Die Mula - Erica Brühlmann-Jecklin - E-Book

Die Mula E-Book

Erica Brühlmann-Jecklin

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Beschreibung

Luz, eine junge Kolumbianerin, will sich von ihrem Elternhaus lösen, um wiederkehrender häuslicher Gewalt zu entfliehen. Sie sucht ein selbstständiges Auskommen für sich und ihren kleinen Sohn. Ohne zu wissen, in was sie sich hineinbegibt, nimmt sie ein zwielichtiges Jobangebot an und landet in den Fängen kolumbianischer Drogenhändler. Um vermeintliche Schulden zu bezahlen, wird sie zur «Mula», zur Drogenkurierin. Jeder Auftrag soll der letzte sein, um sich endlich freikaufen zu können. Doch es geht immer weiter. Als sie in Zürich festgenommen wird, empfindet sie dies zunächst als Befreiung. Es folgen eine lange Untersuchungshaft und eine Haftstrafe im Frauengefängnis Hindelbank. Sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Aber sie überlebt, bekommt eine zweite Chance und packt diese. Von ihrem schwierigen Weg zurück ins Leben, das sie nach ihrer Freilassung in der Schweiz gefunden hat, erzählt dieses Buch.Die Autorin Erica Brühlmann-Jecklin hat unzählige Gespräche mit Luz Estella Fernandes geführt, um deren  Erinnerungen einfühlsam aber ohne falsche Sentimentalität aufzuzeichnen.

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Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Prolog

Teil 1 – Kinder- und Jugendzeit

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

Teil 2 – Unheilvolle Geschäfte

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Teil 3 – In Hindelbank

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Teil 4 – Frei

I

II

III

IV

Epilog

Betreuerin Silvia erinnert sich

Nachwort

Über das Buch

Erica Brühlmann-Jecklin

Die Mula

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2021 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

Alle Rechte vorbehaltenLektorat: Thomas GierlUmschlaggestaltung: bido-graphic, Muttenz

Erica Brühlmann-Jecklin

Die Mula

Erinnerungen einer ehemaligen Drogenkurierin

Prolog

«Ein Brief für dich, Luz», sagt die Betreuerin und hält ihr ein Couvert entgegen. «Ein Brief vom Gericht.»

«Ich verstehe nicht Deutsch», antwortet Luz und begibt sich in ihre Zelle.

Die Betreuerin folgt ihr, setzt sich neben sie auf die Pritsche, nimmt ihr den Brief aus den Händen, öffnet das Couvert, schweigt einen Moment, sagt dann auf Spanisch zur Gefangenen: «Sechs Jahre Haft und Landesverweisung.»

Luz senkt den Kopf, hält ihn in ihren Händen, beginnt zu weinen. «Sechs Jahre weniger zwei Jahre und zwei Monate, nochmals vier Jahre hier, mehr als das Doppelte.»

«Du schaffst das. Bei guter Führung wirst du doch früher entlassen. Dann werden es nicht sechs Jahre sein. Du bist jung, dann bist du frei. Gehst zurück in deine Heimat. Zu deiner Mutter, den Schwestern, zu deinem Sohn.» Die Betreuerin erhebt sich und verlässt die Zelle.

Luz legt sich auf die Pritsche, die Hände über den Augen, das Licht blendet stärker als sonst. «Ich habe alles verloren», flüstert sie vor sich hin, «bin lebendig begraben.» Unaufhaltsam fliessen die Tränen, rinnen seitlich über die Schläfen, benetzen die Ohren. «Ich muss sterben», geht es ihr durch den Kopf, «ich will sterben.» Es ist besser, wenn du tot bist, sagt eine Stimme in ihr. Langsam erhebt sie sich, wankt zum schmalen, in die Wand eingelassenen Schrank, öffnet ihn, zieht unter der Unterwäsche ein Glas hervor. Ihr Notvorrat für den Fall, dass das Leben noch unerträglicher, ja, nicht mehr lebbar würde. In Gedanken geht sie nochmals den abendlichen Weg ins Büro, wo ihr Abend für Abend eine der diensthabenden Betreuerinnen die Tablette gegen die Depression gab. Sorgfältig schob sie diese stets unter die Zunge, trank einen Schluck, vorsichtig genug, dass die Pille nicht mitrutschte, hinunter in den Schlund, wo einstmals die mit Kokain gefüllten Plastikfingerlinge sie fast in den Tod getrieben hatten. Jetzt geht sie in Gedanken wieder zurück in die Zelle, wo sie die Tablette aus dem Mund nahm und in das Glas gab.

