Feuer über Brandenburg - Charlotte Lyne - E-Book
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Feuer über Brandenburg E-Book

Charlotte Lyne

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Beschreibung

Brandenburg 1432: Die Familie der Brauerstochter Jonata lebt in Angst und Schrecken. Immer wieder überfallen böhmische Kämpfer die Dörfer und Städte und töten und brennen nieder, was ihnen in die Quere kommt. Auch Jonatas geliebter Cousin fällt den marodierenden Hussiten zum Opfer, und ihre Furcht verwandelt sich in Hass. Als es bei Müllrose zum Kampf kommt und einer der berüchtigten Krieger verletzt wird, muss die junge Frau sich entscheiden: Wird sie den Feind sterben lassen? Oder setzt sie ein Zeichen für die Menschlichkeit inmitten des Kriegs und rettet sein Leben?

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

PROLOG

ERSTER TEIL

1

2

3

4

5

6

7

8

ZWEITER TEIL

9

10

11

12

13

14

DRITTER TEIL

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

VIERTER TEIL

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

GLOSSAR

Charlotte Lyne

FEUER ÜBERBRANDENBURG

Historischer Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Ein Projekt der AVA international GmbH

Autoren- und Verlagsagentur

www.ava-international.de

Abdruck des Liedtextes von

Bettina Wegener mit Genehmigung der Autorin

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel, punchdesign, München,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com und Abubiju

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-1483-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für B., weit weg, immer nah.

»Heute bratet ihr eine Gans,aber aus der Asche wird ein Schwan entstehen.«

PROLOG

Cehnice, ein Dorf in SüdböhmenMai 1420

Ich wusste wohl, die Luft war voller KampfUnd lachte doch und spuckte in den Wind.Und es war meine Spucke, und der Dampf,Der aus dem Gras stieg, machte mich nicht blind.

Bettina Wegner: »Ja, da hab ich noch gelebt«

Auf den Märkten, auf die er mit Beil und Hauklotz zog, nannten sie ihn hinter verstohlener Hand den Hussiten.

Ein wenig stolz war er auf diesen Namen, auch wenn er als Schimpfwort gemeint war. Mancher schimpfte ihn obendrein einen Ketzer oder verfluchte ihn, er werde in den Feuern der Hölle brennen. Aber die Schimpfenden kauften trotzdem bei ihm, weil seine Wurst die würzigste war, weil kein Marktmeister bei ihm einen Fetzen finniges Fleisch fand und weil er beim Abwiegen kein Knausern kannte. Insgeheim mochten sie ihm sogar Recht geben: Er tat nicht mehr, als seine Meinung zu sagen, gegen die Deutschen, die Böhmen für sich allein wollten, wie gegen die Pfaffen, die Gott für sich allein wollten, und darin waren viele einig mit ihm.

Er selbst nannte sich keinen Hussiten, auch wenn er Jan Hus, der für den Glauben gestorben war, tief verehrte. Einen frommen Christenmenschen nannte er sich, einen Freund von Gottes Liebe und Wahrheit, und zur Vorstellung benutzte er seinen Taufnamen, den er gern mochte, weil sein Bruder ihn für ihn gewählt hatte.

Bedrich, sein Bruder, war kein Anhänger des Jan Hus. Ihn scherte weder die freie Kirche, in der ein tschechischer Mann sein Lied singen und den Kelch seines Herrn trinken durfte, noch das freie Böhmen, in dem ein tschechischer Mann dieselbe Würde besaß wie ein Deutscher. »Dafür bin ich zu alt«, sagte Bedrich, der zehn Jahre älter war als er, also kaum dreiunddreißig. »Ich will nicht im Feuer enden, vor dem Feuer ist mir mehr bange als vorm Tod.«

Manchmal musste er über Bedrich, der wie ein altes Weib wimmerte, den Kopf schütteln, aber er liebte ihn über alles. Mit seinem Vater war er nie ausgekommen und hatte mehr Schläge bezogen, als einem Jungen gut tat. Einen hässlichen Jungen prügelte jedermann lieber als einen hübschen, aber Bedrich gab nichts auf Hübschheit und nahm den hässlichen kleinen Bruder in Schutz. Als der Vater starb und Bedrich sein Erbe antrat, war es, als sei das Himmelreich auf Erden angebrochen.

Zwei Brüder waren sie, die sich ihr Leben einrichten konnten, wie es ihnen passte. Zwar schimpfte auch Bedrich ihn ein Raubein, das nicht zu bändigen war, aber er war zu gutherzig, ihm je ein Haar zu krümmen. Wenn ich einen Sohn habe, will ich ihn halten, wie Bedrich mich gehalten hat, dachte er. Milde und zärtlich, sodass der junge Baum Raum zum Wachsen hat. Schläge nur sparsam, ob er hübsch oder hässlich ist, damit er mir nicht verkümmert und nur in eine Richtung sprießt.

Bedrichs Liebe, so fand er, hatte einen Menschen aus ihm gemacht. Natürlich musste aus Liebe keine Verzärtelung werden wie bei dem schwarz gelockten Sohn der Nachbarn, gut gestellten Wollwebern, die schon die Tochter haltlos verwöhnt hatten. Den Buben riefen sie bei närrischen Kosenamen und küssten ihm das kleinste Weh von der Stirne. Wofür der hübsche Wollwebersohn nicht mehr als eine lächelnde Ermahnung erhielt, war er selbst verprügelt worden, doch die schlichte Liebe seines Bruders Bedrich hatte ihm gezeigt, dass er etwas wert war. Er hätte kein Hussit sein können, kein Streiter für die Liebe Gottes, hätte nicht Bedrich ihn auf seine stille Art gelehrt, was Liebe unter Menschen war.

Der Name, den Bedrich für ihn ausgewählt hatte, bedeutete Der von Gott Geschenkte.

Sie führten das herrlichste Leben. Knochenhauer, das war ein angesehener Beruf, er ernährte sie redlich, und die Arbeit teilten sie sich, wie es ihnen passte. Der behäbige Bedrich blieb im Haus, würzte die Wurst im Kessel und ließ feinen Talg aus, den ihm die Lichterzieher aus den Händen rissen. Auf seine Weise war Bedrich ein Künstler: Er tat alles mit Sorgfalt und Behutsamkeit.

Er selbst hingegen liebte das Reiten. Als Knochenhauer durften sie ein Pferd halten, auf dem ritt er über die Dörfer und kaufte Vieh. Auf seinen Blick für Fleisch war er stolz; an den Tieren, die er auf die Wursthöfe trieb, fand kein Beschauer einen Mangel. Er bezahlte den Kuttler, der sie ihm ausnahm, und brachte die Batzen heim zu Bedrich. Was der daraus machte, trug er auf Märkte, wo das Volk vor seinem Scharren Schlange stand. Auch heute wieder. Obwohl jetzt viele Leute aus Furcht vor einem Krieg ihr Geld zusammenhielten, hatte er alles verkauft, kaum dass Mittag vorüber war.

Das Mädchen mit den braunen Zöpfen hatte schon häufiger bei ihm gekauft. Heute kam sie als Letzte und blickte dreist zu ihm auf. »Mein Vater sagt, ich soll nicht beim Hussiten kaufen«, sagte sie.

»Und warum tust du’s dann, wenn dein Vater das sagt?«

Sie lachte. »Was meinst du denn? Etwa, weil du so ein ansehnlicher Bursche bist?«

Ihr Spott ließ ihn zusammenzucken. Er wusste ja, dass er kein Mann war, der Frauen gefiel, aber sie war selbst keine Schönheit, und er besaß immerhin ein Auskommen. Mit Mädchen war er schüchtern, doch letzthin hatte er begonnen, von einer Frau im Haus zu träumen. Die Braune hatte für ihres Vaters Nachtmahl bei ihm eingekauft, und er hatte sich vorgestellt, wie sie für ihn und Bedrich ein Nachtmahl zubereitete: Knödel, Speck und Kraut an Werktagen, Kuttelsuppe und für den Sonntag eine Svíčka, eine Lendenschnitte mit geschmortem Obst.

Kinder hätte er auch gern gehabt, einen Buben, der das Gewerbe weiterführte, aber beleidigen ließ er sich nicht. Er beachtete sie nicht länger, sondern machte sich daran, seine Waage in ihre Teile zu zerlegen.

»Hab ich dich gekränkt?«, fragte das Mädchen.

Er schüttelte den Kopf, weil sich auf einmal kein Wort mehr aus seiner Kehle zwängen ließ.

»Kränken wollt’ ich dich nicht«, sagte sie. »Dass die Leute hier sagen, du bist ein Hussit, weißt du ja selbst, oder nicht?«

»Das kränkt mich nicht«, rief er. »Ist es etwa falsch, dass wir in unserer Kirche tschechisch singen wollen und das Blut Jesu, das für uns vergossen ist, nicht allein den Priestern lassen?«

»Das soll mich nicht kratzen«, sagte sie. »Nur wenn du ein richtiger Hussit wärst, dann käm ich nicht mehr zu dir.«

»Weshalb glaubst du, ich bin kein richtiger Hussit?«

»Ganz einfach, weil du hier auf dem Markt dein Fleisch verkaufst, statt ehrbare Ratsherren aus Fenstern zu stoßen«, sagte sie. »Du rennst nicht mit Spieß und Speer dem einäugigen Teufel hinterher, diesem Žižka, der das Land ins Unglück reißt.«

Er setzte zur Antwort an, hielt dann aber inne und überlegte. Eigentlich hätte er ihr erklären müssen, dass Jan Žižka kein Teufel war, sondern ein Heerführer, der seinen Glaubensbrüdern half, sich ihrer Haut zu wehren. Dass er die Herren aus dem Fenster des Neustädter Rathauses hatte stoßen lassen, war nur geschehen, weil diese einen Prediger gesteinigt hatten, und dass jetzt viele einen Krieg fürchteten – wer hatte sich das denn zuzuschreiben?

