Und woher wissen Sie’s?«, entfuhr es dem verblüfften Hector.

»Ich habe Ohren«, erwiderte Nettlewood und kratzte sich an einem. »Er sprach Deutsch, als er auf den Vorarbeiter losging.«

Hector vergaß es immer wieder – die Eule von Buchhalter war der reinste Polyglott. »Jetzt erzählen Sie mir bloß noch, Sie haben verstanden, was der Anfall von Tobsucht zum Inhalt hatte?«

»Sie meinen, ich soll Ihnen darlegen, was der Mann gesagt hat?«

»In der Tat, Nettlewood.« Unten befahl ein Aufseher Einhalt und ließ den Mann, der böse zugerichtet war, auf die Füße zerren.

»Er hat gesagt: Du schlägst mich nicht, du Drecksmann. Mich schlägt auf der Welt kein Mensch mehr, oder ich mach euch tot.«

Ich hab’s dir angesehen, Bürschlein. Die Mordswut, die in dir brodelt, und du ahnst nicht, wie gern ich wüsste, woher du die hast. Von dem Aufruhr, mit dem deutsche Arbeiter ihre Obrigkeit das Fürchten lehrten, war allerorts die Rede, aber mit eigenen Augen sah er einen solchen Mann zum ersten Mal. Der gebeutelte Aufseher wimmerte noch immer vor sich hin. Sein Kollege versetzte dem Deutschen eine Ohrfeige. Der tat zu Hectors Vergnügen just, was er erwartet hatte, schnappte nach der schlagenden Hand und erwischte die Fingerspitzen mit den Zähnen.

Der Aufseher schrie vor Schmerz. »Jetzt reicht’s!«, brüllte er. »Bringt den Satan auf die Wache, der ist ja gemeingefährlich.«

Die beiden Navvies rissen ihn in Richtung Hang, aber der Deutsche rührte sich nicht. Die Aufseher winkten weitere herbei, von denen einer den Einfall hatte, die Brust des Mannes wie bei einem Schlachttier zu umwickeln und vereint an den Seilenden zu zerren. Der Deutsche sträubte sich, doch es half nichts. Er musste klein beigeben und hinter ihnen hertrotten, wenn er nicht geschleift werden wollte.

Sie würden ihn ins Gefängnis von Marshalsea werfen, wo ihm noch mehr Prügel und eine völlig überhöhte Haftstrafe blühten. Er würde abmagern, diese freche, rohe Schönheit verlieren, und wenn er irgendwann auf freien Fuß kam, gab es nur noch das Arbeitshaus für ihn. Ein Jammer, dachte Hector. Ehe er sich besann, hob er die Hand und rief: »Halt!«

Sämtliche Aufseher sowie mehrere Navvies wandten die Köpfe. »Guter Mann, was halsen Sie sich den Ärger auf?«, wandte Hector sich an den vorderen. »Überlassen Sie den Burschen mir, es soll Ihr Schaden nicht sein.«

Er zog seinen Hut und deutete eine Verbeugung an. »Gestatten, Hector Weaver.«

Das wäre nicht nötig gewesen. Die Weaver’sche Holzhandlung kannte in Southsea jedes Kind. Der Aufseher grunzte. »Was wollen Sie mit dem Galgenstrick? Darauf, dass der da, wo er herkommt, Ärger gemacht hat, wette ich meinen Hintern.«

Hector schenkte ihm ein Schmunzeln. »Behalten Sie das gute Stück. Und Ihren Galgenstrick lassen Sie meine Sorge sein, ich finde schon Verwendung für ihn.« Während er Kleingeld aus der Innentasche seiner Weste fischte, befahl der Aufseher den Navvies, den Deutschen zu ihm hochzuhieven. Was für ein Coup! Zwar war Sklaverei in Britannien inzwischen verboten, aber ein Mann kaufte sich noch immer leichter als ein Paar Mastgänse.

Selig sah er den Hünen durch den Schlamm stapfen. Aus der Nähe kamen die Muskeln von Schenkeln und Schultern zur Geltung und spannten den feuchten Kleiderstoff. Der Bursche war blutjung. Trotz der Narben, trotz der verbissenen Lippen haftete ihm etwas Unversehrtes an, das Hector seltsam berührte. Ein Rippenstoß schreckte ihn auf. Über den Rand der Brillengläser stierten Nettlewoods Eulenaugen ihn an. »Und was, wenn die Frage gestattet ist, fangen wir mit dem Menschenkind nun an?«

Hector lächelte. »Vorerst kommt er mir als Eintreiber für meine Mietpension gelegen.«

Bevor der Buchhalter etwas erwidern konnte, blieb der Zug vor ihnen stehen. So dicht, dass Hector den Deutschen atmen hörte. Tapfer hielt der Mann seinem Blick stand, die Augen wie helles Bier und voller Funken. »Fein«, sagte er und klopfte dem Gefesselten auf die Schulter. »Sprechen Sie unsere Sprache, junger Mann?«

Die hellen Augen blitzten, ehe er mit Überwindung nickte.