«Nun müsste es reichen», flüstert sie zu sich. «Jetzt kann ich gehen, kann sterben. Ich habe alles verloren, auch die letzte Hoffnung.» Die Mutter hatte es ihr klar gesagt am Telefon: «Wenn du zurück nach Kolumbien kommst, bringen sie uns alle um, zuallererst deinen Sohn.» Mit dieser Angst kann sie nicht mehr leben, will sie nicht mehr leben.

Sie nimmt ein Stück Papier und einen Stift und schreibt:

Lieber Miguel,

es tut mir leid, aber es ist besser, wenn ich gehe, dann ist dein Leben nicht mehr in Gefahr. Deines und das deiner Grossmutter. Tschau euch beiden.

Das muss genügen, denkt sie, legt den Brief offen auf den kleinen Klapptisch, den Kugelschreiber daneben.

Sie wartet, bis um neun Uhr die Zelle für die Nacht geschlossen wird, und als sie das Rasseln des Schlüsselbundes hört und weiss, dass nächstens alle Zellen geschlossen würden, nimmt sie die Pillen aus dem Glas und wartet. Wann endlich würde sie das Drehen des Schlüssels an ihrer Zellentür vernehmen? Aber dann will sie nicht mehr warten, beginnt, die Tabletten einzunehmen, schluckt immer einige aufs Mal mit etwas Wasser hinunter.

Sie legt sich auf das Bett. Langsam kommt ein leichtes Zittern über sie, dann wie eine trübende Wolke eine Umnachtung, die ihr den unerträglichen Schmerz aus Herz und Hirn verbannt. Aber tritt da noch jemand an ihr Bett? Oder träumt sie? Sie versucht, das Wegdämmern noch etwas aufzuschieben, aber dann überwältigt sie ein tiefer, dunkler Schlaf.

Was war geschehen?

Teil 1 – Kinder- und Jugendzeit

I

«Wieder ein Mädchen», sagte die Hebamme zum Vater. Man schrieb den 31. August im Jahr 1963.

«Das neunte, das lebt», erwiderte er und ergänzte: «Nun ja, einen Sohn habe ich ja.»

Die Wöchnerin lag erschöpft im Bett, eine leise Traurigkeit gesellte sich zur Freude über das gesunde kleine Mädchen, das sie Luz Estella nennen würden. José Alejandro, der zusammen mit seiner Zwillingsschwester Maria als erstes ihrer Kinder auf die Welt gekommen war, diese aber nach nur zehn Monaten wieder verlassen musste, wäre jetzt elfjährig. Der nur wenige Woche nach dem Tod des Zwillings geborene zweite Bub trägt immerhin dessen und des Vaters Namen. José. Ihr war es egal, ob sie Mädchen oder Buben bekam, Hauptsache, sie waren gesund, und wie ihr Mann eben zur Hebamme gesagt hatte: Einen Sohn hat er ja. Und er war jemand, war immerhin Polizeiwachtmeister im kleinen Dorf Guateque im Bezirk Boyacà. Mit den Vorzügen, die sich aus seinem Beruf ergaben, war es ihm problemlos möglich, eine Grossfamilie zu ernähren. Möge es am Leben bleiben, dachte er, der sich ungern daran erinnerte, dass vom Zwillingspaar der Bub nicht überlebt hatte. Die Mutter blickte auf das kleine Wesen, flüsterte: «Zehn Monate hast du mich warten lassen. Na ja. Jetzt bist du ja da.»

Luz wird sich nicht an das kleine, hübsche Dorf mit den wenigen paar tausend Einwohnern erinnern. Kaum dass sie auf der Welt war, zog die Familie um. «Hier will ich nicht bleiben», sagte der Vater zu seiner Frau, «das Geschäft mit den Smaragden blüht und bringt zu viel Kriminalität.» Zu oft wurde er an die Schauplätze von Gewalttaten gerufen. Seine Kinder sollten an einem sicheren Ort aufwachsen: Bucaramanga, knappe dreihundert Kilometer von Bogotá entfernt.