Sigismund, König Wenzels Bruder, hatte Jan Hus freies Geleit versprochen, wenn er auf dem Konzil in Konstanz predigte. Und was war in Wahrheit geschehen? Hus war in den Kerker geworfen und verbrannt worden! Nun war Wenzel tot, und Sigismund wollte König in Böhmen sein – wie konnte er glauben, dass die, die Hus geliebt hatten, seinem Mörder als ihrem Herrn huldigten? Da und dort war es zu Scharmützeln gekommen, doch dass aus berechtigter Empörung ein Krieg zu erwachsen drohte, war allein die Schuld von Papst Martin, der den Kampf gegen die Lehre des Jan Hus zum Kreuzzug erklärt hatte.

Erschrocken duckte er den Kopf, als hätte er Schläge zu erwarten. Hatte er in seinen Gedanken wirklich den Papst beschuldigt? Tief in ihm war der Glaube verwurzelt, der Stellvertreter Gottes sei unfehlbar, obgleich Hus gelehrt hatte, dass in der Heiligen Schrift nichts von Stellvertretern stand. War das der Grund dafür, dass er noch immer hier im Süden hockte, statt nach Prag zu gehen, wo die Spitzen der Bewegung predigten? Verkaufte er deshalb Fleisch, statt zu den Waffen zu greifen und dem Ruf des kühnen Žižka zu folgen?

Es war nicht so, dass er sich aufs Kämpfen nicht verstanden hätte. Seinen Waffendienst für die Zunft hatte er gewissenhaft abgeleistet und sich dabei sogar bewährt, denn als Knochenhauer saß ihm das Gespür für den Schwung einer Klinge im Gelenk. Blieb er den Kämpfen seiner Glaubensbrüder also fern, weil er von deren Wahrheit nicht bis ins Herz überzeugt war?

Nein, erkannte er und sah das Mädchen wieder an. Ich bleibe hier, weil dies mein Leben ist: mein Dorf, meine Werkstatt, mein Bruder Bedrich und unser Heim voller Wärme. »Ich bin ein richtiger Hussit«, sagte er stolz zu der Braunhaarigen. »Ein Streiter Gottes kann man auch sein, ohne eine Waffe zu erheben.«

Das Mädchen lachte wieder, aber ihm kam es nicht mehr vor, als verhöhne sie ihn. »Ich weiß doch, dass du kein Haudegen bist«, sagte sie. »Deshalb kauf ich ja bei dir, was immer der Vater vor sich hin murrt. Jetzt gib mir ein schönes Stück Schinken für mein Kraut, willst du? Und eine Brühwurst für die Suppe.«

Er wies auf die leere Theke, dann auf die Fleischerhaken an der Stange. »Siehst du hier noch Schinken? Noch einen Zipfel Wurst? Wenn du bei mir kaufen willst, musst du früher aufstehen.«

»Dich hat wohl niemand gelehrt, wie man sich mit einem Mädchen beträgt«, rief sie.

»Nein«, gab er zu, und wirklich, wer hätte es ihn lehren sollen? Bedrich verstand sich nicht auf Frauen, und der Vater hatte ihn gar nichts gelehrt.

»Man sagt einem Mädchen nicht Nein.« Ihr Lächeln traf ihn, als breche die Sonne durch die Wolken. Sie hatte grobe Züge, und ihre Haut war nicht rein, aber ihr Lächeln machte sie hübsch.

Er ging an sein Bündel und zog die Wurst heraus, die er sich als Wegzehrung aufgehoben hatte, armdick, mit reichlich Blut und Fettstücken. Ein Ende wickelte er aus dem Leintuch und hielt es ihr hin, wie um sie kosten zu lassen.

Sie schnupperte wie ein kleines Tier. »Nicht übel. Was verlangst du dafür?«

»Von dir nichts«, sagte er. »Kommst du zum nächsten Wochenmarkt wieder?«

»Wenn du kommst.«

Und wie er kommen würde! Er würde sogar Bedrich mitbringen, damit der die Braunhaarige kennenlernen konnte. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Marketa. Und du?«

Er nannte ihr seinen Namen und sagte ihr, was er bedeutete.

Sie lachte.

»Das ist nicht zum Lachen.«

»Dann geh mal deines Weges, du von Gott Geschenkter. Augen wie Fenster hast du. Ohne Vorhänge, sodass man geradewegs in dein Haus schauen kann.« Sie nahm die Wurst und strich ihm wie zufällig über die Hand. Er stand stockstill, als ließe sich so auch die Zeit zum Stillstand bringen.

Im Gehen winkte sie und warf ihm einen letzten Blick zu. Sah sie sein Gesicht, das alle Welt hässlich fand? Oder sah sie etwas anderes in ihm, das bisher nur Bedrich gesehen hatte?

Nein, ich war nie ein entzückendes Bübchen wie der Schwarzgelockte vom Wollweber, dem jeder Powidl ins Mäulchen stopfen will, dachte er. Aber das heißt nicht, dass kein Mädchen an mir Gefallen finden kann. Wie Fenster ohne Vorhänge – so allerdings hatte noch niemand seine Augen beschrieben, und aus dem Mund von Marketa klang es wie eine Zärtlichkeit.

Auf dem Heimweg fühlte er sich federleicht. Die Sonne brach jetzt tatsächlich durch die Wolken und brachte das Grün der Hänge zum Leuchten. Das Herz war ihm so leicht, dass er singen musste, das Herz mit den leichten Tönen in die Luft werfen:

Ktoz jsu bozi bojovnici,A zakona jeho –Ihr die Gottes Streiter seid,Bittet Gott um Hilfe und vertraut.

Herrlich klang das Lied, auch wenn er sang wie eine rostige Schneide. Zu gern hätte er es einmal vom Sohn der Wollweber gehört, der mit einer Engelsstimme wie vom Himmel sang.

Er konnte es nicht erwarten, sein Dorf zu erreichen, die Tür des Hauses aufzustoßen und Bedrich an seinem Kessel zu sehen. »Brüderchen«, würde er rufen, »Tisch auf, bevor ich Hungers sterbe. Ich habe meine Wegzehrung verschenkt.«

»An wen denn?«, würde der Bruder fragen, und er würde sich zu ihm neigen und ihm ins Ohr flüstern. »An ein Mädchen, Brüderchen. Marketa heißt sie. Du musst sie kennenlernen.«

Doch als er aus dem Wald brach, änderte sich etwas in der Luft. Jäh fiel es ihm schwer, zu atmen, und der Harzduft wich einem Gestank, der in der Nase biss. So roch es, wenn er beim Auslassen nicht achtgab und Fett verbrannte. Der Geruch wallte ihm in Schwaden entgegen, dass ihm die Augen tränten. Heftig stieß er dem Pferd die Hacken in die Seite und trieb es im Galopp über den Hügel.

Das Bild, das sich ihm bot, grub sich in seine Netzhaut wie mit dem Brandeisen, und dort würde es bleiben. Was immer er in seinem Leben noch zu sehen bekam, würde von diesem Bild überlagert sein. Das Dorf lag still. Totenstill. Von dem Gewimmel aus Kindern, Hunden und Hühnern, die sich sonst auf der Allmende und in den unbefestigten Gassen tummelten, war nichts zu hören. Aus den Werkstätten drang kein Klirren und Klopfen, das von emsiger Arbeit kündete. Weder vor dem Backhaus noch am Brunnen standen Frauen, die schwatzten. Die Sonne, die den schwarzen Qualm zum Leuchten brachte, fiel auf einen ausgestorbenen Ort.

Der Qualm quoll aus Bretterhaufen, die kaum noch ahnen ließen, dass sie einst Menschen ein Dach geboten hatten. Längst hatten sich die Flammen an ihnen sattgefressen, und nur der Rauch stieg noch aus den Trümmern. Dazwischen fanden sich Häuser, die mit Beilhieben zerschmettert worden waren, und andere, denen man lediglich Türen und Fensterläden herausgerissen hatte. Vor dem ersten Gehöft lag ein Leiterwagen auf der Seite, Deichsel und Speichen zerbrochen, doch der alte Klepper noch eingespannt. Wagen und Pferd gehörten Tomic, dem Müller. Der Gaul war in seinem Kummet geschlachtet worden, das bisschen Fleisch von seinen Rippen heruntergekratzt. Der Müller lag bei ihm, die Glieder verdreht, der Schädel bis auf den Hals gespalten. Drumherum schillerten Fliegen, die in der Blutpfütze ersoffen.