»Fein«, wiederholte Hector. »Los, nehmt ihm den Strick ab, wir sind ja nicht auf dem Schweinemarkt. Und was uns betrifft, mein Freund – haben wir wohl einen Namen, und darf ich den erfahren?«

»Ob Sie einen haben, weiß ich nicht«, gab der Deutsche in hartem, aber fehlerfreiem Englisch zurück. »Ich heiße Victor März.«

Victor, der Sieger. Hector und Victor. Der regnerische Tag schien zu leuchten. Noch einmal klopfte Hector dem Deutschen auf die Schulter, warf die Beherrschung in den Wind und lachte.

Kapitel 3

Unterwegs,November 1860

So schnell, so schnell, so schnell.

Mehr als diese zwei Worte vermochte Daphne nicht zu denken. Sie reihte sie endlos aneinander. Nicht erst seit dem Morgen, sondern seit Tagen oder, um genau zu sein, seit jener Nacht, in der Mildred den Beschluss gefasst hatte: Wir gehen weg von hier. Unser Leben in Whitechapel ist zu Ende, und ein anderes fängt an.

So schnell war alles gegangen, so schnell, so schnell. Immer fasste Mildred, ihre Milly-Milly, Beschlüsse für sie beide, und Daphne, der täppische Sperling, hüpfte hinterdrein. »Frag nicht«, hatte Mildred gesagt, als Daphne wissen wollte, woher das Geld kam. Geld für die Fahrt mit der Eisenbahn, Geld für neue Strümpfe und Umschlagtücher, denn, so erklärte Mildred, wer nicht genug Strümpfe bei sich hatte und keine warme Oberbekleidung, durfte nicht nach Australien reisen.

Zehn Wochen, auch das hatte die Schwester in Erfahrung gebracht, sollte die Überfahrt auf dem Segler dauern. »Kannst du das glauben, Sperling, wir beide zehn Wochen lang auf hohen Wellen und dann zehn Wochen weit weg von Whitechapel?«

Daphne wollte gern alles glauben, was Mildred erzählte, aber dass dieses Zauberland, wo statt Regen Gold vom Himmel tropfte, erreichbar war, blieb unglaublich. Australien nahm in ihrem Kopf kein Bild an. Es wäre mir leichter gefallen, zu bleiben, durchfuhr es Daphne, so hart es hier ist, es ist nicht fremd. Gleich darauf schalt sie sich undankbar. Tat Mildred nicht alles, um ihr ein besseres Leben zu schenken? Und wenn Mildred sagte, dass in diesem Australien das bessere Leben auf sie wartete, hatte sie einen Grund, daran zu zweifeln?

Es wird schon recht sein, Milly-Milly. Solange du und ich zusammenbleiben, wird es zu ertragen sein.

Drei Tage nach dem Missgeschick mit den Navvies, das Mildred so schwergenommen hatte, war sie mit dem Fahrplan gekommen, dann mit Kleidern und einem Korb für Proviant. »Wir fahren am Montag in der Frühe. Den Eltern sagen wir nichts.«

Nur flüchtig hatte Daphne widersprechen wollen, beteuern, dass das alles doch so arg nicht war, dass sie eben schnell zu Tränen neigte, aber die Navvies sich letztlich nicht mehr als einen Spaß gemacht hatten. Ihretwegen brauchte Mildred nicht ihr schwer verdientes Geld auszugeben, ihretwegen brauchten sie nicht von zu Hause fort. Mildred aber hatte davon geredet, fortzugehen, solange Daphne denken konnte, und sie hatte nie widersprochen, also tat sie es auch jetzt nicht.

Vielleicht glaubte sie ja noch immer, es könne nicht Wirklichkeit werden, ein verträumtes Ding aus einem Londoner Hinterhaus könne nicht einfach ein Bündel schnüren, Brot und Käse in einen Korb stopfen und sich auf den Weg machen. Als sie auf dem Bahnhof Paddington ankamen, unter der gewaltigen Glaskuppel standen und auf das fauchende, in Dampf gehüllte Ungetüm starrten, war Daphne stehen geblieben, weil sie es nicht zu fassen vermochte. Mildred, die mit dem Gepäck voranstiefelte, hatte in ihrer Erregung nicht bemerkt, dass die Hand der Schwester ihr entglitten war, aber die Flut der Passagiere hatte Daphne mitgerissen. Hinter Mildred wurde sie in den schwarzen Kasten geschoben, bei dem es sich, wie ein Herr mit zwei Koffern ihr versicherte, um den Reisewagen der dritten Klasse handelte.

So schnell, so schnell, so schnell.