Man kann es ahnen, Luz blieb nicht die Jüngste. Ihr folgte ein zweiter Bruder, Jorge Eduardo, aber auch er sollte diese Welt nach nur eineinhalb Jahren wieder verlassen. Eine Magenentzündung, hatten die Ärzte gesagt. Die beiden Jüngsten, Elena und Sarah, wurden nach ihm geboren, und die jeweils verantwortliche Hebamme dürfte wohl beide Male erneut gesagt haben: «Wieder ein Mädchen.»

II

Margherita, das achte der lebenden Geschwister, hatte eben erst laufen gelernt. Aber sie hatte keine Freude am kleinen Wesen, das da neu in die Familie gekommen war. Wenn die Mutter sich um Luz kümmern wollte, schrie sie so herzzerreissend, dass sie Atemnot bekam und kurz ohnmächtig wurde. Aber Mama Epifania war der ganzen grossen Arbeit gewachsen. Vater José Alejandro hatte ihr ein Dienstmädchen zur Seite gestellt, eines aus dem Dorf, so dass sie von der Koch- und Haushaltarbeit entlastet war und ihrer grossen Leidenschaft als Schneiderin nachgehen konnte. Die Mutter nähte viel, nähte die Kleider für all ihre Kinder, nähte für Verwandte und auch für Leute im Dorf. Für die Kinder wählte sie stets denselben Stoff, dieselbe Machart. Wie in Schuluniformen kamen die Fernandez-Kinder daher. Wenn sie die Mädchen zum Coiffeur brachte, wünschte sie, dass alle die gleiche Frisur bekamen, ein gerader Schnitt, ringsum gerade, so wollte sie es. Schmuck sahen sie aus, und allenthalben erntete Epifania viel Lob für diese Begabung, die gepaart mit ihrem Fleiss und ihrer Tüchtigkeit die Kinder so adrett daherkommen liess. Bloss der Schmerz um den zweiten verlorenen Buben wollte nicht weichen. «Ich will nicht in diesem Dorf bleiben», sagte sie zum Vater, «alles hier erinnert mich an Jorge, Die Trauer bringt mich ins Grab.» Elena, die wie Jorge in Bucaramanga zur Welt gekommen war, konnte den Schmerz der Mutter nicht aufwiegen. So beschloss der Vater, in Bogotá, wo auch die Grosseltern wohnten, ein Haus zu bauen.

Das Grosselternhaus sollte als Zwischenstation dienen, bevor man in das eigene Haus einziehen würde, das der Vater in dieser Zeit bauen liess.

Nun wohnte die Familie also im Haus der Grosseltern. Die Ankunft der kleinen Sarah rundete die Geschwisterreihe ab. Für die Kinder standen zwei Zimmer zur Verfügung, alle verteilt in diesen beiden Räumen, in einem die sechs Grossen, im andern die fünf Kleinen. Das Baby schlief bei der Mutter, wurde noch gestillt, brauchte deren Nähe. Dies war die Übergangslösung, wie sie der Vater geplant hatte. Die Kleinen genossen das Zusammensein in diesem Schlafraum, lachten und spielten. Manchmal schaute der Vater herein, sagte: «Ihr müsst jetzt still sein.» Wenn das nicht klappte, nahm er die Sicherung aus dem Sicherungskasten, und sofort war es dunkel im Zimmer. Endlich kam der Schlaf über die lustige Bande. Aber schon hiess es wieder aufstehen. Um vier Uhr früh öffnete der Vater die Tür und rief: «Aufstehen, Kinder! Der Schulbus wartet nicht.» Wenn sich die grösseren Mädchen, noch müde vom nächtlichen Spass, wieder umdrehten und weiterschlafen wollten, kam er ein zweites und manchmal auch noch ein drittes Mal. Schliesslich brachte er eine Schüssel Wasser, hob die Decken, schüttete das kühle Nass über die Kinder und sagte: «Hopp! Aufstehen! Schuluniformen anziehen!» Das half. Unmittelbar danach standen alle vor den zwei Toiletten und den zwei Duschen.