Warum tat er sich das an, warum sprang er ab und rannte in ein Entsetzen, das ihm Herz und Atem stocken ließ, statt sein Pferd zu wenden und davonzusprengen? Hoffte er womöglich, Gott in seiner Liebe könne an die Tür seines Hauses ein Zeichen gemacht haben, auf dass die Schlächter vorbeigingen und es verschonten? Die Hoffnung zerplatzte wie die Schädel, die zersplittert auf der Gasse lagen. Vor den Türen häuften sich Leichen, zerhackte Gliedmaßen, unkenntlich geschlagene Gesichter, verkohlte Reste von Leibern. Er stolperte vorbei, beschwor sich, nicht hinzusehen, nur blindlings zu laufen. Die Hände hielt er umeinander gekrampft und betete ohne Worte. Am Ende der Gasse kam sein Haus in Sicht.

Neben dem Misthaufen hatte jemand eine Fahne postiert, einen dünnen Mast mit einem ausgefransten Fetzen Stoff, an dem der Wind riss: ein roter Adler auf gelblichem Grund. Mit verkrampften Händen rannte er weiter, aber die blutroten Schwingen, die Klauen und der Schnabel des Adlers prägten sich ihm ein.

Das Erste, was er sah, war der Wurstkessel, ein bauchiges Gefäß aus Kupfer, das Bedrich vor jedem Sonntag polierte. »An meinem Kessel ist keine Beule und in meiner Wurst kein Knorpel«, pflegte er zu sagen. Jetzt war die Form des Kessels nicht mehr erkennbar, so wenig wie der Rest des Menschen, der daneben lag. Bedrich hatte nicht im Feuer enden wollen, doch diesen Wunsch hatten die Mörder ihm verwehrt. Von der Hand, die sich nach dem Kessel streckte, war nichts übrig als schwarze Kruste, die bei Berührung zerfiel. Nicht sein Gesicht!, schrie es in ihm auf, ehe er vor dem Toten in die Knie brach. Gott in deiner Güte, lass mich Bedrichs Gesicht noch einmal sehen.

Bedrichs Gesicht hatte immer Liebe für ihn bedeutet. Bedrichs Mund, der sich zum Lächeln verzog, wenn er vom Kessel aufsah, um ihn zu begrüßen; Bedrichs Brauen, die sich hoben, wenn er ihm eine Frage stellte; Bedrichs Augen, die so blass waren, dass nur er allein das Leuchten darin kannte. Nichts davon war mehr da. Nur eine verkohlte Masse, von der niemand wissen wollte, woraus sie bestand. Alle Liebe, die er in sich trug, war von Bedrich gekommen, und in dem Augenblick, als er in das schwarze Grauen starrte, das Bedrichs Gesicht gewesen war, starb all die Liebe in ihm ab.

Er sprang auf und drehte sich weg. Zu allen Seiten lagen verstreute Reste vom Leben seines Dorfes. Er presste sich die Hände auf die Ohren, um der Stille zu entkommen, doch die Stille war zu laut. Als er sicher war, sie sei endlos, vernahm er das Weinen. Eher ein Wimmern oder Fiepen, als läge unter den Toten ein Tier, das Flammen und Schwerthieben entronnen war. Ein Welpe vielleicht. Mit irrwitziger Heftigkeit packte ihn der Drang, ihn zu befreien. Taumelnd blieb er stehen und lauschte, um die Richtung auszumachen, aus der die kläglichen Laute kamen.

Schmerzlaute, die mit jedem Herzschlag an Kraft verloren. Sie kamen vom Haus des Wollwebers, das ein steinernes Fundament besessen hatte und das ansehnlichste Haus im Ort gewesen war. Das Fundament stand noch, der Rest war verkohlt. Wo die Tür gewesen war, lagen Tote übereinander wie Schlachtvieh auf dem Wursthof. Obenauf lag ein Leib, der zarter als die übrigen wirkte und dem der Wind das Haar in Strähnen übers Gesicht zerrte.

Lenka. Die kleine Fürstin von Cehnice. Schritte wie Feensprünge, Augen wie böhmische Seen.

Als Lehrling war er in die Schöne verliebt gewesen wie alle Burschen des Ortes. Sie aber hatte seine Hässlichkeit verlacht. Jetzt war sie hässlicher als er. Was von ihr übrig war, lag achtlos weggeworfen über verstümmelten Körpern – ihren Eltern, dem Hätschelkind von Bruder, den Mägden und dem Knecht. Dazwischen eingeklemmt musste der Hund stecken, der das Gemetzel überlebt hatte. Um ihn zu befreien, würde er die Toten berühren müssen. Warum quälte er sich, was lag ihm an dem Hund?

Er und ich sind die Letzten, dachte er. Ohne ihn bin ich allein in einer leeren Welt. Er hielt den Atem an und schob Lenkas Leib beiseite. Ihr Rock war hochgeschlagen, sie lag bis an die Hüften nackt. Nie zuvor hatte er das Geschlecht einer Frau gesehen, nur ab und an davon geträumt. Das ihre war zu blutigen Häckseln zerschlitzt. Er kniff die Augen zu. Das Fiepen wurde lauter.

Mit geschlossenen Augen schob er einen weiteren Körper beiseite, fasste in breiige Nässe und zwang sich, die Augen zu öffnen. Das Fiepen ging in Stöhnen über und verstummte. Lenkas Mutter, die Wollweberin, lag auf dem Bauch, die Bluse in Fetzen gerissen, das Fleisch weiß und bloß. Zwischen den Brüsten lugte ein dunkler Schopf hervor. Kein Hundefell, sondern lockiges menschliches Haar.

Er stieß die Frau zur Seite und riss das Körperchen heraus. Es war ihr Sohn, das hübsche Bübchen mit der Engelsstimme, an dem jetzt nichts mehr hübsch oder engelhaft war.

Der Teufel wäre leichter anzusehen als du, und du wärst besser dran, wenn ich dich sterben ließe, dachte er und zog den verschandelten Kinderleib an seinen. Aber ich lass dich nicht. Der Körper des Jungen war wüster zugerichtet als die Toten. Aber er war warm, und unter der verbrannten Haut pochte Leben. Er presste dem Kind die Hand auf die Brust und berauschte sich an dem zarten Klopfen. Dann wurde das Klopfen schwächer. Die Abstände zwischen den Schlägen wurden länger, und seine erstarrte Handfläche nahm kaum noch Bewegung wahr. Ein Schlag schien sich zu schleppen, ehe er verklang. Der nächste kam nicht. War nicht zu finden. Rasende Finger begannen, auf die Rippen niederzutrommeln, doch darunter rührte sich nichts mehr.

Er heulte auf wie ein Wolf. Ich erlaube das nicht, heulte er im Innern. Selbst wenn du kein Herz mehr hast, erlaube ich dir nicht, zu sterben. An den schwarzen Locken zog er dem Kind den Kopf in den Nacken und presste seine Lippen dorthin, wo er die des Buben vermutete. Dann blies er ihm in starken Zügen seinen Atem ein, bis der Kleine in Husten ausbrach. Er würde ihn nicht loslassen. Er würde den Tod zwingen, den letzten Überlebenden seines Dorfes herzugeben, auch wenn sein Herz gestorben war.

ERSTER TEIL

Berlin, BrandenburgFrühsommer 1431

Ich sah die Farben meiner UniformUnd war lebendig, warm und voller LustUnd meine Liebe kannte keine Norm,Mein Herz schlug mutig gegen meine Brust.

Bettina Wegner: »Ja, da hab ich noch gelebt«

1

»Bewegst du jetzt mal deinen faulen Hintern, du Nachtmütze? Teigkneten ist nicht Schnarchen, sondern Tanzen, dabei schwingen die Backen, verstanden?«

Um sicherzugehen, dass Kilian wirklich verstanden hatte, griff sich Onkel Wernhart eine der Brotschaufeln und klatschte ihm eins hintendrauf. Jonata musste lachen, ihr Bruder aber schoss wütend herum, beide Hände verklebt vom Teig. »Wenn ich ein Mädchen so anpacke wie du deinen Teig, wirft mich die Stadtwache in den Kerkerturm«, fuhr er den Onkel an.

»Und wenn du sie so läppisch tätschelst und dabei den Hintern hängen lässt, bleibt mein armer Bruder ohne Erben«, befand Onkel Wernhart bündig, schwang die Schaufel und versetzte Kilian, der zu spät auswich, einen weiteren Klatscher.

Vor Zorn liefen Kilians milchweiße Wangen rot an. Jonata war noch immer zum Lachen zumute, doch zugleich tat ihr der Bruder leid. Onkel Wernharts derber Humor und Kilians empfindsame Seele passten einfach nicht zusammen. So wie das Bäckerhandwerk nicht zu den verschlungenen Gedanken passt, die er sich macht, durchfuhr es sie. Gerade das Kneten des Teigs war Knochenarbeit, für die ihr Bruder mit seiner schmächtigen Statur nicht geschaffen war. Zudem verklebte der Mehlstaub einem die Lungen, bis das Atmen schwerfiel, und in der Backstube herrschte beständig Gluthitze, die den Schweiß aus allen Poren trieb.

Gerade deshalb hielt Jonata selbst sich recht gern hier beim Backofen auf, obgleich auch ihr die Arbeiten nicht lagen. Sie brachte dafür weder Talent noch Lust auf, doch die Gluthitze kam ihr gelegen, denn sie war eine, die fortwährend fror.