Es war, wie Mildred versprochen hatte. Sie saßen in einer Kutsche ohne Pferd, und draußen flog die Welt vorbei. Nur das Fenster fehlte, die spitzen Lippen und der Tee. Auch fuhren sie nicht nach Southampton. Bahnreisen dritter Klasse kosteten einen Penny pro Meile, und der Uniformierte, dem die Leute ihr Geld aushändigten und der dafür mit einer Zange Pappkärtchen von einer Rolle knipste, rechnete aus, dass Mildreds Münzen nur für zwei Billetts nach Portsmouth reichten. »Das ist uns Jacke wie Hose«, hatte Mildred verkündet. »Alfred, der Aalhändler, sagt, Segler nach Australien gibt’s von Portsmouth genau wie von Southampton.«

Also saßen sie zwischen Koffern, Kisten und Körben auf dem Boden des Waggons und spürten die Welt, über die die Räder hinwegratterten, als kleine Stöße im Hinterteil. Trotz all der Menschenleiber war es kalt, und trotz der vielen Stimmen fühlte Daphne sich allein. Sie betrachtete ihre Finger. Am Zeigefinger war eine Brandblase, die sie sich an Stenton’s Bügeleisen zugezogen hatte, weil der Keller, in dem sie arbeitete, so schlecht beleuchtet war. Wenn die Blase verheilt war – wo würde sie sein? Würde sie in der neuen Heimat auch Rüschen an Blusenärmeln glatt bügeln? Wovon lebte ein Mädchen in Australien, wenn es nicht recht geschickt war, wenig Kraft besaß und nichts gelernt hatte?

Als sie aufblickte, sah sie Mildred, die ihr gegenübersaß und ihre Habe umklammert hielt. »Freust du dich?« Wie hätte Daphne sich nicht freuen sollen, wo doch Mildred sich solche Mühe gab? Wünschten sich nicht Hunderte von Mädchen zu tun, was ihre Schwester ihr ermöglichte, der Not zu entfliehen und anderswo ihr Glück zu machen? Glück machen, wie seltsam das klang, als wäre Glück etwas zum Einkochen, für das man nur Zutaten auftreiben musste. Aber sie schweifte schon wieder ab, immer hing sie mit dem Kopf in den Wolken. Hastig riss sie sich zusammen.

»Ja, ich freu mich, Milly-Milly. Natürlich freu ich mich. Dank dir, du Liebe.«

Mildreds Lächeln wurde breiter. Sie war sehr hübsch, wenn sie so lächelte, fand Daphne. »Du musst mir nicht danken, Sperling. Wenn du dich freust, freu ich mich auch.«

»Ich freu mich wirklich.« Ich freu mich, ich freu mich, ich freu mich. Als würden die Räder ein unentwegtes Echo dazu rattern.

»Die Damen fahren nach Portsmouth? Da haben Sie allen Grund, sich zu freuen.«

Daphne schreckte zur Seite. Neben ihr saß der Mann mit den zwei Koffern, der ihr in den Zug geholfen hatte. Er mochte mittleren Alters sein und hüllte sich in einen Kutschermantel, der abgetragen, aber warm wirkte. »Kaum zu glauben, wie die Stadt sich in den paar Jahren seit Ende des Kriegs entwickelt hat«, fuhr er fort.

»Welcher Krieg?«, war es Daphne entschlüpft, ehe sie bemerkte, wie dümmlich sie klang.

»Welcher Krieg?« Der Mann hob die Brauen bis in den Schatten der Hutkrempe. »Selbstredend der Krieg auf der Krim, mein Fräulein. Es mag ja wünschenswert sein, dass unsere Damen von Gräueln unbehelligt bleiben, aber dennoch komme ich nicht umhin, mich zu fragen, wo Sie leben, dass Sie nicht wissen, von welchem Krieg die Rede ist.«

»Da, wo wir gelebt haben, ist immer Krieg«, herrschte Mildred den Mann an. »Einer mehr oder weniger, weshalb soll uns das kratzen, bei uns verreckt man auch ohne Kanonen.«

Daphne fuhr zusammen. Daran, dass die Schwester, die zu ihr immer nur liebevoll sprach, aus heiterem Himmel in solche Wut geraten konnte, würde sie sich nie gewöhnen. Denselben Jähzorn kannte sie von ihrem Vater und hatte ihn von klein auf fürchten gelernt. Sie tut es, um mich zu verteidigen, stellte sie nicht zum ersten Mal fest, wobei sie sich alles andere als behaglich fühlte.

Auch der Mann, den Mildreds Zorn getroffen hatte, schien erschrocken. Er nahm seine Brille ab und tat, als müsste er sie putzen, rieb mit dem Zipfel seines Schals heftig über das Glas. Er tat ihr leid. »Ist es in Portsmouth schön?«, bemühte sie sich um einen unverfänglichen Gesprächsgegenstand.