Am grossen Frühstückstisch wartete das Dienstmädchen mit dem Essen: Brot, eine Frucht und ein Schokoladengetränk, und dann ab in die Schule. Beim Mittagessen achtete der Vater streng darauf, dass alle gerade auf ihren Stühlen sassen. «Die Hände auf den Tisch!», befahl er in militärischem Ton, «und keinen Mucks will ich hören. Niemand steht auf, bevor alle fertig gegessen haben. Wer auf die Toilette muss, fragt zuerst. Und gerade sitzen, hört ihr? Gerade!»

Die eigentliche Respektperson war der Pfarrer. Dieser, fast ein Heiliger, bestimmte die ethischen Grundsätze der Eltern und damit der ganzen Familie. Sonntags besuchte die Familie die Messe in der Kirche. Sonntag für Sonntag. Die Kinder bekamen alle Rituale der katholischen Kirche mit, mussten zur Beichte gehen, sobald sie die Erstkommunion empfangen hatten. Die Grossmutter war fromm, und die Heiligen, deren Bilder sie auf dem Altar im Korridor aufgestellt hatte, bedeuteten ihr alles. Oft betete sie für die Toten. Dieser Korridor führte zum hintersten Zimmer der sechs Kleinen. Oft erleuchteten Kerzen den Gang, während die Grossmutter vor dem Altar stand und den Rosenkranz betete. Jeden Tag. Stundenlang.

Eines Abends, als Luz an ihren Hausaufgaben sass, hörte sie die Grossmutter im Korridor beten. Das Pult von Luz stand beim Fenster, durch das sie auf eine kleine Kapelle hinter dem Haus blicken konnte. Plötzlich meinte sie, ganz viele Stimmen zu hören, Stimmen, die beteten, und es war ihr, als wäre sie mitten in der Kirche. Sie hörte das Murmeln des Vaterunsers. Sie vermutete eine Prozession auf der Strasse und öffnete das Fenster. Aber kaum war das Fenster offen, hörte das Geräusch auf. Und sobald sie das Fenster wieder schloss, begann das Murmeln von Neuem: Vaterunser, Padrenuestro. Luz erschrak. Sie bekam Angst, legte den Stift auf das Schulheft und rannte zur Grossmutter, umarmte sie und sagte: «Ich habe Angst.» – «Angst? Weshalb Angst? Hast du den Teufel gesehen? Du bist ja ganz blass im Gesicht.» – «Nein, es sind Stimmen, sie beten so wie du, ganz viele.» – «Aha. Musst nicht Angst haben», sagte die Grossmutter, «es sind die Toten. Du musst einfach beten, damit sie Ruhe bekommen.» Luz beruhigte sich, aber dieses Geschehnis, was immer es gewesen sein mochte, prägte sie darin, zu glauben, dass die Toten zu ihren Lieben kommen, um sie zu beschützen.

Das Grosselternhaus hatte, wie fast alle Häuser in Kolumbien, keinen Keller. Dafür gab es die grosse Terrasse auf dem Dach. Dort standen Behälter mit Wasser, damit die Sonne dieses wärme und die Kinder mit warmem Wasser geduscht werden konnten. «Ihr geht mir da nicht hinauf!», befahl der Vater, und die Grossmutter ergänzte: «Da oben wohnt der Teufel!»

Obwohl die Kinder wussten, dass es verboten war, gingen sie hin und wieder doch hinauf. Einmal sah Luz einen Schatten. Sie erschrak so sehr, dass sie eilends wieder hinunterlief. «Ich sagte dir doch», meinte die Grossmutter, «da oben ist der Teufel.»

Es war noch nicht lange her, dass im Nachbarhaus ein Kind hinuntergefallen war. Die schwer geprüfte Familie hatte kurz zuvor den Vater durch einen Unfall verloren, die Mutter musste alleine für ihre zwei kleinen Mädchen sorgen. Und dann waren die zwei Schwestern auf die Dachterrasse gegangen. Die kleine Fünfjährige hatte hinuntergeschaut, das Gleichgewicht verloren, und war auf die Stromdrähte gefallen, die hoch über dem Boden von Haus zu Haus gezogen waren. Die Siebenjährige, die sie noch hatte festhalten wollen, war dagestanden, die Schuhe der Schwester in den Händen, schneeweiss im Gesicht. Die Fernandez-Kinder hatten doch erst kürzlich noch mit den beiden gespielt. «Der Vater hat sein kleines Mädchen zu sich geholt», tröstete die Grossmutter und betete für den toten Vater und das Kind.