Zwar würde Kilian sein Auskommen nicht als Bäcker, sondern wie ihr Vater als Brauer verdienen, aber Brauerei und Backhaus der Familie lagen seit hundert Jahren Wand an Wand, und die zwei Harzer-Brüder verlangten von ihren Kindern, dass sie hüben wie drüben Hand anlegten. An Tagen wie heute, wo Schrippen und Brezeln für die ganze Zunft in den Ofen mussten, während das Bier längst in Fässern und Krügen bereitstand, wurde jede Arbeitskraft in der Backstube gebraucht. Zudem war der Beruf des Brauers nicht geeigneter für Kilian. Während seiner Lehrzeit hatte er über Sudkessel und Maischbottich Blut und Wasser geschwitzt.

Ihr Bruder spannte die schmalen Schultern, um einen Rest seines Stolzes zu bewahren, strafte Onkel Wernhart mit Missachtung und beugte sich wieder über den Teig. Jonata zollte ihm Bewunderung dafür. Sie bekam sein noch immer gerötetes Gesicht nur im Profil zu sehen, bemerkte aber, dass er gegen Tränen kämpfte.

»Gottchen, Gottchen.« Wernhart stöhnte. »Junge, setz beim Kneten die Ellbogen ein, sonst kommt in deine Brezeln keine Luft. Ich hab’s übrigens ernst gemeint. Wenn du dich heute Abend nicht ein bisschen ins Zeug legst, wäre deine Tänzerin selbst mit einem Hussitenteufel besser dran als mit dir.«

Das war hart. Kilian mochte ein linkischer Tänzer und unbeholfener Verehrer sein, aber es war beileibe nicht so, dass kein Mädchen den Kopf nach ihm drehte. Über ihn und die hübsche Hille Bechtolt, die zudem eine reiche Erbschaft mitbrachte, gab es Geflüster von baldiger Heirat. Hilles einziger Bruder war während der Wanderjahre verschollen, was seine Schwester zu einer der besten Partien der Berliner Handwerkerzünfte machte. Und was war mit Alusch? Hatte nicht Alusch, das entzückendste Mädchen des Viertels, ihr Herz allein an Kilian verschenkt? Die beiden waren fast noch Kinder gewesen, aber in jenem Frühling, ehe das Entsetzliche geschah, waren sie Hand in Hand am Fluss entlanggegangen. Jonata hatte ihnen nachgesehen, und die Märzluft auf ihrer Zunge hatte auf einmal bittersüß geschmeckt.

Auch die Erinnerung schmeckte nicht süß, sondern bitter. Sie musste sie abschütteln. Ob ihr Bruder nun Mädchen gefiel oder nicht, mit einem Hussiten durfte niemand ihn vergleichen! Die Ketzerhorden aus dem fernen Böhmen überfielen ein Fürstentum nach dem anderen, brannten Dörfer nieder und schlachteten wehrlose Bewohner ab. Sie köpften Kinder, ertränkten Greise und taten Frauen Gräuel an, die sich nur flüsternd aussprechen ließen.

Jonata sprach sie überhaupt nicht aus. Sie war nicht zimperlich, sie nannte Dinge beim Namen, aber dieses nicht. Sie hatte es niemals beim Namen genannt. Es in schwarzen Nächten vor sich zu sehen, war sie hart genug angekommen.

Und solches Grauen, das sich nicht einmal denken ließ, wollten die Hussiten jetzt nicht nur in Böhmen, sondern im ganzen Reich verbreiten. Die kaiserlichen Truppen kämpften mit Macht, um ihnen Einhalt zu gebieten, aber die Gottlosen waren nicht aufzuhalten. Vor ein paar Wochen waren sie erstmals in der Lausitz eingefallen und hatten in den dortigen Dörfern ein Mordbrennen von unvorstellbarem Ausmaß angerichtet.

Unterwegs lasen sie in Scharen Gesindel auf, lockten mit der Aussicht auf Beute in den geplünderten Ortschaften. In Schlesien hatten sie ähnlich gewütet, und wenn es ihnen in den Sinn kam, ihren blutigen Zug in die Mark Brandenburg auszudehnen, war auch Berlin trotz seiner Stadtmauer und der frisch ausgehobenen, fünfzehn Schritt breiten Gräben nicht sicher. Sie waren rasend und gottlos, und sie schienen unbesiegbar. Bereits das vierte Kreuzzugsheer hatte versucht, sich ihnen in den Weg zu stellen, und war überrannt worden wie von den Reitern der Apokalypse. In der gesamten Stadt konnte es keine Seele geben, die diese Brut des Bösen nicht aus tiefstem Herzen hasste.

»Mit den Hussiten hat Kilian nichts gemein«, fuhr Jonata Onkel Wernhart an. »Und wenn der Vater hier wäre, würdest du dir auch nicht erlauben, so etwas zu ihm zu sagen.«

»Du bist ganz schön vorlaut, junge Dame«, bemerkte Onkel Wernhart, doch sein Schmunzeln verriet, dass er sie nicht ernst nahm.

Jonata schob das Mehl, das sie siebte, beiseite und reckte das Kinn. »Ich sage nicht mehr als die Wahrheit. Hussiten sind Mörder und Schinder, die Gottes Gesetz missachten. Solche Beleidigung hat Kilian nicht verdient, nur weil ihm der Armschmalz zum Teigkneten fehlt.«

»Lass gut sein, Jo«, fiel ihr Bruder ihr ins Wort. »So sehr kränkt mich der Vergleich mit den Hussiten nicht. Da habe ich mir wahrlich schon Ärgeres anhören müssen.«

»Was soll denn das heißen?« Der Onkel öffnete die Klappe des Backofens, und eine Woge glutheißen Dampfes füllte den Raum. »Das klingt ja, als würdest du hier in einem fort beleidigt. Mit den Hussitenteufeln habe ich dich im Übrigen nicht verglichen. Das fiele mir nicht ein, die Ketzer sind mir widerlicher als die Pest, ich habe nur gesagt, selbst so einer hätte im Tanz ein bisschen mehr Schwung als du.«

»Sicher«, erwiderte Kilian gleichmütig.

»Schließlich unterstellt dir keiner, dass du das Blut des Heilands entehrst, Jungfrauen schändest oder kleine Kinder verschlingst.«

»Und wem unterstellt ihr das?«, fragte Kilian. »Den Hussiten? Nur weil einer von dem, was niemand wissen kann, etwas anderes glaubt als wir, ist er doch noch lange kein Jünger des Satans.«

Die zwei Lehrburschen, Matz und Hensel, beugten sich über die Arbeitstische und taten, als hätten sie nur Hände, keine Ohren, aber ihren Rücken war anzusehen, wie angespannt sie lauschten.

»Ich bin nicht sicher, ob ich das verstehen will.« Onkel Wernhart rutschte das Schmunzeln vom Gesicht. »Die Kerle, von denen wir reden, haben es darauf abgesehen, die Christenheit zu vernichten, und ich gestatte nicht, dass du solche Ausgeburt des Bösen in meinem Haus verteidigst.«

»Damit hat Onkel Wernhart recht«, fiel Jonata scharf ein, ehe Kilian den Mund aufbekam. »Wie kannst du diese Ungeheuer in Schutz nehmen? Hast du deinen Kopf so hoch in den Wolken, dass du nicht mitbekommst, was über den kahlen Bohdan und Sladjan Teufelsfratze geredet wird? Der kahle Bohdan soll schlimmer wüten als der einäugige Žižka. Mir schnürt’s vor Wut die Kehle zu, wenn ich nur daran denke.«

»Und mir läuft es kalt den Rücken hinunter«, ließ eine leise Stimme sich vernehmen. Sie gehörte Jonatas Base Geras, die im Winkel beim Ofen stand und aus Teigsträngen Brezeln formte. »Es wäre mir lieb, wenn ihr aufhören würdet, davon zu reden, sonst erscheinen mir all diese Gräuel im Traum.«

»Was für Gräuel denn genau?«, fragte Kilian.

Geras stöhnte, als wäre ihr übel. »Das weißt du doch selbst – was diese Leute fertigbringen, hat mit dem Gebaren von Christenmenschen nichts zu tun. Der Žižka zum Beispiel, der dank Gottes Güte der Pest erlegen ist, hat seine eigene Haut auf eine Kriegstrommel spannen lassen, die dem Mörderheer vorangetragen wird. Ihre Schlachtgesänge sind so abscheulich, sie zersprengen einem frommen Mann das Gehör. Bohdan der Kahle lässt aus den Häuten seiner Gegner Leder gerben, und Sladjan Teufelsfratze soll der satanischste von allen sein. Er spricht keine menschliche Sprache, und sein Anblick ist derart grausig, dass kaiserliche Soldaten vor Entsetzen tot umfallen. Die paar, die stehen bleiben, haut er mit einem Schwerthieb in drei Teile.«

»Aha«, bemerkte Kilian trocken. »Führst du mir bitte mal vor, wie er das macht?« Er nahm dem verdutzten Onkel Wernhart die Brotschaufel ab und trug sie hinüber zu seiner Base. Die war bei Weitem das sanfteste Geschöpf, das sich im ganzen Nikolaiviertel finden ließ, und mischte sich gewöhnlich in solche Gespräche nicht ein. Jetzt aber ging ihr Atem vor Erregung in Stößen. Die Brotschaufel betrachtete sie, als wüsste sie nicht, was damit anzufangen sei.