»Aber ja.« Dankbar blickte er auf. »Sehr schön, und wenn’s nicht am Geld fehlt, kann man eine Fahrt zur Isle of Wight unternehmen, wo die Königin ihre Sommerfrische hält. Nur hätten Sie zu einer anderen Jahreszeit reisen sollen, denn jetzt können Sie doch die nette Promenade nicht genießen. Der neue Pier eröffnet erst zur Saison, und an Hotels fehlt es ohnehin. Portsmouth ist nicht Blackpool. Bisher waren wir vor allem Garnisonsstadt, als Badeort müssen wir uns erst mausern. Ich hoffe, Sie haben reserviert? Dass Sie andernfalls ein erquickliches Quartier finden, bezweifle ich. Die meisten Hoteliers schließen ab Oktober ihre Häuser.«

»Wir brauchen kein Quartier«, versetzte Mildred. »Meine Schwester und ich wandern nach Australien aus, und Ihre Hotels und Promenaden können uns gestohlen bleiben.«

»Nach Australien?« Der Mann ließ endlich die Brille in Frieden. »Ich fürchte, da sitzen Sie im falschen Zug. Einen Clipper nach Melbourne bekommen Sie in Southampton. Oder noch besser in Liverpool.«

Daphne sah Mildred den Mund öffnen, hörte aber nur das unentwegte Rattern der Räder, während ihr klar wurde, was das Gesagte bedeutete. Sie fuhren an einen Ort, wo es das, was sie suchten, nicht gab. An einen Ort, wo sie kein Quartier hatten und keine Menschenseele kannten. Es war kalt im Zug. Es würde draußen noch kälter sein. Aus Mildreds Mund drang noch immer kein Wort. Dann nur ein einziges, leises. »Aber …«

»Je nun, meine Damen«, sagte ihr Mitreisender, »allzu sehr sorgen müssen Sie sich nicht. Die Schifffahrtsgesellschaften haben ja ihre Büros bei uns, und wenn Sie bei denen Ihre Passage kaufen, sorgen die bis zur Abreise für Ihre Unterkunft. Bestehen Sie nur darauf, dass man Ihnen das Zimmer vorher zeigt. Zuweilen sollen üble Zustände herrschen, und zwei so schmucke Damen wollen sich schließlich kein Ungeziefer zulegen. Dabei fällt mir ein …« Mit ausladender Geste zog er einen der Koffer unter sich hervor und entriegelte die Verschlüsse. Der Deckel sprang zurück und gab den Blick auf eine Reihe Tiegel und verkorkter Fläschchen frei. »Vielleicht benötigen die Damen ja noch das eine oder andere zur Pflege der Schönheit? Auch ein Präparat gegen Seekrankheit empfehle ich und natürlich Stecknadeln. Unentbehrlich für eine Bahnfahrt – behalten Sie stets ein paar davon im Mund, und falls ein Strolch versucht sich im Dunkel des Tunnels einen Kuss zu stehlen, kann er sein blaues Wunder erleben.« Strahlend hielt er Daphne die Nadeln hin. »Übrigens, mein Name ist Will Burnet, Handelsreisender in Arzneimitteln und Kosmetika.«

Mildred sprang auf. Da der Zug gleich darauf einen Schwenk vollführte, wurde sie gegen eine Frau geschleudert und wäre gefallen, hätte ein Mann in Uniform sie nicht aufgefangen. »Wir setzen uns anderswohin«, beorderte sie Daphne, ohne sich bei der Frau zu entschuldigen oder bei dem Uniformierten zu bedanken. Aber anderswo gab es keine Handbreit Platz. Mildreds Gesicht war bleich. Als wüsste sie, dass Daphne es bemerkt hatte, rief sie: »Keine Sorge, Sperling, überlass das nur mir. Ich finde ein Schiff für uns und auch ein Quartier.«

»Und Geld, Milly-Milly?«

»Um Geld brauchst du dich nicht zu kümmern. Besorge ich nicht immer alles, was du brauchst?«

Daphne stand ebenfalls auf und balancierte mühsam ihr Gewicht. »Ja, das tust du«, murmelte sie. Die Schwestern sahen einander an. Es war, als stünden sie allein im Waggon. So war es gewesen, solange Daphne denken konnte. Mildred war immer da, alle anderen waren bedeutungslos. Ich will ihr helfen, nahm Daphne sich vor, sie muss ja müde davon sein, die Last allein zu schleppen. Zugleich aber wusste sie, dass sie, linkisch, wie sie war, nicht würde helfen können, sondern dass Mildred wie immer alles alleine regeln musste.