Das Haus, das der Vater für die Grossfamilie baute, nahm Gestalt an, und dann war es soweit: Die Familie zog ins eigene Haus nach Bogotá. Platz gab es darin genug für die vielen Kinder, für seine Frau, für sich, für die Grosseltern und selbst für das Dienstmädchen. Die Grosseltern konnten eine eigene Wohnung im Haus beziehen, und Epifania würde nach ihnen schauen, wenn es einmal nötig werden sollte.

III

Kolumbien, das Land ohne Winter, wo jedes Dorf und jede Stadt eine eigene Temperatur hat, je nach der Höhenlage. In Bogotá ist es trotz den über 2000 m ü. M. weder wirklich kalt noch warm. Es ist wie in Europa im Frühling oder Herbst: morgens noch frisch, tagsüber wärmer und abends wieder kühler. Eine Volksregel besagt, wenn es Anfang Dezember regne, sei es an Weihnachten sonnig, wenn es Anfang Dezember aber sonnig sei, regne es an Weihnachten. Wie auch immer das Wetter war, innerhalb der Grossfamilie hatten die Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest begonnen und Luz wie auch ihre Geschwister spürten das Prickeln der Vorfreude auf das Kommen des Jesuskindes. Die Kleinen liebten vor allem das Ritual, das neun Tage vor Heiligabend begann. Jeden Abend betete die ganze Kinderschar für das Jesuskind, dem Gebet folgte die Geschichte der neun Tage, und dann sang man das spezielle Kinderweihnachtslied, oft zusammen mit dem ganzen Quartier. «Vena nuestras almas. Jesus ven.»

Inbrünstig sangen die Kinder die Worte: «Mein süsser Jesus, verehrtes Kind, komm zu unseren Seelen, warte nicht so lang.» Aber das Christkind liess sich nicht rascher herbeisingen. Jeden Abend war es eine andere Familie, die durch das wundersame Ritual führte, bevor Feuerwerk den Abend- und Nachthimmel erhellte. Jeder Abend ein Fest, was den Kindern half, ihre Ungeduld auf Heiligabend zu bändigen.

Zu Weihnachten gab es für jedes Kind ein Paar neue Schuhe. Dafür machte sich die Mutter zuerst mit den sechs Grossen auf den Weg ins Zentrum und am andern Tag mit den sechs Kleinen. Der Vater besorgte Puppen und anderes Spielzeug für seine Mädchen. Für die Kinder stand allerdings nicht der Vater hinter diesen Gaben, hatten sie doch einen Brief ans Christkind geschrieben und darauf einen Wunsch festgehalten, wissend, dass das Christkind den heiligen Nikolaus legitimieren würde, die Geschenke auf die Erde zu bringen. Dieser rutschte dann an Heiligabend durch den Kamin und legte alle Geschenke bereit. Um Mitternacht wurde die Tür zu den Geschenken geöffnet. Die Kleinen hatten bereits ein wenig vorgeschlafen, bevor sie die Geschenke empfangen durften, und dann ging die ganze Schar nach Mitternacht hinaus auf die Strasse, zu den anderen Kindern, wo gespielt wurde und wo sie einander ihre Geschenke zeigten. Die Erwachsenen trugen die Musikboxen nach draussen. Jetzt löste Latinomusik die Weihnachtslieder ab, und es wurde getanzt bis in die frühen Morgenstunden.

Kaum war das Weihnachtsfest vorbei, begannen die Vorbereitungen für Silvester. Auch der Übergang zum Neuen Jahr ein Quartierfest: Am frühen Abend gab es das erste grosse Essen. Dann wurden gar die Strassen gesperrt, die Musikboxen erneut nach draussen getragen, das ganze Quartier tanzte. Eine Lebensfreude war da in den Kindern, dass es Luz richtig wohl war. Um Mitternacht wurde es kurz ruhig, wenn Kinder und Erwachsene in die Kirche traten, um die Neujahrsmesse zu zelebrieren. Dann das zweite grosse Essen. Die Mutter selbst hatte für alle vorgekocht, sie, die als Kind auf dem Bauerngut ihrer Eltern gelernt hatte, wie man Hühner schlachtet. Sie stand in der Küche und gab die Anweisungen, kochte zusammen mit anderen Frauen für alle.