Jemand lachte: Jecklin, Geras’ Bruder. Obwohl er jünger als Kilian war, trug er bereits eine Wampe vor sich her wie ein viel älterer Mann. Er war der geborene Bäcker, und wer sah, mit welchem Genuss er in eine Schrippe biss, der konnte nicht anders, als ihm einen Sack voll abzukaufen. »Herrgott, Geras, stell das Ding weg, bevor du mit einem Hieb den Ofen in drei Teile haust. Worin sollen wir sonst die Brezeln für Vaters Ernennungsfeier backen?«

Onkel Wernhart war von der Zunft zum Altmeister ernannt worden und würde aus diesem Anlass heute im feierlichen Umzug durch Berlin geführt werden. Anschließend war er verpflichtet, sämtlichen Zunftbrüdern samt ihrem Anhang ein Festmahl zu geben, und dem kam er mit Freuden nach. Er war zu agil, um wie sein Sohn Speck anzusetzen, aber wie dieser liebte er nichts mehr als eine Tafel, die sich unter gutem Essen bog. Er würde sich nicht lumpen lassen, sondern auftischen, was das Haus Harzer zu bieten hatte. Und da seine Bäckerei und die Brauerei seines Bruders von alters her Hand in Hand gingen, hatte er die Gilde der Brauer noch dazu geladen und ein paar auswärtige Gäste obendrein.

Weit mehr als aufs Essen freute Jonata sich auf den Tanz, der auf die Söhne und Töchter der Zunftmitglieder wartete. Jonata liebte das Tanzen, sie war süchtig nach Musik, genoss das Herumwirbeln und die berauschenden Blicke der männlichen Jugend. Sie und Geras hatten für den Anlass eigens neue Kleider bekommen, das ihre aus einem Wollstoff, der sich fein wie Seide anfühlte, und in einem Grün, das gut zu ihren Augen passte. Das Leben war schön, wenn man die Tochter eines begüterten Handwerksmeisters war, eine stattliche Mitgift in der Truhe hatte und als hübsch galt. Nicht nur als hübsch – als die Hübscheste von allen.

Fridel, der Sohn des Bäckermeisters vom Neuen Markt, den sie noch lieber als die Übrigen mochte, hatte ihr beim Maientanz das Haar aus dem Nacken gestrichen und nah an ihrem Ohr geflüstert: »Du bist die Hübscheste von allen, Jonata. Du hast einen Hals wie ein Schwan, und so elegant, wie ein Schwan übers Wasser gleitet, so bewegst du dich.«

Was für ein reizendes Kompliment, dachte Jonata. Das Leben war mehr als schön, wenn man so liebenswerte Verehrer hatte, es war erregend und wundervoll! Ihr Blick wanderte hinüber zu Geras, die noch immer vor Kilian und Jecklin stand wie ein bestellter Korb Schrippen, der nicht abgeholt worden war. Alles an ihr war blass, Haar, Haut und Augen. Das Blümchen von der Backhausmauer, nannten die Burschen sie unter sich. Das war ungerecht. Auf den ersten Blick mochte Geras unscheinbar wirken, aber wer Geduld aufbrachte, erkannte ihren Reiz.

Im Grunde ist sie der Schwan, nicht ich, dachte Jonata. Ich komme mir eher vor wie ein flatterhaftes Täubchen, das von hier nach dort schwirrt, weil es nicht weiß, wo es sich niederlassen will. Geras ist Ruhe und Verlässlichkeit. Sie mag keinen Schwanenhals haben, aber sie zieht so schnurgerade durchs Leben wie ein Schwan durchs Wasser. Vor allem aber steckt sie voll Wärme, während mir immer kalt ist. Wäre ich der Fridel, ich nähme sie, nicht mich.

Jecklin schnappte Geras die Brotschaufel weg und versuchte, Kilian eins zu verpassen wie zuvor sein Vater, aber zum einen war Kilian flinker und zum andern hemmte Jecklin der Respekt vor ihm. Kilian entwand dem kugeligen Vetter die Schaufel und holte aus, um sie Jecklin aufs Hinterteil zu klatschen. Im Schwung hielt er inne und ließ sie sinken. Jonata kannte das von ihm: Es war nur Geplänkel unter Verwandten, aber Kilian fühlte sich davon gekränkt, und was er nicht leiden wollte, tat er keinem anderen an.

Er war ein besonderer Mensch, ihr Bruder. Auf ihre Art waren sie alle besondere Menschen, und sie standen Jonata nahe, als wären sie vier Geschwister: der gemütliche Jecklin, die treue Geras und Kilian, in dessen Kopf Gedanken wucherten, für die selbst Berlin, die größte Stadt Brandenburgs, zu klein schien. Das Leben war schön, wenn man inmitten seiner Familie geborgen war. Zwar waren ihnen die Mütter früh gestorben, doch ihre Väter umsorgten sie nach besten Kräften. Ein Mädchen wie sie, das mit so vielen Segnungen beschenkt war, hätte rundum zufrieden sein sollen mit dem Platz, an den der Herrgott es gestellt hatte. Warum sie es nicht immer war, warum sie manchmal einen Aufruhr in sich spürte, als zerre jemand an ihrem Herzen, verstand sie selbst nicht.

Heute jedoch sollte ihr Inneres Ruhe geben. An einem so leuchtenden Tag wollte Jonata über alles Erdenkliche reden, aber nicht über Sladjan Teufelsfratze und einen Krieg, der weit weg war. »Hör doch auf«, sagte sie zu Kilian. »Gewöhnlich halte ich zu dir, das weißt du, aber wenn du diesen Teufel Sladjan und den kahlen Bohdan verteidigst, brauchst du mit meinem Beistand nicht zu rechnen.«

»Ich rechne mit gar nichts«, erwiderte Kilian, lehnte die Schaufel an den Ofen und kehrte zurück an den verhassten Teig. »Und ich spreche nicht von Sladjan und Bohdan, die Menschen aus Hass und Blutgier zum Mord verführen. Glaubst du nicht, dass es haltlose Mörder auf beiden Seiten gibt, Jo? Und dass die einfachen Leute damit überhaupt nichts zu tun haben, ob sie nun der Lehre des Jan Hus anhängen oder es mit König Sigismund halten?«

»Wenn sie der Lehre von diesem Hus anhängen, sind sie Schlächter und Schänder«, sagte Onkel Wernhart. »Und jetzt Schluss mit solchen Reden. Man sagt mir ja durchaus nach, dass ich euch zu viel durchgehen lasse, aber die Namen von ketzerischen Mordbrennern habe ich in meinem Haus zum letzten Mal gehört. Ist das klar?«

»Soll mir recht sein«, brummte Jecklin und kümmerte sich wieder um sein Schmalz, das in der Kupferpfanne brutzelte. Auch Geras schloss sich wieder den Lehrlingen beim Schlingen der Brezeln an, und Jonata langte nach dem Mehlsieb. Nur Kilian blickte mit blitzenden Augen noch einmal auf. Der Trotz stand ihm nicht übel zu Gesicht, nur für das Thema grollte ihm Jonata.

»Knete deinen Teig«, wies Onkel Wernhart ihn zurecht. »Der ist dein Leisten, und ein Schuster tut gut daran, dabei zu bleiben. Glaubst du etwa noch immer, du wärst zu Höherem berufen, grollst du deinem Vater und mir bis zum Jüngsten Tag, weil wir dir keinen Zehrpfennig bewilligt haben, um nach Prag an die Universität zu gehen?«

Kilian gab keine Antwort. Wer ihn allerdings kannte, dem verriet sein Leib, der vor Spannung zitterte, genug.

»Womöglich hätten wir zwei Narren uns sogar breitschlagen lassen«, sagte Onkel Wernhart. »Fragt man deinen Vater, so scheint aus der Kluft, die deinen Hintern in zwei Hälften teilt, ja ohnehin die Sonne, und aus dem kleinen Brauerssohn aus Berlin wäre vielleicht ein ganz Großer geworden, ein Bischof oder was weiß ich. Aber die Universität in Prag, wo einst die größte Gefahr darin bestand, dass ein paar Siebengescheite sich zu Tode schwatzen, die gibt’s nicht mehr. Heute ist sie ein Nest, in dem hussitische Galgenvögel ihre Eier ausbrüten, und in einen solchen Höllenpfuhl schickt kein braver Mann seinen Sohn. Im Grunde weißt du doch selbst, dass die Hussiten die Ausgeburt des Bösen sind, oder nicht?«

Über Kilians Rücken lief erneut ein Zittern. »Mir ist noch kein Hussit begegnet«, sagte er. »Wie soll ich also wissen, ob er ungetaufte Kinder frühstückt, sich zu Mittag einen Abt schlachtet und sich am Abend über eine Jungfrau hermacht?«

Jonata zuckte zusammen. Wie konnte er so etwas sagen, ihr eigener Bruder, der wusste, was damals geschehen war? Um ein Haar wäre sie mit erhobenen Fäusten auf ihn losgegangen.