Als der Zug in Portsmouth hielt, als Mildred mit ihrer Fußspitze zum ersten Mal den Boden der Stadt berührte, hörte es zu regnen auf. Genau wie der riesenhafte Bahnhof, von dem sie in London aufgebrochen waren, war auch dieser kleinere von einer gläsernen Kuppel überdacht, und auf das Glas der Kuppel hörte Mildred Regen prasseln, als sie aus der Tür spähte. Sobald sie jedoch ihren Fuß aufsetzte, verstummte das Prasseln.

Das ist gut, dachte Mildred und wunderte sich, weil der Gedanke so seltsam war. Sie war sicher, sie würde sich daran erinnern – an den Augenblick, in dem sie in Portsmouth aus dem Zug stieg, der Regen ein Ende nahm und sie bei sich dachte: Das ist gut. Gleich darauf drehte sie sich um und half Daphne aus dem Zug.

Sie hatte nicht gewusst, was zu tun war. Die Behauptung des Lackaffen hatte ihr buchstäblich den Boden unter den Füßen entzogen, doch mit einem Schlag schien ihre Sorge fortgewischt. Alles würde sich fügen, wie das Ende des Regens sich gefügt hatte. Die kleine Stadt, in die sie irrtümlich geraten waren, meinte es gut mit ihnen. Mildred hatte noch nie so gedacht, sie war nicht abergläubisch und verließ sich auf ihre Tatkraft. Jetzt aber dachte sie so. Schleppte ihr Gepäck durchs Gewühl aus der Bahnhofshalle, zerrte Daphne hinterher und setzte sich kurzerhand mit ihr auf ein Mäuerchen, um dort auf ihr Glück zu warten.

Und dann roch sie es. Spürte es in dem Wind, der ihr um die Wangen pfiff, und hörte es in ihrem Rücken – obgleich aus dem Portal des Bahnhofs eine lärmende Menschenmasse quoll und dahinter das quirlige Treiben einer Einkaufsstraße herrschte. So, wie sie im Radau der Petticoat Lane das Klavier gehört hatte. Sie packte Daphnes Gelenk. »Weißt du, was das ist, Sperling?«

Daphne schüttelte den Kopf.

»Das Meer«, flüsterte Mildred und hörte sich mit Andacht zu. Dann erst drehten beide sich um.

Das Meer war ein Stück weit von der Bucht eingeschlossen, die es wie in Armen hielt. Dahinter aber brach es heraus und nahm allen Raum ein, und hätten die Arme Hände gehabt, sie hätten es nicht halten können. Am Horizont erhob sich eine bucklige Landmasse, gewiss die Isle of Wight, auf der die Königin mit ihrer Familie Urlaub genoss. Das Meer jedoch dehnte und streckte sich viel weiter, als ein enges Sichtfeld fasste. Es war blauschwarz und tobte, bäumte sich schäumend und ging berstend nieder, obgleich es in der Ferne spiegelglatt und reglos wirkte.

Dieses Meer, das sich gab, als hätte es kein Ende, würden sie überqueren müssen, ehe sie an Australiens Küste neues Land betraten, und dennoch war Mildred zumute, als wären sie schon angekommen. Als sie nach oben sah, riss die Wolkendecke auf, gab einen Flecken blasser Sonne frei, und Mildred, die an kein Zeichen oder Wunder glaubte, dachte noch einmal: Das ist gut.

Sie zwang ihren Blick vom Meer fort und ließ ihn über das Gesicht der Stadt schweifen. Zur Rechten lag der Bahnhof, aus dessen Portal immer neue Wellen von Menschen schwappten – elegante Damen mit Kindern und Bediensteten, Scharen junger Männer in Uniformen, die sich Unsinn zubrüllten, und Gruppen von Leuten jeden Alters, die sich an ihr Gepäck klammerten, wie um die Heimat darin festzuhalten. Auswanderer. Dass sie in solchen Massen auf die Straße strömten, versetzte Mildred einen Stich.

Sie sah die Straße entlang. Die Häuser waren hübsch, in hellen Farben verputzt und nicht höher als drei Stockwerke, schmalbrüstig eins ans andere geschmiegt. In den Erdgeschossen reihten sich Geschäfte, und davor tummelten sich Einkäufer, Straßenhändler, Kinder mit Kreiseln, Lieferanten mit Schubkarren, Pferdewagen, bettelnde Hunde. Ein Bild voll Farbe, trotz des trüben Tages, und der Lärm, der herüberdrang, erinnerte eher an einen Jahrmarkt als an die Ladenzeilen, die Mildred aus Whitechapel kannte.

Als wäre ihr Blick eine Dame, die von Geschäft zu Geschäft flanierte, wanderte er die Straße hinunter, blieb hier an etwas hängen und prüfte dort ein Angebot, bis die ganze Pracht abrupt zum Ende kam und der Blick an ein Hindernis prallte. Dort, wo die Straße abbrach, ragte eine Ziegelmauer auf, erstreckte sich bis zum Gestade und ein Stück ins Meer hinein. Darüber hinaus lugten Dächer hoher Gebäude, und Geräusche kündeten von emsiger Arbeit – Hammerschläge, knarrende Winden, gebrüllte Befehle. Hinter der Mauer mussten die Docks liegen, die Werftanlagen der königlichen Marine.