Statt ihrer packte Onkel Wernhart die Schaufel, und diesmal ging es um kein spaßiges Geplänkel. Seine Züge verhärteten sich, und seine Fäuste ballten sich um das Holz. »Raus!« Seine Stimme bebte. »Weiß Gott, ich würde dich liebend gern mit einem Tritt auf die Gasse befördern wie einen Strolch.«

»Und wofür?«, fragte Kilian, ohne mit der Wimper zu zucken. »Dafür, dass ich kein Wickelkind mehr bin, das schluckt, was andere ihm vorkauen?«

Weiß traten die Knöchel an Onkel Wernharts Fäusten hervor. »Dank deinem Schöpfer dafür, dass du der Sohn meines Bruders bist«, stieß er zwischen den Zähnen heraus. »Ich will nicht wissen, was ich andernfalls mit dir täte – und jetzt verschwinde!«

Kilian deckte ein Leintuch über seinen Teigklumpen, der vermutlich ohnehin verdorben war. Dann ging er mit geradem Rücken aus der Backstube. Auf der Schwelle wandte er den Kopf und warf nur einer im Raum einen Blick zu. Jonata. Kommst du nicht mit?, schien er zu fragen. Gleich darauf schob er hinter sich die Tür zu und schloss sie mit der schweißtreibenden Hitze und dem Mehlstaub ein.

Jonata war in solchen Momenten oft mit ihm gegangen. Ihr Bruder stand ihr näher als die Übrigen; seine Art, sich gegen Zügel zu sträuben, war dem Aufruhr in ihrem Innern verwandt. Einmal hatte sie von Vater Basilius, dem Priester, der die Harzer-Kinder im Lesen unterwies, eine Ohrfeige bekommen, weil sie ihm gesagt hatte, sie wolle nicht wie die andern, sondern etwas Besonderes sein.

Damals war sie ein dummes Ding von sieben Jahren gewesen, das sich mit seiner Freundin Märchen zusammenfabulierte. Heute wusste sie, dass ihr die Ohrfeige recht geschehen war und umso mehr die Drohung, einem Mädchen, das sich der Sünde des Stolzes schuldig machte, bliebe die Hölle nicht erspart. Von dem Drang lebte in ihr jedoch noch immer ein Rest, und der fühlte mit Kilian. Wenn ihr Bruder sich für die Handwerker aussprach, die mit den Patriziern um Beteiligung im Stadtrat fochten, stand sie auf seiner Seite.

Heute aber konnte sie ihm nicht folgen. Seinen Wunsch, Back- und Braustube hinter sich zu lassen und als Student sein Glück zu versuchen, hatte sie verstanden, doch dass er ein Wort für die mörderischen Hussiten einlegte, erschreckte sie.

Über das, was dieser Sladjan mit der Teufelsfratze Frauen antat, tuschelte die halbe Stadt. Wollte Kilian etwa, dass jemand dasselbe seiner Schwester antat – das, was Alusch angetan worden war? Auch die geschändeten Mädchen hatten Brüder, Väter, Vettern und Verlobte – dachte er nicht daran, was diese Männer litten?

Aluschs Vater würde sich nie davon erholen.

Kilian hatte gesagt, die einfachen Leute, die Männern wie Bohdan und Sladjan folgten, hätten mit jenen nichts gemein, aber das war Unsinn. Wer sich Mördern anschloss, der tat es, um selbst zu morden. Wer dabeistand, wenn Klöster und Kirchen in Brand gesteckt und Gottesmänner bei lebendigem Leibe in die Flammen geschleudert wurden, der war schuldig, als hätte er selbst die Fackel gehalten. Und wer Männer verteidigte, die Frauen die Ehre raubten – wie konnte der noch ihr Bruder sein?

Hätte er Aluschs Schänder nicht gern mit eigenen Händen in Stücke gerissen wie sie alle?

Jonata schüttelte sich. Gleich darauf schwang die Tür wieder auf, und ihr Vater trat ein, der schon seine schöne blaue Schaube für den Festtag trug. Er war auf Einkauf in Bernau gewesen, um ein Gewürz für seine Grut zu kaufen, in dem das Geheimnis seines Biers verborgen lag. Zumindest behauptete er das. In Wahrheit war er einfach ein reiselustiger Mann, der überall in der Mark seine Quellen auftat und für sein Leben gern mit Menschen schwatzte. »Statt Festtagsgelächter essigsaure Mienen?«, rief er mit einem Blick in die Runde. »Welche Laus ist denn euch über die Leber gelaufen?«

»Die Laus ist dein Sohn«, erwiderte Onkel Wernhart grimmig.

»Kilian?« Der Vater hob die Brauen. »Ja, der ist gerade auf der Gasse an mir vorbeigefegt, als wäre mindestens Sladjan der Satanische hinter ihm her.«

»Himmel, Arsch und Zwirn, lässt der Herrgott heute keinen Augenblick ins Land gehen, ohne dass mir jemand diesen Sladjan um die Ohren drischt?«

»Wenn ich dich so ansehe, könnte ich meinen, er wäre in dich gefahren«, bemerkte ihr Vater einigermaßen verblüfft. »Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dass dir wie deinem Speckkuchen vor Heiterkeit die Schwarte kracht.«

»Der Speckkuchen ist noch nicht einmal im Ofen«, versetzte sein Bruder. »Und dass du’s weißt: Deinen Sohn habe ich aus dem Haus geworfen, und sollte er mir heute noch mal unter die Augen kommen, fängt er sich eine Tracht Prügel ein, so lang wie er ist.« Drohend hob er die Schaufel in Richtung Matz und Hensel, die gleichzeitig von der Arbeit aufblickten. »Und ihr braucht gar nicht so zu glotzen. Kein Kerl aus diesem Haushalt macht sich mit gottlosen Mördern gemein. Eher bekommt er die Backen blau gehauen, dass er drei Tage lang nicht sitzen kann, einerlei ob’s ein Lehrling ist oder der Sohn eines Meisters, dem’s am Stolz mehr zwickt als am Arsch.«

»Setz dich hin«, beorderte der Vater ihn knapp und angelte aus seinem Bündel eine lederne Flasche. »Bei der heiligen Allmacht, beruhige dich, oder soll dich noch vor der Ernennung der Schlag treffen?« Er schenkte eine milchige Flüssigkeit in einen fingerhohen Reisebecher und stellte ihn vor den Bruder hin, der sich auf den Schemel plumpsen ließ. »Maulbeerbrand vom Herrn Trinkaus aus Bernau«, erläuterte er, ehe er sich selbst einen Becher füllte. »Der bezieht ihn aus irgendeiner geheimen Quelle in Müllrose – hilft gegen Würmer, Magengrimmen und Erregung des Herzens. Anton Trinkaus lässt sich übrigens für heute Abend entschuldigen, seine Knochen plagen ihn zu arg, als dass er reisen könnte. Aber das Söhnchen schickt er. Den Steffan, aus dem ein mächtig fescher Kerl geworden ist.«

Jonata war klar, dass ihr Vater wie ein Springquell schwatzte, um den Bruder zu beruhigen. Tatsächlich begann Onkel Wernharts Atem, sich zu verlangsamen. Als er sich den zweiten Schnaps in den Hals gekippt hatte, während der Vater weiter über Bernau und das Handelshaus Trinkaus schwadronierte, entspannten sich auch seine Züge. Dass er sich derart in Erregung steigerte, war nicht seine Art. Im Allgemeinen gehörte er zu den Männern, die ein Ärgernis aus dem Weg lachten und sich dabei auf den Schenkel klatschten.

»Und jetzt würde ich gern hören, was hier eigentlich los war«, sagte der Vater. »Dass in Kilian ein Rebell steckt, wissen wir nicht erst seit gestern, aber das macht noch lange keinen schlechten Kerl aus ihm.«

»Einer, der die hussitischen Verbrecher verteidigt, ist mehr als ein schlechter Kerl«, gab sein Bruder zurück. »Ich weiß, du hätschelst deinen Kilian wie ein Ei, dem die Schale platzen könnte, aber wenn du ihn dir nicht endlich zur Brust nimmst, kannst du auf seine Schale pfeifen, denn dann brät sich der Teufel sein Frühstück aus ihm.«

Der Vater stellte sein Bündel ab. Als er sich umwandte, war der Frohsinn aus seiner Miene verflogen. »Jonata«, sagte er. »Erzähl mir, was vorgefallen ist.«

So hatte er es von jeher gehalten, wenn Kilian zu weit gegangen und mit jemandem aneinandergeraten war. Meist hatte Jonata ihren Bruder verteidigt: Man musste kein Umstürzler sein, um über Missstände in Empörung zu geraten: Es war nicht recht, dass einem Bauern sein Kind verhungerte, während ein Ritter einmal in eine Rehkeule biss und sie dann seinen Hunden vorwarf. Es war nicht recht, dass die Sitze im Rat allein von Patriziern besetzt wurden, während der Wohlstand Berlins aus der Arbeit der Handwerker erwuchs. Es war nicht recht, dass ein kluger Kopf Augen und Ohren hatte, um die Welt zu erkunden, aber den Mund nicht auftun durfte, um zu sagen, wo sie schief in den Angeln hing.