Mildred erschrak. In ihren Betrachtungen hatte sie die Schwester vergessen und sah erst jetzt, wie verloren sie auf dem Mäuerchen kauerte. Jäh zog sie sie an sich, spürte das Zittern ihrer Schultern und bemerkte, wie kalt es war. »Ist ja gut«, murmelte sie, zupfte Daphne das Schultertuch zurecht und knotete ihr eigenes auf, um es darüberzubreiten. »Bestimmt finden wir gleich jemanden, an den wir uns wenden können.«

»Wen denn, Milly?«

»Überlass das nur mir.« Wie ein Kind war Daphne. Mildred hob den Proviantkorb auf. »Hast du Hunger?«

Da die Jüngere den Kopf schüttelte, nahm Mildred sich selbst, was im Korb verblieben war, einen schrumpeligen Apfel und den Kanten vom Brot. Flüchtig kam ihr der Gedanke, dass sie dies Letzte besser aufheben sollten, aber der salzige Geruch der Luft machte ihren Magen schwach. Sie biss mit Lust in den Apfel und schob die Hand in die Rocktasche, wo der Rest ihrer Barschaft klimperte. Zur Not musste sie ein paar Pennys für ein Nachtessen springen lassen, das war nicht das Ende der Welt. Beim nächsten Biss jedoch stellte sich die Hilfe ein, auf die sie gewartet hatte.

»Gestatten die Damen, dass ich mich Ihnen zugeselle? Mir scheint, Sie sind fremd in unserer Stadt, womöglich käme Ihnen guter Rat gelegen?«

»Und ob!«, entfuhr es Mildred. Vor ihnen stand ein Herr, der nach Art der Geschäftsleute Gehrock und Zylinder sowie einen ledernen Aktenkoffer trug. Ein Blick auf ihn genügte, um Vertrauen zu gewinnen. Jedes Stück seiner Kleidung war tadellos, der Hemdkragen blütenweiß, Haar und Bart gepflegt.

Bei Mildreds Ausbruch lächelte er. »Dachte ich es mir doch. In meinem Geschäft entwickelt man dafür ein Gespür.«

Daphnes Hand krallte sich in ihren Arm. Die Schwester hatte vor allem und jedem Angst, so respektierlich es auch daherkommen mochte. »Darf man erfahren, worin Ihr Geschäft besteht?«, fragte Mildred. »Und den Namen, wenn’s beliebt?«

»Ich bitte um Vergebung.« Der Herr zog den Zylinder und verneigte sich so tief, dass Mildred die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf erspähte. »Frederick A. Wilson mein Name, Geschäftsleiter der Blue Flag Company, Agentur für Auswanderer.«

Mildred hätte jubeln mögen. Stattdessen straffte sie würdevoll die Schultern und nickte dem Geschäftsleiter Wilson zu. »Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Mildred Adams, und dies ist meine Schwester Daphne.« Wie man sich zu derlei Anlässen ausdrückte, hatte sie aus Daphnes Romanen gelernt. Es klang genau richtig, sie durfte mit sich zufrieden sein.

»Sie kommen aus London?«, fragte Wilson.

»Woher wissen Sie das?«

Der Geschäftsleiter klopfte sich aufs Ohr. »Gehör, meine Teuerste. Und ein wenig von jenem Gespür, das ich erwähnte. Erlauben Sie mir, weiterzuraten. Sie sind nach Portsmouth gekommen, weil Ihnen der Sinn nach dem großen Abenteuer steht. Nur wohin die Reise gehen soll, müssen Sie mir verraten. Amerika? Kanada? Zwei Damen von Welt steht ja alles offen.«

»Australien!«, rief Mildred wie im Triumph.

Sein Lächeln verbreiterte sich. »Für Sie nur das Beste. Darf ich fragen, ob Sie Ihre Passage bereits gebucht haben?«

Fieberhaft überlegte Mildred. Wie ließ sich ihr Anliegen formulieren, ohne preiszugeben, dass ihre Geldmittel im besten Fall für ein Nachtessen und einen Schlafplatz genügten? Um Zeit zu gewinnen, biss sie noch einmal in den Apfel, bereute es aber, sobald der Saft der Frucht nach allen Seiten spritzte. Hatte ein Tropfen ihren Retter getroffen, hatte sie ihr Glück verscherzt?