Kilian war stolz wie ein Fasanenhahn, er biss die Zähne zusammen und rechtfertigte sich mit keinem Wort, obwohl er es aus tiefstem Herzen hasste, gezüchtigt zu werden. Der Vater jedoch war kein harter Mann. Oft genug hatte er sich von Jonata überzeugen lassen und seinem Sohn die Schmach der Rute erspart. Heute aber blieben Jonata die Worte in der Kehle stecken. »Kilian war nicht bei sich«, presste sie endlich heraus. »Er hat das, was er gesagt hat, nicht so gemeint.«

»Was hat er denn gesagt?«, fragte ihr Vater.

»Das bleibt unter uns«, schnitt Onkel Wernhart Jonata das Wort ab. »Du bist mein Bruder und sollst dich für dein Fleisch und Blut nicht noch schämen müssen. Lass dir genug sein, dass er sich zum Streiter für den kahlen Bohdan, Sladjan Satansfratze und den Rest der Ketzerhorde aufgeschwungen hat. Und Jonata zwing nicht, die Stimme gegen ihren Bruder zu erheben, denn dazu hat sie ein zu gutes Herz.«

Dass sie ein gutes Herz hatte, war Jonata neu. Auch ihr Vater warf ihr einen skeptischen Blick zu, doch er ließ die Sache auf sich beruhen. »Kilian ist ein Heißsporn«, sagte er. »Aus seinem Mund schwappt eine Menge Käse, aber von der Feier kannst du ihn nicht ausschließen. Zum einen wirft das ein schlechtes Licht auf uns, und zum andern hoffe ich, heute Abend mit dem Bechtolt einig zu werden. Womöglich rufen wir die beiden sogar gleich als verlobt aus.«

Ewalt Bechtolt führte eine Großbrauerei und war Vaters ärgster Konkurrent. Hundert Jahre lang hatten die Familien in erbittertem Streit gelegen, doch Ewalt hatte keinen Sohn mehr, und wenn jetzt Kilian seine Tochter Hille zur Frau bekam, konnten die beiden Gewerbe vereint in eine glänzende Zukunft gehen. Zudem war Hille ein Goldschatz, und Jonata hegte keinen Zweifel daran, dass sie und Kilian einander mochten.

Aber würde Kilian schon heiraten wollen? Sie selbst wollte es nicht. Man war doch nur einmal jung und durfte nur einmal die Blicke schweifen lassen. Ja, den Fridel mochte sie lieber als die andern, aber es war ein solcher Spaß, von allen gemocht zu werden. Wenn sie erst verheiratet war, musste sie über ihrem Haar eine Haube tragen, um ihren Schwanenhals ein Schultertuch und um ihr Herz einen Zügel, der keinen Aufruhr mehr erlaubte. Keinen letzten Rest von Sehnsucht danach, etwas Besonderes zu sein.

Was sie im Tausch dafür bekommen würde, war ihr fremd und weckte eine Furcht, die sie lieber vergaß.

Onkel Wernhart brummte etwas Unverständliches. Der Vater klopfte ihm auf den Rücken. »Nun lass schon gut sein. Kümmern wir uns lieber um den Speckkuchen. Was spülen wir sonst mit den zwei Fässern Apfelwein herunter, die ich dem Trinkaus abgeknöpft habe?«

»Zwei Fässer?«, fragte Wernhart hellhörig und schon wieder halb besänftigt. »Auch eins vom roten Franzosen?«

Der Vater nickte. »Auch wenn ich nie begreifen werde, warum ein Mann Wein saufen sollte, wenn er redliches Brandenburger Bier haben kann.«

»Weil er mehr als einen Krug hat«, schlug Jecklin vor, stibitzte eine von Geras’ ungebackenen Brezeln und stopfte sie sich in die Backentasche. »Und jede Menge Platz im Bauch.«

Der Vater lachte, wenn auch nicht froh. »Solange dein Bauch als Maß gilt, sicher. Und jetzt an die Arbeit, sonst kannst du auf deinem Bauch heute Abend die Trommel schlagen, so leer bleibt der.«

Jonata wollte sich wieder um ihr Mehl kümmern, doch der Aufruhr in ihr schwoll so heftig an, dass sie innehalten musste. Hatte sie Kilian verraten? Aber warum betrug er sich in einer Weise, die nicht einmal sie, seine engste Vertraute, fassen konnte?

Als wäre er selber einer von denen. Hussiten gab es auch in Brandenburg. Lichtscheues Pack, das sonst in der Welt keinen Platz hatte, folgte dem Ruf von Verführern wie dem kahlen Bohdan und schloss sich den böhmischen Truppen an. Aber nichts davon traf auf Kilian zu! Kilian stammte aus einer angesehenen Familie, er war begabt und hatte ein wohlgeordnetes Leben vor sich!

Am Handgelenk spürte Jonata eine Berührung. Geras war so lautlos zu ihr getreten, wie sie ihr ganzes Leben führte. »Vater beruhigt sich wieder«, flüsterte sie. »Und Kilian hätte eine Strafe für sein dummes Reden schon verdient, aber er hat doch an nichts dabei gedacht, schon gar nicht an deine Freundin.«

Deine Freundin. Aluschs Namen sprach niemand aus.

»Jetzt hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen«, fuhr Geras fort. »Freu dich lieber auf den Tanz.«

Jonata sandte ihr einen dankbaren Blick. Geras war das Gegenteil der begabten, hellwachen Alusch, doch auf ihre stille Art war sie die beste Freundin, die ein Mädchen haben konnte.

»Du glaubst auch, dass Kilian nicht meint, was er sagt, nicht wahr?«, fragte Jonata. »Dass er nicht einmal nachgedacht hat?«

»Natürlich glaube ich das.« Noch einmal strich Geras über ihr Handgelenk. »Wir sind gewöhnliche Menschen, die ihren Platz in der Ordnung haben. Von uns hat mit dem Bösen keiner was zu schaffen.«

Jonata griff nach dem Mehlsieb. »Danke, du Liebes. Und heute Abend schnappen wir beide uns die ansehnlichsten Tänzer, abgemacht?«

Ein wenig mühsam lachte Geras auf. »Ich nicht, aber du gewiss. Jetzt gib Acht, dass dein Mehl nicht klumpt, du Tanzkönigin. Wir, die in deinem Schatten stehen, wollen schließlich wenigstens gut essen.«

2

Die Berliner Handwerker waren ein findiger Haufen und ließen sich so schnell nicht bange machen. Wäre in Bernau ein Haufen Tänzer von einem Regenguss überrascht worden, so hätten sich alle auf schnellstem Weg in ihre Häuser zerstreut. Auf der Berliner Krögel-Gasse spielten Sackpfeifer, Trommler und Fiedler jedoch unbeirrt weiter, während die Lehrlinge der Harzer-Brüder zu beiden Seiten Gerüste aufstellten und eine Plane aus Leinen darüber spannten. Natürlich war das notdürftige Dach rasch durchgeweicht, und dicke Tropfen sickerten den Tanzenden auf die Köpfe, aber wem ein hübsches Mädchen das Blut in Wallung brachte, dem genügte das bisschen Schutz allemal.

Steffan zumindest genügte es. Das Mädchen, das ihm das Blut in Wallung brachte, wäre es wert gewesen, selbst unter der Sintflut weiterzutanzen. Er hatte sie vor dem Haus ihres Onkels stehen sehen und im selben Atemzug einen unglaublichen Gedanken gefasst: Das ist die eine. Die muss ich haben.

Er wusste, wie Männer in Schankstuben schwatzten. Die, die bereits verheiratet waren, rieten davon ab, sich eine Braut nach dem Äußeren zu wählen. »Solange sie sich sauber hält und nicht zu klapprig in den Hüften ist, ist alles recht«, pflegten sie zu sagen. »Was nützt ein hübsches Gesicht, wenn du dir einen Faulpelz oder eine Zankgeige ins Haus nimmst? Brauchst du was fürs Auge, dann hol’s dir bei den Huren.«

Das Mädchen, das vor der Tür gestanden hatte, war ohne Zweifel etwas fürs Auge. Seltsamerweise war Steffan jedoch überzeugt, ihr am Äußeren anzusehen, wie sie im Innern war: Sie ist für mich geschaffen. Die oder keine.

Sie war schlank und hochgewachsen wie ein Jüngling, und ihr Tanzschritt wirkte selbst im plumpen Hoppelrei grazil. Ihr Haar war blond, aber nicht hell wie Weizen, sondern satt wie Tannenhonig. Sie trug es von der Stirn bis in den Nacken geflochten, und von dort fiel es ihr in einem dichten Strang in die Taille. Beim Lachen warf sie den Kopf in den Nacken und hatte etwas Verworfenes an sich, etwas, das einen Schritt zu weit ging. Für liederliche Weiber hatte Steffan nichts übrig, aber ein Mädchen, nach dem kein anderer schaute, hätte nicht zu ihm gepasst.

Schließlich war er selbst einer, der dem anderen Geschlecht gefiel, und das beileibe nicht nur, weil er der Erbe eines Handelshauses war. Junge Männer, die leidlich anzusehen waren, gab es zur Genüge in der Mark Brandenburg, aber um ihn stand es wie um die Honigblonde im grünen Kleid: Wo er ging, spürte er Blicke, die sich ihm in den Rücken bohrten, wo er in einen Kreis trat, begannen Mädchen, miteinander zu tuscheln.

Hast du gesehen, wie stattlich er gewachsen ist?

Und dann erst die Augen! Wer hat dem Schlingel erlaubt, sich zwei silberne Sterne vom Himmel zu stehlen?

Die Blonde tuschelte nicht. Sie tanzte weltvergessen, wanderte von einem Arm zum nächsten und schien den Gast aus Bernau nicht zu beachten. Steffan aber entging nicht, dass sie dasselbe tat wie er: den Kopf kaum merklich drehen und aus dem Augenwinkel nach ihm spähen.

Es war unglaublich aufregend. Jeder Atemzug, in dem er keinen Blick auf sie erhaschen konnte, wurde ihm endlos lang. Die meiste Zeit über tanzte sie mit einem dicklichen Tölpel, der zwischendurch nach den Schüsseln auf den Tischen langte, um sich von den bereitgestellten Erfrischungen etwas in den Mund zu stopfen. An seinen Fingern klebten Honig, Süßwein und Teig vom Mandelbrot, und dennoch patschte er der Schönen ungeniert den Arm entlang. Auf dem Stoff ihres Kleides blieben Spuren wie Schneckenschleim, aber sie schien sich nicht darum zu scheren. Geradezu neckisch tätschelte sie dem Tölpel, der einen halben Kopf kürzer war als sie, die feisten Wangen.

»Wer ist der?«, rutschte es Steffan heraus, als die Musik verklang und seine eigene Tänzerin im Gehüpfe innehielt.

»Wer denn?«, fragte das Mädchen. Es war ein farbloses, unscheinbares Ding, das derart anhimmelnd zu ihm aufblickte, dass ihm der Nacken schmerzen musste.

»Der Verschwitzte in der bronzebraunen Schecke, die, wenn er das nächste Mal zulangt, wohl platzen wird.«

Das Mädchen lachte gekünstelt. »Das ist Jecklin Harzer. Sohn und Erbe des frisch ernannten Altmeisters.«

»Oha«, entfuhr es Steffan. »Dann tanzt deshalb das schönste Mädchen des Abends unentwegt mit ihm? Weil eine stattliche Erbschaft auf ihn wartet?« Das war unfein, wenn nicht sogar rüde. Ein Mann, der Erziehung genossen hatte, machte jedem Mädchen den Hof und lobte nicht vor dem einen die Vorzüge des andern. Steffan war ein Patriziersohn, sein Hinterkopf glaubte sich schmerzlich der Katzenköpfe zu erinnern, die er für schlechtes Benehmen bezogen hatte. Infolge der Strenge wusste er sich in vornehmsten Kreisen zu bewegen, aber heute wollte er nur eines: weg von dieser und hinüber zu der andern.

»Sie tanzt mit ihm, weil er ihr Vetter ist«, murmelte das Mädchen. »Und ein feiner Kerl ist er obendrein. Vielleicht sieht Jecklin nicht so blendend aus wie manch anderer, aber ihm schlägt da, wo es hingehört, ein gutes Herz.«

»Sofern man unter der Speckschwarte von dem Schlag etwas hört«, konterte Steffan. Auf einmal gefiel er sich in der Rolle des Rüpels. Harmlose Jungfern mochten sich an seinen vollendeten Manieren delektieren, aber für die Schöne im grünen Kleid brauchte es mehr als ein gezähmtes Bübchen: einen Wirbelsturm, der ihr zeigte, dass unter feinem Tuch und geziertem Gebaren nichts anderes steckte als ein Mann. Die Vorstellung versetzte ihn in Erregung. »Ihr Vetter ist er also? Und ein Bewerber um ihre Hand obendrein?«

»Jecklin? Um Himmels willen, nein! Die vier Harzer-Kinder werden ja gehalten wie Geschwister, und dass er in Jonata etwas anderes als seine Schwester sieht, bezweifle ich.«

Jonata. Der Name stand ihr. Einfach Marthe oder Gunde hätte sie nicht heißen können.

»Die vier Harzer-Kinder?«, fragte Steffan. »Wer sind die? Die formidable Jonata, der gefräßige Jecklin – und wer noch?«

»Kilian, der Erbe der Harzer-Brauerei«, erwiderte das Mädchen mit halb gesenktem Kopf. »Sonst niemand Wichtiges, nur noch eine blasse Base, mit der Ihr Euch kaum abgeben würdet.«

Steffans Gedanken waren längst weitergewandert. Burkhart und Wernhart Harzer, Brauer und Bäcker, gehörten zum Kundenstamm seines Vaters, zu denen, die sich teure Waren leisten konnten: Gewürze, Wein und aromatische Früchte des Südens. Dass die Schöne aus solcher Familie stammte, war ein Segen: Zwar stand sie als Handwerkertochter in der Ordnung unter ihm, aber ihr Onkel war Altmeister eines Viergewerks, und die Braukunst ihres Vaters war über Berlin hinaus bekannt. Er würde seine Tochter mit einer beträchtlichen Mitgift ausstatten, die Steffan zugutekam, wenn er an die Erfüllung seines heimlichen Traumes ging. Die Schöne selbst würde eine Zierde für sein Haus sein. Sie passten zusammen. Ihre Plätze in der irdischen Welt lagen nahe genug beieinander.

Aber andernfalls hätte ich sie trotzdem haben müssen.

Steffan stockte. Hatte wirklich er das gedacht? Dass er eines Tages eine Frau heiraten würde, die seinem Stand entsprach, hatte er nie angezweifelt. Er blickte über den Kopf der Blassen hinweg nach der schönen Jonata, die ihr Haar zurückwarf und mit dem Vetter lachte. Er kannte sie nicht, hatte nie ein Wort mit ihr gewechselt – sie durfte ihm doch keine solche Verrücktheit wert sein!

Aus seiner Ordnung auszubrechen, war, als risse ein Baum sich die Wurzeln aus und triebe haltlos einen Hang hinunter. Wie konnte er etwas derart Halsbrecherisches auch nur in Erwägung ziehen, um eines Mädchens willen, obgleich es Mädchen gab wie Sand am Strand der Spree?

Nein, dachte er. Eine wie sie gab es nicht wie Spreesand. Sie war so einzigartig wie die aus dem Sand emporgeschossene Doppelstadt Berlin, doch um sie für sich zu gewinnen, brauchte er nicht aus der Ordnung auszubrechen, sondern nur zu tun, was nahelag. Die Spielleute duckten sich tiefer unter das Vordach des Hauses und nahmen ihre Instrumente wieder auf.

»Ich danke«, sagte Steffan zu der blassen Tänzerin und deutete zumindest den Ansatz einer höflichen Verbeugung an. »Jetzt will ich mit Eurer Bekannten Jonata tanzen.«

»Hab’s nicht anders erwartet«, murmelte das Mädchen. »Aber wie’s aussieht, lässt sie Euch im Regen stehen wie Ihr mich.«

Steffan blickte auf und sah, wie die Schöne ihrem Vetter durch den struppigen Schopf fuhr, herumwirbelte und sich dem Burschen zuwandte, der hinter ihr gewartet hatte. Der bot ihr den Arm, und wie beflügelt schritt sie an seiner Seite in die Mitte der Gasse, wo die Paare sich zur Farandole aufstellten. Beim ersten Ton der Musik sprang sie lustvoll in die Bewegung, als gäbe es kein größeres Glück, als mit diesem Burschen zu tanzen. Dabei machte der nicht einmal viel her. Nun gut, er war nicht fettleibig wie Vetter Jecklin, und seine Züge waren einigermaßen gefällig, aber Kerle wie ihn gab es zu Dutzenden!

»Jetzt wollt Ihr mich sicher auch noch fragen, wer der Fridel ist«, bemerkte das Mädchen.

»Wer wer ist?«

»Der Fridel, Bäcker Hellers Sohn, der mit Jonata tanzt. Er mag sie gern. Und sie mag ihn auch, glaub’ ich.«

Wollte dieses fade Geschöpf sich über ihn lustig machen? Ihm heimzahlen, dass ihm die andere besser gefiel? »Wer am Ende wen mag, wird sich ja zeigen«, verwies er sie. Er wollte losstürmen, Jonata dem selig grinsenden Bäckerssohn entreißen, doch im letzten Augenblick beherrschte er sich. So weit durfte er nicht gehen – Jonata würde ihn nicht für einen heißblütigen Bewerber, sondern schlicht für einen Flegel halten. Ihm blieb nichts übrig, als sie für diesen Tanz dem Rivalen zu überlassen.

Missmutig drehte er sich wieder nach der Blassen um. »Also auf noch ein paar Runden mit Euch.« Er wollte sich am Ende der Reihe mit ihr einordnen, sie aber blieb stehen und schüttelte den Kopf.

»Länger mit mir zu tanzen braucht Ihr nicht. Ich lese Euch ja vom Gesicht ab, wie zuwider es Euch ist, und ich möchte Euch nicht lästig fallen.«

Steffan erschrak. Aus sehr klaren Augen blickte sie zu ihm auf, und auf einmal tat ihm seine Grobheit leid. Die Blasse konnte schließlich nichts dafür, dass er sich an diesem Abend unwiderruflich in eine andere verliebt hatte. »Ich tanze gern mit Euch«, log er und verneigte sich tief wie ein Höfling.