»Wohl bekomm’s.« Der Geschäftsleiter lächelte noch immer. »Wissen Sie, was ich sagen würde, wenn es mir ein weiteres Mal gestattet wäre zu raten? Ich würde sagen: Eine patente junge Dame wie Sie, die bucht nicht einfach eine Schiffspassage und überlässt den Rest dem lieben Herrgott, habe ich recht?«

Mildred kaute auf dem Apfel und entschloss sich zu nicken. Hatte sie richtig gesehen? Hatte Wilson ihr zugezwinkert? »Milly«, wisperte Daphne neben ihr und klammerte sich an ihren Arm. Hastig klopfte Mildred ihr die Hand, damit sie Ruhe bewahrte.

»Darf ich?« Wilson förderte ein Taschentuch zutage, wedelte übers Gestein und setzte sich neben Mildred. In seinen Schoß stellte er den Aktenkoffer und klappte ihn wie ein Schreibpult auf. »Sie wollen also vorsorgen. Sichergehen, dass ein behagliches Heim auf Sie wartet. Australien ist für Sie keine Laune, sondern der Boden, auf dem Sie Wurzeln schlagen wollen.«

Wieder nickte Mildred.

Wilson sandte ihr ein weiteres Lächeln. »Registriert sind Sie bisher aber noch nicht?«

Mildred schüttelte den Kopf.

»Meine liebe Miss Adams, ich wage zu behaupten, uns hat der Himmel zusammengeführt.« Er entnahm dem Koffer eine Mappe. »Vorausgesetzt, meine Firma hätte die Ehre, Sie selbst und die werte Schwester als Klientinnen begrüßen zu dürfen.«

War Mildred ehrlich, so zerrte ihr Wilsons Ausdrucksweise inzwischen an den Nerven, zumal sie ständig überlegen musste, was er eigentlich meinte. Aber das war nun einmal der Preis für kultiviertes Betragen. Sie würde sich daran gewöhnen, wenn sie erst in ihrem Haus in Australien lebte und den Schlamm von Whitechapel für alle Zeit abgestreift hatte.

Im Innern des Aktenkoffers machte Wilson sich Notizen. »Adams, Mildred und Adams, Daphne, gebürtig in London von beiderseits englischen Eltern, hat das seine Richtigkeit? Und wie alt sind die jungen Damen, wenn Sie es mir verraten würden?«

»Zweiundzwanzig«, erwiderte Mildred, die neunzehn war. »Meine Schwester ist ein Jahr jünger als ich.«

»Wie bezaubernd. In der Blüte der Jugend. Sie beide sind doch bei bester Gesundheit? Es gibt keinen Grund, warum sich kein Kindersegen einstellen sollte?«

»Keinen«, murmelte Mildred, die natürlich wusste, worauf die Frage hinauslief. Jedes Mädchen, das vom Auswandern träumte, wusste es. Wer die Überfahrt nicht bezahlen konnte, dem blieb nichts anderes übrig, als sich einem Heiratsvermittler anzubieten. Sie hatte sich lange schon damit befasst, und doch schien der Gedanke, sich einem fremden Mann zu versprechen und von Kindern zu schwatzen, geradezu halsbrecherisch. Wenn sie an die Ehe dachte, so dachte sie an ihre Eltern. An Gebrüll und Gepolter, feuchte Kammern, deren Miete nicht bezahlt war, schlaflose Stunden, derweil der Vater seinen Rausch ausschnarchte und die Mutter in der Dunkelheit weinte. Hätte Mildred die Wahl gehabt, sie hätte im Leben keinen Mann genommen. Wie aber sollten sie dann nach Australien gelangen, wie jemals ein Haus mit weißen Säulen besitzen und auf seinen Stufen in der Sonne stehen? Wilsons Schreibfeder schabte über das Papier. Wenn es gar zu schlimm wird, können wir immer noch flüchten, beruhigte sie sich.

Wilson blickte von seiner Schreibarbeit auf. »Haben Sie Wünsche, den künftigen Gemahl betreffend? Soll es beispielsweise ein Herr rein englischer Abkunft sein oder wäre auch ein schottischer oder irischer Einschlag genehm?«

»Ich will nicht, Milly!« Daphne sprang auf.

Das fehlte ihr noch, dass jetzt Daphne alles verdarb. »Gib doch Ruhe, überlass es mir!«

»Ihre Schwester ist wohl ein wenig verstört«, bemerkte Wilson. »Wem wäre das zu verdenken? Aber sobald die Dinge einmal geordnet sind, gewöhnt man sich schnell. Wenn wir nun also wieder auf meine Frage zurückkommen könnten …«

»Keine Iren«, warf Mildred hastig ein. In Whitechapel wimmelte es von Iren, die soffen wie Sickergruben. »Sonst ist alles recht. Nur eine Kleinigkeit wäre da noch.«

»Ich darf bitten?«

»Ich muss wissen, was es uns kostet.« Sie fühlte Glut in den Wangen. »Ihre Agentur erhebt doch sicher eine Art Gebühr?«

»Wie aufmerksam, mich daran zu erinnern«, sagte Wilson. »Nicht auszudenken, wenn ich es ob der charmanten Unterhaltung vergessen hätte. Am Ende hätte ich nichts für Sie tun können, weil die Gebühr nicht entrichtet wurde. Lassen Sie uns das aus der Welt schaffen, es handelt sich in der Tat nur um einen geringen Betrag für den Arbeitsaufwand. Alle anderen Kosten – für die Überfahrt wie für Ihre Versorgung in Melbourne – trägt Ihr Bräutigam.«

»Und was ist mit Quartier und Verpflegung? Wir werden ja wohl kaum noch heute in dieses Southampton verbracht.«

»Natürlich nicht, meine Liebe.« Wilson berührte ihren Arm. »Unsere Bräute werden bis zur Abreise in Privatzimmern untergebracht und dort auch verpflegt. Einen entsprechenden Wertschein stelle ich Ihnen aus, sobald ich die Gebühr erhalten habe, und anschließend begeben Sie sich am besten sogleich in Ihr Quartier. Ihre Schwester sieht müde aus.«

»Wie viel?« Mildreds Stimme krächzte.

»Wie gesagt, nur ein geringer Betrag. Drei Guineen pro Kopf.«

Mildred stockte der Atem. Ohne dass sie es wollte, kroch ihre Hand in die Rocktasche und förderte die Münzen zutage – all die verklebten, abgegriffenen Münzen, die in ihrem Versteck auf diesen Tag gewartet hatten und jetzt nutzlos waren. Zweimal drei Guineen, das waren weit über hundert Schillinge, und die Pennys und Farthings auf Mildreds Handfläche ergaben zusammen vielleicht sechs oder sieben. Nicht einmal ein Zehntel des Preises.

»Oje«, hörte sie Wilson seufzen. »Das ist alles, was Sie haben?«

Sie hielt ihm die Hand noch immer entgegen. Er zog wieder das Taschentuch hervor und sammelte Geldstücke hinein, wobei er stimmlos zählte. »Es ist nicht genug«, flüsterte Mildred, als bestünde daran der geringste Zweifel.

»Schwierig«, bestätigte Wilson, der den letzten Farthing ins Tuch geworfen hatte. »Im Grunde dürfte ich in Ihrem Fall nicht tätig werden, so schreibt es die Geschäftsordnung vor.«

Mildred zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. Ich flehe dich an. Ich tue alles, was du willst, nur schick uns nicht weg. Sie wusste, dass sie nicht schön war. Ihr Haar war störrisch, sie hatte den dunklen Teint des Vaters geerbt, und ihren Zügen haftete nichts Liebliches an. Schön war Daphne mit ihren hellen Locken und den Sternenaugen. Nach Daphne drehten sich die Männer lächelnd um, und doch war es Mildred, die, wenn sie wollte, ihre Blicke fesselte. Sie sandte dem Fremden etwas, das sie nicht zu benennen wusste, und betete, dass es seine Wirkung tat.

»Sie sind mir nicht gleichgültig, wissen Sie?«, stotterte Wilson, und Mildred atmete auf. »Ihr Befinden liegt mir am Herzen, deshalb mache ich eine Ausnahme. Sie können die Summe anzahlen.«

Es hatte wieder zu regnen begonnen, in Mildreds Nacken schlugen Tropfen, doch im Inneren breitete sich Wärme aus. Dem Himmel sei Dank! Die Frage, wie sie die Summe auftreiben sollte, würde sie später beantworten. Sie drehte sich nach Daphne um, die erbärmlich zitterte. Aufmunternd lächelte sie ihr zu. Gleich würde Wilson irgendein Papier ausstellen und ihnen den Weg zum Quartier weisen, wo ihr Sperling sich aufwärmen konnte. Gewiss bekämen sie dort Tee. Auch Suppe. Bei dem Gedanken begann Mildreds Magen von Neuem zu knurren.

Keinen Herzschlag später ertönte ein Schrei. Ein Riese von Mann stürmte von der Hauptstraße auf sie zu und sprang mit dem Satz eines Raubtiers vor sie hin. Alles, was Mildred erkannte, war der weiße Filzhut eines Navvy, doch der genügte ihr. Sie setzte zurück und riss Daphne mit sich. Der Verbrecher jedoch griff nicht sie an, sondern Wilson, den er bei den Schultern packte und schüttelte. Dabei schrie er auf ihn nieder und beugte sich über ihn, dass der Geschäftsmann sich unter ihm krümmte. Mildred hätte mit Daphne fliehen sollen, aber sie stand wie festgewachsen da. Unser Geld – mehr konnte sie nicht denken. Sie selbst mochte eine Nacht in der Kälte überstehen, doch Daphne würde es das Leben kosten.